KAPITEL 14

Fidelma und Bruder Eolann ahnten nicht, mit welcher Ungeduld sie in der Abtei Bobium erwartet wurden. Bruder Bladulf, der Torhüter, hüpfte vor augenscheinlicher Freude von einem Bein auf das andere, als sie die Tore erreichten. Wulfoald und seine Gefährten hatten sie kurz vor der Abtei allein weiterreiten lassen und gedachten, die Nacht in der Siedlung zu verbringen. Bei ihrer Rückkehr zu Seigneur Radoalds Festung wollten sie dann die Pferde abholen. Das Problem Wamba und Wulfoald hatte Fidelma tunlichst auf sich beruhen lassen; um das zu klären, bedurfte es besonderer Achtsamkeit.

Bruder Wulfila, der Verwalter, bahnte sich einen Weg durch die neugierig herumstehenden Brüder, die sie begrüßen wollten. Hände streckten sich ihnen entgegen, um ihnen von den Pferden zu helfen. Die beiden ignorierten die auf sie einstürzenden Fragen und baten den Verwalter, sie unmittelbar zu Abt Servillius zu bringen.

Der Abt empfing sie in seiner Amtsstube. Er war nicht allein, der Ehrwürdige Ionas war auch da, hingegen fehlte Magister Ado. Bruder Wulfila blieb im Zimmer und schloss die Tür hinter sich.

»Meine erste Frage gilt eurem Befinden. Seid ihr wohlauf? Braucht ihr in irgendeiner Weise Bruder Hnikar?«, eröffnete der Abt das Gespräch.

»Wir sind beide wohlauf, Deo gratias«, erwiderte Bruder Eolann.

»Deo optimo maximo«, pflichtete ihm der Ehrwürdige Ionas ernst bei.

»Und nun haltet uns nicht länger im Ungewissen«, forderte der Abt sie auf. »Berichtet uns von eurem Abenteuer, das die gesamte Bruderschaft in Unruhe versetzt hat.«

Bereits auf ihrem Ritt durch das Tal hatten Fidelma und Bruder Eolann in ihrer Muttersprache abgesprochen, was und wie viel sie erzählen würden. Den Tod von Freifrau Gunora und das Verschwinden von Prinz Romuald würden sie nicht verschweigen, wohl aber, was sie über den Jungen Wamba, die Goldmünzen und seine Mutter Hawisa in Erfahrung gebracht hatten. Gewisse Auslassungen waren noch lange keine Lüge, sagte sich Fidelma und beruhigte ihr Gewissen mit einem entsprechenden Lehrsatz des Brehon Morann. Wenn man sich in einem wirklichen Dilemma befand, sollte man Gut und Böse abwägen und sich stets zugunsten des Guten entscheiden, selbst wenn man dafür in Kauf nehmen musste, etwas Unrechtes zu tun. Bis auf diese Auslassungen aber wollten sie wahrheitsgemäß berichten.

Bruder Eolann stellte die wesentlichen Fakten ihrer Gefangennahme und Entführung dar und wie man sie auf der Festung als Gefangene gehalten hatte, dann schilderte er die Einzelheiten ihrer Rettung und Flucht. Fidelma übernahm den Teil mit Freifrau Gunora und dem Auffinden ihrer Leiche.

Der Abt konnte es nicht fassen und wurde bleich vor Entsetzen. »Das kann nicht wahr sein«, stammelte er.

Der Ehrwürdige Ionas legte ihm eine Hand auf den Arm und redete beruhigend auf ihn ein. »Wenn es so geschehen ist, mein Freund, sollten wir dem Ungemach so rasch wie möglich auf den Grund gehen.«

Doch Abt Servillius konnte sich nur schwer beherrschen und überhäufte Fidelma mit Fragen, so dass der Ehrwürdige Ionas schließlich eingreifen musste und ihn energisch aufforderte, Fidelma ihre Geschichte zu Ende bringen zu lassen, anstatt voreilig Schlussfolgerungen zu ziehen. Für den Abt stand fest, dass der Seigneur von Vars für den Tod der Freifrau Gunora verantwortlich zu machen war, auch glaubte er, man hielte den junge Prinzen Romuald auf der Festung Vars gefangen.

Als Fidelma mit ihrem Bericht fertig war, legte ihr der Ehrwürdige Ionas in aller Ruhe seine Ansicht dar. »Grasulf ist schon seit langem ein Feind der Abtei hier, und wie du selbst herausgefunden hast, ist er auch ein Feind unseres Glaubens. Er hält sich an die alten Götter der Langobarden.«

»Dafür, dass der Junge auf der Festung sein könnte, haben wir jedenfalls keinerlei Anzeichen gefunden.« Fidelma hielt es für wichtig, das klarzustellen.

