KAPITEL 13

Draußen befahl Kakko einem verdrießlich dreinschauenden Krieger, sie zurück in ihr Verließ zu bringen. Fidelma nutzte die Gelegenheit, Eolann in ihrer Sprache zu fragen: »Hast du gesehen, wer das war?«

»Ich habe den Mann nicht erkannt. Weshalb fragst du?«

»Es war der Arzt von Radoald, dem Seigneur von Trebbia.«

»Mir ist nichts an ihm aufgefallen. Ich bin ihm nie begegnet, habe ihn nur einmal aus der Entfernung gesehen.« Dennoch schien Bruder Eolann überrascht zu sein. »Was sucht ausgerechnet er hier? Ich hätte nie gedacht, dass Radoald etwas mit diesem Grasulf gemein hat.«

Fidelma musste an die Gruppe im Hof von Radoalds Festung denken, die sie beobachtet hatte, und daran, wie Suidur mit den beiden großen Männern in schwarzen Umhängen gesprochen hatte, die möglicherweise die gewesen waren, die Magister Ado überfallen hatten. Und nun tauchte dieser Suidur auf der Festung des Seigneurs von Vars auf. Hatte das eine mit dem anderen zu tun, und wenn ja, wie?

»Ich habe eine Idee …«, begann sie, aber da waren sie schon an der Tür zu ihrer Gefängniszelle. Der Wächter wies nur auf Fidelma, bedeutete ihr, hineinzugehen, und verriegelte hinter ihr die Tür. Drinnen hatte man bereits eine Lampe für sie angezündet. Sie hörte, wie der Wächter Bruder Eolann anherrschte, und gleich darauf fiel geräuschvoll eine Tür zu. Was sie hatte sagen wollen, würde nun also bis zum nächsten Morgen warten müssen, wenn man sie und Bruder Eolann wieder in Grasulfs scriptorium ließ, wo sie frei würden reden können.

Sie machte die wenigen Schritte zum Bett, als sie deutlich und ganz aus der Nähe Eolanns Stimme vernahm. »Kannst du mich hören, Lady?«

Flugs schaute sie sich um, konnte aber nichts ausmachen.

»Ich höre dich, ja. Wo bist du?«

»In der Wand hier ist ein Gitter. Ich vermute, ich stecke direkt nebenan.«

Die Stimme kam tatsächlich irgendwie aus der Wand. Jetzt erkannte auch sie unmittelbar über dem Kopf ein kleines Gitter.

»Ich sehe das Gitter, ja.«

»Gut. Man hat uns zwar getrennt, aber wir können wenigstens miteinander sprechen.«

»Stimmt.«

»Du sagtest vorhin, du hättest eine Idee«, fing Bruder Eolann an.

»Was für eine, willst du wissen?« Fidelma ging dicht an die Wand. »Wie wir flüchten natürlich.«

Kurzes Schweigen auf der anderen Seite. Dann: »Du musst schon entschuldigen, Lady, einen ähnlichen Gedanken hatte ich, als man uns am Monte Pénas gefangen nahm. Von hier aber ist kein Entrinnen möglich, und wenn du eine Flucht vom scriptorium aus erwägst, dann müssten wir tatsächlich fliegen können, wie der Verwalter spöttisch meinte.«

»Oder aber wir klettern«, gab Fidelma unbeirrt zurück.

Bruder Eolann hielt den Atem an. »Wie stellst du dir das vor? Klettern? Wo denn?«

»Du bist doch ein guter Kletterer, nicht wahr? Ich habe mich selbst davon überzeugen können, als wir uns unter dem gefährlichen Vorsprung am Monte Pénas weiterhangelten.«

»Das ist nicht mit der senkrechten Felswand hier zu vergleichen. Da hinunterzuklettern, kannst du vergessen.«

»Wieso?«

»Erstens sind wir hier eingesperrt. In die Bibiliothek lässt man uns nur tagsüber; selbst wenn wir so tollkühn wären und den Abstieg wagten, würde man uns im Hellen sofort entdecken. Außerdem brauchten wir zur Flucht ein wenig mehr als das, was wir auf dem Leib haben, erst recht, wenn wir es tatsächlich bis hinunter ins Tal schaffen würden. Wie willst du Kakko davon überzeugen, dass wir in der Bibliothek unsere Mantelsäcke benötigen? Und was, wenn wir wie durch ein Wunder die Talsohle erreichen? Dort unten ist eine kleine Siedlung, und wenn uns da nicht ohnehin schon Krieger erwarten, so gibt es genügend andere, denen wir auffallen dürften.«

Fidelma ließ sich seine Bedenken durch den Kopf gehen. »Deine Einwände sind berechtigt. Und doch ist es besser, die Gelegenheit zu nutzen und nichts unversucht zu lassen. Meiner Meinung nach ist der Abstieg machbar. Von der Mitte der Terrasse aus gesehen erscheint es einem als unmöglich, da ist bloßer Abgrund. Darum werfen sie ihre zum Tode verurteilten Gefangenen auch just von der Stelle hinunter. Aber ich habe mir die Ecken angeschaut, besonders die, wo man den Eindruck hat, ein Stück von der Bibliothekswand würde über den Abgrund ragen. Tut sie aber nicht. Ein Felsmassiv stützt sie ab – und ich denke, man könnte sich verhältnismäßig leicht bis dorthin vorarbeiten. Sind wir erst mal so weit, bietet die Felswand kleine Vorsprünge und Aushöhlungen zum Festhalten und fällt nicht gar so steil ab.«

Schweigen auf der anderen Seite. Dann ein Flüstern. »Eins muss ich dir zugestehen, Lady, in dir fließt wirklich das Blut einer Eóghanacht. Bist eine echte Kämpfernatur. Das ändert aber nichts an der Sache. Was dir da vorschwebt, ist einfach töricht. Du kannst von der Terrasse unmöglich überblicken, wie es sich mit der Felswand weiter unten verhält. Wir könnten leicht auf halber Strecke festsitzen.«

»Ich werde morgen versuchen, die Sache etwas genauer zu erforschen. Wenn ich den Eindruck gewinne, es ist machbar, dann bin ich entschlossen, es zu wagen, egal, ob es töricht ist oder nicht«, erwiderte sie entschieden.

