KAPITEL 16

Fidelma und Wulfoald ließen ihre grässliche Last am Eingang zur Nekropole bei einem der Brüder. Er würde Weisungen für das Begräbnis erhalten. Bruder Wulfila stieß die Torflügel auf, um sie hereinzulassen, und schien ziemlich erregt. Gleich beim Absteigen hatte Fidelma den Eindruck einer gespannten Atmosphäre. Einer der Brüder führte die Pferde in die Stallungen.

»Ist alles so verlaufen, wie ihr gehofft hattet?«, fragte sie der Verwalter. »Habt ihr herausgefunden, wie das Feuer entstanden ist?«

»Es wurde absichtlich gelegt«, erwiderte Wulfoald. »Hawisas Hütte ist niedergebrannt, sie selbst ist in den Flammen umgekommen.«

»Absichtlich gelegt?« Der Verwalter gab sich erschrocken.

»Ich muss dich als Verwalter davon in Kenntnis setzen, dass wir Hawisas Leichnam hergebracht und am Gottesacker abgelegt haben. Wir meinen, es wäre angemessen, die alte Frau neben ihrem Sohn zu bestatten.«

»Dann wäre es doch das Beste, den Leichnam über Nacht in der Kapelle aufzubahren.«

»Wir haben beschlossen, die Tote vor der Nekropole zu lassen«, erklärte Schwester Fidelma. »Ich fürchte, der Verwesungsgeruch würde den Brüdern sehr unangenehm sein, wenn wir sie in die Abtei schafften.«

Bruder Wulfila wusste nicht recht, was er davon halten sollte. »Aber der Leichnam muss doch ausgesegnet werden vor dem Begräbnis. Er gehört zum Trauergottesdienst in die Kapelle …«

»Ich meine, die Aussegnung kann auch am offenen Grab geschehen«, bemerkte Wulfoald trocken. »Tod unter solchen Umständen riecht eben nicht lieblich.«

Der Verwalter stutzte zunächst, begriff dann aber. »Natürlich, ja natürlich«, murmelte er und schaute dabei ängstlich um sich, als suche er jemand.

»Stimmt etwas nicht?«, fragte Fidelma. »Du bist doch mit den Gedanken ganz woanders.«

»Tut mir leid. Ich muss mich noch um eine Sache kümmern«, gab er ihr zur Antwort und eilte davon.

Der Krieger warf Fidelma einen Blick zu, zuckte die Achseln und sprach Bruder Hnikar an, der gerade vorbeikam.

»Ist Abt Servillius in seiner Amtsstube?«

Der Apotheker blieb stehen. »Er ist zurück, darf aber von niemandem gestört werden.«

»Darf nicht gestört werden?«, fragte Wulfoald verwundert.

»Abt Servillius ist vor kurzem zurückgekehrt. Er schien sehr erschöpft und hat sich sofort in seine Räume begeben. Ich habe ihn noch nie so aufgewühlt gesehen. Er hat dem Verwalter ausdrücklich aufgetragen, dass er bis zum Läuten zur Abendmahlzeit nicht gestört zu werden wünscht.«

»Und Schwester Gisa … Wo ist sie?«, fragte Fidelma, die sich erinnerte, dass beide am Abend zuvor zusammen fortgeritten waren.

»Abt Servillius sagt, Schwester Gisa ist bei Aistulf geblieben. Merkwürdig ist das schon.«

Wulfoald lächelte aufmunternd. »Ich bin sicher, der Abt wird es uns erklären, wenn er sich ausgeruht hat und wieder ansprechbar ist. Sicher ist er übermüdet, nachdem er die ganze Nacht unterwegs war. Wenn Schwester Gisa bei Aistulf ist, dann ist ihr bestimmt nichts zugestoßen. Inzwischen sollten wir wenigstens Bruder Eolann aufsuchen.«

Fidelma war sofort einverstanden. »Hat er sich von seinem … äh … Sturz erholt?«, fragte sie den Heilkundigen.

»Ja, doch. Er fühlt sich ganz wohl, sagt auch, es tut ihm nichts mehr weh, natürlich ist noch die Abschürfung da und die Beule am Kopf. Er wollte vorhin gerade ins scriptorium

Fidelma ging auf dem Weg zur Bibliothek voran, erst durch den kleineren Innenhof, dann die Turmtreppe hoch. Der Raum, in dem man Bruder Eolann meist antraf, war leer und wirkte düster. Jedes Mal, wenn sie dort gewesen war, hatte eine Lampe oder ein Talglicht gebrannt. Das fehlte jetzt. Ratlos blickte sie Wulfoald an und öffnete die Tür zur Schreibwerkstatt. Hier verbreiteten Lampen strahlende Helle, etwa ein Dutzend Brüder saßen an ihren Pulten, stützten das Handgelenk mit ihrem Malstock und kopierten mit dem Gänsekiel Texte auf Pergament aus Ziegen-oder Schafshäuten. Das Kratzen der Federkiele war unüberhörbar, während die Schreiber sich mit größter Sorgfalt ihren Aufgaben widmeten.