Abt Servillius wollte etwas entgegnen, wurde aber vom Ehrwürdigen Jonas höflich unterbrochen. »Gewiss ist Grasulf ein Abenteurer, der Freifrau Gunora und den Prinzen entführen lassen würde, wie es auch mit Schwester Fidelma und Bruder Eolann geschehen ist. Aber er würde sie nie ermordet haben. Dafür waren sie lebend viel zu wertvoll. Sie dem höchsten Bieter verkaufen, ja, dazu wäre er imstande. Er ist ein Mann ohne jede Moral. Hätte ihm Perctarit einen guten Preis geboten, hätte er ihm ohne weiteres den Prinzen und die Freifrau ausgehändigt. Ebenso wenn Grimoald seinen Sohn zurückverlangte und ihm einen entsprechenden Preis böte, er würde den Jungen an ihn verkaufen. Eine Leiche aber bringt kein Lösegeld.«

»Es könnte doch sein, dass der Junge auf Vars gefangen gehalten wird, und Freifrau Gunora wurde bei ihrem Versuch, seine Entführung zu verhindern, getötet.« Der Abt blieb hartnäckig.

»Die eigentliche Frage ist doch aber, was Freifrau Gunora mit dem Jungen oben auf dem Berg suchte?«, gab Fidelma zu bedenken. »Du hast gesagt, sie hätte die Abtei verlassen, weil sie glaubte, auf der Burg von Seigneur Radoald besseren Schutz für sich und den Jungen zu finden. Warum hat sie dann die entgegengesetzte Richtung eingeschlagen und ist den Berg hinaufgestiegen?«

Der Abt und der Ehrwürdige Ionas tauschten einen nervösen Blick, ehe Abt Servillius das Wort ergriff. »Es war, wie ich gesagt habe. Freifrau Gunora wurde von Unruhe erfasst, als Bischof Britmund hier auftauchte und sah, dass sie und der junge Prinz sich bei uns aufhielten. Sie erklärte, sich bei uns nicht sicher zu fühlen und lieber fortzuwollen. Sie bat darum, darüber Schweigen zu bewahren, und verließ noch vor Tagesanbruch mit dem Prinzen die Abtei.«

Bruder Wulfila machte mit einem Hüsteln auf sich aufmerksam. »Selbst mir, als dem Verwalter der Abtei, hat man kein Wort gesagt. Ganz bestimmt hätte ich ihr von ihrem Vorhaben abgeraten. In der Dunkelheit loszuziehen, war eine Torheit.«

»Ich entsinne mich, dass du nach ihr gesucht hast«, bestätigte Fidelma. »Und sie hat keinem sonst gesagt, dass sie gehen würde?«

»Mir schon«, gab der Abt zu. »Ich vertraute mein Wissen dem Ehrwürdigen Ionas an und natürlich auch Bruder Bladulf, dem Torhüter, denn er musste ja ihr Pferd holen und das Tor öffnen. Aber ich schwor ihn auf Geheimhaltung ein und versprach ihm jede Absolution, falls er sich in eine Lüge verstricken müsste, um die Abmachung zu wahren. Folglich gab es nur uns drei, die wussten, dass Freifrau Gunora und der Junge die Abtei verließen.«

»Bruder Bladulf musste das Pferd für sie satteln, sagst du. Heißt das, Freifrau Gunora und der Junge ritten auf nur einem Pferd los?«

»Auf nur einem Pferd, ja«, bestätigte der Abt. »Der Junge saß hinter ihr.«

Fidelma überlegte. »Fakt bleibt, dass ihr Leichnam in völlig entgegengesetzter Richtung gefunden wurde. Wenn sie und der Junge im Widerspruch zu ihrem angeblichen Ziel, der Zuflucht bei Seigneur Radoald, über den Pénas wollten, käme da noch ein anderer Ort in Frage, der ihr vorgeschwebt haben könnte?«

»Nicht, dass ich wüsste.« Der Abt unterstrich seine Antwort mit einem vehementen Kopfschütteln.

»Ich glaube, wir haben allen Grund zu handeln«, versuchte der Ehrwürdige Ionas das Gespräch auf praktische Überlegungen zu lenken. »Du sagst, ihr hättet den Leichnam in eine der Höhlen hinter dem Heiligtum des Columbanus geschafft. Wir müssen also ein paar Brüder losschicken, die Leiche zu bergen. Es geht nicht an, dass Freifrau Gunora unbestattet auf dem Berg dort oben liegt. Auch sollten wir Seigneur Radoald in Kenntnis setzen.«

»Wulfoald und seine Männer haben uns hierher begleitet«, sagte Fidelma. »Er wollte über Nacht in der Siedlung bleiben. Er würde sicher für Geleitschutz sorgen, wenn die Brüder sich aufmachen, den Leichnam der Freifrau zu bergen.«

