KAPITEL 19

»Fragt sich, ob ich wirklich willkommen bin«, entgegnete Fidelma und glitt von ihrem Pferd. »Der Empfang, der mir bereitet wurde, war ziemlich absonderlich.« Ihr Blick auf die Geiselnehmer sagte alles.

»Das sind Wulfoalds Krieger« erklärte Suidur. »Ich befürchte, manchmal gehen sie ein bisschen übereifrig zu Werke, und dafür entschuldige ich mich.«

»Ihren Übereifer kenne ich zur Genüge, zum ersten Mal habe ich ihn in Genua erlebt, und dann wieder, als ich in dieses Tal einritt.«

Suidur wechselte mit den Kriegern ein paar Worte in der Landessprache. Sie machten die Ehrenbezeigung und zogen mit den Pferden ab. Er schaute sie vergnügt an und winkte ihr, ihm zu folgen. »Dass du Dinge durchschaust, edle Dame, ist mir schon bei unserer ersten Begegnung aufgefallen.«

In der Großen Halle saß Seigneur Radoald mit einem älteren, in grobem Wollzeug gekleideten Mann. Er hatte langes graues Haar und hielt sich gebeugt. Beide standen auf, als sie, von Suidur begleitet, hereinkam. In der Art, wie sich der ältere der beiden erhob, erkannte Fidelma sofort, dass die gebückte Haltung nur vorgetäuscht war. Sie schaute ihm ins Gesicht, und ein zufriedenes Lächeln umspielte ihre Lippen.

»Wie du siehst, Fidelma, haben wir dich erwartet«, begrüßte sie der junge Seigneur von Trebbia.

»Mich erwartet? Eher glaube ich, deine Spione haben erkundet, dass ich die Abtei verließ und den Weg hierher einschlug. Haben deine Krieger mir deshalb aufgelauert?«

Der Mann in der Kutte aus schlichtem selbstgewebtem Tuch beantwortete ihre Frage. »Wir befinden uns in einem Konflikt mit Gegnern, die bislang unfassbar wie Schatten sind. Ein Risiko einzugehen, können wir uns nicht erlauben.«

Radoald wollte den Mann vorstellen, der eben gesprochen hatte: »Das ist …«

»Aistulf«, sagte Fidelma lachend. »Du brauchst mir nicht den gebeugten, älteren Eremiten vorzuspielen. Du bist fürwahr ein sonderbarer Eremit, Aistulf. Spielst auf der Muse, sprichst Latein und befehligst Krieger. Warum verbirgst du dich in den Bergen und lässt deinen Sohn an deiner Stelle als Seigneur von Trebbia regieren?«

Er war es, der das erstaunte Schweigen nach ihrer Frage brach. »Wir haben dich unterschätzt, Fidelma von Hibernia«, sagte er leise. »Wie bist du darauf gekommen? Du bist doch fremd hier. Abgesehen von Servillius und Gisa habe ich mich keinem aus der Nähe gezeigt, um nicht als der ehemalige Seigneur von Trebbia erkannt zu werden. Die Mitglieder meines Haushalts sind auf Verschwiegenheit verpflichtet. Wie bin ich verraten worden?«

»Du bist nicht verraten worden, Seigneur Billo. Jedenfalls nicht von mir. Ich bin durch eine logische Schlussfolgerung darauf gekommen. Als Suidur uns ins Trebbia-Tal geleitete, habe ich euch dort oben zufällig belauscht. Ihr dachtet, ich schliefe. Als du in dem Gespräch sagtest, du würdest nicht gleich in die Berge zurückgehen, sondern erst noch mit deinem Sohn sprechen, war mir die Verbindung klar. Es ist allgemein bekannt, dass Seigneur Billo und sein Sohn Radoald für Grimoald in den Kampf zogen. Radoald kehrte vom Kriegszug heim und wurde zum Seigneur von Trebbia ausgerufen. Zur gleichen Zeit ließ sich ein Einsiedler, nämlich der Eremit Aistulf, in den Bergen nieder. Da war es doch leicht, gewisse Schlüsse zu ziehen.«

»Nach den Feldzügen gegen Perctarit wollte ich in Frieden leben, wusste aber, dass mich vielerlei daran hindern würde. Daher habe ich meine Herrschaft meinem Sohn Radoald übertragen, habe meinen Namen geändert und mich in den Frieden dieses Tals zurückgezogen. Meine Tage wollte ich in Beschaulichkeit enden, nie wieder Männer, Frauen oder Kinder blutüberströmt sehen, nie wieder die Schreie der Verwundeten und Sterbenden hören. Ich wollte so und nicht anders leben. Mein Sohn ist jetzt Seigneur von Trebbia. Aber unseligerweise ist mir der Tod in dieses Tal gefolgt, und nun muss ich helfen, ihn zu vertreiben. Mein Sohn wird auch weiterhin Seigneur von Trebbia sein. Sobald wir die Geschichte hier zu einem glücklichen Ende gebracht haben, ziehe ich mich wieder ins Einsiedlerleben zurück. Ich bleibe Aistulf der Eremit.«

Radoald winkte einem Bediensteten, der ihnen eine bauchige Flasche und Becher brachte. »Setz dich«, lud er Fidelma ein, »und gönn dir eine Erfrischung.«

Sie hatte sich längst die Lebensweisheit zu eigen gemacht, wenn dir keine andere Wahl bleibt, füge dich in das Unvermeidliche. So folgte sie der Aufforderung und nahm den Becher, bat aber um kaltes Wasser aus einer Bergquelle, denn für sie gab es nichts Erfrischenderes als das.