Einer schaute zu den beiden in der Tür Stehenden auf. Er erhob sich von seinem Schemel und kam ihnen entgegen. »Ich suche den scriptor«, sagte Fidelma zu ihm.

»Wir haben ihn schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen, Schwester«, erklärte ihr der Mönch. »Wir dachten schon, er hat die Abtei erneut verlassen.«

»Was heißt erneut verlassen?«

»Er war doch fast vier Nächte mit dir fort, Schwester«, erinnerte er sie arglos.

Die Bemerkung traf Fidelma. »Er war aber heute früh hier und hatte einen … einen Unfall. War gestürzt. Und keiner von euch hat ihn heute gesehen?«

»Doch … irgendwann heute hat er vorbeigeschaut«, meinte einer der Kopisten.

»Vielleicht ist er beim Ehrwürdigen Ionas«, schlug noch ein anderer vor. »Er berät sich häufig mit ihm. Der Ehrwürdige Ionas hat einen eigenen Raum gleich nebenan.« Er zeigte auf eine Seitentür.

Fidelma bedankte sich und ging durch die ihr eben gewiesene Tür. Sie und Wulfoald gelangten in einen schmalen Durchgang. Bevor sie noch die Kammer des Ehrwürdigen Ionas gefunden hatten, kam ihnen der Gelehrte auf eben dem Gang entgegen, als ob er gerade zur Werkstatt der Kopisten wollte. Sobald er erfuhr, wen sie suchten, machte er ein besorgtes Gesicht.

»Ich bin selbst auf der Suche nach Bruder Eolann. Kurz nachdem Abt Servillius zurückgekehrt war, bin ich ihm begegnet. Er sagte mir, er gehe zum Abt zur Beichte, seither aber ist er nicht mehr im scriptorium gewesen. Er soll heute früh bös gestürzt sein, vielleicht hat er den Schreck noch nicht überwunden.«

Der Ehrwürdige Ionas beschrieb ihnen, wie sie zu Bruder Eolanns Zelle gelangen könnten, doch auch dort hatten sie kein Glück. Der Bibliothekar schien ein sehr asketisches Leben zu führen, denn in dem kleinen Raum befand sich nichts, was man als persönliche Gegenstände hätte bezeichnen können; da waren nur ein Paar Sandalen, einige Kleidungsstücke und wenige Sachen zur Körperpflege. Nicht ein Buch war vorhanden, auch kein Satz Schreibutensilien, wie man bei einem scriptor hätte erwarten können.

Resigniert blickte Fidelma ihren Begleiter an. »Solange wir nicht herausfinden, wo sich Bruder Eolann aufhält, sind uns die Hände gebunden.«

»Dem ist wohl so, aber irgendwie ist das alles beunruhigend. Leider kann ich mich hier nicht länger aufhalten, ich bin für die Belange im Tal und die Sicherheit dort zuständig. Ich muss zu Radoalds Festung zurück und die Lage mit ihm besprechen.«

»Siehst du ernsthaft die Gefahr eines Kriegszugs?«

»Davon müssen wir ausgehen. Und sicher ist auch, dass Grasulf von Vars mit dabei sein wird. Er wird auf der Seite mitmachen, die ihn am besten bezahlt. Deswegen war ja Suidur bei ihm, er wollte herausbekommen, was Perctarit zu zahlen gewillt ist.«

Sie gingen zum Innenhof zurück, und Wulfoald ließ sich sein Pferd bringen.

Fidelma wusste nicht recht, was sie jetzt tun sollte, entschied sich dann aber, ein Bad nach ihrem langen Ausritt zu nehmen. Danach zog sie sich in ihre Kammer zurück, legte sich hin und schlief ein. Es wurde schon dunkel, als sie wieder die Augen öffnete. Das ungute Gefühl war nicht gewichen. Ihr Gespräch mit dem Abt duldete keinen Aufschub, sie musste ihn nach seinem Besuch bei Hawisa befragen. Sie ging hinunter in die Eingangshalle und traf dort Bruder Wulfila, der ihr mitteilte, der Abt sei weiterhin nicht zu sprechen. Er hätte angewiesen, vor dem Läuten zur Abendmahlzeit dürfe ihn niemand stören.

