SECHS
Die Stimmung in der Küche entspricht der momentanen Jahreszeit: sehr frostig. Wortlos stellt Marc eine Tasse auf den Tisch, an dem seine Mutter jetzt sitzt.
»Danke für den Kaffee, mein Junge. Wo ist eigentlich Carolin?«
»Carolin schläft noch. Sie fühlt sich nicht so gut.«
»Fühlt sich nicht. Aha.« Hedwig Wagner macht eine kurze Pause und atmet schwer. »Nur gut, dass ich gekommen bin.« Das klingt irgendwie missbilligend, ganz so, wie auch der alte von Eschersbach geklungen hätte, wenn er jemand des Mü-ßiggangs überführt hätte, aber natürlich weiß Hedwig noch nichts von Caros Krankheit.
Marc seufzt und nimmt einen Schluck von dem Kaffee, den er sich selbst eingegossen hat, dann starrt er an die Küchendecke. Was es da wohl Interessantes zu sehen gibt? Bevor ich es selbst ergründen kann – was bei meinem kurzen Hals naturgemäß nicht ganz einfach ist –, schaut Marc schon wieder zu Oma Wagner hinüber. Der Anblick scheint ihn nicht wirklich zu erfreuen, er riecht gestresst.
»Wirklich, Mutter! Ich hatte dich extra gebeten, später zu kommen. Ich meine – ehrlich! Es ist erst acht Uhr morgens, was soll das?«
»Was das soll? Schau doch bloß mal, wie es hier überall aussieht, Junge! Ich denke, ihr erwartet in ein paar Stunden Gäste. Von wegen, ihr braucht keine Hilfe! Ich wusste doch genau, dass ich besser mal nach dem Rechten schaue.«
Was meint sie denn damit? Ich finde, in unserer Wohnung sieht es aus wie immer. Wenn man mal von der Tatsache absieht, dass momentan ungewöhnlich viele Tannenzweige in fast jedem Raum herumliegen und im Wohnzimmer sogar ein kleiner Baum steht, den Carolin vor ein paar Tagen ganz stolz angeschleppt hat. Etwas ganz Besonderes muss der sein. Anpinkeln darf man ihn jedenfalls nicht, das habe ich schon herausgefunden.
»Es sind ja auch noch ein paar Stunden Zeit, um aufzuräumen. Du hättest hier wirklich nicht mitten in der Nacht aufkreuzen müssen.«
»Mitten in der Nacht? Es müsste längst das Frühstück auf dem Tisch stehen, und deine Freundin liegt noch im Bett.«
»Ich sagte doch: Es geht Carolin nicht gut.«
»Na ja. Wie dem auch sei. Ich bin gekommen, um zu helfen. Außerdem habe ich noch eine Überraschung.«
Marc stöhnt.
»Oh, bitte, Mutter, keine wilden Aktionen! Was hast du vor?«
»Ich sagte doch: Überraschung. Mein vorgezogenes Weihnachtsgeschenk. Mehr wird nicht verraten. Und jetzt räume ich hier erst einmal ein bisschen auf. Du willst in diesem Chaos doch wohl nicht deine Schwiegereltern empfangen.« Sie hält inne. »Wobei – es sind gar nicht wirklich deine Schwiegereltern. Wie nennt man Carolins Eltern denn nun bloß?«
»Klaus und Elke.«
»Das weiß ich doch, Junge!«
»Warum fragst du dann?«
»Du weißt genau, was ich meine!«
»Ja. Du meinst: Wann heiratet ihr endlich?«
»Stimmt doch gar nicht!« Hedwig klingt fast so eingeschnappt wie Herr Beck, wenn man seine Autorität als Menschenkenner anzweifelt, indem man beispielsweise behauptet, dass es keinen Weihnachtsmann gibt. Bevor die beiden sich aber noch richtig streiten können, kommt Luisa in die Küche und stürzt sich sofort auf ihre Großmutter.
»Oma! Hurra! Gut, dass du da bist – ich muss dir unbedingt mein Kostüm zeigen!«
»Engelchen! Endlich freut sich jemand, mich zu sehen!« Sie steht von der Bank auf. »Dann zeig mal dein Kostüm.«
»Marc, wirklich – der Tag ist bisher das genaue Gegenteil von dem, was du mir feierlich versprochen hast.«
Carolin liegt auf meinem Lieblingssofa und sieht sehr elend aus. Ich habe mich direkt neben das Sofa drapiert, und immerhin hat Caro noch die Kraft, mich mit einer Hand zu streicheln, während sie die andere Hand auf ihren Bauch gelegt hat. Ob sie wohl Bauchweh hat? Und liegt das nun an ihrer Krankheit oder an den vielen Schokoweihnachtsmännern?
