KAPITEL 3

»Erzähl uns von deiner Reise nach Tolosa, Magister Ado«, forderte ihn Radoald auf, nachdem er seinen Durst aus einem Schlauch aus Ziegenleder gestillt hatte, den ihm einer seiner Krieger im Fluss mit Wasser gefüllt hatte.

Fidelma, die neben ihm stand, sah Argwohn in den Augen des alten Mannes aufblitzen. »Woher weißt du, dass ich in Tolosa war?«, fragte er entgegen seiner sonstigen Art auffallend scharf.

Radoald störte sich nicht an seinem Ton. »Bei den wenigen Menschen in unserem Tal machen Neuigkeiten rasch die Runde.«

Magister Ado zog die Stirn in Falten. »Dann ist dir gewiss auch bekannt, dass ich im Kloster des heiligen Märtyrers Saturnin war, um nach einem Manuskript Ausschau zu halten. Es war eine ereignislose Reise, doch Deo gratias eine kurze.«

»Ja, ich habe mich schon über deinen kurzen Aufenthalt dort gewundert. Ein langer Weg, um sich so rasch wieder auf den Heimweg zu machen. Du kannst kaum länger als ein paar Tage fort gewesen sein.«

»Du bist gut informiert, Seigneur Radoald.«

»Man tut, was man kann, besonders in dieser unruhigen Zeit. Ist dir unterwegs etwas Ungewöhnliches aufgefallen?«

Fidelma verfolgte das Gespräch mit spitzen Ohren, war aber bemüht, gleichgültig zu wirken.

»Ungewöhnliches?«

»Es gehen Gerüchte um, dass die Franken etwas gegen uns im Schilde führen. Auch hört man, dass ihre Heeresmacht, die zu Perctarit hält, in unser Land einzurücken gedenkt.«

»Mir ist nichts dergleichen aufgefallen.«

»Dabei heißt es, Tolosa sei eine heimgesuchte Stadt, leide unter der Pest, seine Bewohner würden fluchtartig den Ort verlassen, und selbst die große Basilika drohe zu verfallen.«

»Davon kann keine Rede sein. Ich habe mich mehrere Tage dort aufgehalten und konnte sogar des Buches, um das es mir ging, habhaft werden, Das Leben des heiligen Märtyrers Saturnin, das ich nun unserer ehrwürdigen Bibliothek in Bobium überbringe.«

»Das nenne ich eine gute Nachricht.« Radoald blickte in die Runde und vergewisserte sich, ob seine Leute die Pferde getränkt hatten, tat so, als hätte er die Fragen mehr beiläufig gestellt. Fidelma jedoch hatte den Eindruck, dass es mit seinen Erkundungen eine besondere Bewandtnis hatte.

»Wer ist Perctarit?«, fragte sie deshalb.

»Er war einst König der Langobarden, ein grausamer und despotischer Herrscher, der schließlich gestürzt wurde und Zuflucht im Land der Franken fand.« Radoald hatte sich zu ihr umgedreht und sprach mit ernster Stimme, kämpfte mit aufwallendem Zorn, wirkte aber bald wieder entspannt. »Ich denke, wir sollten aufbrechen.«

»Ist deine Festung weit von hier?«, fragte sie.

»Wir dürften sie vor Sonnenuntergang erreichen.«

»Und Bobium? Liegt das in der Nähe?«

»Etwa einen halben Tagesritt entfernt, viel länger dürfte es nicht dauern. Bobium ist bei uns in den Bergen hier ein Pfeiler des wahren Glaubens. Ich kann mir gut vorstellen, dass dich viele Fragen über dieses Land bewegen, Fidelma von Hibernia, aber lass uns erst weiterziehen. Auf meiner Burg können wir die Früchte unserer Jagd genießen, uns an unserem Wein delektieren und unser Gespräch fortführen. Je früher wir dort sind, desto eher kann sich auch mein Arzt um Bruder Faro kümmern, wenngleich ich glaube, die kleine Gisa ist fürsorglich um ihn bedacht.«

Fidelma folgte seinem Blick. Schwester Gisa saß neben Bruder Faro, beide im Gespräch vertieft. So, wie er von ihr sprach, schien er Gisa gut zu kennen. Lag es daran, dass in diesem kleinen Tal keiner dem anderen fremd war?

Der junge Seigneur von Trebbia klatschte in die Hände und rief zum Aufbruch. Nicht lange, und jedermann war aufgesessen, und der Trupp setzte sich in Bewegung. Radoald forderte Fidelma auf, neben ihm zu reiten. Sie begriff rasch, dass ihm daran lag, ihr Fragen stellen zu können, ohne weitere Mithörer zu haben.

»Kennst du Magister Ado schon lange?«, wollte er als Erstes wissen.