Als sie sich nach Bruder Eolann erkundigte, erklärte ihr der Verwalter, er habe ihn seit Mittag nicht mehr gesehen. Auch von Schwester Gisa habe man nichts Neues erfahren, doch Bruder Faro sei zurückgekehrt. Allerdings habe er darauf bestanden, die Abtei sofort zu verlassen, als er hörte, Schwester Gisa sei nicht da. Er wollte nach dem Verbleib der Schwester forschen. Der Verwalter war empört, dass sich keiner mehr an die Regeln der Abtei hielt.

Es ärgerte Fidelma, so nutzlos die Zeit verstreichen lassen zu müssen. Wenigstens den Ehrwürdigen Ionas könnte sie noch einmal aufsuchen. Vielleicht konnte er mit seinem umfangreichen Wissen Dinge erhellen, die sie beschäftigten. Sie fand ihn auch wirklich in seiner Studierstube. Kaum hatte sie angeklopft, bat sie der Gelehrte einzutreten. Er saß an seinem Pult, hatte eine Handschrift vor sich aufgeschlagen und hielt einen Federkiel in der Hand.

»Darf ich dich einen Augenblick stören, Ehrwürdiger Ionas?«

Der alte Geistliche rückte von seinem Pult ab, runzelte die Stirn und legte den Federkiel beiseite. »Falls du immer noch nach Bruder Eolann suchst: Bislang ist er nicht gesichtet worden. Das ist recht fatal.«

»Genau das Gleiche habe ich eben von Bruder Wulfila gehört«, erwiderte sie, trat ein und schloss die Tür hinter sich. »Ich komme wegen einer anderen Sache, in der ich dich um Rat bitten möchte.«

»Gern, wenn ich dir in irgendeiner Weise helfen kann, Schwester Fidelma.«

»Ich habe gehört, dass du einiges über Münzen weißt.«

»Ein bisschen schon. Beim Studium der Geschichte erweisen sich Münzen mitunter als hilfreich.«

»Kannst du mir sagen, was das hier für eine ist?« Sie hatte die Goldmünze aus ihrem ciorr bholg, dem Kammbeutel, genommen, ihm in die Hand gelegt und sich dann neben dem Pult auf einen Schemel gesetzt.

Kurzsichtig wie er war, blickte der Ehrwürdige Ionas angestrengt auf die Münze, drehte sie in seinen abgemagerten Händen hin und her und nickte dann bedächtig. »Ein Goldstück aus dem alten Gallien. Es sieht wirklich sehr alt aus. Wo hast du das gefunden?«

»Oh, jemand hat es mir gegeben«, sagte sie leichthin und verschwieg die wahre Herkunft. »Du bist ganz sicher, dass die Münze aus Gallien stammt, nicht von irgendwo aus dieser Gegend?«

»Sieh mal den Wagenlenker darauf und die Rosse mit den Sternen darüber.« Der betagte Gelehrte hielt die Münze ans Licht seiner Lampe. »Und dann die Buchstaben auf der Bildseite. Das ist eine Goldmünze des Volks der Tektosagen in Gallien. Ihr Hauptort war Tolosa.«

Fidelma gab nicht zu erkennen, dass Tolosa ihr etwas sagte. Sie wollte sich bereits verabschieden, als ihr noch eine Idee kam.

»Du lebst hier doch bereits seit vielen Jahren, Ehrwürdiger Ionas.« Es war mehr eine Frage als eine Feststellung.

»Ich kam wenige Jahre nach dem Dahinscheiden unseres hochverehrten Columbanus hierher und habe mit denen zu tun gehabt, die ihn noch kannten. Damals nahm ich gleich meine Lebensbeschreibung unseres Gründervaters in Angriff. Später bin ich durch viele Gebiete der Christenheit gewandert, war selbst bei den Franken unterwegs und gelangte schließlich nach Rom. Aus der Zeit stammt mein Wissen über die Münzen der Gallier, und deshalb kann ich auch diese hier zuordnen.«

»Bruder Eolann hat mir erzählt, dass du dich darin auskennst.«

»Er ist ein tüchtiger scriptor

»Weißt du mehr über ihn?«

Die Frage erstaunte den Alten. »Ich dächte, er kommt aus eben dem Teil der Welt, aus dem auch du kommst.«

»Ja, das schon«, beeilte sich Fidelma zu bestätigen. »Ich meine, seit er hier in der Abtei ist.«

»Ah so, er ist erst seit zwei oder drei Jahren hier. Soviel ich weiß, war er zuerst im Kloster St. Gallen, das auch von einem Wandermönch aus Hibernia gegründet wurde; Gallus nennt ihr ihn wohl. Dann hat er die gewaltigen Berge überstiegen und einige Zeit in Mailand verbracht. Damals herrschte dort Perctarit, der später gestürzt und ins Exil getrieben wurde. Bruder Eolann hat sich dann hierher begeben, weil er Frieden und Einsamkeit suchte. Wir erkannten bald sein Talent als Schreiber, und so ergab es sich, dass er zum scriptor der Abtei aufstieg.«

»Er war sehr betroffen, weil einige der ihm anvertrauten Handschriften mutwillig beschädigt worden waren. Etliche Seiten fehlten, waren einfach herausgeschnitten worden.«

»Das höre ich zum ersten Mal. Mir hat niemand etwas davon gesagt, und dabei benutze ich die Bibliothek täglich.«

»Ich verstehe.« Sie machte ein nachdenkliches Gesicht.