»Warum habt ihr mich erwartet?«, wollte sie von Aistulf wissen.

»Wir haben dich erwartet, weil mein lieber Freund Servillius gesagt hat, er würde dich zu uns schicken. Hat er dir nicht erklärt, dass er meinte, du könntest hier von Nutzen sein?«

»Abt Servillius wurde gestern Nacht ermordet«, gab sie ihm unumwunden zu verstehen.

Ihre Mitteilung wurde mit bleiernem Schweigen aufgenommen, tiefes Luftholen deutete an, wie jeder mit sich um Fassung rang. Fidelma bemerkte Schwester Gisa in der Tür und fühlte sich für einen Augenblick in ihrer Vermutung bestätigt. Sie hatte zu Recht erwartet, das Mädchen in Radoalds Festung vorzufinden. Die junge Nonne lief zu Suidur, der sie in die Arme nahm und tröstete.

»Ich hatte davon Kenntnis bekommen, dass du Freifrau Gunora tot aufgefunden hast«, nahm Aistulf das Gespräch wieder auf. »Als ich die Totenklage für sie spielte, ahnte ich nicht, dass sie auch meinem armen Freund galt.«

»Da hatte Bruder Bladulf ihren Leichnam noch nicht vom Berge zu Tal geschafft. Du hast die Totenklage nicht nur für Servillius, sondern auch für Hawisa und Bruder Eolann erklingen lassen.«

Aistulf erschrak. »So oft hat der Tod zugeschlagen?«

»Wie Hawisa starb, haben wir von Wulfoald erfahren, aber …«, begann Radoald.

Doch der Eremit fiel ihm ins Wort: »Mir scheint vernünftiger, die Edle Fidelma schildert uns erst einmal, was sich inzwischen alles zugetragen hat.«

Sie erzählte ihnen, was sie wusste.

»Lass mich einiges wiederholen, um nichts durcheinanderzubringen«, sagte Aistulf, als sie geendet hatte. »Wulfoald hat ohne dich die Abtei verlassen, nachdem ihr erfahren hattet, Servillius wäre heimgekehrt, hätte aber strikte Order erlassen, ihn nicht zu stören. Später seid ihr dann, der Ehrwürdige Ionas und du, zu Servillius gegangen, habt ihn aber tot vorgefunden.«

»Im Wesentlichen stimmt das so.«

»Du hast Servillius nicht mehr gesehen, und er hat dir nie erklärt, warum du hierherkommen solltest?«

»Was hätte er mir denn erklären sollen?«, war ihre Gegenfrage.

»Er sollte dir nahelegen, mit Wulfoald hierherzukommen, wie wir mit ihm verabredet hatten. Wulfoald hat uns nur berichtet, dass er Servillius nicht zu Gesicht bekam und demzufolge keinerlei Botschaft von ihm erhielt.«

Fidelma biss sich auf die Lippen. »Er hatte ja keine Gelegenheit, ihn zu sprechen. Ich war versessen darauf, der falschen Fährte zu folgen, die Bruder Eolann gelegt hatte. Kaum war ich wieder in der Abtei, habe ich den Ehrwürdigen Ionas aufgesucht und ihm die Vorgänge aus meiner Sicht dargelegt. Wie eine Närrin habe ich mich irreleiten lassen, und so wurde viel Zeit vertan. Als der Ehrwürdige Ionas und ich zum Abt gingen, stellten wir fest, dass er wahrscheinlich gleich nach seiner Rückkehr in die Abtei ermordet worden war.«

»Wenn dich also nicht die Nachricht erreicht hat, die dir Servillius übermitteln sollte, was hat dich veranlasst, heute früh hierherzukommen?«, fragte Suidur barsch.

Fidelma überging die Frage und äußerte die Vermutung: »Ich darf wohl annehmen, Prinz Romuald befindet sich hier in Sicherheit.«

Radoald war vollends überrascht und wäre fast aufgesprungen. »Wie hast du wissen können, dass er hier ist?«

»Recht einfach. Abt Servillius hatte mir gesagt, Freifrau Gunora und der Prinz hätten noch vor der Morgendämmerung die Abtei verlassen und sich auf den Weg zu deiner Festung aufgemacht. Ich habe Gunoras Leichnam gefunden. Der Junge fehlte. Als ich jedoch Wulfoald berichtete, dass Freifrau Gunora tot aufgefunden wurde, hat er nicht nach dem Prinzen gefragt. Er hat mich nur getadelt, ich hätte ihn schon früher davon in Kenntnis setzen müssen.«

»Was hast du daraus geschlussfolgert?«, wollte Aistulf wissen.