»Seit unserer gemeinsamen Reise, also kaum ein paar Tage, von Kennen kann da keine Rede sein. Wir sind uns in Genua begegnet.«

Sie spürte, dass der junge Lord sie kurz anblickte. »Du hattest aber schon vorher von ihm gehört, oder?«

»Ich bin hier fremd«, erwiderte sie gleichmütig. »Es ist, wie Schwester Gisa gesagt hat, ich war auf dem Heimweg von Rom, als wir Schiffbruch erlitten. Ich verbrachte notgedrungen ein paar Tage in Genua auf der Suche nach einer anderen Schiffspassage, und da lernte ich zufällig Magister Ado kennen.« Sie unterließ es, die näheren Umstände ihrer Begegnung zu nennen. »Er erzählte mir von der Abtei Bobium und erwähnte, dass Bruder Ruadán ein Mitglied der dortigen Gemeinschaft sei. Bruder Ruadán war einst mein Lehrer und Mentor bei uns zu Hause. Und da ich ihn gern ein letztes Mal sehen wollte, nahm ich das Angebot an, Magister Ado und seine Gefährten nach Bobium zu begleiten.«

»Bruder Ruadán?« Radoald horchte auf. »Du warst eine Schülerin von ihm?«

»Ja. Ich war sehr jung damals und nahm dann ein Studium im Rechtswesen auf.«

»Bruder Ruadán hat sich sehr unverblümt gegen einige Bischöfe im Osten unseres Tals geäußert.«

»In welcher Hinsicht?«

»Er kritisiert ihre Glaubensauffassung, dass sie das lasterhafte Leben der Adligen unterstützen, ihr Trinken, ihren Umgang mit Frauen … ihre ganze Lebensweise hat er angeprangert, und das wird ihm keine Freunde einbringen.«

»Vielleicht glaubt er ohne diese Art Freunde auskommen zu können«, meinte Fidelma trocken.

»Hat man dir gesagt, dass Bruder Ruadán überfallen und grob zusammengeschlagen wurde?«

»Ja, genau deswegen habe ich mich entschieden, Genua zu verlassen und mit nach Bobium zu reiten. Weißt du Neueres über sein Ergehen?«

»Er ist noch am Leben, aber sein Zustand ist äußerst ernst.«

»Ist dir Näheres bekannt, wie er in diese Situation geraten ist?«

»Soviel ich weiß, reiste er immer nach Placentia, einer Stadt nördlich von hier, und predigte dort in der Antoninus-Basilika. Ich fürchte, Bruder Ruadán hat mit seinen Äußerungen Unruhen geschürt. Er hat den Bischof von Placentia, Bischof Britmund, einen Esel genannt.«

Fidelma zog eine Augenbraue hoch. »Einen Esel?«

»Er erklärte, ein des Lesens und Schreibens unkundiger Bischof wäre nur ein Esel mit einer Mitra. Einen Geistlichen, so sagte er, dürfe man nicht um seiner selbst willen bewundern, er müsse über Tugend und Wissen verfügen.«

Fidelma lachte. »Der arme Ruadán. Er hat lediglich eine alte Spruchweisheit von uns verkündet. Der Gedanke birgt nichts Umstürzlerisches.«

Radoald brummte entrüstet. »Seine Ansichten haben ihm Ärger eingebracht. Einen Bischof von Placentia als ungebildet zu beschimpfen und einen Esel zu nennen, heißt, mit dem Tod zu spielen. Wir haben zwischen den Bruderschaften ohnehin genügend Spannungen hier.«

»Ich habe von den Streitigkeiten um die Auslegung der Glaubenslehren gehört, die einen halten sich an das Glaubensbekenntnis von Nicäa und die anderen heißen die Ansichten des Arius gut.«

»Lass dich warnen, Fidelma von Hibernia. Bruder Ruadán ist zwar aus Placentia zurückgekehrt, hat es aber fast mit dem Leben gebüßt. Betrachte Bobium als eine Insel, die von mächtigen Adligen umringt ist, die die Lehren des Arius verteidigen. Es ist derzeit höchst unvernünftig, seine Ansichten lauthals kundzutun. Jedermann weiß, die Tinte eines Gelehrten ist langlebiger als das Blut eines Märtyrers.«

Fidelma versuchte die Worte des jungen Mannes zu verstehen. »Ich weiß deinen Rat an eine Fremde aus einem fremden Land zu schätzen, Radoald. Doch gestatte mir die Frage, bist du als Seigneur über dieses Tal einer der Adligen, von denen du eben gesprochen hast?«

Radoald lachte und schüttelte den Kopf. »So mächtig bin ich nun wieder nicht, Fidelma von Hibernia. Natürlich bin ich bemüht, dieses Tal zu schützen – und Bobium gehört dazu. Es ist ein kleines Tal mit nur wenigen Bewohnern. Der Einfluss des Klosters von Bobium ist gewaltig, und wir leben in Eintracht miteinander. Jenseits des Tales sieht es anders aus. Du kennst doch gewiss eine der hier geltenden Lebensweisheiten – cuius regio, eius religio

Fidelma lächelte und neigte bestätigend den Kopf. Die Übersetzung barg keine Schwierigkeiten – wer das Land regiert, bestimmt die Religion der Einwohner.