»Es ist wahrlich ein Verbrechen, Bücher zu beschädigen oder zu vernichten«, fuhr er fort.

»Es betraf Werke des Livius und Plinius. Bruder Eolann und ich haben herausgefunden, was auf den im Livius fehlenden Seiten stand. Das war ein Bericht über den römischen Prokonsul Caepio, dessen Legionen von den Galliern vernichtend geschlagen wurden.«

Das Interesse des Ehrwürdigen Ionas war geweckt.

»Caepio? Ja, richtig, in den Tagen des alten Imperiums war er Prokonsul und Statthalter der ganzen Gegend hier. Er war der Urgroßvater von Marcus Brutus, einem der Mörder des Feldherrn Julius Caesar.«

»Der Name Julius Caesar sagt mir etwas. Aber die Geschichte muss sich in weit zurückliegenden Zeiten zugetragen haben. Ich hatte den Eindruck, dass Caepio unmittelbarer mit der Provinz hier verbunden war … hängt sein Name mit irgendeiner Hinterlassenschaft zusammen?«

»Caepio?« Der alte Gelehrte schüttelte den Kopf. »Nein, der hat lange vor Julius Caesar gelebt – viele, viele Jahre sogar vor der Geburt Christi. Caepio und sein Erbe wurden im ganzen römischen Reich geschmäht. Die Ansicht besteht fort, er habe keine Würdigung seines Lebens verdient, und das aus gutem Grund. Seine Überheblichkeit war daran schuld, dass zwei römische Heere vernichtet wurden; Zehntausende Soldaten kamen um, doch er rettete seine Haut. Ihm wurde der Prozess vor dem römischen Senat gemacht, er wurde für schuldig befunden, seine Legionen leichtfertig aufs Spiel gesetzt und große Mengen Geldes unterschlagen zu haben. Da er ein Patrizier war, wurde ihm das Bürgerrecht aberkannt, und er musste außer Landes gehen. Niemand durfte ihm gestatten, sich an einem Feuer zu wärmen, oder ihm Wasser reichen, und das im Umkreis des Senatsgebäudes von achthundert römischen Meilen. Ihm wurde eine Strafe von fünfzehntausend Goldtalenten auferlegt. Von der Urteilsverkündung an war ihm nicht erlaubt, mit Freunden oder Familienangehörigen zu sprechen. Die Geschichte weiß noch zu berichten, dass es ihm gelang, eine griechische Stadt im Osten zu erreichen, und dass er dort verstarb.«

Fidelma schwieg. Was sie soeben gehört hatte, machte die wenigen Sätze verständlich, die sie in der Handschrift in der Bibliothek von Vars gelesen hatte.

»Bloß warum sind Seiten, die von Caepio handeln, aus Büchern der Abteibibliothek herausgetrennt worden?«, überlegte der Ehrwürdige Ionas laut.

»Mir ist da eine Legende zu Ohren gekommen, in der es um das Gold von Tolosa geht.«

Er schaute auf die Münze und nickte versonnen. »Der alte Traum vom Aurum Tolosanum

»Du kennst die Sage?«, fragte Fidelma rasch.

»Die Leute in den Tälern reden oft von dem Schatz. Mehr oder weniger ist das Katzengold oder Narrengold, kein echtes Gold. Ein Märchen also, den Goldschatz gibt es nicht.«

»Bitte, erzähl mir trotzdem davon.«

»Vor der Schlacht, in der die Streitmacht der Römer vernichtet wurde, hatte Caepio mit seinen Legionen die Stadt Tolosa überfallen und geplündert und eine riesige Menge Gold und Silber fortgeschleppt. Es heißt weiter, die Tolosaner hätten ihr Gold in einem großen, dunklen See verborgen gehalten, trotzdem sei es Caepio gelungen, seiner habhaft zu werden …«

»Was aus seinem nassen Grab geholt wurde, muss dorthin zurück«, murmelte Fidelma.

»Was sagst du da?«, fragte der alte Gelehrte aufhorchend.