»Ich kann doch auch nichts dafür, dass meine Mutter sich an keine Absprache hält.«
»Na, du hättest sie ja nicht hereinbitten brauchen.«
»Also, jetzt übertreibst du aber. Ich kann sie doch nicht an Heiligabend vor der Tür stehen lassen, nur weil sie ein bisschen früher als erwartet kommt.«
»Sieben Stunden, bevor wir mit ihr gerechnet haben, ist wohl etwas anderes als ein bisschen früher. Das ist einfach ätzend!«
»Na ja, aber immerhin hilft sie jetzt, alles vorzubereiten. Es ist bei uns in der Tat immer etwas chaotisch, da kann ein wenig Unterstützung doch nicht schaden.«
»Seit wann ist es bei uns denn immer ein bisschen chaotisch? Und wer hindert dich denn daran, selbst aufzuräumen, wenn dich hier was stört?«
»Hey, Spatzl, kein Streit jetzt. Ich verspreche dir, dass ich meine Mutter in Schach halte. Bleib du einfach hier liegen.«
In diesem Moment klingelt es an der Tür, und ein paar Minuten später steckt Oma Wagner den Kopf durch die Wohnzimmertür.
»Ach, hier seid ihr. Marc, wir brauchen dich mal kurz, meine Überraschung ist da.«
Marc steht auf und folgt ihr, ich bleibe einfach neben Caro liegen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es diesmal der echte Weihnachtsmann ist, und lieber lasse ich mich weiter kraulen, als für den falschen aufzustehen. So groß wird die Überraschung schon nicht sein.
Oder doch? Ungefähr auf der Höhe, auf der eben Hedwigs Kopf im Türrahmen erschien, taucht auf einmal ein riesiger Baumwipfel auf. Nach und nach schiebt sich der gesamte Baum durch die Tür, getragen von zwei Männern, die ich noch nie zuvor gesehen habe, und von Marc, der schließlich den Stamm in den Raum schiebt. Als der Baum in Gänze im Zimmer ist, stellen die Männer ihn aufrecht hin, Marc hält ihn fest. Der Baum ist so groß, dass seine Spitze fast die Decke berührt – und die ist immerhin kaum niedriger als die im Salon von Schloss Eschersbach. Carolin hört auf, mich zu kraulen, und setzt sich mit einem Ruck auf.
»Was zum Teufel ist das?«
Die beiden Männer gucken sich unsicher an.
»Äh, den hat die Dame gestern beim Chef gekauft. Wir sollten nur heute anliefern. Stimmt etwas nicht?«
»Doch, doch«, beeilt sich Marc zu sagen. »Sie können ruhig schon gehen.«
Die Männer verziehen sich.
Carolin schüttelt den Kopf.
»Marc, was ist das?«
»Das ist mein Weihnachtsgeschenk für euch!«, ertönt eine Stimme hinter dem Baum. »Schön, oder?« Die Stimme gehört Hedwig, das weiß ich schon, bevor ich ihre Schuhe neben dem Stamm entdecke. Schließlich windet sie sich hinter dem riesigen Baum hervor und stellt sich neben ihn.
»Aber … aber …«, Carolin scheint nach Worten ringen zu müssen, »wir haben doch schon einen Weihnachtsbaum!«
»Das ist wohl eher ein Weihnachtsbäumchen, dieses mickrige Teil. Da kommt mein Geschenk doch gerade recht.«
»Mir hat er sehr gut gefallen. Sonst hätte ich ihn nicht gekauft.«
»Carolin, meine Liebe – als Marcs Vater noch lebte, haben wir hier wirklich unvergessliche Weihnachtsfeste gefeiert. Und immer hatten wir einen imposanten Baum.«
Carolin bedenkt Hedwig mit ungefähr dem gleichen Blick, den sie mir zugeworfen hat, nachdem sie mich neulich auf dem Sofa erwischt hat. Auch Marc scheint das zu sehen, denn jetzt lehnt er den Baum an die Wand und setzt sich neben Caro auf das Sofa.
