KAPITEL 9

Zur ersten Mahlzeit des Tages begrüßte Abt Servillius sie auffallend freundlich. »Hast du gut geruht, Schwester?«

»Ja, das habe ich.«

»Ausgezeichnet. Gesunder Schlaf ist die beste Medizin für Kümmernisse.« Er schien ungewöhnlich besorgt um sie.

Wie immer kündigten die Gebete und der eine Glockenton das Mahl an, das diesmal in freiwillig auferlegtem Schweigen eingenommen wurde. Selbst Magister Ado und der Ehrwürdige Ionas waren in sich gekehrt. Nach Beendigung des Mahls hielt Abt Servillius sie zurück. Er griff in sein marsupium, nahm etwas, das in ein Stück Stoff gewickelt war, heraus und überreichte es ihr.

»Hier hast du, wie versprochen, die Reliquie, die du zu Bruder Ruadáns Abtei mitnehmen sollst, von der aus er seine Pilgerschaft zu uns unternahm. Möge sie als Zeichen der Zuneigung gelten, die wir zu ihm empfunden haben.«

Vorsichtig öffnete Fidelma das kleine Bündel. Zum Vorschein kam ein silbernes Kreuz, das Bruder Ruadán an einem Kettchen um den Hals getragen hatte. Von Kindheit an, als er sie unterrichtete, kannte sie es. Tief bewegt umhüllte sie es wieder und steckte es in ihr marsupium.

»Die Brüder auf Inis Celtra werden das Kleinod zu schätzen wissen. Hab Dank für diese wohlwollende Geste.«

Großmütig winkte der Abt ab. »Ich vermute, du wirst nun Pläne machen, in deine Heimat zurückzukehren. Der Herbst zieht herauf. Ich an deiner Stelle würde mit einem Aufbruch nicht lange zögern, gewöhnlich wird die Straße zwischen uns und Genua zu der Jahreszeit sehr schlecht. Die Trebbia tritt über die Ufer und macht die Wege unpassierbar.«

Fidelma wollte ihm antworten, doch der Abt hatte offenbar am anderen Ende des Refektoriums jemanden entdeckt, entschuldigte sich und eilte davon. Dafür stand Magister Ado plötzlich neben ihr.

»Ich bin schuld, ich habe dir zugeredet, den Ritt hierher zu unternehmen, und nun ist alles vergebens gewesen«, hörte sie ihn sagen. »Du könntest den Ozean schon halb überquert haben.«

»Mir lag daran, Bruder Ruadán zu besuchen«, berichtigte sie ihn. »Immerhin habe ich mit ihm noch kurz vor seinem Tod sprechen können und kann nun seinen Brüdern auf Inis Celtra berichten, wie ihn Gott zu sich genommen hat, nachdem er dieser Abtei lange gedient hat. Der Abt hat mir ein Erinnerungsstück an ihn anvertraut, das ich ihnen überbringen werde.«

Magister Ado war verlegen. »Ich habe mich ungeschickt ausgedrückt, sieh es mir nach. Wenn du Hilfe benötigst, um nach Genua zu gelangen, stehe ich dir gern zur Verfügung. Hast du dir schon überlegt, wann du die Reise antreten willst?«

Fidelma wunderte sich, warum ihr plötzlich so viele Leute anboten, ihr behilflich zu sein, die Abtei zu verlassen und nach Genua zurückzukehren: Radoald, Abt Servillius und nun auch Magister Ado.

»Noch habe ich mich nicht festgelegt. Ich hoffe, mir bleibt noch ein wenig Zeit, mich in der Abtei und der Umgebung hier umzuschauen, ehe ich mich auf den Rückweg mache.«

Magister Ado blickte sie erstaunt an. »Warum denn das?« Es klang fast wie eine Drohung.

»Damit ich den Gelehrten in Hibernia berichten kann, warum der heilige Colm Bán gerade diesen Fleck für seine letzten Jahre erwählt hatte«, erwiderte sie leichthin. »Bislang habe ich mir kaum etwas ansehen können. Ich werde abreisen, sobald ich genügend in mir aufgenommen habe, um die vielen Fragen der Gelehrten daheim zu befriedigen, und du, der du selbst ein Gelehrter bist, wirst das gewiss verstehen.«

Sie verließ das refectorium und ging auf das Hauptportal der Abtei zu. Sie wollte zur Nekropole und das Grabkreuz, das ihr in der Nacht zuvor aufgefallen war, genauer betrachten. Am Tor stieß sie auf Schwester Gisa.