»Verzeih, ich habe nur eben an einen Spruch gedacht, den ich von jemand gehört habe. Bitte, erzähl weiter.«

»Also die Angaben darüber schwanken, doch meist liest man, die Legionäre hätten sechsundvierzig Wagenladungen mit dem Gold und Silber gefüllt. Caepio hat sie dann in seine Villa in Placentia schaffen lassen. Als ihn später der Senat befragte, wo das Gold geblieben sei, hat er behauptet, die Wagen hätten nie Placentia erreicht, sie seien unterwegs von Banditen aufgehalten und ausgeraubt worden. Das glaubten ihm die Senatoren nicht, sie nahmen vielmehr an, er hätte sich das Gold angeeignet und irgendwo in den Bergen hier vergraben – deshalb wurde er so harsch verurteilt. Der Schatz blieb jedoch verschwunden, und über die Jahrhunderte haben sich Mythen darum gerankt. – Warum interessiert dich die Sache so?« Er hielt die Münze ans Licht und betrachtete sie noch einmal. »Eine Goldmünze aus Tolosa … eine Münze der Tectosagen.« Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. »Wolltest du mir etwa erzählen, jemand will dir weismachen, dass dies eine Münze aus dem verloren geglaubten Goldschatz von Tolosa ist?«

Fidelma errötete leicht. »Nein, das nicht«, versicherte sie. »Ich wollte vor allem wissen, warum jemand die Seiten über Caepio aus dem Buch getrennt hat. Bruder Eolann war sehr unglücklich deswegen.«

»Dass die Beschädigung eines Buches ihn sehr gekränkt hat, kann ich durchaus verstehen. Er hätte es gleich melden müssen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Inhalt an sich für den Täter von Bedeutung war. Ein weit ausführlicherer Bericht über Caepio findet sich in einem anderen Buch, das ich erst kürzlich benutzt habe. Im scriptorium gibt es eine kleine Handschrift mit einer Lebensbeschreibung des Prokonsuls. Bruder Eolann war richtig stolz darauf, denn das ist eine sehr seltene Kopie. Offenbar wurde das Buch im alten Rom von den curules aediles in Acht und Bann getan.«

»Von wem, bitte sehr?«

»Curules aediles? Magistrate, Beamte im alten Rom. Seltsamerweise besitzen wir eine der Abschriften, die der Vernichtung entgingen. Sie ist vielleicht deshalb erhalten geblieben, weil ein Gallier aus Narbona – Pompeius Trogus – sie verfasst hat.«

»Warum mag man die Lebensbeschreibung des Caepio verboten haben? Lag es an dem Thema oder an dem Autor des Werks?«

»Ich könnte mir denken, das geschah, weil Prokonsul Caepio keineswegs eine Zierde der Servilius-Sippe war.«

Fidelma wollte schon gehen, doch bei dem Namen stutzte sie. »Hast du eben Servillius-Sippe gesagt?«

»Servilius war ein Vaters-oder Geschlechtername, ein Patronymikon. Der volle Namen des Prokonsuls lautete Quintus Servilius Caepio. Vita Quinti Servilii Caepionis heißt der Band, solltest du danach suchen. Der Servilius-Clan war eine alteingesessene Patrizierfamilie, schon während der Republik und auch im Kaiserreich stellten sie des Öfteren die Konsuln. Sie sind tatsächlich über sehr viele Jahrhunderte von Einfluss gewesen.«

Fidelma nahm die Münze an sich. »Danke Ehrwürdiger Ionas, dein Schatz an Weisheit war ein Gewinn für mich.« Sie wandte sich zum Gehen.

»Ich würde meinen, die Geschichte, wie sie Trogus erzählt, passt recht gut in die Mythologie der alten Welt«, gab er ihr mit auf den Weg. »Er schreibt sogar, das Gold von Tolosa wurde ursprünglich aus dem heiligen griechischen Tempel von Delphi geraubt. Die Tektosagen waren einer der gallischen Stämme, die gleich nach dem Tod von Alexander dem Großen in Griechenland einfielen. Sie plünderten den Tempel des Orakels und nahmen mit, was ihnen an Gold und Wertgegenständen in die Hände fiel. Je öfter die Geschichte erzählt wurde, desto mehr wurde sie ausgeschmückt. Trogus selbst war ein Gallier und ein guter Geschichtenerzähler. Er kannte viele der örtlichen Sagen, die um die Feldzüge gegen die Gallier entstanden waren. Vielleicht wird dir aus seinem Bericht manches klarer.«

Der Ehrwürdige Ionas beugte sich wieder über seine Handschrift. Draußen vor seiner Studierstube steckte Fidelma die Goldmünze sorgsam in ihren Kammbeutel. Das Patronymikon des Caepio beschäftigte sie weiter. Eine alte Patrizierfamilie, die viele Jahrhunderte überdauert hatte … Es zog sie erneut ins scriptorium. Sie glaubte langsam zu verstehen, wie die Vorfälle zusammenhingen. Bruder Eolann war immer noch nicht da, aber auf seinem Pult brannte eine Lampe, und daneben lag aufgeschlagen ein Buch. Es war das Werk des Pompeius Trogus. Auf dem Titelblatt stand: Vita Quinti Servilii Caepionis.