»Na ja, er ist schon ziemlich riesig, Mutter.«
»Nicht größer als die Bäume, die wir früher hatten. Freust du dich denn gar nicht? Das gehört doch einfach zu einem richtigen Heiligabend.«
Carolin holt tief Luft, aber bevor sie dazu etwas sagen kann, antwortet Marc.
»Doch, ich freu mich ja. Aber wir haben hier die letzten beiden Jahre auch ein schönes Weihnachtsfest gefeiert. Ohne Riesenbaum. Und Carolin hatte uns eben schon ein kleineres Exemplar ausgesucht.«
Hedwigs Blicke wandern zwischen den beiden ungleichen Bäumen hin und her.
»Er ist nicht nur kleiner, er ist auch schief.«
»Gut, ich habe ihn vielleicht noch nicht optimal hingestellt. Aber wir wollten ihn erst heute schmücken, da hätte ich das bestimmt gemacht.«
»Den kannst du hinstellen, wie du willst, Junge, der ist in sich schief. Und an einer Seite kahl.«
Wieder schnappt Carolin nach Luft – und diesmal ist sie schneller als Marc.
»Also Hedwig, jetzt reicht’s! Mein Baum ist schön, und wenn er dir nicht passt, dann kann ich dir leider nicht helfen. Jedenfalls bleibt er hier stehen. Was du mit deinem Baum machst, ist mir egal.«
Wuff – wenn Caros Stimme diesen Ton hat, kann man damit locker Fleischwurst schneiden! Auch Marc zuckt zusammen, und Hedwig sieht aus, als hätte sie in etwas sehr Saures gebissen.
»Spatzl, Mutter wollte uns doch nur eine Freude machen.«
»Genau. Und den Weihnachtsmann gibt es wirklich.« Spricht’s, wuchtet sich vom Sofa hoch und verlässt das Wohnzimmer. Zurück bleiben drei bedröppelt dreinblickende Gestalten. Ich natürlich weniger wegen der Frage, wie groß der perfekte Weihnachtsbaum sein muss. Das ist mir wumpe, denn Bäume, an die ich nicht pinkeln darf, interessieren mich überhaupt nicht. Nein – es ist die Weihnachtsmann-Frage, die mich langsam ganz wuschig macht. Gibt es den Kollegen denn nun? Oder gibt es ihn nicht? Und falls es ihn gibt: Wie trete ich wieder unter die Augen von Herrn Beck? Er ist sowieso schon so ein Oberlehrer, nicht auszudenken, wie er sich aufführen wird, sollte er doch recht behalten.
Den restlichen Vormittag verbringen Hedwig und Caro damit, sich aus dem Weg zu gehen, was durch Marcs Einfall erleichtert wird, dass seine Mutter die Einkaufsliste abarbeitet, während Carolin noch ein bisschen schläft. Er selbst schmückt Caros kleinen Baum und räumt auf, Hedwigs großen Baum hat er mittlerweile in den Vorraum seiner Praxis im Erdgeschoss gewuchtet. Luisa übt ihren Text als Maria. Der ist so geheim, dass nicht einmal ich zuhören darf. Also verziehe ich mich in mein Körbchen und schlafe auch ein wenig.
Ein wenig war offensichtlich ein wenig länger, denn als ich durch das Türläuten wieder geweckt werde, duftet es aus der Küche bereits verführerisch, was darauf hindeutet, dass Marc schon begonnen hat, das Festessen vorzubereiten. Und weil das Essen meist den Höhepunkt einer menschlichen Veranstaltung markiert, bedeutet das bestimmt auch, dass der echte oder falsche Weihnachtsmann in diesem Zusammenhang aufkreuzen wird. Na warte, Bursche, dich kauf ich mir!
Marc kommt aus der Küche und öffnet die Tür.