»Und was ist mit den anderen Problemen? Wie sollen wir die Mantelsäcke in die Bibliothek bekommen, wie Verpflegung beschaffen, wie die Route festlegen, um unbeachtet bis zum Pénas zu gelangen, geschweige denn ihn zu erklimmen und auf der anderen Seite wieder runter nach Bobium zu gelangen – Schwierigkeiten ohne Ende. Nein, das mit der Flucht müssen wir uns aus dem Kopf schlagen.«

»Schade um den Mann, der im Gewittersturm ertrinkt, denn dem Regen folgt Sonne«, konterte Fidelma und spielte auf eine alte Redewendung aus ihrem Heimatland an, mit der man die schalt, die sich scheuten zu handeln. »Ich bleibe bei meinem Vorhaben. Das Meer wartet nicht, bis das Schiff seine Fracht geladen hat. Es ist das Schiff, das die Gezeiten abpassen muss.«

Bruder Eolann erwiderte nichts.

Fidelma brauchte eine Weile, ehe ihr die Augen zufielen und sie einschlief.

Das schabende Geräusch des hölzernen Riegels an der Tür zu ihrem Verließ weckte sie. Sie schreckte hoch. Durch den einfallenden Mondschein war der Raum merkwürdig hell.

Im Türrahmen stand eine hochgewachsene Gestalt, die eine Hand abdunkelnd vor die Flamme einer Lampe hielt.

»Suidur!«, entfuhr es Fidelma erschrocken, denn sie hatte ihn sofort erkannt. »Was hast du vor?«

»Bleib ganz ruhig!«, zischelte er. »Kleide dich an und pack deine Sachen zusammen, und zwar schnell.«

»Was führst du im Schilde? Wenn du mir etwas antun willst, rühre ich mich nicht vom Fleck.«

»Dir wird nichts geschehen, edle Dame. Es geht darum, dir zur Flucht aus der Festung hier zu verhelfen, du musst dich schon auf mich verlassen. Jedes Zögern birgt die Gefahr, dass man uns entdeckt.«

Fidelma blinzelte ungläubig. »Wo aber …?«

»Grasulf und Kakko schlafen ihren Rausch aus«, flüsterte er. »Natürlich habe ich ein wenig nachgeholfen und ihre Vorliebe zu starkem Gebräu genutzt. Aber viel Zeit bleibt uns nicht. Hast du etwas, um deinen Kopf zu verhüllen?«

Sie zögerte einen Moment. Durfte sie ihm wirklich trauen? Wie hatte ihr doch einmal der gute alte Brehon Morann geraten? Pack das Schwein am Hinterfuß und lass es nicht laufen.

Sie entschloss sich zu handeln. »Gut. Gilt das auch für Bruder Eolann?«

»Selbstverständlich, Lady. Er ist schon draußen und wartet.«

»In Ordnung. Ich werde tun, was du verlangst.«

Suidur wandte sich um, blieb aber in der Tür stehen, als müsse er den Hof überwachen. Nur wenige Augenblicke, und Fidelma stand draußen neben Bruder Eolann, der bereits den Mantelsack auf dem Rücken hatte. Suidur, immer noch mit der Lampe in der Hand, flüsterte: »Haltet euch dicht hinter mir.« Dann führte er warnend den Finger an die Lippen.

Obwohl es Fidelma etwas bang ums Herz war und ihr viele Fragen auf der Zunge lagen, folgte sie schweigend dem weißhaarigen Arzt über den Hof, beruhigt durch die Gewissheit, dass Bruder Eolann unmittelbar neben ihr war. Die Tore waren verschlossen. Suidur näherte sich unbekümmert einem auf der Erde sitzenden Wächter, dem vor Müdigkeit der Kopf weggesackt war. Beschämt rappelte er sich auf, als er Suidur gewahr wurde.

»Könnte dir schlecht bekommen, wenn dich Grasulf hier schlafend erwischt«, sagte Suidur streng.

Ängstlich blickte der Wächter in die Runde, als fürchtete er, der Seigneur von Vars könnte tatsächlich auftauchen.

»Ich habe nicht wirklich geschlafen, Herr. Du sagst doch hoffentlich nichts …?«

»Nur, wenn du dich jetzt bewegst und das Tor für meine Gefährten und mich aufsperrst. Wir sind schon spät dran und müssen uns eilen, jemandem eine Botschaft deines Herrn zu überbringen.«

Zu Fidelmas Erstaunen kam der Torwärter der Aufforderung ohne jedes Überlegen nach, ja, verbeugte sich fast, als sie schweigend an ihm vorbeischritten und die Burg verließen.

Draußen führte der Pfad, wie sie sich erinnerte, steil und sich windend nach unten, über ihnen die Festung, die förmlich an der Felswand klebte. Suidur hatte seine Lampe gelöscht, denn der Vollmond leuchtete hell genug, und ging schweigend behände bergab. Sie gaben sich alle Mühe, mit ihm Schritt zu halten.

Schließlich erreichten sie die etwas tieferen Gefilde, wo es wieder Baumbestand gab. Aus dem Schatten der Bäume löste sich die Gestalt eines Kriegers und stellte sich ihnen in den Weg. Suidur blieb keineswegs erschrocken stehen, sagte nur leise etwas, woraufhin der Mann nickte und ins Dunkle winkte. Ein zweiter Mann tauchte auf, er führte drei Pferde. Suidur drehte sich zu Fidelma und Bruder Eolann um. »Es tut mir leid, ihr werdet jeweils hinter einem meiner Leute sitzen müssen«, erklärte er ihnen. »Zusätzliche Pferde kann ich jetzt nicht beschaffen, aber wir müssen sehen, dass wir vor Tagesanbruch ein gut Stück von hier wegkommen.«

»Darf ich fragen, warum du all das für uns tust?«, fragte Fidelma.