»Wie geht es dir nach dem gestrigen Tag, Schwester Fidelma?«, begrüßte sie das junge Mädchen besorgt.

»So gut es einem eben gehen kann.« Merkwürdig, jedermann schien auf ihr Wohlergehen bedacht.

»Ist gewiss traurig für dich, die weite Reise hierher unternommen zu haben und dann nur zu sehen, wie dein alter Lehrer stirbt.«

»Wenigstens kann ich sagen, ich habe ihn gesehen und mit ihm gesprochen, bevor er starb«, antwortete Fidelma und lenkte von dem leidigen Thema ab. »Du wartest wohl auf Bruder Faro?« Die junge Nonne wurde rot.

»Warum sollte ich auf ihn warten?«, erwiderte sie bissig.

»Ihr beide seid einander zugetan. Das lässt sich nicht leugnen.«

»Oh, ich … », stammelte das Mädchen aufgeschreckt.

»Hab keine Angst. Was sollte schon verkehrt daran sein?«

Die Wangen des Mädchens glühten. »Gegen die Regeln der Abtei habe ich jedenfalls nicht verstoßen.«

»Natürlich nicht«, beschwichtigte sie Fidelma. »Verzeih; wenn das etwas ist, worüber du nicht reden möchtest, auch gut.«

»Bitte, bitte, sprich mit niemandem darüber. Abt Servillius achtet sehr streng auf die Regeln der Trennung und des Zölibats.«

»Warum zieht ihr nicht fort und sucht euch ein gemischtes Haus, in dem Glaubensbrüder und -schwestern als Ehepaare leben können? Wenn es euch mit euren Gefühlen für einander ernst ist, dürfte es nicht schwierig sein, eine solche Zufluchtsstätte zu finden. Noch sind diejenigen unter den Ordensleuten, die das Zölibat fordern, in der Minderheit – diese Asketen glauben sich auf dem Weg zu einem erfüllten Leben, wenn sie das Leben verleugnen.«

Schwester Gisa musste lächeln, wenn auch etwas verzagt. »Du hast ein feines Gespür, Schwester. Ich hoffe, niemand hier durchschaut die Dinge so wie du.«

»Ich glaube, Magister Ado weiß um eure Gefühle füreinander.«

Erneutes Erschrecken überzog die Züge des Mädchens. »Er weiß davon?«

»Ich bin sicher, er würde euch nicht verraten, sondern euren Entschluss davonzuziehen segnen, um ein Kloster zu finden, das euren Gefühlen freundlicher gesonnen ist.«

»Aber Faro ist sein Schüler – er hat ihn im Glauben unterwiesen. Und Faro will Bobium nicht verlassen.«

»Du hast also mit ihm darüber gesprochen?«

Schwester Gisa seufzte. »Ja. Er will seine Studien hier zum Abschluss bringen, bevor er daran denkt fortzugehen. Er ist erst vor zwei Jahren in die Abtei gekommen und meint, er müsse sich noch mehr Wissen aneignen, ehe er woanders hinkönne.« Dann gab sie dem Gespräch eine andere Wendung. »Wohin wolltest du gerade gehen?«

»Ich will zur Nekropole und eine Blume auf Ruadáns Grab legen, wie es in meiner Heimat Sitte ist.«

Schwester Gisa schloss sich ihr an. »Ich möchte dich begleiten.« Einen Moment schwieg sie und erkundigte sich dann: »Wann wirst du nach Genua aufbrechen und dort nach einem Schiff für deine Heimreise suchen?«

Fidelma schluckte. Wie oft würde man ihr diese Frage noch stellen? »In ein paar Tagen. In einer Woche vielleicht. Ich möchte noch mehr von der Abtei sehen und vom Land ringsum.«