»Man war nur besorgt, dass Freifrau Gunora fehlte. Das bedeutete doch, Prinz Romuald war hier in Sicherheit. Und du, Aistulf, hast das selbst bestätigt.«

»Ich hätte das bestätigt?«

»In den Bergen habe ich dich sagen hören: ›Wenn die Schilderung des Jungen stimmt, dann muss Freifrau Gunora tot sein.‹ Was hat der Junge euch denn erzählt?«

Statt einer Antwort kam Radoalds Gegenfrage. »Was hat sich deiner Ansicht nach zugetragen?«

»Freifrau Gunora und der Junge wurden beobachtet, als sie auf nur einem Pferd aus der Abtei ritten. Ich vermute, man ist ihnen bald gefolgt. Gunora dürfte das bemerkt haben, sie hat dem Jungen gesagt, er soll absteigen und sich irgendwo verstecken. Sie würde versuchen, die Verfolger abzulenken. Das gelang ihr auch, soweit es den Jungen betraf. Sie jedoch hat man eingeholt und erschlagen.«

Aistulf nickte bekümmert. »Du hast recht, soweit es den Jungen betrifft. Wulfoald fand ihn früh am Morgen jenes Tages am Fluss. Der Prinz erzählte ihm, Freifrau Gunora wollte zur Abtei zurückreiten und hätte ihm befohlen, sich zwischen Gebüsch und Felsen zu verstecken. Falls sie nicht bald zurückkäme, sollte er zur Festung meines Sohnes Radoald gehen, aber auf keinen Fall zurück in die Abtei.«

»Freifrau Gunora muss also versucht haben, die Verfolger in die falsche Richtung über den Monte Pénas zu lenken«, überlegte Fidelma laut. »Die arme Gunora. Sie hat sich aufgeopfert. Ist der Junge nun wirklich sicher geborgen?«

»So, wie du vermutest«, versicherte ihr Suidur.

»Eines dürfte dich noch besonders interessieren«, fügte Aistulf hinzu. »Der Prinz hat aus seinem Versteck die Verfolger zu Gesicht bekommen. Das heißt, nur einen. Seine Beschreibung passt genau zu dem Reiter, wie ihn Odo Wulfoald und dir geschildert hatte. Und ebenso zu der Gestalt, die der Hirt während des Waldbrands von Hawisas Hütte hate fortreiten sehen.«

»Ein Mann auf einem fahlen Pferd?«

»Der Prinz behauptet auch steif und fest, dass der Reiter auf dem fahlen Pferd ein Krieger war.«

Fidelma schwieg eine Weile. »Nun erzählt mir, warum ihr mich hier haben wolltet.«

»Mein Freund Abt Servillius war überzeugt, dass man dir vertrauen könnte«, antwortete Aistulf. Prüfend schaute er in die Runde. »Es wird dich nicht überraschen, dass wir König Grimoald unterstützen.« Da Fidelma nichts dazu sagte, fuhr er fort: »Wir nehmen an, dass dich das Für und Wider des Krieges, der nun auszubrechen droht, weniger interessiert. Dieser Krieg aber beunruhigt uns ungemein – Perctarit will mit Hilfe seiner Anhänger und seiner Verbündeten aus dem Frankenreich den Thron der Langobarden zurückerobern.«

»Es ist, wie du sagt, mit diesen Vorgängen in der hohen Politik habe ich nichts zu schaffen, denn es ist euer Land und nicht meins.«

»Das ist wohl einzusehen, doch warum bist du hinzugesprungen, um Magister Ado zu verteidigen, als die Krieger König Grimoalds ihn gefangen nehmen wollten?«

»Das war der reine Zufall. Ich sah, dass zwei Männer einen älteren Geistlichen in einer Seitengasse überfallen wollten. Als wir später in dieses Tal einritten, versuchten eben diese Männer, ihn aus dem Hinterhalt zu ermorden.«

»Hättest du nicht den Warnschrei ausgestoßen«, sagte Schwester Gisa grollend, »dann hätten sie ihr Ziel nicht verfehlt. Statt dessen trafen sie Bruder Faro.«

»Das ist ein Vorfall, den ihr mir erklären müsst. Die mutmaßlichen Mörder waren gekleidet wie die Gewappneten eures Königs und waren demzufolge eure Verbündeten. Ist es denkbar, dass ihr die Ermordung eines älteren Geistlichen von so herausragender Gelehrsamkeit wie Magister Ado gutheißt – bloß weil es eurer Sache dienlich ist?«

»Wir hielten ihn für einen Geheimagenten Perctarits«, erklärte Schwester Gisa und schob trotzig das Kinn vor. »Für einen Feind König Grimoalds. Du hast ihn davor bewahrt, von den beiden gefangen genommen zu werden, die Grimoald entsandt hatte. Er sollte einer Befragung unterzogen werden.« Aistulf fuhr fort. »Leider waren die beiden keine besonders hellen Kerle, wie du auch herausgefunden hast. Da es ihnen nicht gelang, ihn festzunehmen, redeten sie sich ein, das Beste wäre, ihn zu ermorden.«

»Statt dessen haben sie Bruder Faro verwundet«, wiederholte Schwester Gisa.

»Nachdem der Mordversuch fehlgeschlagen war, sind die beiden Krieger in die Festung gekommen, um Bericht zu erstatten. Ich habe dich, Suidur, und Gisa gesehen, wie ihr sie gescholten habt.«

»Wie hast du denn das bewerkstelligt?«, rief Radoald.