»Hallo Elke, hallo Klaus!«
»Hallo Marc!«
Sie schütteln sich die Hände – auch eine von diesen seltsamen menschlichen Angewohnheiten. Wozu machen die das bloß? Beschnüffeln ist eine logische Angelegenheit, man klärt mal schnell, mit wem man es zu tun hat, frei nach dem Motto »Ein Duft sagt mehr als tausend Menschenworte«. Aber wie viel Information kann schon in einem Händedruck stecken? Wobei – der alte von Eschersbach behauptete ja immer, so einiges aus dem Händedruck ablesen zu können. Offenbar musste der aus seiner Sicht möglichst fest sein, denn einer seiner Neffen wurde von ihm regelmäßig ermahnt, fest zuzudrücken, er sei doch wohl keine Memme. Ist es also am Ende ein Unterwerfungsritual? Und wer dem anderen die Finger möglichst doll quetscht, hat gewonnen? Andererseits – würde Marc Caros Mutter absichtlich die Finger brechen? Na, wozu auch immer es dient, für Pfoten ist es nicht gemacht. Ich bleibe beim Schnüffeln.
Marc hat den Besuch in der Zwischenzeit hereingebeten.
»Schön, dass ihr da seid. Hedwig zieht sich gerade um, Luisa und Caro sind schon in der Kirche. Setzt euch doch kurz, ich wasche mir schnell die Hände und ziehe die Schürze aus, dann können wir auch los.« Tatsächlich, Marc hat eine Art Kleid an, bei dem der hintere Teil fehlt. Das muss die Schürze sein. Gut, dass Marc noch eine Hose anhat, sonst wäre dieser Aufzug mit Sicherheit zu kalt.
Während Klaus und Elke Neumann auf dem Sofa Platz nehmen, nutze ich die Gelegenheit, sie etwas genauer zu betrachten. Sehr oft habe ich sie noch nicht gesehen, vielleicht zwei- oder dreimal. Klaus Neumann ist unübersehbar Caros Vater: die gleiche schlanke, hochgewachsene Figur, die hellen Haare, das gleiche Lachen. Elke hingegen ist relativ klein und leicht rundlich, eher gemütlich. Sie sieht so aus, als ob man mit ihr ganz hervorragend kuscheln könnte. Ich trabe zu ihr hinüber und lege mich vor ihre Füße. Tatsächlich fährt sie mir sofort mit ihren Händen durch das Fell.
Hedwig kommt auch ins Wohnzimmer und begrüßt die beiden. Sie sieht ganz anders aus als heute Morgen. Irgendwie – glitzernd! Statt der Hose hat sie nun ein langes, dunkles Kleid an, und dieses sieht aus, als sei es mit kleinen Sternen übersät. Sobald sie sich bewegt und Licht darauf fällt, beginnen die Sterne zu funkeln. Außerdem funkelt es noch an ihren Ohren, um ihren Hals und an ihren Händen. Ein sehr interessanter Effekt! Ob sie das macht, damit man sie im Dunkeln besser sehen kann? Immerhin wird es momentan wirklich sehr früh dunkel, und man kann in der Tat nicht vorsichtig genug sein. Die Menschen in ihren Autos und auf ihren Fahrrädern schauen meist nicht richtig, wohin sie eigentlich fahren. Meine gute Freundin Cherie kann ein Lied davon singen. Sie wurde nämlich einmal von einem Fahrradkurier überfahren, Marc musste sie operieren, und ich musste sie pflegen. Und dann musste ich noch den Unfallfahrer zusammen mit Herrn Beck zur Strecke bringen, um Cherie meine Liebe zu beweisen. Fast wäre es mir auch gelungen – aber das ist eine andere Geschichte. Also, in diesem Aufzug ist Hedwig jedenfalls bestens gewappnet. Die übersieht so leicht keiner.
Das findet offenbar auch Klaus. Er springt vom Sofa auf und schüttelt Hedwig die Hand.
»Hallo, Hedwig! Donnerwetter – du siehst blendend aus!«
Sag ich doch: blendend. Man kann kaum hinsehen. Elke tun die Augen offenbar auch schon weh, sie guckt gequält. Klaus hingegen strahlt über das ganze Gesicht, Hedwig wirkt fast ein bisschen verlegen.
»Danke, Klaus. Schön, euch zu sehen. Ich bin schon so gespannt auf das Krippenspiel! Und überhaupt freue ich mich schon seit Wochen auf diesen Tag. Heiligabend im Kreise der Lieben – fast so wie früher, als mein lieber Reinhard noch lebte.«
Jetzt lächelt Elke.
»Ja, und offenbar haben sich die beiden ja alle Mühe gegeben, hier alles schön zu machen. Ist das nicht ein ganz entzückender kleiner Weihnachtsbaum?«
Hedwig nickt gütig.
»Ja. Ganz entzückend, wirklich ganz entzückend.«