Die junge Nonne fragte nicht weiter. Plötzlich wies sie auf ein paar Sträucher nicht weit von ihnen. »Da blüht was, die weißen Blumen da. Die wären doch passend, nicht wahr?«

Beide gingen sie zu den Büschen hinüber und pflückten von den weißen, wie Lilien aussehenden Blumen. Sie blieben die einzigen Besucher der Begräbnisstätte, als sie den Hügel hinanstiegen. Wieder gingen Fidelmas Blicke zu den drei sonderbaren Bauten am oberen Ende der Nekropole. Jetzt bei Tage erkannte sie sie als Grabmäler, Grabkammern, die winzigen Palästen ähnelten. Es waren reichverzierte Gebilde aus weißem Stein, die an Bauwerke im alten Rom erinnerten.

»Wem sind diese Denkmäler gewidmet?«

»Das sind die Grabkammern der Äbte.«

»Aber ich zähle nur drei.«

»Die Klostergemeinde hat sie erst jüngst errichtet. Das Grab des Gründers der Abtei, Columbanus, befindet sich unter dem Hochaltar in der Abteikapelle. Die anderen Äbte hat man hier oben bestattet. Dort seitlich ruht Attala, er war der Nachfolger von Columbanus. Das nächste Grabmal ist das für Bertulf. Er zog nach Rom und unterstellte die Abtei dem Papst. Und das dritte da ist die Ruhestätte von Abt Bobolen. Er hat die Regula des Benedikt übernommen und die Bischofsmitra aus den Händen von Papst Theodor erhalten, das ist etwa zwanzig Jahre her.«

»Am Grabmal für Bobolen wird wohl noch gearbeitet?«

Schwester Gisa schüttelte den Kopf. »Dort werden nur ein paar Kleinigkeiten nachgebessert. Der Schrein war fertiggestellt und versiegelt, noch bevor Faro und ich nach Genua ritten, um Magister Ado abzuholen. Es ist nämlich Faros Aufgabe, die Arbeiten zu beaufsichtigen, und er muss Abt Servillius berichten, wie es vorangeht. Auch für die künftigen Äbte sollen Mausoleen gebaut werden.«

»Diese Grabmäler sind in der Tat eindrucksvoll«, bestätigte Fidelma. »Ist Faro Baumeister oder Architekt?«

»Nein, aber er versteht sich aufs Organisieren von solchen Sachen. Bobolens Grabmal hat er selbst entworfen und hat Maurer und Steinmetze aus Placentia dafür gewonnen, es für Gotteslohn zu bauen. Und da steckt wirklich eine Menge Arbeit drin. Ich habe aufgehört zu zählen, wie viele Wagenladungen Steine durchs Tal herangeschafft wurden.«

»Steine?«

»Ein besonderer Stein ist das … Marmor. Den gibt es im Tal nicht.«

Vor dem neu verfüllten Grab von Bruder Ruadán blieben sie stehen. Fidelma legte ihre Blumen auf den eben aufgeschütteten und verfestigten Erdhügel und verharrte eine Weile mit gesenktem Kopf davor.

Schwester Gisa schaute gedankenverloren über die Berghänge und fragte unvermutet: »Hast du dich gestern Nacht geängstigt, als die Muse erklang?«

»Die Muse? Ach, du meinst den Dudelsack. Nein, geängstigt habe ich mich nicht, aber überrascht war ich schon. Wir haben solche Instrumente auch in Hibernia, und einen Moment lang dachte ich, einer der Brüder aus Hibernia spielt. Doch irgendwie klang es nicht so recht – ich meine, es klang nicht so wie die Sackpfeifen aus Hibernia.«

»Das mag sein. Deine Landsleute haben das ebenso empfunden. Unsere Sackpfeifen sind ähnlich, aber doch ein klein wenig anders.«

»Wie anders?«

»Sie haben das Mundstück, eine Bordunpfeife und eine Spielpfeife. Die Luft wird in einem Sack aus Ziegenhaut gehalten. Manchmal nennen die Leute sie auch Apenninpfeife, nach dem Gebirgszug hier.«