»Ich weise noch einmal darauf hin, außerhalb des geschützten Tals ist Umsicht geboten. Bruder Ruadán hätte sich diplomatischer verhalten müssen. Ich habe ohnehin von den wenigen Leuten aus Hibernia, denen ich begegnet bin, den Eindruck gewonnen, dass ihr Menschen von Rang und Würde nicht mit der gehörigen Ehrfurcht gegenübertretet, wie es Langobarden gewohnt sind.«

»Bei uns heißt es ›Niemand ist etwas Besseres als ich, und auch ich bin nichts Besseres als jemand anders‹«, entgegnete Fidelma. »Mit anderen Worten: Einem jeden gebührt der gleiche Respekt.«

Radoald grinste. »Einem jeden gebührt der Respekt, der seiner Stellung im irdischen Leben entspricht. Schließlich weist der Schöpfer jedem seinen Platz zu, und es käme einer Gotteslästerung gleich, wäre man mit seinem Los unzufrieden.«

»Das ist eine merkwürdige Philosophie«, fand Fidelma.

»Nicht für uns«, entgegnete Radoald. »Überlege doch mal, was für ein Chaos es gäbe, wenn es anders wäre. Zum Beispiel könnte Wulfoald, der Hauptmann meiner Garde, eines Tages zu der Auffassung gelangen, er wäre mir ebenbürtig. Mit seinem Los unzufrieden, würde er dann versuchen, mich zu stürzen und meinen Platz einzunehmen. Ich bin aber dank meiner Geburt dazu auserkoren, über die Schwachen zu regieren und sie zu führen, wenn sie meine Hilfe brauchen.«

»In meinem Land sagt man, das Volk ist stärker als sein Herrscher, denn es ist das Volk, das seinen Anführer bestimmt und nicht umgekehrt.«

»Wie kann man dem Volk gestatten, seinen Herrscher zu wählen?« Der junge Mann konnte sich nicht genug wundern. »Es ist der Schöpfer, der den Herrscher erwählt, ihn mit der Macht versieht zu regieren.«

»Bei uns wird der Fähigste aus dem Clan, der Intelligenteste und Stärkste von seinem Sippenverband und seinem Volk zum Herrscher gewählt. Ich weiß, bei euch ist es immer nur der Erstgeborene, egal ob er ein Dummkopf oder großer Philosoph ist. Wie kannst du da sagen, es wäre der Schöpfer, der ihn auserwählt hat?«

Radoald lachte verschmitzt. »Wenn sich der Herrscher als ein Dummkopf erweist, wäre es mit dem Herrschen rasch vorbei.«

»Ihr würdet ihn beiseiteschaffen?«

»Selbstverständlich.«

»Und das geschieht oft mit Gewalt, entweder seitens der eigenen Familie oder seitens des Volkes?«

Radoald erkannte den Punkt, auf den sie hinauswollte, und zuckte nur mit den Achseln, was sie als Bestätigung verstand.

»Wäre es nicht besser, ihn auf die Weise zu wählen, wie wir es tun? Warum sollte man erst der Natur – ich meine der natürlichen Erbfolge – ihren Lauf lassen und dann die Natur korrigieren?«

»Wenn man dem Volk die Wahl lässt … Wenn das Volk seinen Herrscher wählen darf, denkt es doch, es darf in allen Dingen wählen, was es will.«

»Und warum sollte es das nicht tun dürfen? Schließlich leben wir alle unter einem Dach und sind auf einander angewiesen.«

Radoald brauchte einen Moment, um das zu verinnerlichen. Dann lachte er kurz auf.