Verblüfft drehte sie sich um und schaute misstrauisch in die düsteren Ecken der Bibliothek. Wollte sie jemand an der Nase herumführen? Das Buch war doch nicht von selbst und gerade, als sie danach suchen wollte, auf das Pult geraten. Beunruhigt betrachtete sie die Handschrift und begann die Blätter umzuwenden. Plötzlich stockte sie; was sie sah, verschlug ihr fast den Atem.

Der Band war ohnehin nicht umfangreich, doch warum er so schmal war, fiel ihr erst jetzt ins Auge. Einige Blätter waren herausgetrennt worden.

Das sehen und wissen, wen sie zur Rede stellen musste, war eins, doch das konnte sie nicht allein tun. Also wanderte sie zurück zur Studierstube des Ehrwürdigen Ionas. Der blickte erstaunt auf, als sie, ohne anzuklopfen, eintrat und sich hinsetzte. Sie hielt ihm die Handschrift entgegen. Er erkannte sofort die Stelle, an der man Blätter herausgeschnitten hatte, und schaute Fidelma fragend an.

»Mich dünkt, es ist an der Zeit, mit Abt Servillius zu reden.« Sie legte allen Nachdruck auf den Namen des Klosterherrn.

»Abt Servillius?«, fragte der Ehrwürdige Ionas. »Warum denn das?«

»Du hast mir berichtet, Servilius ist ein nomen, ein Geschlechtername. Quintus Servilius Caepio«. Jetzt betonte sie den mittleren Namen.

Der alte Gelehrte schmunzelte. »Ich weiß nicht, was in deinem Kopf vorgeht, meine Tochter. Du beißt dich an der Gleichheit der Namen fest.«

»Wie es der Zufall wollte, bin ich an verschiedene Dinge geraten, die einen Bezug zu diesem sagenhaften Goldschatz des Quintus Servilius Caepio haben. Ich glaube, der kleine Ziegenhirt Wamba wurde ermordet, weil er auf den Fundort stieß oder auf den Zugang dazu. Beides wollte der Mörder geheim halten. Man bekam Wind davon, dass Wamba zu jemandem in der Abtei darüber gesprochen hatte und dass der in der Lage sein könnte, das ganze Drumherum zu enträtseln. Deshalb beschloss der Mörder, soweit es ging, alle Hinweise auszulöschen. Dazu gehörte auch, Blätter aus Handschriften herauszuschneiden, auf denen etwas über die Geschichte des sagenumwobenen Goldschatzes stand.«

»Du meinst die Hinweise auf die Taten des Caepio. Seine Plünderung Tolosas, das Aufspüren der Mengen an Gold und Silber und wie er den Schatz in sein Land verbringen ließ, in dem er Prokonsul und Statthalter war. Dass es ihm gelang, es irgendwo zu verstecken, bevor er in Rom in Ungnade fiel und geächtet wurde.« Der Ehrwürdige Ionas musste geradezu lachen. »Das alles ist doch ziemlich weit hergeholt.«

»Der Mörder ist bestrebt gewesen, jede nur denkbare Spur zu tilgen, die zu Caepios Gold – zum Gold des Servilius führte.«

Der Ehrwürdige Ionas lehnte sich zurück und lachte immer noch vergnügt vor sich hin. »Deine Erklärungen gründen sich darauf, dass die Abstammung unseres Abts sich auf den Servilius-Clan zurückführen lässt. Das dürfte sogar zutreffen. Servillius ist ja stolz darauf, dass er einer alten Patrizierfamilie entstammt, die hier lange ansässig war. Gehst du aber so weit, zu behaupten, er wüsste um den Fundort des Caepio-Goldes und versuchte jeden davon abzuhalten, dahinterzukommen?«

»Oder er, vielleicht auch jemand anders, hat das Versteck entdeckt, dann ist Wamba zufällig darüber gestolpert und …«.

Der alte Mönch riss erschrocken die Augen auf. »Behauptest du allen Ernstes, Abt Servillius hätte Wamba ermordet, um das Geheimnis zu bewahren, wo sich das sagenhafte Aurum Tolosanum befindet? Eine unmögliche Vorstellung! Selbst wenn es existieren sollte, meinem alten Freund Servillius zu unterstellen …«

»… dass er ihn hat ermorden lassen oder ihn selbst getötet hat«, sagte Fidelma unnachgiebig.