»Man hat mir erzählt, es sei ein betagter Einsiedler, der sie spielt.«

»Aistulf? Er spielt die Muse meisterhaft.«

»Du kennst ihn?«

»Ja. Er ist ein gütiger Alter. Ich besuche ihn oft, schaue nach seinem Wohlbefinden.«

»Er spielt wirklich gut, aber er muss schon die Abgeschiedenheit lieben, wenn er so ganz allein in dieser Bergwelt lebt.«

»So allein ist er gar nicht. Bloß jetzt wird er einsamer sein als zuvor.« Auf Fidelmas fragenden Blick hin fügte sie hinzu: »Er ist ein Meister auf seinem Instrument, und hin und wieder hat er auch andere im Spiel auf der Muse unterrichtet, damit diese Kunstfertigkeit nicht verlorengeht.« Schwester Gisa wandte sich um und zeigte auf das hölzerne Kreuz, dessentwegen Fidelma den Friedhof aufgesucht hatte. »Er hat auch den kleinen Wamba gelehrt, auf der Muse zu spielen.«

»Wamba?«, fragte sie und tat, als bemerkte sie das Grabkreuz erst jetzt. »Das ist aber merkwürdig.«

Schwester Gisa runzelte die Stirn. »Merkwürdig? Was ist daran merkwürdig?«

»Auf allen anderen Grabsteinen steht Frater vor dem Namen. Und hier steht nur der Name.«

»Er war ja kein Mitglied der Bruderschaft.«

»Als was ist er dann in der Abtei tätig gewesen?«

»Wamba? Der hat überhaupt nicht in der Abtei gearbeitet. Er war nur ein Ziegenhirt. Er hat hier oben in den Bergen mit seiner Mutter gelebt. Zur Abtei ist er immer gekommen und hat Ziegenmilch verkauft. Er hat auch auf einer kleinen Muse gespielt, wie die meisten Jungen, die Schafe oder Ziegen auf den Berghängen hüten. Das hat er so gut gemacht, dass Aistulf ihm zuredete, das Spiel auf der Muse richtig zu erlernen.«

»Deinen Worten nach war er noch sehr jung, als er starb.«

»Gott sei ihm gnädig, er war kaum elf Jahre alt.«

»Und er ist erst vor kurzem gestorben?«

»Kurz bevor Faro und ich uns nach Genua aufmachten. Einen Tag, nachdem Bruder Ruadán zusammengeschlagen vor den Toren der Abtei lag.«

»Weißt du, wie der Junge ums Leben gekommen ist?«

»Es heißt, der Leichnam wurde unten an einer Felswand entdeckt. Er muss abgestürzt sein und sich das Genick gebrochen haben. Jemand hat den Toten gefunden und in die Abtei geschafft.«

»Ist das nicht ungewöhnlich, dass ein Ziegenhirt auf dem Friedhof einer Abtei bestattet wird?«

»Der Abt hat eine Sondergenehmigung erteilt, ihn hier zu begraben, weil er der Abtei kleine Dienste leistete. Weshalb interessiert dich das alles so, Schwester Fidelma?«

»Ich bin einfach von Natur aus neugierig, will immer alles genau wissen.«

»Bruder Waldipert hatte weit mehr mit ihm zu tun als die meisten von uns. Der ist für die Abteiküche zuständig und hat immer die Ziegenmilch von Wamba gekauft.«

»Die Abtei hat doch gewiss selber Ziegen und Kühe, die gemolken werden können?«, fragte Fidelma verwundert. In allen Abteien, die sie kennengelernt hatte, galt es, sich mit dem Lebensnotwendigen selbst zu versorgen.

»Natürlich. Doch seit den Tagen des Columbanus ist es guter Brauch, die Leute aus der Umgebung zu unterstützen. Jeder nach seinen Möglichkeiten und jedem nach seinen Bedürfnissen ist ein guter Grundsatz für das Leben in einer Gemeinschaft.«

Fidelma musste sich mit weiteren Fragen zurückhalten, um nicht unnötig Argwohn zu erwecken, und so meinte sie lediglich, als sie vom Grab weggingen: »Ist schon traurig, dass Wamba so jung sterben musste, wo er doch so begabt war.«