Seine Mimik konnten sie im Dunkeln nicht ausmachen, aber seine Antwort klang ironisch. »Hat es euch beim Seigneur von Vars so gut gefallen, dass ihr gern länger seine Gäste bleiben wolltet?«

»Natürlich nicht, aber …«

»Dann spare dir deine Fragen auf, bis wir diesen Ort weit hinter uns gelassen und den Schutz der Berge erreicht haben.«

Die beiden Krieger schwangen sich auf die Pferde und halfen Fidelma und Bruder Eolann, hinter ihnen aufzusitzen. Suidur saß bereits im Sattel, und fast lautlos ritten sie durch den Wald, wobei sie vorsichtig die baumlosen Stellen umgingen, die einen Blick auf die Siedlung unterhalb der Festung des Seigneur von Vars freigaben. Für einen Arzt bewies Suidur erstaunliches Geschick, sich einen Weg durch das Walddickicht zu bahnen. Fidelma gewann den Eindruck, dass er ursprünglich Soldat gewesen sein musste, ehe er Arzt wurde.

Sie klammerte sich an den vor ihr sitzenden Reiter und versuchte, sich einen Reim auf die Vorgänge zu machen. Waren das hier dieselben Männer, die sie im Gespräch mit Suidur auf der Burg von Radoald beobachtet hatte? Die gleichen Männer, die Zeuge gewesen waren, als man sie und Bruder Eolann als Gefangene auf die Festung des Seigneurs von Vars gebracht hatte? Als Suidur auf der Burg von Grasulf auftauchte, wurde er ganz offensichtlich willkommen geheißen. Wieso rettete er dann sie und Bruder Eolann? Es passte irgendwie nicht zusammen.

Vielerlei Fragen gingen ihr durch den Kopf, während sie im gleichmäßigen Trott dahinritten. Bald lag die Siedlung weit hinter ihnen. Sie erreichten einen nicht von Bäumen gesäumten Weg, der neben einem rauschenden Fluss verlief. Die schäumende Strömung verriet Fidelma, dass es jetzt flussaufwärts in die Berge ging. Wenn sie sich nicht irrte, hatten sie den Monte Pénas links hinter sich gelassen. Doch ganz sicher war sie sich nicht; zwar hatten sie wolkenlosen Himmel, und der Mond stand hoch und schien hell, aber bis Tagesanbruch war es noch lang.

Jetzt hob Suidur die Hand und wies nach vorn. Die Pferde wurden schneller, fielen bald in einen Trab und schließlich in einen Galopp. Fidelma hatte schon zu Pferd gesessen, fast ehe sie laufen konnte, und war eine erfahrene Reiterin. Das Pferd, auf dem sie saß, war gewiss nicht für Feldarbeit oder als Zugtier gezüchtet worden. Sie spürte die gestrafften Muskeln und wie das Tier mit kraftvollen Bewegungen vorwärtsstrebte. Ganz eindeutig hielt es der Reiter im Zaum, damit es nicht in einen ungezügelten Galopp fiel. Es war ein Kriegspferd, eigens für Krieger gezüchtet. So genau konnte sie es im Dunkeln nicht erkennen, vermutete aber, es war von derselben Rasse, die sie zuvor im Tal gesehen hatte.

Sie kamen an einen Punkt, wo ein steiler Aufstieg begann, der sie zu einem langsameren Tempo zwang. Im Osten schimmerte ein erstes Licht und verkündete die nahende Morgendämmerung. Wiederholt hatten sie Wasserläufe überquert, so viel wusste Fidelma, aber waren es immer die gleichen gewesen, an einer Stelle hin, an einer anderen Biegung zurück, um mögliche Verfolger mit Spürhunden abzuschütteln?

Als hinter den fernen Hügeln im Osten die Morgensonne aufging, wurde Fidelma klar, welche beachtliche Höhe sie erklommen hatten. Suidur wies auf die Hütte eines Hirten, die ein gutes Stück weit vor ihnen lag. Zumindest hielt sie es für das Obdach eines Hirten, wer sonst schon mochte so hoch in den Bergen leben wollen? Suidur hüllte sich in Schweigen. Erst als sie die Hütte erreicht hatten, hielt er an und erklärte: »Hier gönnen wir uns eine Ruhepause.«

Fidelma stieg ab. Trotz des wenigen Schlafs, den sie gehabt hatte, fühlte sie sich erstaunlich frisch. Bruder Eolann streckte und reckte sich nach dem langen Ritt, während die beiden Krieger die Pferde zu einer kleinen Koppel hinter der Hütte führten, wo sie sie abrieben und mit Futter versorgten. Fidelma blickte prüfend auf die Bergspitzen, von denen sie umgeben waren, und meinte: »Augenscheinlich ist keine der Erhebungen der Pénas.«

»Das siehst du vollkommen richtig, edle Dame«, bestätigte der Arzt lächelnd. »Wir sind mehr nach Süden geritten, sind dem Fluss Staffel gefolgt. Er entspringt auf der Berghöhe dort vor uns. Der Karthager Hannibal soll sie erstiegen haben, während seine Heerscharen weiter unten im Trebbia-Tal ihr Lager aufschlugen.«

»Dann ist es also nicht mehr weit bis Bobium?«

»Stimmt. Wir werden aber die Berge weiter südlich, fast gegenüber Radoalds Festung, überqueren. Damit dürften wir Grasulf in die Irre führen, der vermutlich davon ausgeht, dass ihr den direkten Weg nach Bobium wählt, und seine Leute in eben die Richtung schickt, um euch einzuholen, ehe ihr den Pénas erklimmt. Ich schlage vor, dass du und dein Gefährte jetzt ein wenig schlaft. Wir haben erst ein Drittel unserer Reise hinter uns, und sowohl der Aufstieg diesseits als auch der Abstieg hinunter ins Trebbia-Tal sind schwierig und wollen gemeistert werden. Der Berg ist der höchste im ganzen Gebirgszug, wir werden den Gipfel umgehen und uns unterhalb halten, wo wir dann auf einen Pfad stoßen, der uns im Zickzack ins Tal führt.«

Bruder Eolann, der sehr müde wirkte, hatte das Bedürfnis, sich zu bedanken. »Gratias tibi ago. Ich habe dich bisher nur einmal von weitem gesehen und kenne dich nicht weiter. Aber Bruder Hnikar lobt dich und dein Wissen in hohen Tönen. Vielen Dank für dein Eingreifen im rechten Moment.«

»Non est tanti«, erwiderte Suidur. Er wählte die traditionelle Redensart, die besagte, es sei nichts Besonderes gewesen, um die Dankesbezeugung bescheiden abzuwehren.