»Geleitschutz?« Der Abt schien entsetzt. »Glaubst du etwa, Grasulf könnte über die Brüder herfallen?«

»Möglich wäre es.«

»Heute können wir nur noch wenig bewerkstelligen«, befand der Ehrwürdige Ionas. »Wenn ich etwas vorschlagen darf, Vater Abt, so sollten wir Schwester Fidelma und unseren guten scriptor entlassen, damit sie sich frisch machen und ihr abendliches Bad nehmen können, wie es in Hibernia üblich ist. Ein wenig Ruhe danach täte ihnen gut, und dann können sie mit uns gemeinsam zu Abend essen.« Er machte eine Pause und vergewisserte sich mit einem raschen Blick bei Fidelma. »Wir werden Wulfoald bitten dazuzukommen und ihm dabei unser Anliegen vortragen, Bruder Bladulf und einigen Brüdern Geleitschutz zu geben, um den Leichnam heimzuholen.«

Fidelma zögerte. »Wulfoald weiß nicht, dass wir die Leiche gefunden haben.«

»Warum, um Himmels willen, nicht?«, fragte der Ehrwürdige Ionas erstaunt.

Rasches Überlegen war geboten, denn noch wollte Fidelma nichts von ihren Verdachtsmomenten in Bezug auf Wulfoald kundtun. »Bei unseren Abenteuern auf der Flucht von Grasulfs Festung kam eine solche Frage gar nicht auf«, erwiderte sie ausweichend. »Meine Gedanken waren nur auf eine sichere Rückkehr zur Abtei gerichtet.«

»Das ist allzu verständlich«, meinte der Abt. »Doch jetzt müssen es Wulfoald und Seigneur Radoald ohne weiteren Zeitverzug erfahren. Bruder Wulfila wird zur Siedlung gehen und Wulfoald zum Abendessen einladen. Dann können wir ihm die näheren Umstände des tragischen Vorfalls schildern.«

Fidelma war schon im Gehen, als sie noch eine Frage stellte. »Wo ist eigentlich Magister Ado? Ich habe ihn nirgends gesehen. Ich hoffe doch, er ist wohlauf?«

»Magister Ado? Der ist nach Travo gegangen«, erfuhr sie vom Abt. »Er verließ die Abtei, kurz nachdem ihr euch auf den Weg zum Heiligtum auf dem Pénas aufgemacht hattet.«

»Und wo liegt Travo?« Sie glaubte, den Namen schon einmal gehört zu haben.

»Es liegt weiter unten im Tal, mehr nach Placentia hin. Der heilige Antonino hat dort unter Diokletian den Märtyrertod erlitten. Magister Ado verlangte es, eine Opfergabe zu entrichten, denn die Kirche dort hat sich als eine der Ersten in unserem Tal zum Glauben bekannt. Er müsste in ein oder zwei Tagen wieder zurück sein. Deine wohlbehaltene Rückkehr wird ihn freuen.«

Nachdem Fidelma gebadet und die Kleidung gewechselt hatte, fühlte sie sich trotz all der Strapazen ungewöhnlich frisch. Hellwach betrat sie das refectorium. Statt der früher eher argwöhnischen Blicke hatten die Mönche heute ein Lächeln für sie übrig. Auch die kleine Gruppe Nonnen war wieder da, aber Schwester Gisa konnte sie nirgends entdecken. Bruder Faro fehlte ebenfalls. Sie steuerte auf Wulfoald zu, der beim Abt und dem Ehrwürdigen Ionas stand.

Wulfoald war nicht gerade erbaut, sie zu sehen. »Dass ihr den Leichnam von Freifrau Gunora gefunden habt, hättet ihr mir sofort mitteilen müssen. Seigneur Radoald hat das ganze Tal nach ihr absuchen lassen.«

Fidelma wollte ihm darauf antworten, doch Abt Servillius plädierte dafür, erst nach dem Essen darüber zu sprechen. Als alle die Plätze eingenommen hatten, zelebrierte er einen längeren Lobpreis auf Gott, der Fidelmas und Bruder Eolanns Schritte durch alle Gefahren zum guten Ende gelenkt hatte. Er konnte es nicht unterlassen, dem einige herbe Worte über Grasulfs heidnische Götzenverehrung hinzuzufügen.

Nach dem abendlichen Mahl lud Abt Servillius Wulfoald, Fidelma, den Ehrwürdigen Ionas und Bruder Eolann in sein Gemach. Fidelma erläuterte Wulfoald, wo sie die Leiche Gunoras gefunden und wohin sie sie gebettet hatten.

»Hätten wir das früher gewusst, hätte Radoald seinen Wachposten das sinnlose Suchunternehmen ersparen können«, brummte der Krieger. »Wie dem auch sei, wir liegen wohl richtig in der Annahme, dass die unmittelbare Gefahr von Vars kommt.« Er wandte sich an Fidelma: »Weitere Gefangene sind euch während eurer Kerkerhaft auf der Festung nicht aufgefallen?«

»Nein. Wir haben keine anderen Gefangenen gesehen.«

»Das will nicht heißen, dass Prinz Romuald nicht doch dort war«, bemerkte Abt Servillius.