»Ich glaube nicht, dass wir in dieser Frage zu einer gemeinsamen Auffassung kommen, Fidelma von Hibernia. Doch zumindest begreife ich langsam, wieso eure Leute in meinem Land in ihrer Haltung zu den Oberen als starrköpfig und respektlos gelten. Sei aber vorsichtig, was du sagst und zu wem du es sagst, wir leben in schwierigen Zeiten, und es kostet mich große Anstrengung, zwischen unserem Tal und seinen Nachbarn Frieden zu bewahren.«

Fidelma nickte. »Ich werde deinen Rat befolgen, Radoald von Trebbia. Und doch heißt es bei uns ›Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt‹.«

»Du bist wahrlich die Tochter eines Königs, Fidelma von Hibernia«, gab Radoald widerstrebend zu. »Jedenfalls haben sich bislang die Adligen aus den benachbarten Gebieten gegenüber den Bewohnern dieses Tals zurückhaltend gezeigt, und das, seit Grimoald König ist.«

»Ist er der Nachfolger von Perctarit, von dem du gesprochen hast?«

»Ja, und seit er regiert, herrscht Frieden im Tal.«

»Dann ist es eher ungewöhnlich, dass es hier im Tal zu Überfällen kommt?«

Er schwieg einige Augenblicke und betrachtete sie nachdenklich. »Willst du damit sagen, dass an dem Überfall etwas ungewöhnlich war?«

»Ob besonders ungewöhnlich oder nicht, darüber kann ich mir kein Urteil erlauben, ich bin fremd hier. Ich kann die Dinge nur beobachten. Magister Ado wollte mich zuerst glauben machen, dass uns Räuber überfallen hätten, was auch Wulfoald sogleich bestätigte, und dann schriebst auch du den Überfall Räubern zu. Gleichzeitig aber hast du darauf hingewiesen, dass normalerweise Räuber ihr Unwesen nicht in diesem Tal treiben, wenn keine reichen Kaufleute hier unterwegs sind. Ich nenne nur Tatsachen. Etwas hineindeuten will ich nicht.«

»Dir ist ein scharfer Verstand gegeben, edle Dame.« Für den Rest der Reise schwieg der junge Landesherr und schien in Gedanken versunken.

Radoalds Festung thronte hoch über dem Fluss, strategisch durchdacht am Südufer angelegt, wo er in einem spitzen Winkel eine Biegung machte. Am nördlichen Ufer strömte das Wasser von einem kleineren Nebenfluss hinzu. Dahinter erhob sich aus dem Felsmassiv, in das das Tal eingebettet war, eine gewaltige Bergspitze. Weder über die Berge noch unten entlang des Tals hätte ein Heer in voller Stärke vorstoßen können, ohne zuvor die Burg einzunehmen. Wie Fidelma später belehrt wurde, war die Festung ursprünglich von den Römern erbaut worden, als sie mit ihren Legionen ins cisalpinische Gallien eindrangen. Sie wirkte auf den ersten Blick düster und bedrohlich, ein dräuender Gebäudekomplex. Die niedrigeren Wälle waren mit moosähnlichen Kletterpflanzen überwuchert, die Fidelma fremd waren. Außerhalb der Festungsmauern gab es zwei oder drei Bauerngehöfte, die Burg aber überragte alles. Als sie sich ihr näherten, führte einer von Radoalds Männern ein Jagdhorn an die Lippen und ließ es mehrfach erschallen. Fidelma machte auf den Mauern etliche Krieger aus, man hatte ihre Ankunft bereits wahrgenommen.

»Für ein friedliches Tal scheinen deine Krieger gut gerüstet«, konnte sie nicht umhin zu bemerken.

Radoald grinste. »Si vis pacem, para bellum.« Willst du Frieden, sei für den Krieg gerüstet. »Ich halte es mit Vegetius, einem alten römischen Militärphilosophen, aus dessen Epitoma Rei Militaris ich viel gelernt habe.«

Sie betraten einen Innenhof, und sofort kamen Bedienstete herbeigeeilt, um die Pferde und Schwester Gisas Maulesel in die Ställe zu führen, das erlegte Wild abzuladen und in die Küchen zu schaffen.

Beim Absitzen rief Radoald Schwester Gisa zu: »Bring Bruder Faro zu Suidur in die Apotheke, damit er nach ihm schaut.« Ganz offensichtlich kannte sie sich auf dem Burggelände aus, sie nahm ihren Gefährten am Arm und half ihm über den gepflasterten Hof.

Radoald führte Magister Ado und Fidelma zum Hauptgebäude und in eine große Halle. An deren beiden Enden loderten Feuer, riesige Wandteppiche schmückten die hohen Wände. Bei ihrem Eintreten erhoben sich einige Männer und Frauen ehrfurchtsvoll. Ein älterer Mann, der sich als Radoalds Verwalter erwies, trat vor und verbeugte sich. Der junge Seigneur überschüttete ihn mit Anweisungen und drehte sich dann lächelnd wieder zu seinen Gästen.