»Burghöfe sind nicht der geeignetste Platz, um Dinge zu besprechen, auch nicht im Dunkel der Nacht, und bei Vollmond schon gar nicht.«

»Aber du sprichst doch nicht die Langobardensprache«, wandte Suidur ein. »Wie hast du wissen können, was da vor sich ging?«

»Vielleicht erinnerst du dich, dass du Schwester Gisa getadelt hast, weil sie ins Latein verfiel.«

Nach einer Pause räumte Suidur ein: »Das war wohl so. Grimoalds Kriegern wurde klargemacht, dass sie Magister Ado hinfort in Ruhe lassen sollten. Er sollte sich frei bewegen können und uns so auf die Spur des Goldes bringen.«

»Lass den Strick locker, an dem er sich am Ende selbst erhängt, heißt doch die Redensart«, ergänzte Aistulf.

»Und was, wenn er nicht Perctarits Mittelsmann ist?« Fidelma seufzte. »Ich wundere mich, Suidur, dass du deiner Tochter nicht beigebracht hast, dass Bemerkungen coram iudice als schwerwiegende Beweise gelten können.«

Schwester Gisa schaute erstaunt hoch, aber der Arzt lachte sogar. »Edle Dame, du besitzt einen Scharfsinn sondersgleichen.«

»Dass sie deine Tochter ist, habe ich daraus geschlossen, dass sie in der Heilkunde gut beschlagen ist, es hieß auch, ihr Vater sei Arzt gewesen, und außerdem ist sie in diesem Tal aufgewachsen.«

»Servillius hatte uns geraten, bevor er von hier wegging, dich in keiner Weise zu behindern, du würdest ohne uns herausfinden, wer die Verschwörer sind«, warf Radoald ein. »Das hat er doch gesagt, nicht wahr, Vater?«

Der alte Herrscher der Festung schmunzelte. »Er hat sogar gesagt alis volat propriis: Sie fliegt auf ihren eigenen Schwingen.« Fidelma war der Spruch geläufig. Er bedeutete so viel wie: Sie war frei von Vorurteilen und ging die Dinge an, wie sie es für richtig hielt.

Radoald neigte sich zu ihr. »Lass dir erklären, warum wir Magister Ado verdächtigt haben. Sein Ruf als hervorragender Gelehrter der Abtei Bobium ist unumstritten. Er vertritt standhaft das Nicänische Glaubensbekenntnis …«

»Die ganze Abtei hat sich dem verpflichtet«, betonte Fidelma.

»Doch Bobium ist es auch zufrieden, unter der Herrschaft von König Grimoald zu stehen, obwohl der ein Anhänger des Arius ist. Immerhin hat er freigeistige Ansichten und gestattet seinen Untertanen, selbst zu wählen, welchen zu Christus führenden Weg sie gehen wollen.«

»Das weiß ich«, warf Fidelma ungeduldig ein. »Perctarit hingegen neigt zum Nicänischen Bekenntnis. Habe ich alles schon gehört.«

»Als nun Magister Ado die Reise nach Tolosa unternahm, vermuteten wir, er sei ein Geheimagent Perctarits und wäre aufgebrochen, die Ladung Gold zu beschaffen, mit der Grasulf bestochen werden sollte.«

»Hättet ihr Magister Ado gefragt, dann hättet ihr erfahren, dass er auf Drängen von Bruder Eolann nach Tolosa reiste, der wirklich zu den Verschwörern gehörte. Die hatten an Magister Ados Ehrgeiz als Gelehrter und seine Kenntnis Tolosas appelliert und damit gelockt, eine kostbare Handschrift von der dortigen Abtei für die Bibliothek in Bobium zu erwerben. Ich vermute, Bruder Eolann oder sonst jemand hatte es so eingefädelt, dass es schien, der Magister habe die Reise aus eigenem Antrieb unternommen.«

Schwester Gisa war blass geworden.

»Vielleicht hatte man auch das Gerücht ausgestreut, Perctarit sei in Tolosa«, fuhr Fidelma fort, ohne die Reaktion des Mädchens zu beachten. »So legte man eine weitere falsche Fährte, um von den Verschwörern abzulenken. In Bobium gibt es drei davon, doch Magister Ado ist keiner von ihnen. Während ihr den Gelehrten in Genua beschattet habt, lagerte das Gold längst in diesem Tal. Es war auch schon in der Abtei, bevor Bruder Faro und Schwester Gisa sich aufmachten, Magister Ado aus der Hafenstadt abzuholen.«

»Aber … wie?«, entfuhr es Radoald voller Erstaunen.

»Bevor ich weiterrede, hätte ich gern gewusst, warum es so entscheidend ist, Grasulf, den Seigneur von Vars, davon abzubringen, seine Kriegerscharen zusammenzuziehen und dieses Tal zu besetzen? Das Gold ist für ihn bestimmt, er hat ein Gemüt wie ein Söldner, erst wenn seine Beute ihm sicher ist, wird er in den Kampf ziehen. Doch warum gerade hier? Ich glaube, ich kenne schon die Antwort, wäre euch aber dankbar, wenn ich zur Bestätigung auch eure Ansicht hören könnte.«

Radoald übernahm es, ihr die strategischen Überlegungen zu erläutern. »Die Antwort ist so einfach, wie du vermutest. Du weißt sicher, dass die Straßen, die von Genua durch die Berge hier führen, schon immer lebenswichtig waren. Da ist einmal die Alte Salzstraße von Genua nach Ticinum Pavia. Sie verläuft durch das Tal der Tridone, und die Festung des Seigneurs von Vars thront darüber. Die andere Straße geht durch dieses Tal und führt nach Placentia. Sie wird von dieser Burg überwacht.«

»So viel ist mir auch von anderer Seite berichtet worden«, sagte Fidelma und nickte.