»Das ist richtig«, meinte Fidelma. »Ihr glaubt also, dass höchstwahrscheinlich Grasulf für den Tod von Freifrau Gunora und das Verschwinden des Prinzen verantwortlich ist?«

»Er ist zweifelsfrei die einzige Person, die in Frage kommt. Er stellt für die Sicherheit unserer Täler eine Gefahr dar.« Wulfoalds Stimme klang entschieden.

»Was mich beschäftigt, ist Folgendes: Wenn Freifrau Gunora von hier aufbrach, um Schutz auf Seigneur Radoalds Festung zu suchen, weshalb haben wir ihre Leiche dann in genau entgegengesetzter Richtung oben auf dem Pénas gefunden?« Die gleiche Frage hatte Fidelma schon einmal aufgeworfen, aber keine Antwort darauf bekommen.

»Das könnte mehrere Gründe haben«, erwiderte Wulfoald achselzuckend. »Vielleicht hat man sie gefangen genommen, dort hingebracht und dann erst getötet.«

Zugegebenermaßen war das eine logische Erklärung, sie beeindruckte Fidelma aber wenig.

»Ich werde noch heute Abend einen meiner Männer losschicken, damit er Seigneur Radoald in Kenntnis setzt«, fuhr Wulfoald fort. »Die Gerüchte nehmen zu und klingen bedrohlich. Sollte Perctarit mit einer fränkischen Armee schon tatsächlich nördlich von Mailand stehen, ist äußerste Wachsamkeit geboten. Dann ist er nicht mehr fern.«

Abt Servillius war immer noch mit der für ihn wichtigen Mission beschäftigt. »Was wird mit der Leiche der Freifrau?«

»Bruder Bladulf sollte sich, wie du selbst vorgeschlagen hast, morgen früh mit ein paar Brüdern zum Heiligtum begeben, um sie zu bergen. Ich werde ihm zwei meiner Krieger zum Geleitschutz schicken und einen weiteren zu Seigneur Radoald, um ihm entsprechenden Bericht zu erstatten.«

»Die Spur, der wir nach oben folgten, führte an der Hütte eines Ziegenhirten vorbei, in der eine alte Frau namens Hawisa haust«, erwähnte Fidelma.

»Hawisas Hütte ist mir bekannt«, beteuerte Wulfoald leichthin. Dass Fidelma erstaunt aufblickte, bemerkte er nicht.

Abt Servillius schaute in die Runde. »Wir sind nun hinlänglich über die Sachlage informiert und sollten Fidelma, unserem Gast, nach den aufregenden Erlebnissen etwas Ruhe gönnen. Ebenso Bruder Eolann. Wulfoald wird das, was er für nötig hält, in die Wege leiten.«

Fidelma war die Letzte, die ging. Sie stand schon an der Tür, drehte sich aber noch einmal um und eröffnete dem Abt: »Fast hätte ich es vergessen: Bevor wir neulich aufbrachen, hatte ich ein Gespräch mit Bruder Waldipert.«

»Mit Bruder Waldipert, dem Koch?«, fragte der Abt zurück, ohne recht bei der Sache zu sein.

»Ja, es hat nicht unbedingt etwas mit den anderen ernsteren Dingen zu tun. Es ist mir nur gerade eingefallen, verzeih, wenn ich erst jetzt die Sprache darauf bringe. Ich hatte einmal beiläufig erwähnt, dass ich ein Interesse für alte Münzen hege. Bruder Waldipert sagte, ihm sei vor einiger Zeit eine solche untergekommen, und er hätte sie dir übergeben. Er hätte sie nicht richtig zuordnen und auch ihren Wert nicht einschätzen können.«

»So? Mir gegeben? Das kann nicht sein … Oder doch, ja, das ist schon etliche Wochen her.«

»Er glaubte, man hätte sie hier irgendwo gefunden, sie war auf alle Fälle sehr alt. Ob ich sie mal sehen könnte? Wie gesagt, alte Münzen faszinieren mich.«

Der Abt sah sie groß an und machte eine ablehnende Handbewegung: »Das ist nicht möglich, Schwester Fidelma.«

»Ach nein?«

»Ich gedachte sie sicher aufzubewahren, doch dann war sie plötzlich spurlos verschwunden. Wir haben das Oberste zuunterst gekehrt, haben sie aber nicht finden können. Man möchte ja keinen unserer Brüder verdächtigen, doch ich finde keine andere Erklärung, jemand muss sie mit Vorsatz entwendet haben. Wiederum war es nur eine kleine Münze, zwar aus Gold, aber nicht sonderlich wertvoll. Der Verlust war zu verschmerzen.«

Seinem Tonfall war zu entnehmen, dass er das Gespräch für beendet hielt, also neigte Fidelma den Kopf und ging.