Für Fidelma aber waren viele Fragen offen; je eher sie sie stellte, desto besser. Wenigstens hatte sie bei Tageslicht sehen können, dass die beiden Krieger, mit denen sie unterwegs waren, nicht die Männer waren, die Magister Ado zweimal überfallen hatten, wenn sie auch die gleichen Umhänge mit dem Schwertemblem trugen.

»Warum?«, fragte sie unvermittelt.

»Warum?«, wiederholte Suidur.

»Ich verstehe nicht, weshalb du dich selbst in Gefahr begibst, um uns zu retten. Du kamst zum Seigneur von Vars und wurdest ganz offensichtlich als Freund willkommen geheißen. Du sagst, du hättest mit ihm und seinem Verwalter getrunken, ja, hättest sogar irgendein Schlafmittel in ihr Getränk gemischt, und dann hilfst du uns, aus der Gefangenschaft zu fliehen. Da darf ich doch wohl die Frage stellen, warum du das tust.«

Suidur sah sie nachdenklich an. »Wäre es nicht besser, erst etwas zu ruhen und dann, wenn wir gegessen haben, die Sache zu besprechen?«

Fidelma schüttelte energisch den Kopf. »Ungeklärte Fragen lassen mir keine Ruhe, an Schlaf ist da nicht zu denken.«

»Also gut.« Suidur betrat die Hütte und bedeutete ihnen, ihm zu folgen. Zu ihrer Überraschung glimmte noch Glut in der Feuerstelle mitten im Raum. Im Nu hatte der Arzt neue Scheite aufgelegt und das Feuer wieder angefacht. »Das hier ist einer von Seigneur Radoalds Wachposten, von denen aus er seine Grenzen im Westen im Auge behält.«

Er forderte sie auf, sich zu setzen. Es gab genügend Teppichstücke und Decken, mit denen sie sich um das Feuer gruppierten.

»Tja, wieso war ich auf Grasulfs Festung? Ich besuchte gestern Abend …«, er stockte, »… oder sollte ich deutlicher sagen: Ich, ein Seigneur Radoald ergebener Diener … O ja, wir haben Spione hier. Ihr habt vielleicht gemerkt, dass Grasulf ein Mann von festen Überzeugungen und Vorstellungen ist. Dazu gehört zum Beispiel sein Glaube an Gold. Wir haben in Erfahrung gebracht, dass Perctarit, der entthronte König, Grasulf Gold geboten hat, wenn er sich zu ihm loyal verhält. In dem Moment, wenn Grasolf das Gold in Händen hat, wird er seine Leute auf die eigenen Nachbarn hetzen.«

»Das erklärt noch nicht, zu welchem Behufe du auf der Festung warst«, drängte ihn Fidelma.

»Alles zu seiner Zeit, edle Dame. Meine Männer« – er wies auf die beiden Krieger draußen –, »halten sich oft dort auf und geben sich als Freunde aus. Vielleicht habt ihr sie sogar gesehen, denn sie waren auf der Festung, als ihr dort als Gefangene hereingeführt wurdet. Sie alarmierten mich, als ich kam, um mich mit meinem … meinem Spion zu verständigen.«

»Ja, ich habe sie gesehen«, bestätigte Fidelma.

»Sie hatten Bruder Eolann erkannt und beschrieben dich. Für mich stand fest, dass Seigneur Radoald dich nicht in Grasulfs Händen hätte wissen wollen, denn man weiß, dass er schon Frauen an Sklavenhändler verkauft hat. Ich ließ also meine Männer mit den Pferden unten am Fuße des Berges, stieg zur Festung hoch und bat um Einlass. Es ist nicht das erste Mal, dass ich zwischen Radoald und Grasulf als Gesandter fungiere, und folglich kannte man mich dort.

Du hast richtig bemerkt, dass Grasulf mich freundschaftlich begrüßte, war er doch im Glauben, ich wäre in der üblichen Rolle erschienen, und natürlich gab ich vor, ich wäre mit Gegenvorschlägen gekommen, um für seine Treue und Gefolgschaft zu zahlen. Ich schlug vor, derlei Verhandlungen besser bei einem guten Trunk zu führen. Grasulf ging sofort darauf ein, er hatte dem Wein schon genügend zugesprochen, so dass es ein Leichtes war, ihm etwas in seinen Becher zu mischen. Auch Kakko bedachte ich mit der nötigen Dosis. Durch meine Gewährsmänner wusste ich, wo man euch eingesperrt hatte, und der Rest war einfach.«

Es klang in der Tat einfach. Vielleicht zu einfach, dachte Fidelma. Schon schwirrten ihr die nächsten Fragen durch den Kopf.

»Da du mich nach meiner Geschichte gefragt hast, darf ich vielleicht nun fragen, was sich zugetragen hat, dass ihr als Gefangene auf Grasulfs Festung gelandet seid.« Forschend sah Suidur sie an.