»Bestens, fahren wir also fort: Diese Straßen sind für Perctarit von entscheidender Bedeutung, wenn er seine Heerscharen von Mailand aus in Marsch setzen will. Von Mailand ist es nicht weit bis Ticinum Pavia, und auch nach Placentia ist es nur ein kurzer Weg. Wenn er also gegen Grimoald zu Felde zieht, muss er nur seine Flanken sichern und kann über ebendiese Pässe von Genua Nachschub und Verstärkung für die Truppen heranholen. Durch diese Täler und über diese Pässe sind schon die Legionen der Römer gezogen, als sie die Stämme der Ligurer beiseitefegten, die Boii besiegten und über den gewaltigen Padus vordrangen. Jenseits des Stroms haben sie die Kampfscharen der Tauriner, der Insubrer und der Cenomanen geschlagen. Alle diese Gebiete hießen dann Gallia Cisalpina und waren Teil des Römischen Reichs. Placentia wurde sogar zur ersten römischen Colonia ausgebaut. Mal dir nur aus … was geschieht, wenn Perctarit diese Pässe unter seine Kontrolle bringt.«

»Das Ergebnis wäre ziemlich eindeutig«, räumte Fidelma ein.

Aistulf war es dann, der eine völlig unerwartete Frage stellte: »Ist dir bekannt, dass der Karthager Hannibal mit seinen Elefanten hier umhergezogen sein soll? Es wird berichtet, er habe seine Mannen im Trebbia-Tal ein Lager errichten lassen, während er in die Berge auf der anderen Seite des Flusses gestiegen sei, um Übersicht auf das ganze Gebiet zu gewinnen.«

»Von Hannibal habe ich schon gehört«, bestätigte Fidelma und wunderte sich, warum plötzlich ein gänzlich anderes Thema angeschnitten wurde.

»Hast du auch von einem Geschöpf gehört, das Elefant genannt wird?«

»Von dem sonderbaren Tier habe ich sehr wohl gehört. Einer der Cäsaren hat sie nach Britannia gebracht, dem nächsten Nachbarn meiner Heimat. Er hat damit die Menschen in Angst und Schrecken versetzen und ihr Land erobern wollen.«

»Lass mich dazu noch eine Geschichte erzählen. Als Hannibal am Vorabend der Schlacht an der Trebbia – seines ersten Siegs über die römischen Legionen – hier sein Lager hatte, sind drei Männer aus dem Dorf gekommen, um die seltsamen Tiere zu untersuchen, weil sie sich von dem, was die Nachbarn erzählten, kein rechtes Bild machen konnten. Aber diese drei waren blind. Einer tastete an einem der Kolosse ein Bein ab. Der Elefant ist wie ein Baumstamm, erklärte er den anderen. Der Nächste befühlte den Rüssel des Tieres und meinte, der Elefant ähnele einer fremdartigen Schlange. Der Dritte schließlich bekam ein Ohr zu fassen, und verkündete, der Elefant sei ein riesiges Geschöpf mit Flügeln.«

Fidelma wartete schweigend ab, was sich aus der Fabel ergeben sollte.

»Nun?«, fragte Aistulf und lächelte verschmitzt, »was kannst du daraus lernen?«

»Sie hatten alle unrecht.«

»Natürlich. Und warum?«

»Weil sie nicht das ganze Geschöpf sehen konnten.«

»Prachtvoll«, freute sich Radoald.

»Wollt ihr mir damit sagen, wir kennen immer nur einzelne Teile der Geschichte? Wenn wir sie zusammensetzten, würden wir das Ganze sehen? Also gut. Tragen wir zusammen, was wir wissen. Der frühere König Perctarit ist bestrebt, euren König Grimoald zu stürzen. Er ist bereits mit seinen Heerscharen in euer Gebiet eingefallen und wird von den Franken unterstützt. Um sich dem Heer eures Königs zum Kampf zu stellen, benötigt er Nachschub und Truppenverstärkung. Die ist am leichtesten über den Hafen von Genua heranzuholen. Von der Hafenstadt gibt es zwei Wege durch die Täler zum bisherigen Lager seiner Streitmacht. Ihr überwacht einen dieser Wege und Grasulf von Vars den anderen. Grasulf ist von Natur aus ein Söldner. Perctarit braucht nichts weiter zu tun, als ihm den vereinbarten Lohn auszuhändigen, dann wird er mit seinen Kriegern beide Talstraßen besetzen.

Ich habe allerdings den Eindruck, dass Perctarit dem umworbenen Grasulf nicht traut, deshalb hat er durch seine Mittelsmänner das Gold hier ins Tal bringen lassen. Es soll ihm erst überreicht werden, wenn Perctarit seine Kriegsvorbereitungen abgeschlossen hat und die Sicherung der Nachschubwege benötigt.«

»Das ist völlig logisch«, pflichtete Radoald ihr bei.