Kaum hatte sie die Tür hinter sich geschlossen, eilte sie durch den menschenleeren Gang auf den Hof. Es war dunkel draußen, nur ein paar Fackeln brannten und warfen unruhige Schatten. Sie erkannte Wulfoald, der noch mit dem Ehrwürdigen Ionas zusammenstand; sie waren gerade im Begriff, sich zu trennen, und Wulfoald schritt bereits zum Tor.

»Wulfoald, einen Moment noch, bitte!«

Er drehte sich um. »Schwester Fidelma. Kann ich irgendwie helfen?«

Sie ging auf ihn zu. »Ich muss dir ein paar Fragen stellen.«

»Fragen, Fidelma? Worum geht es?«

»Du hast die Leiche des Jungen Wamba gefunden, stimmt’s?«

Er kniff leicht die Augen zusammen. Obwohl sie im Halbdunkeln standen, sah sie es genau.

»Wamba?«, wiederholte er. »Was weißt du von Wamba?«

»Er war ein junger Ziegenhirt und liegt jetzt in der Totenstadt der Abtei begraben.«

»Ungefähr eine Woche, bevor du nach Bobium kamst, wurde er dort beerdigt. Wieso beschäftigt dich das?«

»Es wäre einfacher, wenn du erst meine Fragen beantworten würdest, dann weiß ich, ob das alles einen Sinn ergibt, oder ob ich nur Gespenster sehe.«

Wulfoald zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Also bitte schön, was willst du wissen?«

»Du bestätigst, seinen Leichnam gefunden zu haben?«

»Ja. Möchtest du die Einzelheiten hören? Ich ritt über die Berge, folgte dem Weg über den Pénas zur Abtei hier. Unterhalb der Felswand neben der Fährte entdeckte ich zufällig die Leiche des Jungen. Offensichtlich war er herabgestürzt und hatte sich das Genick gebrochen.«

»Was geschah, nachdem du den Leichnam entdeckt hattest?«

»Ich kannte den Jungen. Er war Ziegenhirt und lebte bei seiner Mutter Hawisa. Von dort, wo ich ihn gefunden hatte, war es nicht weit bis zu ihrer Hütte. Du hast ja selbst gesagt, dass ihr auf dem Weg zur Bergkapelle bei ihr vorbeigekommen seid.«

Fidelma bewahrte die Fassung und zeigte keinerlei Überraschung. »Du kennst sie, sagst du?«

»Selbstverständlich. In dem Tal hier kennt jeder jeden.«

»Was hast du gemacht? Mit der Leiche von Wamba, meine ich.«

»Ich habe ihn heimgeschafft.«

»Heimgeschafft?«

»Zu seiner Mutter Hawisa.«

»Du hast ihn zu ihr in die Hütte geschafft?«, vergewisserte sich Fidelma noch einmal.

»Wohin hätte ich ihn denn sonst bringen sollen?«, fragte der Krieger verärgert.

Fidelma entschloss sich, ihm das, was sie aus Hawisas Schilderung wusste, nicht länger vorzuenthalten.

»Und wenn ich dir jetzt erzähle, dass Hawisa gesagt hat, du hättest den Leichnam unmittelbar zur Abtei gebracht, und dass, als sie hier ankam, der Junge bereits bestattet worden war?«

Wulfoald sah sie erstaunt an. »Dann kann ich nur feststellen, dass einer von uns dir nicht die Wahrheit gesagt hat«, erwiderte er langsam.

»Warum sollte die alte Frau gelogen haben?«

»Warum sollte ich gelogen haben?«, gab der Krieger scharf zurück.

»Der Gründe gäbe es viele.«

»Frag doch Abt Servillius, wenn du meine Worte anzweifelst.«

»Abt Servillius? Was hat der damit zu schaffen?«

»Er war in Hawisas Hütte, als ich ihr den toten Jungen brachte.«

Jetzt war sie es, die ihn erstaunt ansah. »Was hat der denn dort gemacht?«

»Er hatte Wamba oder Hawisa aufsuchen wollen, um ihnen Auskunft über den Wert einer Münze zu geben, die der Junge gefunden und zur Abtei gebracht hatte. Es muss sich um eine kleine und nicht sehr wertvolle Münze gehandelt haben, die der Junge aber für wertvoll hielt. Gemeinsam haben wir mit Hawisa festgelegt, dass der Junge seine letzte Ruhestätte auf dem Friedhof der Abtei erhalten sollte. Noch am gleichen Abend kamen wir hierher, um ihn zu bestatten. Hawisa blieb unten in der Siedlung bei einem Verwandten.«