Ihre Gedanken aber kreisten um Bruder Ruadáns letzte Worte. Man hatte den Jungen wegen Münzen umgebracht. Und nun sagte Schwester Gisa, er wäre von einer Felswand gestürzt und hätte sich das Genick gebrochen. Für einen Ziegenhirten in den Bergen ein ungewöhnlicher Tod. Sie musste ihre Begleiterin irgendwie loswerden und Bruder Waldipert ausfindig machen. Ihr erstes Problem löste sich gleich, denn vorn am Gräberfeld tauchte Bruder Faro auf. Strahlend ging ihm Schwester Gisa entgegen. Fidelma bemühte sich, ein Lächeln zu unterdrücken. Wie konnte der Abt nur so blind sein und nicht bemerken, was die beiden verband?

»Was macht deine Wunde, Bruder Faro, heilt sie gut?«, begrüßte ihn Fidelma.

Der junge Mann warf Schwester Gisa einen prüfenden Blick zu, bevor er Fidelmas Frage beantwortete. »Alles ist wieder beinahe normal. Gott sei Dank. Ich kann den Arm ohne Schwierigkeiten bewegen.«

»Dazu hat bestimmt auch Schwester Gisas gute Pflege beigetragen«, sagte Fidelma ernst. »Deinen Verband mit dem zerdrückten Knoblauch werde ich mir merken«, versicherte sie dem Mädchen.

»Das habe ich von meinem Vater. Er ist … war ein guter Arzt.«

»Ich hatte schon schlimmere Wunden«, warf Bruder Faro ein, schwieg sofort und wurde rot.

»Du bist schon früher mal verwundet worden?«

»Aber nicht von einem Pfeil. Das war, bevor ich hierher kam.«

»In einer anderen Abtei?«

»Damals war ich noch kein Ordensbruder.«

»Dachte ich mir fast. Du siehst mehr wie ein Krieger als wie ein Mönch aus.«

Bruder Faro stutzte und schien verlegen. »Das war ich auch, aber dann habe ich die Sinnlosigkeit von Kriegen begriffen und bin hierhergekommen auf der Suche nach Frieden und Abgeschiedenheit.«

Fidelma schaute sich um in der friedvollen Umgebung des Tals und der Berge, nickte bedächtig und sagte: »Das kann ich gut verstehen.« Sie verabschiedete sich und ging zurück zur Abtei. Bruder Faro und Schwester Gisa waren nicht böse, allein gelassen zu werden.

Die Tür der Abteiküche öffnete sich zum herbarium, wie Fidelma herausfand. Das erleichterte ihr, sich der Küche zu nähern, ohne dass sich jemand wunderte, warum sie gerade dorthin wollte. Sie ging also in den Kräutergarten und dankte dem lieben Herrgott, dass Bruder Lonán nirgends zu sehen war. Beherzt eilte sie auf die Tür zu, aus der es angenehm duftete.

Sie war noch gar nicht richtig auf der Schwelle, da herrschte sie jemand mit grober Stimme an. Ein großgewachsener Mann mit einer Schürze über der Kutte stand über einen Tisch gebeugt und war dabei, einen Fisch auszunehmen. Er warf ihn in einen Kessel auf dem Herd, blickte hoch und wiederholte seine Frage in Latein. »Wer bist du? Was suchst du hier?«

»Ich bin Fidelma von Hibernia. Ich suche Bruder Waldipert.«

Der Mann schniefte und machte sich wieder an seine Arbeit. »Den hast du vor dir. Du bist der Gast des Abts. Bist gekommen, um Bruder Ruadán zu besuchen, stimmt’s? Ein Jammer, dass er gestorben ist. Er war ein guter Mensch.«

»Ich wollte mich bei dir nach einem anderen Toten erkundigen. Dem kleinen Jungen Wamba.«

Bruder Waldipert schaute sie erstaunt an. »Nach Wamba, dem Ziegenhirten? Warum fragst du gerade nach dem?«

»Mir ist der Name auf dem Grabkreuz aufgefallen, und ich habe mich gewundert, warum er auf dem Totenacker der Abtei bestattet wurde. Er war doch kein Mitglied der Bruderschaft.«