Der Ehrwürdige Ionas schwieg eine Weile, aufmerksam erforschte er ihre Gesichtszüge.

»Ich habe längst begriffen, dass du eine sehr kluge Frau bist, Schwester«, sagte er schließlich wie ein Vater, dem es leid tut, ein irregeleitetes Kind strafen zu müssen. »Im Rechtswesen deines Landes bist du ausgebildet, ich weiß auch, dass der verehrungswürdige Gelasius im Lateranpalast große Stücke auf dich hält, wie auch der Heilige Vater selbst, weil du den Mörder von Erzbischof Wighard dingfest gemacht hast. Aber was du da dem armen Servillius zur Last legst, ist einfach nicht hinzunehmen. Ich kenne ihn seit dem Tag, an dem er in die Abtei kam.«

»Ich erhebe Beschuldigungen gegen jemand nie leichtfertig«, erwiderte sie.

»Dann erzähle mir deine Geschichte von Anfang an und benenne die Beweise für deine Behauptung, danach überlegen wir weiter.«

»Die Geschichte ist ziemlich lang, und sie beginnt mit der Ermordung unseres Bruders Ruadán.«

Noch einmal wurden die Augen des ehrwürdigen Gelehrten ganz groß. »Ermordung?«, brachte er ungläubig heraus.

Langsam und bedacht trug Fidelma ihre Geschichte vor. Allmählich schwanden die Zweifel auf dem Gesicht des Alten und wichen gespannter Aufmerksamkeit. Nicht ein einziges Mal unterbrach er sie. Als sie endete, saß er mit gesenktem Haupt da und schwieg. Dann atmete er tief durch.

»Und all das ist dir widerfahren, du armes Kind, seit du hier in unserer Abtei Bobium bist? Du hättest schon längst zu mir kommen sollen.«

»Wie hätte ich dir vertrauen können?«, wandte Fidelma ein. »Nicht einmal jetzt bin ich sicher, ob ich dir vertrauen kann. Ich weiß nur, dass ich in äußerster Not bin und mich einfach jemandem anvertrauen muss.«

Der alte Klosterbruder schenkte ihr ein freundliches Lächeln. »Mir kannst du vertrauen, meine Tochter. Wir gehen jetzt gemeinsam hinüber und legen Abt Servillius all diese Fragen unmittelbar vor.«

»Er könnte sie von sich weisen«, gab Fidelma zu bedenken.

»Das mag wohl sein. Aber aus dem, wie er einige Aspekte der Vorgänge erklärt, lassen sich Schlüsse ziehen, die zur Aufdeckung der Wahrheit führen.«

»Freilich habe ich keinerlei Berechtigung, einen Abt zu befragen.«

»Das ist mir bewusst. Seit ich das Leben des Columbanus geschrieben und mich oft mit deinen Landsleuten aus Hibernia unterhalten habe, ist mir die Rolle der Brehons in deiner Heimat verständlich. Der Ehrwürdige Gelasius, nomenclator des Heiligen Vaters, hatte dich beauftragt, Ermittlungen zum Tod von Erzbischof Wighard von Canterbury anzustellen. Soviel ich weiß, geschah das über die Köpfe der für Recht und Ordnung im Lateran zuständigen Beamten, sogar über den Kopf des superista der Lateran-Wache hinweg.«

»Das hatte seine politischen Gründe«, erklärte Fidelma, »denn der Erzbischof gehörte einem fremdländischen Volksstamm an, und auch der mutmaßliche Mörder kam aus einem anderen Land – er war einer der frommen Brüder aus Hibernia. Zudem geschah es sehr wohl mit Wissen und Billigung des superista Marinus, des Obersten Befehlshabers der Schutztruppe im Lateran, nicht über seinen Kopf hinweg, wie du eben meintest.«

»Du bist gründlich bis aufs i-Tüpfelchen, wie es sich in deinem Beruf gehört. Und Gründlichkeit ist, was wir hier brauchen. Doch vor allem wollte ich sagen, was der Ehrwürdige Gelasius und der Heilige Vater für gut erachtet haben, sollte auch für uns in der Abtei hier gut genug sein.«

»Du bist sehr freundlich. Aber der Einzige, der in der Abtei wesentliche Entscheidungen treffen kann, ist Abt Servillius selbst. Seine Autorität darf nicht angezweifelt werden, und schon gar nicht, seit ihr die Regula des Benedikt eingeführt habt. Glaubst du, du könntest das Wunder bewirken, dass er mir gestattet, ihm Fragen zu stellen, wenn ich ihn doch beschuldige, eine Zentralfigur bei verübten Morden gewesen zu sein? Ich müsste ihn wegen eines Verbrechens befragen, bei dem er der einzige Tatverdächtige ist.«