Fidelma stand wie versteinert, sie konnte es nicht fassen, mit welcher Selbstverständlichkeit der Mann die Dinge darlegte. »Ich frage noch einmal«, sagte sie schließlich, »weshalb sollte die alte Frau gelogen haben?«

Jetzt begehrte Wulfoald ernstlich auf. »Dafür weiß ich keine Erklärung. Aber es gibt eine Möglichkeit, deine Frage zu beantworten.«

»Nämlich welche?«

»Sie der Person zu stellen, die sie als Einzige beantworten kann.«

»Hawisa?«

»Genau. Wenn meine Männer morgen zu dem Heiligtum aufbrechen, werde ich sie bis zu Hawisas Hütte begleiten. Sie können dann weiterziehen, ich werde jedoch Hawisa zur Rede stellen.«

»Du hast doch nichts dagegen, wenn ich mitkomme?«

»Ich habe nichts anderes erwartet. Aber bist du sicher, dass du dort wieder hinaufwillst, nachdem man dich schon einmal oben entführt hat? Hältst du das für klug?«

»Ob klug oder nicht, ich denke, wir sollten beide die Antwort hören, die Hawisa zu geben hat, da wir beide völlig entgegengesetzte Aussagen über den Tod ihres Jungen haben.«

»Einverstanden. Du hast recht. Wir treffen uns also hier bei Tagesanbruch.«

»In Ordnung. Da wäre nur noch eins, Wulfoald.«

»Wirklich nur noch eins?« Er lächelte schwach.

»Ist dir irgendetwas Verdächtiges aufgefallen, als du Wamba tot aufgefunden hast?«

»Etwas Verdächtiges?« Er blickte sie forschend an, trat einen Schritt näher und versuchte, in ihrem Gesicht zu lesen. »Was willst du damit sagen?«

»Es heißt, Wamba habe irgendwie danebengetreten, den Halt verloren, sei hinabgestürzt und habe sich das Genick gebrochen.«

»Was sonst hätte passiert sein sollen?«

»Ja, was sonst?«, wiederholte sie leise, ließ die Frage aber unbeantwortet.

»Ich weiß nicht, was dir im Kopf herumgeht. Was ich weiß, habe ich dir gesagt. Morgen werden wir versuchen herauszufinden, warum man dir eine Geschichte aufgetischt hat, die völlig im Gegensatz zu dem steht, was sich wirklich zutrug.«

Er drehte sich um und ging raschen Schritts auf die Tore der Abtei zu. Ein Schatten löste sich – sie erkannte Bruder Bladulf –, ein Torflügel schwang auf, und Wulfoald passierte. Fidelma stand noch einen Augenblick da und schaute ihm nachdenklich hinterher. Dann kehrte sie kurz entschlossen zu den Räumen des Abtes zurück, vor denen Bruder Wulfila, der Verwalter, Wache hielt.

»Ich wünsche den Abt zu sprechen«, erklärte sie ihm.

»Er hat sich zur Nacht zurückgezogen und ausdrücklich verlangt, nicht gestört zu werden. Es wundert mich, dass du nach all den Strapazen immer noch auf bist, Prinzessin.«

»Der Abt steht sicherlich früh auf, oder?«

»Im Allgemeinen ja.«

»Dann muss es bis morgen warten.«

Der Verwalter neigte den Kopf. »Vade in pace

Draußen warf Fidelma einen raschen Blick nach oben zu den Fenstern des scriptorium. Ein Licht flackerte hinter der einen Scheibe. Zielstrebig ging sie durch die Halle, bog nach links in den kleinen abgeschiedenen Raum und eilte von dort die Stufen zum Turm hoch.

Die Tür zum scriptorium war nicht verschlossen. Sie trat ein und fand Bruder Eolann an seinem Pult, auf der ein Talglicht brannte. Müde schaute er auf.

»Du sitzt noch spät über den Büchern, Bruder Eolann«, sagte sie. »Dabei solltest du nach den Abenteuern, die wir hinter uns haben, längst schlafen.«

»Es gibt viel zu tun, Lady, ich muss die verlorene Zeit wieder wettmachen.«

»Wir haben beide ein wenig Ruhe verdient«, meinte sie.

Bruder Eolann sah sie erwartungsvoll an. »Irgendetwas treibt dich um, Lady. Was ist es?«

»Du entsinnst dich doch noch unserer Unterhaltung mit Hawisa, der Mutter vom kleinen Wamba?«

»Natürlich. Wieso?«, fragte er verwundert.