Rasch schickte sie einen warnenden Blick zu Bruder Eolann, damit er Stillschweigen über ihr Auffinden der Leiche von Freifrau Gunora bewahrte. Solange sie nicht wusste, wie oder ob überhaupt die Geschehnisse etwas miteinander zu tun hatten, wollte sie sich lieber bedeckt halten. Doch ihre Sorge war umsonst, Bruder Eolann war zurückgesunken und schlief tief und friedlich. Suidur war ihrem Blick gefolgt und meinte: »Unser Freund schläft bereits, du solltest dich auch hinlegen.«

»Erst noch meine Geschichte, Suidur. Bruder Eolann hatte mir angeboten, mich zum Heiligtum des Colm Bén oben auf dem Pénas zu bringen. Abt Servillius wusste davon und hatte sein Einverständnis gegeben. Wenn ich nach Hibernia zurückkehre, wollen natürlich meine Leute daheim alles über die Abtei und ihr Umfeld hören. Wir haben also den Berg erklommen und haben die Nacht in der kleinen Bergkapelle verbracht. Just als wir am nächsten Morgen aufbrechen wollten, um wieder zur Abtei hinabzuklettern, tauchten Grasulfs Männer auf, nahmen uns gefangen und verschleppten uns auf seine Festung.«

»Du bist fremd in diesem Land, Fidelma von Hibernia«, sagte Suidur ernst. »Es geschieht hier vieles, was für einen Außenstehenden ungewöhnlich, wenn nicht gar unverständlich ist. Wenn ich dir einen Rat geben darf, begib dich so bald wie möglich auf die Heimreise. In den Bergen hier bahnt sich Böses an.« Er stand auf. »Ich bitte dich noch einmal, gönn dir etwas Ruhe. Um die Mittagsstunde reiten wir weiter. Radoalds Festung erreichen wir nicht vor morgen, wir werden also über Nacht noch in den Bergen sein.«

Es war Mittag, als Fidelma erwachte. Die Sonne stand hoch am wolkenlosen Himmel. Auch Bruder Eolann regte sich, doch Suidur war nicht bei ihnen, wenngleich draußen vor der Hütte einiges in Bewegung war. Sie erhob sich und schaute hinaus. Suidur redete mit den beiden Kriegern, sie hörte ihn die rasch aufeinanderfolgenden Gutturallaute der für die drei geläufigen Sprache ausstoßen. Fidelma drehte sich wieder um und flüsterte dem scriptor, der sich aufgesetzt hatte und verschlafen blinzelte, eindringlich zu: »Nur dir zur Warnung. Kein Wort darüber, dass wir die Leiche von Freifrau Gunora gefunden haben, auch absolutes Stillschweigen über die Münzen von Wamba.«

»Auch nichts über den fehlenden Prinzen?«, fragte er und runzelte die Stirn.

»Genau. Wir müssen Vorsicht walten lassen.«

»Ah, ihr seid beide wach.« Hinter Fidelma war Suidurs Schatten aufgetaucht. »Das ist gut. Wir müssen bald aufbrechen.«

»Eine Möglichkeit zum Waschen und etwas zu essen wären gut, ehe es weitergeht. Lässt sich das machen?«, fragte Fidelma.

»Gleich hinter der Hütte gibt es einen Flusslauf und einen kleinen Wasserfall«, erwiderte Suidur. »Und natürlich gibt es etwas zu essen, ehe wir losziehen.«

Fidelma nahm ihr ciorr bholg, ihre Kammtasche mit den nötigsten Toilettensachen, und begab sich zu dem abgeschirmten kleinen Waschplatz hinter der Hütte. Das kalte Wasser, das vom Berg herabstürzte, bot eine ausgezeichnete Badestelle und tat gut. Sie beeilte sich, damit auch Bruder Eolann sich frisch machen konnte. Suidur und seine Männer hatten sich vermutlich schon gewaschen. Dass sie die ganze Nacht hindurch geritten waren, sah man ihnen nicht an. Die Mahlzeit bestand aus Ziegenkäse und Obst, die sie mit dem kristallklaren Wasser aus dem Gebirgsfluss hinunterspülten.

Die beiden Krieger sprachen kein Latein. Zwar versuchte Bruder Eolann, ein paar Worte mit ihnen zu wechseln, aber sie verspürten eindeutig keine Lust, darauf einzugehen. So blieb Suidur der alleinige Gesprächspartner.

»Radoald erwähnte, glaube ich, dass es für seine Familie wenig erfreulich wäre, wenn Perctarit als König zurückkäme«, bemerkte Fidelma, als sie zu essen begannen. »Ist das der Grund, weshalb er Grasulf nicht recht traut?«

Suidur nickte. »Radoalds Vater hat Grimoald geholfen, Perctarit zu stürzen und ihn ins Exil ins Land der Franken getrieben. Radoald kämpfte an der Seite seines Vaters, Lord Billo. Sein Vater kehrte nicht nach Trebbia zurück, und so wurde Radoald der Landesherr. Ich habe da meine Bedenken, ob Perctarit, falls er hier wieder an die Macht kommt, freundschaftliche Gefühle für Radoald hegt.«

»Als wir auf Grasulfs Festung waren, überbrachte ein Reiter die Botschaft, dass Lupus sich gegen Grimoald erhoben habe, doch sei sein Heer nach viertägigem Kampf irgendwo geschlagen worden. Ist das eine schlechte Nachricht?«

Der Arzt betrachtete sie sichtlich beeindruckt.