Fidelma lächelte flüchtig. »Und nun sage ich euch Folgendes: Das Gold, mit dem Grasulf bezahlt werden soll, ist in der Abtei und hat bereits einigen das Leben gekostet.«

»Woher willst du wissen, dass das Gold dort ist?«, forderte Radoald mit Nachdruck.

»Weil der Ehrwürdige Ionas und ich es heute in aller Früh gesehen haben, und deshalb bin ich hergekommen. Ich glaube, der Hauptverschwörer ist schon bei Grasulf, dem Seigneur von Vars, und setzt ihn ins Bild. Es kann nur noch wenige Stunden dauern, bis die Abtei angegriffen wird.«

»Und du weißt, wer dieser Hauptverschwörer ist?«, fragte Aistulf.

»Ich weiß es.«

»Hast du nicht auch gesagt, Bruder Eolann steckte da mit drin?«, hakte Suidur nach.

»Ich habe nur gesagt, dass er nicht der Kopf der Verschwörung war. Der Mittelpunkt dieses Komplotts ist ein weit stärkerer Charakter.«

Plötzlich flog die Tür auf, und Wulfoald kam hereingestürmt. Sein Blick glitt über die Anwesenden, Radoald aber erwies er die Ehrenbezeigung. Man sah ihm an, er hatte Wichtiges zu vermelden.

»Der Seigneur von Vars ist im Anmarsch. Wir müssen unsere Leute darauf vorbereiten. Wie weit entfernt ist er noch?«

»Er könnte uns erreichen, noch ehe der Tag zu Ende ist.«

»Lasst uns erst hören, was Schwester Fidelma herausgefunden hat. Sie wollte uns eben sagen, wer die Verschwörer sind.«

»Die rätselhaften Vorgänge haben ihren Ursprung in der Geschichte vom Aurum Tolosanum«, begann sie.

»Wir haben jetzt keine Zeit für alte Sagen«, brummte Radoald.

»Das ist doch nur noch eine Geschichte, die sich Greise abends am Herdfeuer erzählen«, höhnte Wulfoald.

»Hören wir ihr erst einmal zu«, rügte Aistulf seinen Sohn.

»Wie ihr wisst, bin ich hergekommen, um meinen alten Mentor, Bruder Ruadán, zu besuchen. Er sei schwer verletzt, erfuhr ich schon unterwegs, weil er von einigen, die ihm seine Lehrmeinung verübelten, niedergeschlagen wurde. Wir brauchen uns nicht in Einzelheiten zu verlieren, die alle nur irreführen sollten. Ich glaube, er wurde überfallen und fast zu Tode geprügelt, weil er herausgefunden hatte, wo das Gold für Grasulf verborgen war. Ein Wagen, angefüllt mit Gold. Er wusste nicht, was es damit auf sich hatte. Nach dem, was er auf seinem Sterbebett sagte, muss er geglaubt haben, er sei auf das sagenhafte Gold von Tolosa gestoßen. ›Was aus einem nassen Grab geholt wurde, muss dorthin zurück.‹ Ich wusste nicht, was das bedeutete, doch der Ehrwürdige Ionas konnte mir erklären, woher diese Anspielung kam. Das Aurum Tolosanum war aus einem See geholt worden. Bruder Ruadán nahm ein paar herumliegende Münzen auf, möglicherweise wollte er den Ehrwürdigen Ionas um Rat fragen. Auf seinem Rückweg in die Abtei begegnete er dem kleinen Wamba, dem er in einer Anwandlung unkluger Großherzigkeit zwei der Münzen gab.

Wamba brachte eine der Münzen in die Abtei in der Absicht, dafür etwas für seine Mutter einzutauschen. Von da an nahmen die Dinge ihren verhängnisvollen Lauf. Man erkannte, dass die Münze aus dem Goldschatz herrührte. Am nächsten Tag machte sich jemand aus der Abtei auf die Suche nach Wamba und erfuhr von ihm, wer ihm die Münze gegeben hatte. Der Junge wurde umgebracht, und als man außerhalb der Mauern der Abtei auf Bruder Ruadán stieß, prügelte man ihn zu Tode, jedenfalls glaubte man das. Der alte Geistliche war jedoch noch kräftig genug, sich an die Tore der Abtei zu schleppen, und wurde zu Bett gebracht. Als der Mörder erfuhr, dass sein Opfer überlebt hatte, erkundigte er sich bei Bruder Hnikar, wie es um den Alten stände. Der Apotheker war überzeugt, der Patient würde bald sterben, was den Täter beruhigte. Der alte Mann rede wirres Zeug, glaubte der Heilkundige, und würde bald tot sein. Der Mörder wiegte sich in dem Glauben, die Sache würde sich von allein erledigen und er brauche nicht unnötigen Verdacht auf sich zu lenken – doch dann kam ich in die Abtei.«

»Und weiter? Was hattest du denn damit zu tun?«, wollte Radoald wissen.