Der Ehrwürdige Ionas lehnte sich zurück und gluckste erneut vergnügt. »So habe ich das nicht gemeint, Fidelma.«

»Wie dann? Die Benediktinerregel verlangt, den eigenen Willen völlig zu unterdrücken, und ermahnt jedes Mitglied der Bruderschaft, sich unverzüglich, ohne Widerspruch dem Vorgesetzten, in diesem Falle dem Abt, zur Gänze unterzuordnen, denn nur bedingungsloser Gehorsam sei der erste Schritt zur christlichen Demut.«

Der Ehrwürdige Ionas schüttelte belustigt den Kopf. »Ich weiß, was die Brüder aus Hibernia von unbedingtem Gehorsam halten, doch deine Brüder sagen auch, brich dir nicht das Schienbein an einem Schemel, der gar nicht im Wege steht.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Ist doch ganz einfach. Der heilige Columbanus hat immer gesagt, es gibt zwei Arten von Narren, die einen, die nicht gehorchen wollen, und die anderen, die gehorchen, ohne auch nur eine Frage zu stellen. Er hat durchaus bedacht, dass es dazu kommen könnte, dass die Abtei sich von seinen Regeln löst. Er hat nämlich eine Weisung für die Leitung des Klosters bei ungewöhnlichen Umständen hinterlassen, die unsere Äbte nie geändert haben. Die besteht darin, dass die beiden ranghöchsten Geistlichen den Abt zur Rechenschaft ziehen dürfen, wenn er eine fragwürdige Entscheidung getroffen hat.«

»Und diese beiden sind jetzt du und Magister Ado?«

»Gegenwärtig sind wir die beiden ranghöchsten Geistlichen.«

»Das heißt, ihr könntet den Abt zwingen, meine Fragen zu beantworten?«

»Könnten wir. Wir werden nun gehen und mit Abt Servillius reden. Ich werde dich zu meinem Gesprächsführer ernennen. Wenn er nicht gewillt ist, deine Fragen zu beantworten, werden wir warten, bis Magister Ado zurück ist – dann muss er antworten.«

»Ob das gutgeht?«

»Wirst du klare, eindeutige Fragen stellen können?« Er wartete ihre Antwort gar nicht erst ab, sondern bekräftigte: »Natürlich, da bin ich ganz sicher.«

Sie verließen die Studierstube, gingen vorbei am Durchgang zum scriptorium, dann die Treppe hinunter und quer durch die Haupthalle zur Amtsstube des Abts. In der geöffneten Tür versperrte ein Mönch den Zugang. Als sie herankamen, drehte er sich zu ihnen um. Es war der rundliche Koch, Bruder Waldipert. Mit schreckgeweiteten Augen starrte er sie an, er sah kreidebleich aus. Er machte einen Schritt auf sie zu, fast schien es, er würde vor ihren Füßen zusammenbrechen. Doch er hielt sich schwankend, der Mund stand offen, hilflos bewegten sich die Lippen, brachten jedoch keinen Ton heraus.

»Was hast du, Bruder Waldipert?«, fragte ihn der Ehrwürdige Ionas.

Immer noch war der Mann nicht fähig, sich zu äußern, starrte nur an ihnen vorbei ins Leere.

Ärgerlich brummte der Geistliche etwas, schob ihn zur Seite und trat auf die Schwelle zur Abtstube. Weiter kam auch er nicht, blieb wie angewurzelt stehen. Sehr langsam drehte er sich zu dem dicken Koch um. Der zitterte immer noch an allen Gliedern. Einige Brüder gingen eben durch die Haupthalle, einem von ihnen rief der Gelehrte zu: »Lauf und hole Bruder Hnikar, er soll sofort zur Abtstube kommen, jemand … jemand ist verletzt.«

Eilfertig hastete der Mönch davon.

»Was ist passiert?«, fragte Fidelma.

»Abt Servillius ist tot«, sagte der Ehrwürdige Ionas mit bitterem Ernst.

Fidelma drängte sich an ihm vorbei, obwohl er versuchte, sie zurückzuhalten. Doch auch sie verharrte auf der Schwelle, allzu ersichtlich war, warum der der Ehrwürdige Ionas nicht weiter hineingegangen war. Abt Servillius lag unmittelbar vor der Tür hingestreckt auf dem Boden. Der Schädel war ein blutiges Etwas, zertrümmert mit einem schweren Gegenstand. Nur seine Gewänder und das Kruzifix an der Silberkette machten ihn kenntlich. Neben dem Leichnam lag ein großer bronzener Leuchter. Viel Scharfsinn brauchte man nicht, allein die Blutspuren darauf verrieten das Mordwerkzeug. Kein Unfall, ein Mord war geschehen.

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