»Für eine Fremde hast du erstaunlich viel mitbekommen, edle Dame. Auch wir haben davon gehört. Um deine Frage zu beantworten: Es könnte schlecht für uns sein; es hängt davon ab, wie sich Khagan verhält.«

»Ist das der, der Lupus besiegt hat?«

»Ebender. Augenscheinlich hat Grimoald, da er nicht schnell genug nordwärts zu ziehen vermochte, um Lupus zur Entscheidung zu zwingen, dem Anführer der Awaren ein Bündnis angeboten. Die Awaren warfen sich gegen Lupus in die Schlacht und schlugen ihn. Was wird nun aber Khagan von Grimoald als Gegenleistung verlangen? Werden die Awaren über uns herfallen? Wenn ja, dann kann ein jeder von uns nur auf Gott hoffen. Für die Awaren sind wir allesamt Schafe, die man scheren muss.«

»Sehe ich das richtig, dass die Awaren nicht Anhänger unseres Glaubens sind?«

»Soviel ich weiß, halten sie es mit jedem Glauben, der ihnen nützlich erscheint – das kann ihr Hauptgott Ts’ob sein, genauso gut wie alle möglichen Formen unseres christlichen Glaubens. Aber sie gieren nach Land und Macht. Wenn ich ehrlich bin, so ist die Tatsache, dass Grimoald mit ihnen ein Bündnis eingegangen ist, nicht gut für unser Volk.«

»Glaubst du, dem Land droht unmittelbare Gefahr?«, fragte Eolann.

»Sie wiegeln den einen gegen den anderen auf, Bruder gegen Bruder, Nachbarn gegen Nachbarn. Über kurz oder lang wird das fahle Pferd durch die Täler jagen und wird niemanden verschonen.«

»Das fahle Pferd?« Fidelma verlangte es nach einer Erklärung.

»Sein Reiter ist niemand anders als der Tod«, erwiderte Suidur. »Deshalb mein Rat – verlasse dieses Land, ehe es zu spät ist.«

Traurig ließ Fidelma den Blick über die Berge schweifen, die im Norden und Osten vor ihr lagen. »Dabei sieht alles so schön und friedlich aus.«

»Seit uralten Zeiten ist viel Blut in den Tälern hier geflossen. Die Ligurer, die Gallier, die Römer, die Karthager, und wieder die Römer und schließlich meine eigenen Leute, die Langobarden – sie alle haben diese herrlichen Täler mit ihrem Blut getränkt. Und es wird wieder so kommen.« Suidur erhob sich und schien seiner eigenen Prophezeiung einen Moment nachzuhängen, ehe er sich den beiden Kriegern zuwandte und ihnen kurz etwas befahl. Sie begannen zu packen und die Pferde aufzuzäumen.

Jetzt bei Tageslicht bestätigte sich Fidelmas Vermutung vom nächtlichen Ritt: Suidurs Ross war genau die Rasse, die ihr schon zuvor im Tal wiederholt aufgefallen war, hatte die gleiche Färbung, das gleiche Blassgrau. Wulfoald und Bruder Faro hatten Pferde von ebendieser Rasse geritten – gedrungener Rücken, schmale Kruppe und langer Schweif. Mit ihrem feurigen Temperament waren diese Pferde gewiss zäh und ausdauernd und nahmen es an Schnelligkeit mit allen anderen auf. Zweifelsohne zuverlässige Kriegspferde.

»Ist das Wulfoalds Hengst?«, fragte sie Suidur, denn sie fand, das Tier sah dem von Wulfoald zum Verwechseln ähnlich.

Der Arzt reagierte verdutzt. »Was bringt dich auf eine solche Idee?« Doch sogleich fand er selbst die Erklärung. »Ach so, weil es dieselbe Rasse ist. Es ist noch keine zehn Jahre, dass wir sie hier im Tal haben, aber mit guten Zuchterfolgen.«

»Ich habe die Rasse hier zum ersten Mal gesehen. Es sind leichtfüßige und kräftige Tiere.«

»Du scheinst auch was von Pferden zu verstehen. Seigneur Billo, der Herr von Trebbia damals, hatte ein halbes Dutzend von einem byzantinischen Kaufmann in Genua gekauft und sie dann gezüchtet. Woher sie wirklich stammen, wissen wir nicht genau, nur, dass der Kaufmann sie aus dem Osten gebracht hat.« Unversehens hielt er inne und spähte argwöhnisch in Richtung Norden.

»Was ist? Gibt es etwas Besonderes?«, fragte Fidelma, der seine innere Spannung aufgefallen war.

»Leider ja. Grasulf ist offensichtlich ziemlich rasch wieder zu sich gekommen und hat Alarm geschlagen.«

Fidelma folgte seinem Blick über das Tal und war bemüht, etwas Genaueres auszumachen. »Was kannst du erkennen?«

»Etwa fünfundzwanzig Reiter sind hinter uns her. Keine Bange, es droht keine unmittelbare Gefahr.«

Auch Bruder Eolann äugte angestrengt in die Ferne. »Wie weit entfernt sind sie?«

»Oh, bis die es hierher nach oben geschafft haben, vergeht etliche Zeit«, beruhigte ihn Suidur.

Jetzt sah auch Fidelma ganz hinten im Tal eine Reihe kleiner Punkte, einer hinter dem anderen, wie Ameisen in steter Vorwärtsbewegung.

»Du hast gute Augen, Suidur«, meinte sie. »Als Reiter hätte ich die nicht erkannt. Ist es Grasulf?«

»Niemand anders ist so schnell zu Pferde wie er. Du wirst sie nicht im Einzelnen erkennen können, aber ich fürchte, ich irre mich nicht. Wir sollten genügend Abstand zwischen ihnen und uns wahren.«

Gemeinsam mit seinen Männern überprüfte er, ob sie aufbruchbereit waren. Fidelma und Bruder Eolann warfen sich abermals ihre Mantelsäcke über und schwangen sich auf die Pferde. Ihr Platz war wie zuvor jeweils hinter den Reitern. Im gemächlichen Schritt zogen sie los und folgten einem Pfad, der steil und im Zickzack durch die Berge führte.