»Weil ich nun da war, musste Bruder Ruadáns Tod beschleunigt werden. Man musste ihn umbringen, noch bevor er mit mir reden konnte. Also wurde er erstickt. Damals habe ich meinen ersten Fehler begangen. Anstatt das, was ich ahnte, für mich zu behalten, vertraute ich es dem scriptor Bruder Eolann an, da er aus meinem Königreich stammte und meine Sprache sprach. Das war ein dummer, überheblicher Fehler. Ich erwähnte, dass Bruder Ruadán von Münzen gesprochen hatte. Bruder Eolann war ein kluger Bursche, und da er zur Gruppe der Verschwörer gehörte, ersann er für mich eine falsche Fährte, um mich von der wahren Spur abzulenken. Er versorgte mich mit Hinweisen auf das Aurum Tolosanum – das Gold des Servilius Caepio. Er hatte seine Mitverschworenen überzeugt, dass er mich damit beschäftigen könnte, Schatten hinterherzujagen, bis ich mich zur Abreise entschließen würde. Vielleicht tue ich ihm unrecht. Möglicherweise hat er das getan, um seine Partner davon abzubringen, auch mich zu ermorden.«

»Doch abgereist bist du ja nicht«, warf Radoald ein.

»Es kam noch schlimmer. Schlau, wie ich mich dünkte, bat ich Bruder Eolann, mein Dolmetscher zu sein, als ich Hawisa aufsuchen wollte, Wambas Mutter. Damit brachte ich den Bibliothekar in eine schwierige Lage. Aber sein Anführer schlug ihm vor, sich einer raffinierten List zu bedienen. Er riet ihm, mich zu begleiten und Hawisas Worte so zu übersetzen, dass mein Verdacht gegenüber Wulfoald und dem Abt zusätzliche Nahrung erhielt.«

»Aber er konnte sich doch denken, dass am Ende herauskommen würde, wie er dich getäuscht hatte«, wandte Aistulf ein.

»Vielleicht nahm er an, bis dahin würde die Verschwörung ihr Ziel erreicht haben. Oder man hatte ihm geraten, er solle sich meiner auf der Wanderung zum Berggipfel entledigen. Wenn ich es mir recht überlege, könnte er ernsthaft vorgehabt haben, mich an eine gefährliche Stelle zu führen, an der ich unweigerlich abstürzen musste. Immerhin hat er das nicht übers Herz gebracht und mich sogar vor dem Absturz gerettet. Alles in allem war Bruder Eolann vielleicht doch kein so schlechter Kerl.«

»Aber er hat es übers Herz gebracht, den kleinen Jungen Wamba und den alten Bruder Ruadán umzubringen«, rief Wulfoald aufgebracht.

»Ich glaube nicht, dass Bruder Eolann das zur Last zu legen ist – die Mordtaten haben seine Mitverschworenen begangen. Schnelle Entschlüsse konnte er jedoch fassen. Da er mich nicht hatte zu Tode stürzen lassen, kam ihm eine andere Idee. Wir mussten die Nacht bei dem Heiligtum auf dem Monte Pénas verbringen. Ich habe mich damals gewundert, warum er ein so riesiges Lagerfeuer aufschichtete und entzündete. Er erklärte es damit, dass es sehr kalt werden würde. Wurde es aber nicht. Doch das Feuer machte Krieger des Seigneurs von Vars auf uns aufmerksam, wie er wohl gehofft hatte. Denn am nächsten Morgen nahm man uns gefangen.

Sein Plan war, mich als Gefangene bei Grasulf zu lassen. Nur konnte er den Burgherrn erst am Morgen darauf sprechen, als der endlich von einer Wildschweinjagd zurückkam. Er wird ihm wohl gesteckt haben, was er vorhatte. Während wir beide noch Gefangene waren, spürte ich, dass sich Bruder Eolanns Benehmen änderte. Er hatte jedes Interesse an den Büchern verloren, durch die er mich in die Irre geführt hatte. Von dem einen, aus dem Seiten herausgetrennt worden waren, fand ich eine Abschrift. Und genau diese Seiten waren in der Handschrift dort vorhanden. Doch das bewegte ihn nicht sonderlich. Daher kam ein Verdacht in mir auf. Womit der scriptor gewiss nicht gerechnet hatte, war, dass wir von Suidur gerettet wurden.«

»Bruder Eolann war also einer der Verschwörer, wie du sagst – bloß warum?«, fragte Aistulf. »Er war fremd hier, kam von Hibernia wie du selbst.«

»Deshalb war ich ja so arglos. Er erzählte mir, er sei von unserem Heimatland zunächst zum Kloster St. Gallen gewandert. Dann sei er nach Mailand gelangt und wäre dort an die zwei Jahre geblieben. Mir fiel da nicht auf, dass es die Stadt war, in der Perctarit regierte. Als der Herrscher gezwungen wurde zu fliehen, kam Bruder Eolann mit zwei anderen Verschwörern nach Bobium, offenbar entschlossen, Vorbedingungen für Perctarits Rückkehr in sein Königreich zu schaffen.«

»Aber was für ein Motiv hatte Eolann?«

»Das gleiche, das ihr fälschlicherweise Magister Ado zugeschrieben habt. Eolann war ein standhafter Verteidiger des Glaubensbekenntnisses von Nicäa. Wie eben auch Perctarit – und das war für Bruder Eolann möglicherweise Grund genug, für Perctarit gegen den Arianer Grimoald Partei zu ergreifen.«

»Warum aber wurde Bruder Eolann ermordet, wenn er doch einer der Mitverschworenen war?« Suidur fand das schwer zu begreifen.