Das dickliche Gesicht des Mönchs sah mit einem Mal ernst und traurig aus. »Nach allem was recht ist, er gehörte zu uns und unserer Gemeinschaft. Der kleine Teufel. Jeden Tag kam er her und hat uns frische Milch verkauft. Auch auf der Muse war er richtig gut.«

»Ich habe bereits Schwester Gisa gefragt, warum jemand, der so jung war, auf dem Totenacker der Abtei beerdigt wurde. Sie hat mir einiges erzählt, doch das war nicht viel. Kannst du mir mehr über ihn sagen?«

Bruder Waldipert seufzte. »Er war etwa elf, oder so. Ein fröhlicher Bursche war er, jeden Tag kam er zur Abtei, wie ich schon sagte, und brachte uns Milch von seinen Ziegen. Wir gaben ihm dafür Gemüse und Kräuter, die wir hier anbauen.«

»War er nicht reichlich jung, um schon eine eigene Herde Ziegen zu besitzen?«

»Um Himmels willen, nein, das waren nicht seine Ziegen, die gehörten Hawisa, seiner Mutter. Er hat sie oben auf den Hängen vom Pénas gehütet, dem Berg dort hinter uns.« Er wies mit der Hand auf das Fenster, aus dem man die Berge sah, die sich hinter der Abtei erhoben.

»Er soll von einer Felswand gestürzt und so zu Tode gekommen sein, ist das wahr?«

»Ja. Man hat ihn unterhalb der Felsen gefunden«, bestätigte der Koch.

»Gibt es irgendwelche Erklärungen, warum er abstürzte und sich das Genick brach? Dass gerade einem Ziegenhirt, der tagaus tagein in den Bergen herumklettert, so etwas passiert, ist doch merkwürdig.«

Bruder Waldipert musterte sie einen Augenblick argwöhnisch. »Er war allein in den Bergen, leider. Wer will da wissen, wie es passiert ist? Unfälle kommen immer mal vor. Wieso interessierst du dich so dafür?«

»Einfach, weil ich das sonderbar finde. Ziegenhirten sind doch meist genauso sicher auf den Beinen wie ihre Ziegen.«

Der Koch zuckte die Achseln. »Stimmt schon. Wamba ist oben in den Bergen aufgewachsen. Vielleicht war er zu waghalsig. Als ich ihn zuletzt gesehen habe, und das war ein paar Tage, bevor man ihn gefunden hat, da war er ganz übermütig. Richtig fröhlich war er, brachte nicht nur die Milch, sondern erzählte mir auch, dass er irgendeine alte Münze gefunden hätte, die würde seine Mutter ordentlich reich machen.«

So harmlos wie möglich fragte Fidelma: »Eine Münze hatte er gefunden? Eine einzige nur?«

»Ja. Er hat sie mir sogar gegeben. Er war ganz stolz auf seinen Fund und prahlte damit. Wenn er noch mehr finden würde, hat er gesagt, könnte ihm das ganze Tal gehören. Ich hätte ihm beinahe eins hinter die Löffel gegeben. Vanitas vanitatum, omnia vanitas!«, rezitierte der Koch. »Stell dir mal vor, ein einfacher Ziegenhirt, und bildet sich ein, er könnte ebenso gut herrschen wie der Seigneur von Trebbia!«

»Selbst ein Ziegenhirt kann vom Glück träumen«, erwiderte ihm Fidelma und meinte es in allem Ernst. »Hat er dir erzählt, wo er die Münze gefunden hat?«

»Ich glaube, er hat nur gesagt, er hat sie gefunden. Dann wollte er noch wissen, ob ich ihm dafür was von unseren Sachen geben könnte, so wie für die Milch.«

»Und hast du das gemacht?«

Die feisten Wangen des Kochs wabbelten, so heftig schüttelte er den Kopf. »Nein, mir war klar, die Münze war etwas wert, schon allein wegen des Goldgehalts. Was für eine Münze genau das war, weiß ich nicht. Eine uralte jedenfalls. Ich habe ihm gesagt, ich würde sie dem Abt zeigen und mich weiter darum kümmern. Der Junge hat mir vertraut und zog zufrieden los, in der Hoffnung, ich würde was Günstiges für ihn erreichen. Ein paar Tage später erfuhr ich dann, man habe ihn tot aufgefunden.«

»Wie hast du das erfahren?«, fragte Fidelma.