»Ich habe veranlasst, dass für euch Zimmer hergerichtet werden. Auch für ein erfrischendes Bad wird gesorgt, und heute Abend werden wir gemeinsam speisen und uns entspannen. Morgen könnt ihr dann in aller Ruhe weiter nach Bobium ziehen.« Er wandte sich den in der Halle Versammelten zu und verkündete: »Magister Ado ist zurückgekehrt und wird bei uns weilen, und das ist Fidelma von Hibernia, eine Prinzessin ihres Landes, die nach Bobium reist.«

Die Namen seiner Familie und seiner Gefolgschaft schwirrten über Fidelma hinweg. Einige sprachen ein simples Latein, aber hauptsächlich schien man sich in der gutturalen Sprache der Langobarden zu verständigen. Mit höflichen, belanglosen Worten wurde sie von einer Gruppe zur anderen gereicht, als sie plötzlich vor einem prunkvoll geschnitzten, auf einem Podium erhöhten Stuhl stand. Vermutlich war es Radoalds Amtsstuhl. Aber nicht der Stuhl als solcher erregte ihre Aufmerksamkeit. Über ihm hing ein Schild, auf dem ein flammendes Schwert, umgeben von einem Lorbeerkranz, auf schwarzem Grund gemalt war.

Eine Hand zerrte sie am Ärmel, und eine hohe Stimme fragte: »Isst du Menschenfleisch?«

Entgeistert drehte sie sich um und blickte in das greisenhafte Gesicht einer grauhaarigen Frau, die sich, vornüber gebückt, auf einen Stock stützte.

»Wie sollte ich?«, erwiderte sie und befürchtete schon, am Abend ein für das Tal typisches, aber scheußliches Mahl aufgetischt zu bekommen.

»Natürlich tust du das«, erklärte die alte Frau giftig. »Die Leute aus Hibernia sind Kannibalen. Ich habe den heiligen Hieronymus gelesen, und der war sehr wohl ein Verkünder der Christenlehre. In Adversus Iovinianum schreibt er, er hätte als junger Mann selbst gesehen, wie die Iren den Schafhirten und ihren Frauen die Pobacken herausschneiden und essen.«

»Meines Wissens ist der heilige Hieronymus nie in Hibernia gewesen«, entgegnete Fidelma und hatte Mühe, nicht zornig zu werden. »Folglich kann man so einer schwachsinnigen, böswilligen und unwahren Behauptung keinen Glauben schenken.«

»Er hat es aber geschrieben.«

»Die Menschen schreiben vielerlei Dinge, und nicht alles ist wahr.«

»Er hat es aber geschrieben«, wiederholte die Alte, als wäre es ein Mantra.

Radoald tauchte neben Fidelma auf und nahm sie am Arm. Er redete grob auf die Alte in der für sie gängigen Sprache ein und zog Fidelma mit sich fort. »Ich möchte dir einige Schätze auf meiner Burg hier zeigen«, und als sie außer Hörweite der alten Frau waren, fügte er hinzu: »Sie war die Amme meiner Mutter. Ich habe sie in der Dienerschaft behalten, denn sie hat nirgendwo sonst eine Bleibe.«

Fidelma wollte etwas sagen, aber er ließ sie nicht zu Worte kommen. »Sie liest die ganze Zeit. Nur das Traurige an der Sache ist, dass sie alles Geschriebene für wahr hält. Es hat keinen Zweck, mit ihr darüber zu streiten.«

»Sie dürfte in Schwierigkeiten geraten, wenn sie auf zwei Abhandlungen mit einander widersprechendem Inhalt stößt«, merkte Fidelma mit eisigem Lächeln an.

»Eine interessante Feststellung. Leider ist ihr das bisher noch nicht vorgekommen.«

»Ich betrachtete gerade deinen Stuhl, als sie mich ansprach. Ist es dein Amtsstuhl?«

Er nickte bestätigend.

»Mir fiel das Motiv auf dem Schild darüber auf. Ist das dein Wappen?«

»Es ist das Wappen, mit dem sich viele langobardische Adlige schmücken, denn es sind die Insignien des Erzengels Michael, der unser Patron ist. Es heißt, er erschien vor drei Jahren unseren Truppen bei Sipontum, als wir die Heerscharen der Byzantiner zurückschlugen. Seitdem ist sein Name unser Schlachtruf, denn er ist der Anführer der Schlacht und Verteidiger des Himmels.«

»Tragen demnach alle deine Leute dieses Wappen?«

»Nur die Krieger unseres Königs Grimoald. Ich selbst schwinge das Schwert für Grimoald. Weshalb fragst du?«

»Erzähl mir etwas über diesen Grimoald«, forderte ihn Fidelma auf und überging seine Frage. »Wann wurde er euer König?«

»Als er König Godepert entthronte und dessen Schwester Theodata heiratete. Das war vor vier Jahren.«