»Ich nahm an, Wulfoald hätte mich belogen, und hatte ihn deswegen zur Rede gestellt. Mit ihm wollte ich noch einmal Hawisa aufsuchen und prüfen, ob Eolann mir ihre Auskünfte richtig übermittelt hatte. Deshalb bat ich den Bibliothekar, mich als Zeuge zu begleiten. Bruder Eolann beriet sich mit den Mitverschworenen. Die legten ihm nahe, einen Sturz mit einer harmlosen Verletzung vorzutäuschen, so dass er mich nicht begleiten und als Lügner bloßgestellt werden konnte. Zur gleichen Zeit, um sicherzugehen, dass die Wahrheit nicht herauskam, ritt jemand in der Nacht hinauf zu Hawisas Hütte, tötete die alte Frau und steckte ihr Häuschen in Brand.«

»Wieder der Reiter auf dem fahlen Pferd?«, fragte Wulfoald gespannt.

»In der Tat, so war’s. Er saß auf einem fahlen Pferd, das deinem Ross sehr ähnlich ist. Als Bruder Eolann davon erfuhr, machte er einen verhängnisvollen Fehler. Er sprach damit das Todesurteil für Abt Servillius.«

»Wie denn das?«, rief Wulfoald. »Es stimmt, der Abt hatte sich an jenem Tag zu Hawisa begeben, um ihr einige Sachen zum Austausch für die Münze anzubieten, die Wamba zur Abtei gebracht hatte. Doch der Abt ahnte ja nichts von der Verschwörung, selbst wenn er erfahren hätte, dass Bruder Eolann vorsätzlich falsch übersetzt hatte.«

»Auch er habe schon nach Bruder Eolann gesucht, erklärte mir der Ehrwürdige Ionas, als wir nach ihm fragten. Wörtlich sagte er: ›Ich habe ihn nicht mehr gesehen, seit er mir im Vorübergehen zurief, er ginge zum Abt, um seine Beichte abzulegen.‹ Da der Ehrwürdige Ionas nicht wusste, was sich inzwischen ereignet hatte, nahm er an, es handele sich um die übliche Beichte, wie es hier Sitte ist. Doch die Beichte des Bibliothekars betraf wohl eher seine Mitwirkung an der Verschwörung, denn die Stimme seines Gewissens ließ sich nicht damit beschwichtigen, er habe nur seines Glaubens wegen mitgemacht. Es sei dahingestellt, ob er mit seinem Mitverschworenen über sein Vorhaben gesprochen hatte oder ob der ihn bei der Beichte belauschte, jedenfalls waren von da an beide Männer verdammt zu sterben.«

»Abt Servillius und Bruder Eolann sind demnach von ein und demselben ermordet worden?«

»Davon bin ich überzeugt, ja«, bekräftigte Fidelma. »Wulfoald hat uns soeben berichtet, dass kriegerische Heerscharen heranrücken. Ich vermute, Perctarits Mittelsmänner sind drauf und dran, Grasulf das Gold auszuhändigen, folglich wird er mit seinen Leuten in dieses Tal einbrechen.«

»Meine Späher haben bereits berichtet, Grasulfs Truppen sind bewaffnet und jetzt am Fluss im Staffel-Tal«, bestätigte Wulfoald.

»Demnach ist Perctarit bereit, von Mailand aus gegen Grimoald in die Schlacht zu ziehen«, stellte Aistulf mit finsterer Miene fest.

»Das heißt für uns, wir müssen darauf gefasst sein, dass Grasulf in unser Tal marschiert«, schlussfolgerte Wulfoald.

»Genau so ist es«, bestätigte Fidelma ernst. »Zudem liegt das Gold in der Abtei, wo die Drahtzieher Perctarits es verborgen haben. Der Ehrwürdige Ionas und ich haben es in dem Versteck entdeckt.«

»In der Abtei? Bist du dir dessen ganz sicher?« Die Frage kam von Aistulf.

»Man hat es in der Nekropole verborgen im neuen Mausoleum, das für Abt Bobolen errichtet worden ist.«

Schwester Gisa wurde leichenblass und starrte Fidelma mit ihren hellen Augen fassungslos an.

»Unser armer Bruder Ruadán wollte mir erzählen, wo er das Gold gefunden hatte«, sprach Fidelma weiter. »Er redete davon, wie viel Böses ein Mausoleum bergen kann. Ich dachte, er spiele damit auf einen dort bestatteten Leichnam an. In Wirklichkeit meinte er den Ort, an dem er die Goldmünzen gefunden hatte. Wahrscheinlich waren ein paar herausgefallen, als der Karren in das Grabmal geschoben wurde. Irgendetwas muss ihn veranlasst haben, sich im Inneren zu vergewissern. Vermutlich hatte man den Wagen zusammen mit den anderen, die mit Marmorblöcken beladen waren, während der Bauarbeiten herangeschafft.«

»Hat denn niemand bemerkt, was dort abgestellt wurde?«, fragte Radoald. »Die Handwerker müssen das doch gesehen haben.«

»Zweifelsohne waren das alles von Perctarit ausgesuchte Leute.«

»Die Oberaufsicht aber hatte ein Mitglied von der Bruderschaft«, bemerkte Wulfoald trocken. »Und das war nicht Bruder Eolann.«

»Und der für den Bau Verantwortliche war das Haupt der für Perctarit tätigen Gruppe. Der Oberaufseher für die Arbeiten an den Mausoleen für die Äbte war …«

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