»Glaubst du, dass sie uns die Wahrheit gesagt hat?«

»Meines Erachtens ja. Weshalb fragst du?«

»Ich wollte herausfinden, warum Wulfoald den Leichnam des Jungen unmittelbar hierher in die Abtei zur Bestattung gebracht hat und nicht erst zu ihr in die Hütte. So und nicht anders hat sie es uns doch erzählt, oder?«

Der Bibliothekar schaute sie verwirrt an. »Ich weiß noch ganz genau, was sie gesagt hat.«

»Nichts liegt mir ferner, als deine Kenntnisse des Langobardischen oder dein Übersetzungsgeschick in Frage zu stellen, doch bist du wirklich davon überzeugt, dass sie uns die Wahrheit erzählt hat?«

»Ich kann nur wiederholen, dass ich keinerlei Zweifel an der Ehrlichkeit ihrer Schilderung hatte.«

»Ich habe vorhin Wulfoald befragt, und er sagt etwas ganz anderes. Er behauptet, den Leichnam des Knaben zu ihrer Hütte geschafft zu haben, aber nicht nur das, er erklärt weiterhin, er hätte dort zu eben dem Zeitpunkt Servillius bei Hawisa angetroffen.«

»Abt Servillius wäre dort gewesen? Das höre ich zum ersten Mal, davon hat sie kein Wort gesagt.« Selbst in dem fahlen Kerzenlicht sah Fidelma, dass Bruder Eolann bleich geworden war. Er schüttelte energisch den Kopf. »Das kann nicht sein, Lady. Einer von beiden lügt, und ich würde sagen, es ist Wulfoald. Die alte Frau hat klar und ohne Umschweife gesprochen. Ich kann da nichts missverstanden haben.«

»Ich dachte es mir.« Ihr Stoßseufzer war nicht zu überhören.

»Wie dem auch sei, es gibt eine Möglichkeit, hinter die Wahrheit zu kommen«, fuhr Bruder Eolann fort. »Frag Abt Servillius, ob er dort war.«

»Er hat sich bereits zur Nachtruhe zurückgezogen. Ich werde ihn morgen früh fragen. Aber ich muss herausbekommen, warum Hawisa uns belogen hat.«

»Wie willst du das aber …«

»Ich habe mit Wulfoald vereinbart, dass wir bei Tagesanbruch zu ihrer Hütte reiten und noch einmal mit ihr sprechen«, fiel sie ihm ins Wort.

»Ist das eine vernünftige Idee? Wenn es nicht Hawisa ist, die gelogen hat, dann war es Wulfoald, und wenn er es getan hat, dann aus gutem Grund – und den wird er wohl für sich behalten wollen.«

»Das ist mir auch schon durch den Kopf gegangen, und genau deshalb musst du mit dabei sein. Ich baue auf dich. Du wirst deine Ohren spitzen und beim Übersetzen sorgsam auf deine Wortwahl achten, damit ich exakt von dem unterrichtet werde, was Hawisa zu Wulfoald sagt.«

Das begeisterte ihn offenbar wenig. »Ist das unbedingt nötig?«

»Ja.«

»Wenn du meinst, dann komme ich mit.«

»Großartig. Dann also bei Tagesanbruch auf dem Hof.«

Als Fidelma durch das Gewölbe ging, das auf den Hof führte, hörte sie Pferdegetrappel. Im Schatten des Kreuzgangs blieb sie stehen und beobachtete, wie zwei Reiter die Abtei verließen. Obwohl sie sie nur von hinten und im schwachen Licht der Fackeln sah, erkannte sie doch, dass es ein Mann und eine Frau waren. Rasch verschwanden sie in der Dunkelheit. Neugierig geworden, näherte sie sich Bruder Bladulf, der die Tore schloss.

»Wer hat da eben die Abtei verlassen?«, fragte sie ihn.

Überrascht drehte sich Bruder Bladulf um. »Ach, du bist es, Schwester …, hm, edle Dame. Das war der Abt.«

Sie sah ihn erstaunt an. »Der Abt hatte sich doch aber zur Nachtruhe zurückgezogen und strikte Anweisung gegeben, nicht gestört zu werden. Und wer war die Frau, die mit ihm ritt?«

»Schwester Gisa. Sie kam, um den Abt zu holen. Ein Notfall«, wie sie sagte.

»Ein Notfall?«

»Der alte Aistulf. Ihm geht es nicht gut, und da wollte Schwester Gisa den Abt holen.«

»Aistulf?«

»Du hast von ihm gehört? Er muss schon früher ein Freund von Abt Servillius gewesen sein, tauchte aber erst vor zwei Jahren in dem Tal hier auf. Er ist Einsiedler, spielt die Muse und scheut jedweden Kontakt mit anderen. Er zieht es vor, in einer Höhle zu schlafen und durch die Wälder zu streifen.«

»Dann muss mit Aistulf etwas Außergewöhnliches passiert sein. Geschieht es oft, dass der Abt mitten in der Nacht aufsteht und unverzüglich seinem Ruf Folge leistet?«