»Hattest du nicht gesagt, er wäre Perctarit auf den Thron gefolgt?«

»Dein Gedächtnis ist bemerkenswert. Perctarit war gemeinsam mit seinem Bruder Godepert König. Aber die beiden Brüder bekriegten einander. Einer war genauso schlimm wie der andere. Damals war Grimoald Herzog von Benevento. Er ermordete Godepert und trieb schließlich Perctarit ins Exil. Grimoald feiert Michael als den Beschützer unserer Krieger. Wir benötigen einen solchen Schutz, denn wir haben viele Feinde. Gegenwärtig zum Beispiel kämpft Grimoald gegen die Byzantiner im Süden. Während seiner Abwesenheit ist Lupus der Wolf, Herzog von Friuli, unser Regent. Friuli ist eine Stadt weit im Osten.«

»Das klingt, als durchlebtet ihr unruhige Zeiten.«

»Unser Volk kennt offenbar keine ruhigen Zeiten«, meinte er grimmig. »Vor Jahrhunderten wurden wir aus unserem angestammten Land weit im Norden vertrieben, und jedes Mal, wenn wir versuchten, sesshaft zu werden, trieben uns die, die nach uns kamen, weiter nach Süden und Westen. Wir waren ständig gezwungen, uns neue Gebiete, neue Heimstätten mit dem Schwert zu erkämpfen.«

»Und dennoch befehdet ihr euch untereinander wegen des Anspruchs auf den Thron.« Im Grunde genommen wollte sie ihre Feststellung als Frage verstanden wissen.

»Stärke ist das A und O eines Herrschers.«

»Habt ihr kein Gesetz, das die Thronfolge regelt? Gesetze, die den Richtern die Möglichkeit geben, einen ungerechten Herrscher abzusetzen?«

Radoald sah sie überrascht an und schüttelte dann amüsiert den Kopf.

»Du willst mir doch nicht im Ernst erzählen, dass ihr solche Gesetze habt?«

»Ein König hat sich dem Gesetz ebenso unterzuordnen wie ein Kuhhirt«, eröffnete ihm Fidelma mit großer Selbstverständlichkeit.

»Bei uns gilt: Der Gesetzgeber ist der König. Ein jeder hat sich seinem Gesetz unterzuordnen.«

Dann machte Radoald mit Fidelma einen Rundgang durch seine Festung, und sie nahm erstaunt die Fülle an Wandteppichen und Gemälden zur Kenntnis, Schätze, die, wie sie erfuhr, aus Byzanz stammten. Es gab Statuetten aus dem alten Rom und viele andere Ziergegenstände. Sie gewann den Eindruck, dass der junge Mann es darauf angelegt hatte, sie zu beeindrucken und ihr zu beweisen, dass er ein kultivierter und kunstverständiger Mann war. Nach einer Weile bekannte er: »Als wir, die Langobarden, vor etwa hundert Jahren in dieses Land kamen, waren wir Heiden, hatten noch nichts von Christus und seiner Lehre gehört. Für uns gab es nur eins – erobern und herrschen mit dem Schwert. Dankenswerterweise haben sich die Zeiten geändert.«

Ihre Unterhaltung wurde von einem hoch aufgeschossenen Mann von angenehmem Äußeren unterbrochen, der auf sie zukam. Schwer zu sagen, wie alt er war, denn trotz seines schneeweißen Haares wirkte er jung. Die Augen waren so dunkel, dass sich kaum Pupillen erkennen ließen, die Lippen dünn und auffallend rot, die Nase hervorstehend und schmal. Er war von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet, die Ärmel seines Gewands waren so weit und lang, dass die Hände darin verschwanden. Keinerlei Schmuck erhellte das düstere Schwarz.

»Suidur, das ist Schwester Fidelma von Hibernia, nicht nur Nonne, sondern eine Prinzessin ihres Landes«, stellte Radoald sie vor. »Und das ist Suidur, mein Arzt.«

Die dunklen Augen ruhten regungslos auf Fidelma. Dann führte der Arzt die linke Hand zum Herzen und verbeugte sich kurz.

»Hibernia? Willkommen in unserem Tal, edle Dame. Gisa hat mir von eurer Begegnung und eurer gemeinsamen Reise hierher berichtet.« Er sprach mit trockener, emotionsloser Stimme. »Du wärest einst Schülerin vom alten Bruder Ruadán in Bobium gewesen, erzählte sie.«

»Ja, das stimmt. Darf ich davon ausgehen, dass es Bruder Faro besser geht?«

»Faro geht es gut«, bestätigte der Arzt. »Zum Glück war die Wunde nicht verschmutzt, und es droht keine Entzündung. Gisa hat ihn bestens versorgt. Ich habe die Wunde mit Kräutern behandelt und einen Verband angelegt. Natürlich hat er Wundschmerz, das ist aber auch alles. Von meiner Warte aus kann er die Reise nach Bobium morgen fortsetzen und dürfte sich rasch erholen. Natürlich darf er sich nicht überanstrengen.«

»Dann ist die Sache ja noch mal gut ausgegangen«, bemerkte Radoald befriedigt.