»Von dem Krieger, der ihn entdeckt hat, von Wulfoald.«

»Wo bist du ihm begegnet?«

»Er war auf dem Berg unterwegs und ist dabei auf die Leiche des Jungen gestoßen. Ich glaube, er hat sie sofort zusammen mit Hilfe des Abtes hierhergeschafft, und der hat erklärt, wir könnten ihn in der Nekropole beerdigen.«

»Eine ungewöhnliche Entscheidung.«

»Der Abt war der Meinung, es wäre angebracht.«

»Hast du die Münze dem Abt gegeben?«

»Ich hatte es dem Jungen versprochen, und das Versprechen habe ich gehalten.«

»Und was hat der Abt damit gemacht?«

»Er hat Hawisa einiges dafür angeboten. Die Münze war alt, aber nicht allzu wertvoll. Hawisa war es zufrieden, wenigstens etwas zu bekommen, wo sie schon ihren einzigen Sohn verloren hatte. Ihre Ziegen hat sie einem Neffen anvertraut, der auch Ziegenhirt ist und uns jetzt so wie Wamba beliefert. Unsagbar traurig ist das alles. Ich verstehe bloß nicht, warum du so viele Fragen wegen des Jungen stellst.«

Fidelma mühte sich um ein vertrauenerweckendes Lächeln. »Wenn du willst, kannst du es Wissbegier nennen. Mich interessieren einfach die näheren Umstände.«

Unaufhörlich schwirrten ihr Bruder Ruadáns Worte durch den Kopf. »Er hätte nicht sterben dürfen, bloß weil er die Münzen gefunden hatte.« Die Münzen? Warum nicht eine Münze? Sie wurde unsicher. Bruder Ruadán hatte wohl nur gesagt: »Weil er die Münzen hatte«, nicht »weil er die Münzen gefunden hatte.« Vielleicht aber war Bruder Ruadán nicht mehr klar im Kopf gewesen. Selbst wenn sich die Aussagen ein wenig voneinander unterschieden, war das wirklich so wesentlich? Las sie vielleicht zu viel in die einfachen Worte hinein?

Sie bedankte sich bei Bruder Waldipert und ging hinaus ins herbarium. Bruder Lonán ließ sich immer noch nicht blicken. und so setzte sie sich in einer stillen Ecke auf eine Holzbank und überdachte, was ihr an Tatsachen bislang bekannt war.

Dass Bruder Ruadán vorsätzlich ermordet wurde, bezweifelte sie keinen Augenblick – man hatte ihn erstickt, höchstwahrscheinlich, um ihn daran zu hindern, ihr noch etwas mitzuteilen. Doch niemand hatte davon gewusst, dass sie ihn am Morgen, bevor er starb, ein zweites Mal besucht hatte. Niemand wusste, dass er die Münzen oder den Jungen erwähnt hatte. Schwester Gisa zufolge wurde der Junge etwa zur selben Zeit umgebracht, als Bruder Ruadán so entsetzlich zusammengeschlagen wurde. Wo war der Zusammenhang? Es musste einen geben. Wenn der Junge wegen der vermeintlich wertvollen Münze sein Leben hatte lassen müssen, dann kam auch der Abt ins Spiel, der sie ja erhalten hatte. Er hatte der Mutter des Jungen einen Gegenwert dafür geboten. Hätte er das getan, wenn er selbst in die Sache verstrickt war? Fidelma wusste nicht einmal, um welche Sache es sich handelte, lediglich, dass Bruder Ruadán von »Üblem und Bösem« gesprochen hatte. Zum Abt konnte sie wohl kaum gehen, um mehr zu erfahren. Was sollte sie ihm sagen? Mit welcher Ausrede sollte sie kommen, ohne zu verraten, was sie von Bruder Ruadán wusste?

Hier waltete ein Geheimnis, bei dem sich alles um den Tod des kleinen Wamba und eine alte Münze drehte. Wie konnte sie es lüften, ohne ungewollte Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen?

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