»Keine Bange«, rief ihnen Suidur zu. »Wenn wir erst mal ein gutes Stück in Radoalds Gebiet vorgedrungen sind, dürfte es auch ein Grasulf aufgeben und kehrtmachen.«

Obwohl sie stetig enorme Steigungen bewältigten, überquerten sie die Berge nicht auf höchster Höhe, sondern bahnten sich einen Weg unterhalb der Gipfel. Oft genug war der Weg derart schmal, dass sie nur hintereinander reiten konnten, und es kam auch vor, dass es so steil bergan ging, dass sie absitzen und die Pferde führen mussten. Es war selbst für Fidelma ein ungeheures Erlebnis. Die Situation ließ kaum ein Gespräch zu. Ohne Pause ritten sie den ganzen heißen Nachmittag durch, und Fidelma konnte nicht umhin, ab und an einen besorgten Blick nach hinten zu werfen. Aber sie waren in so vielen Windungen durch die Bergwelt geritten, dass es gar keine Möglichkeit gab, irgendwelche Verfolger zu sichten. Nur ein einziges Mal hielten sie an, um die Pferde zu tränken und sich selbst etwas zu erfrischen. Kurz vor Sonnenuntergang erreichten sie ein kleines bewaldetes Tal, das geradezu unnatürlich zwischen die Berge gequetscht war. Bei genauerem Hinsehen erwies es sich jedoch als ein natürliches und geschütztes Fleckchen Erde, das mit überhängenden Sträuchern und Büschen Zuflucht bot.

»Hier machen wir eine letzte Rast«, erklärte Suidur. »Morgen beginnen wir den Abstieg ins Trebbia-Tal.«

»Ist es vernünftig, hier zu verweilen?«, fragte Bruder Eolann nervös.

»Trotz aller heidnischen Glaubensvorstellungen hat Grasulf keine Flügel wie seine Raben«, erwiderte Suidur mit einem schelmischen Lächeln. »Ich bin sicher, er hat die Verfolgung längst aufgegeben.«

Nicht lange, und ein Lagerfeuer brannte, und Essen wurde verteilt. In Decken gehüllt, saßen sie beieinander. So bequem wie die Hirtenhütte war die Zufluchtsstätte hier nicht, auch gab es keine sprudelnde Quelle zum Baden. Doch aus einer Stelle sickerte Wasser, es reichte zum Trinken und um sich Gesicht und Hände zu waschen.

Fidelma hatte kein Verlangen nach Unterhaltung und war im Nu eingeschlafen.

Als sie ein Flüstern vernahm, hielt sie es zunächst für einen Traum. Ohne die Augen zu öffnen oder sich zu bewegen, zwang sie sich, das Geschehen um sie herum zu sortieren. Zu ihrem Erstaunen wisperten die Stimmen auf Latein, eine erkannte sie als die von Suidur, die andere vermochte sie nicht einzuordnen.

»… steter Tropfen höhlt den Stein«, hörte sie Suidur sagen. »Grimoald handelt zu ungestüm und trifft überstürzte Entscheidungen. Er hätte warten sollen.«

»Jetzt ist der Magister hellhörig geworden, und wir werden es nie finden.«

»Noch ist nicht aller Tage Abend, mein Seigneur. Grasulf wird nichts unternehmen, ehe er nicht das Gold in Händen hat, so viel ist sicher. Meine Männer und ich waren auf seiner Festung und machten zum Schein ein Gegenangebot. Noch hat ihm niemand etwas gezahlt.«

»Und was ist mit der Fremden und dem scriptor? Inwieweit haben die mit der Sache zu tun?«

»Die sind völlig ahnungslos. Man musste sie einfach retten. Schade, wenn ich länger geblieben wäre, hätte ich mehr herausbekommen, aber du kennst ja Grasulf. Von Moral hält er wenig, er hätte das Mädchen missbraucht oder sie an Sklavenhändler verkauft. Man musste sie vor Vars bewahren.«

»Und du bist sicher, dass er Freifrau Gunora nicht auf seiner Festung gefangen hält?«

»Wenn es so abgelaufen ist, wie der Junge berichtet hat, dann ist Freifrau Gunora tot.«

Fidelma überlief es kalt bei dem, was sie hörte.

»Wenn Perctarit mit seinen Hauptkräften vor Mailand steht, wird sein Gewährsmann rasch handeln müssen«, sagte die fremde Stimme. »Hat man Grasulf erst mal für seine Dienste bezahlt, wird er gegen Radoald losziehen, und sobald Radoald geschlagen ist, sind die Wege nach Genua frei. Während Perctarit die gesamte Ebene am Padus besetzt hält, können seine fränkischen Verbündeten per Schiff in Genua landen und mit Nachschub und Truppenverstärkung zu ihm gelangen.«

»Stimmt. Wenn irgendetwas geschehen soll, muss es in den nächsten ein, zwei Tagen geschehen. Dem Geheimnis, wo das Gold liegt oder wer sein Überbringer ist, sind wir kein Stück näher gekommen. Vielleicht lagen wir mit dem Magister völlig schief.«

»Finde ich dich in den Bergen?«

»Ich suche erst meinen Sohn auf, um ihn über die neueste Lage ins Bild zu setzen.«

Fidelma hörte, wie sich Schritte entfernten, und schlug die Augen auf, aber von ihrem Lager aus konnte sie nichts sehen. Nebenan raschelte etwas. Sie schloss die Lider. In ihrem Kopf wirbelte alles durcheinander, doch der Schlaf überwältigte sie.

Der Tagesanbruch konnte schöner nicht sein. Die leuchtenden Farben der aufgehenden Sonne standen am Firmament und hüllten die Bergspitzen in einen märchenhaften Glanz. Die Luft war klar und rein. Als Fidelma sich frisch machen wollte, zogen sich die Männer diskret zurück, und als sie zurückkam, war das Essen bereitet.