»Nicht oft. Aber es ist schon vorgekommen, dass er eine Nachricht geschickt und der Abt darauf reagiert hat. Diesmal aber war Schwester Gisa in heller Panik, vielleicht ist etwas Ernstliches mit Aistulf«

»Weshalb holt man dann nicht Bruder Hnikar?«

»Bruder Hnikar?« Der Torhüter verzog das Gesicht. »Nicht, dass du mich falsch verstehst. Er ist ein guter Arzt. Aber wenn ich im Sterben läge und Zuspruch brauchte, wäre er der Letzte, nach dem ich schicken würde, von dem würde ich nur eine Predigt zu hören bekommen, was für ein gänzlich anderes Leben ich hätte führen müssen; wenn das letzte Stündlein geschlagen hat, ist sowieso nichts mehr zu ändern.«

»Geht er wirklich so grob mit seinen Kranken um?«

»Wenn ich Einsiedler wäre, ein Leben im Einklang mit der Natur führte, würde ich nicht nach ihm schicken. Aber das tut ja jetzt nichts zur Sache. Die Einzigen, denen Aistulf traut, sind Abt Servillius und Schwester Gisa. Es heißt, Schwester Gisa kenne sich in der Kunst eines Apothekers gut aus.«

»Ist es weit bis zu ihm?«

»Eine gute Frage, edle Dame, nur habe ich keine Antwort darauf. Irgendwo oben in den Bergen jenseits des Flusses.« Er wies in die gegenüberliegende Richtung zu den Hängen des Monte Pénas. »Allein der Abt und Schwester Gisa wissen, wo er sich aufhält. Doch es ist schon spät, und ich muss früh raus, soll die Brüder zum Heiligtum führen, um den Leichnam von Freifrau Gunora von dort in die Abtei zu schaffen.«

Fidelma verstand den Wink und machte sich auf den Weg zum Gästehaus. Auch sie spürte, wie müde sie war. Kaum hatte sie sich ausgestreckt, da war sie auch schon eingeschlafen, kein Aufruhr der Gedanken konnte ihr noch etwas anhaben.

Jemand rüttelte sie an der Schulter. Sie blinzelte, versuchte zu sich zu kommen und schoss hoch. Bruder Wulfila, der Verwalter, stand mit einer Kerze vor ihrem Bett.

»Venus, der Morgenstern, steht klar am östlichen Himmel. Der Morgen graut. Ich soll dich wecken. Bruder Bladulf ist mit einigen Brüdern schon zur kleinen Bergkapelle losgezogen.«

»Schon Morgengrauen?« Sie versuchte, den Kopf klar zu bekommen.

»Wulfoald steht auf dem Hof bereit und hat veranlasst, dass ein Pferd für dich gesattelt wird.«

»Wulfoald?« Jetzt war sie hellwach. »Es tut mir leid, Bruder Wulfila. Ich war gestern Abend völlig erschöpft und bin noch etwas durcheinander. Verzeih. Sag Wulfoald, dass ich sogleich unten bin.«

Er ließ die Kerze für sie da und ging zur Tür, als sie ihm nachrief: »Ist Bruder Eolann auch schon auf dem Hof?«

Bruder Wulfila runzelte die Stirn. »Bruder Eolann, der scriptor, edle Dame?«

»Ja.«

»Nein, der ist nicht dort.«

»Vielleicht hat er wie ich verschlafen. Könntest du dich darum kümmern, dass er geweckt wird? Er kommt mit Wulfoald und mir mit, wird sich also beeilen müssen.«

Der Verwalter sah sie erstaunt an. »Du magst kommen und gehen, wie du willst, der scriptor aber braucht die Erlaubnis vom Abt.«

Fidelma stöhnte ungeduldig auf. »Ist denn Abt Servillius schon zurück? Er ist am späten Abend noch ausgeritten, weil Aistulf, der Einsiedler, nach ihm verlangt hatte.«

Bruder Wulfila schüttelte den Kopf. »Er ist noch nicht zurück.«

»Na gut. Wenn er unbedingt eine Erlaubnis braucht, dann versuch sie bitte vom Ehrwürdigen Ionas zu bekommen und trage dafür Sorge, dass Bruder Eolann rechtzeitig zur Stelle ist. Er wird dringend benötigt.«

»Geht in Ordnung. Im Augenblick ist noch nicht viel Leben in der Abtei, die meisten waren ja auf, um das Feuer zu sehen.«

»Feuer? Was für ein Feuer?«

»Im Gebirge oben, auf dem Pénas, hat es ein großes Feuer gegeben. Die Flammen loderten hell in der Dunkelheit. Viele der Brüder waren wach geworden und sind hinausgegangen, um es zu beobachten. Es hat lange gebrannt. Etwas Außergewöhnliches ist das nicht. Wenn es sehr heiß ist, kommt es da oben hin und wieder zu einem Waldbrand.«

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