Der Arzt schaute sich suchend in der Halle um. »Ich dachte, Magister Ado ist auch hier, ich sehe ihn aber nirgends.«

»Magister Ado hat darum gebeten, ihn zu entschuldigen, die Reise hat ihn erschöpft«, erklärte Radoald. »Er möchte das Abendessen in seiner Kammer einnehmen.«

Suidur der Weise richtete die dunklen Augen wieder auf Fidelma. »Kennst du ihn schon lange?«

Sie war überrascht, von Suidur die gleiche Frage gestellt zu bekommen wie zuvor von Radoald.

»Ich bin ihm in Genua begegnet. Er erzählte mir von Bobium und erwähnte einen Bruder Ruadán dort. Ich konnte nicht aus eurem Land abreisen, ohne meinen alten Mentor gesehen zu haben, umso mehr, da ich erfuhr, dass es ihm nicht gut geht.«

»Du hast vor eurer Begegnung in Genua Magister Ado nicht gekannt?« Suidur starrte sie nachdenklich an.

Sie wollte gerade antworten, als der junge Adelsmann ihr zuvorkam. »Augenscheinlich hatte sie weder vom Magister noch von Bobium etwas gehört, erfuhr erst von ihnen durch die zufällige Begegnung im Seehafen. Sie ist auf der Rückreise von Rom nach Hibernia. Du musst schon entschuldigen, edle Dame, aber in unserer kleinen Gemeinschaft sind wir bei Besuchern immer sehr hellhörig.« Ein Horn wurde geblasen, und Radoald schien erleichtert. »Das Mahl ist bereitet. Kommt, lasst uns speisen.«

Der Einzige, der beim Essen fehlte, war Magister Ado. Schwester Gisa und Bruder Faro erschienen gemeinsam. Fidelma wurde der Platz zwischen Radoald und Suidur gewiesen. Im Gespräch ging es sowohl um Hibernia als auch um das Trebbia-Tal und die Abtei von Bobium. Radoald war darauf bedacht, bei harmlosen Themen zu bleiben, wie die unterschiedlichen Sitten und Gebräuche beider Länder, Speisen und Getränke und dergleichen. Fidelma war nicht böse, als sie sich endlich zur Nacht zurückziehen konnte. Radoald wies einen seiner Diener an, sie zu ihrer Gästekammer zu geleiten.

Im Lichte einer Öllampe führte er sie über den mit Steinen gepflasterten Haupthof. Einige Menschen waren dort noch beschäftigt, man nahm sie mit einem Kopfnicken oder den üblichen Begrüßungsfloskeln zur Kenntnis. Sie gelangten in ein gedrungenes, mehrstöckiges Gebäude und stiegen die Treppen hoch. Das Zimmer, das man ihr zugedacht hatte, war klein und hatte ein Fenster, das auf einen Balkon hinausging, von dem man den vom zunehmenden Mond erleuchteten Innenhof überblicken konnte. Der Raum war mit einem Bett und einem Tisch ausgestattet, auf dem in Kerzenhaltern Talglichte standen, eines war bereits angezündet. In einer Ecke stand ein weiterer Tisch mit einer Schüssel Wasser zum Waschen, daneben lag ein Leinentuch. Auch für einen Krug mit Trinkwasser und einen Becher war gesorgt. Ihr Begleiter verließ sie, Fidelma gähnte vor Müdigkeit und trat zum Fenster. Der Mond hüllte das Trebbia-Tal in ein unheimliches Zwielicht, und in den Bäumen und Sträuchern raschelte ein frischer Wind. Nahezu erleichtert ließ sich Fidelma ins Bett fallen und schloss die Augen.

Sie lag wach. Trotz aller Erschöpfung fand sie keine Ruhe. Die Ereignisse der vergangenen Tage gingen ihr durch den Kopf, und sie fragte sich, ob ihr Entschluss, Magister Ado und seine Gefährten nach Bobium zu begleiten, eine richtige Entscheidung gewesen war. Vielleicht hätte sie besser im Hafen von Genua bleiben und auf ein Schiff zur Fortsetzung der Heimfahrt warten sollen, anstatt sich auf die Reise in ein fremdes Land zu begeben.

Schon in Rom hatte sie sich nach Cashel zurückgesehnt, nach den saftigen grünen Ebenen, den Bergen, den dichten grünen Wäldern ihrer Heimat. Jetzt aber spürte sie noch ein anderes Verlangen. Mit einem Gefühl der Traurigkeit hatte sie sich von dem angelsächsischen Mönch Eadulf verabschiedet, der ihr Gefährte und Helfer beim Lösen der geheimnisvollen Vorgänge in der Abtei Hilda gewesen war und später auch im Lateranpalast in Rom. Sie wünschte, er wäre jetzt bei ihr. Sie brauchte jemand, dem sie vertrauen konnte, mit dem sie ihre Gedanken über das, was sie erlebt hatte, teilen konnte.