»Wir haben eine lange Strecke vor uns, bis wir die Trebbia erreichen, obwohl sie direkt unter uns fließt«, begrüßte sie Suidur. »Es ist ein steiler Abstieg diesseits der Berge, aber immer noch besser als ein steiler Aufstieg.«

»Und keinerlei Anzeichen, dass Grasulf uns folgt?«

»Nicht die geringsten. Ich habe doch gesagt, er hat längst aufgegeben.«

»Hoffentlich hast du recht.«

»Bist du immer noch besorgt?«

»Der Seigneur von Vars hat mir gegenüber geäußert, übertriebene Vorsicht könne nicht schaden. Und es wäre doch wirklich töricht, wollte man nicht Vorsicht walten lassen. Ich könnte mir vorstellen, dass Grasulf davon ausgeht, wir würden in jedem Fall nach Bobium streben. Warum sollte er da nicht die Berge nördlich von hier überqueren und irgendwo zwischen Radoalds Festung und Bobium auf der Lauer liegen?«

»Selbst im strategischen Denken bist du geübt, edle Dame.«

»Die Tochter eines Königs in Hibernia wird in vielen Dingen unterwiesen, sie könnte ihr Volk sogar in einem Krieg anführen.«

Suidur nickte, als überraschte ihn das wenig. »Selbst wenn er von dort, wo wir ihn und seine Männer gesichtet haben, umgekehrt ist und eine andere Route eingeschlagen hat, müsste er eine beträchtliche Strecke durch die Berge zurücklegen, um schließlich unseren Weg zu kreuzen. Ich schwöre, es gibt keinen Grund zur Sorge. Du bist bei uns sicher.«

Schon bald begannen sie den Abstieg, und er erwies sich in der Tat steiler als der hinter ihnen liegende Aufstieg. Tief unter ihnen konnten sie das blaue Band des Flusses sehen, den sie für die Trebbia hielt und der sich durch das von Felsen umgebene Tal schlängelte. Ab und an sahen sie Gehöfte und auch angepflanzte Baumgruppen. Wie sie erfuhr, waren das Olivenbäume; wieder andere Kulturen erkannte sie als Weinhänge. Es verlangte sie danach, all die neuen Eindrücke – Ausblicke, Geräusche und Gerüche – in sich aufzunehmen, aber ihre Gedanken kreisten um das mysteriöse Geschehen, das das Tal, die Abtei und die Menschen bedrängte.

Der Ritt verlief gemächlicher als am Vortag, und als sie die unteren Gefilde erreichten, zunächst die Baumgrenze und dann die großen Wälder nahe dem Fluss, dessen sanftes Rauschen sich deutlich von den anderen Geräuschen wie das Rascheln des Laubes, das gelegentliche Bellen eines Fuchses oder das Gekreisch von Vögeln abhob, da endlich fiel alle Spannung von ihr ab, die sie in den letzten Tagen belastet hatte.

Schließlich kamen sie an eine große Lichtung am Fluss. Sie hatten ein stattliches Gehöft mit Nebengebäuden vor sich, dahinter Olivenbäume und Rebstöcke. Ein Hund schlug an, woraufhin ein Mann aus dem Haus trat. Fidelma erkannte ihn sofort. Es war Wulfoald, Radoalds Krieger, der Suidur freundschaftlich zuwinkte. Die beiden verständigten sich in raschem Wortwechsel, in dem mehrfach der Name Grasulf fiel. Dann, als Fidelma absaß und ihre Glieder reckte, begrüßte Wulfoald auch sie.

»Ich fürchte, edle Dame, wir haben allen Grund, uns bei dir zu entschuldigen.«

»Zu entschuldigen?«

»Vor wenigen Tagen, du hattest kaum unser Tal betreten, da wurdet ihr, du und deine Gefährten, überfallen. Und nun höre ich, dass euch Grasulf entführt hat, ein übler Kerl, fürwahr.« Er begrüßte auch Bruder Eolann und sprach dann weiter. »Wir müssen die mangelnde Gastfreundschaft unserer Nachbarn schleunigst wettmachen.«

Wulfoald gab sich warmherzig und freundlich. Fidelma aber musste an den kleinen Wamba denken und dass er ihn gefunden hatte, an Hawisa und ihre Beschuldigungen gegen ihn, und auch ihr eigener Verdacht ließ ihr keine Ruhe. Lieber wäre ihr gewesen, die offenen Fragen wären ihr nicht wie ein Bienenschwarm im Kopf herumgeschwirrt. Sie würde sich zwingen müssen, einfach einmal Gedanken Gedanken sein zu lassen.

»Ich war gerade im Begriff, mit meinen Leuten nach Bobium aufzubrechen. Wir brauchen nicht alle Pferde, also könnten wir euch bis zu den Toren der Abtei Geleit geben und dafür Sorge tragen, dass ihr heil und sicher dort ankommt. Es sei denn, ihr wollt ein wenig hier verweilen und euch erfrischen. Wir müssen ja nicht unbedingt auf Radoalds Festung Rast machen und könnten am frühen Nachmittag in Bobium sein.«

Fidelma überlegte. Im Grunde genommen war es ihr sehr recht, so rasch wie möglich nach Bobium zurückzukehren, und als sie Bruder Eolann befragte, war er sofort dafür. Wulfoald verständigte sich mit seinen Männern, und im Nu standen zwei zusätzliche Pferde bereit.

Es war ein eigenartiges Gefühl, von Suidur und seinen schweigenden Kriegern Abschied zu nehmen. Schon wahr, er hatte sie und Bruder Eolann gerettet, aber die ungeklärten Fragen überschatteten alles. War sie nicht eine dálaigh geworden, weil sich ihr Inneres gegen rätselhafte Vorkommnisse aufbäumte? Solange sie ein Problem nicht zu lösen vermochte, nagte es an ihr wie ein böser Zahnschmerz. Doch sie begriff, dass ihr im Moment nichts anderes übrigblieb, als so zu tun, als wäre alles in bester Ordnung; alle Verdachtsmomente und Zweifel mussten unterdrückt werden. Also dankte sie Suidur für sein Eingreifen so warmherzig, wie sie nur konnte, und bat ihn, ihren Dank auch seinen Gefährten zu übermitteln. Bruder Eolann brachte seinen Dank weitaus bewegter und überschwänglicher als sie zum Ausdruck. Schließlich saßen sie auf und ritten zusammen mit Wulfoald und zwei Kriegern den Fluss entlang auf einem Pfad, der geradewegs nach Bobium führte.

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