All das beschäftigte sie und ließ sie keinen Schlaf finden. Unruhig drehte sie sich von einer Seite auf die andere. Nur die Aussicht, den guten alten Bruder Ruadán wiederzusehen, ließ sie an ihrem Vorhaben festhalten. Wie vereinsamt musste der sich erst vorkommen, alt und fern von der Heimat, wie er war? Sie fühlte sich ihrem Mentor und Lehrer verpflichtet. Vielleicht konnte sie mit Erinnerungen an sein Herkunftsland und an Freunde daheim etwas Freude in seinen Lebensabend bringen.

Von ferne drangen flüsternde Stimmen an ihr Ohr, drängten sich in ihren Gedankenwirrwarr. Verärgert setzte sie sich auf. Die Störung kam von draußen, von jenseits des offenen Fensters und Balkons, unten vom Hof. Ein dicker Vorhang schirmte den Raum vom Balkon ab, er sollte die umherschwirrenden Insekten abhalten, vor allen Dingen kleine Fliegen, die einen in den schwülen Nächten belästigten und Krankheiten übertrugen.

Fidelma schwang sich aus dem Bett, trat zum Fenster und lauschte. Genaues konnte sie nicht verstehen, und im Grunde genommen ging sie das ja auch gar nichts an, trotzdem fragte sie sich, weshalb zu nächtlicher Stunde Menschen dort unten standen und flüsternd miteinander redeten.

Vorsichtig schob sie den Vorhang zur Seite und trat auf den Balkon. Es war dunkle Nacht, denn Wolken waren aufgezogen und verdeckten den Mond. Sie schaute hinunter. Ihre Augen mussten sich erst an die Dunkelheit gewöhnen, ehe sie eine Gruppe von fünf Gestalten auf dem Hof ausmachen konnte. Drei von ihnen waren groß, die eine hatte weißes Haar, die beiden anderen waren kleiner. Eine der kleineren, vermutlich eine Frau, wirkte zierlicher als die andere Person, die etwas älter schien und offensichtlich ein Mann war, ebenfalls weißhaarig, wie im gespenstischen Zwielicht zu erkennen war. Sie tuschelten miteinander in der Sprache der Langobarden, wie Fidelma herauszuhören glaubte. Ihre Stimmen klangen erregt, der kleine weißhaarige Mann schien die anderen zu tadeln, was der eine von den beiden Größeren nicht einfach hinnahm.

Wie auch immer, es ging Fidelma nichts an. Sie wollte sich schon wieder zurückziehen und erneut zur Ruhe legen, als an einer Stelle die Wolken aufrissen und der helle Mond zum Vorschein kam. Nur ein kurzer Moment, und Fidelma erkannte Suidur, den Arzt. Der kleine ältere Mann und die Frau blieben ins Dunkel gehüllt. Auch konnte sie nicht die Gesichter der anderen sehen, doch kamen ihr die langen schwarzen Gewänder irgendwie bekannt vor. Unversehens drehte die Frau den Kopf, so dass ihr Gesicht für einen Augenblick ins Mondlicht getaucht war. Ihre Stimme klang jetzt klar, auch wechselte sie plötzlich ins Latein.

»Das Gold muss schon hier sein. Also geschieht es bald.«

Der kleine ältere Mann rügte sie heftig.

Fidelma stieß einen erschrockenen Laut aus und verbarg sich hinter deem Vorhang. Ob es ihre unvorsichtige Reaktion war oder es an dem unerwarteten kurzen Moment des hellen Mondscheins lag, ist schwer zu sagen, aber die Unterhaltung verstummte. Fidelma wagte kaum zu atmen und verhielt sich hinter dem Vorhang mucksmäuschenstill, bis sie hörte, dass das Gespräch unten seinen Fortgang nahm.

Eine andere Stimme fiel gebieterisch ein. Man sprach wieder langobardisch. Fidelma wartete, bis das Geflüster verstummte. Die Stimme, die sie erkannt hatte, war die von Schwester Gisa gewesen. Wer der kleine ältere Mann war, wusste sie nicht, aber sie konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass zu der kleinen Gruppe auf dem Hof außer Suidur die beiden Männer gehörten, die Magister Ado in Genua überfallen hatten. Bildete sie sich das nur ein? Waren es dann tatsächlich dieselben Krieger, die auch sie überfallen und Bruder Faro verletzt hatten, als sie in das Tal ritten?

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