ZWEI

Heilige Fleischwurst! Das letzte Mal, dass ich erleben musste, wie sich Carolin übergab, war mit Sicherheit der absolute Tiefpunkt meiner Karriere als Haustier. Carolin hatte aus Liebeskummer eine ganze Flasche Cognac niedergemacht, dann ihren Wohnzimmerteppich in kleine Teile geschnitten und war schließlich ohnmächtig geworden. Also, nachdem sie gespuckt hatte. Und wer war schuld daran? Genau. Ich, Herkules, der Unglücksrabe, mit freundlicher Unterstützung von Herrn Beck. Kurz zuvor hatten wir zwei nämlich Carolins gruseligen Freund Thomas aus dem Haus geekelt. Die beiden passten einfach nicht zusammen. Trotzdem war Caro danach so unglücklich, dass sie auf die Sache mit dem Cognac verfiel.

Heute liegen die Dinge aber völlig anders – Carolin hat keinen Liebeskummer, sondern ist schon ziemlich lange glücklich mit ihrem Freund Marc, der praktischerweise auch mein Tierarzt ist. Und Cognac hat sie auch keinen getrunken, auch keine andere Sorte von diesem scheußlichen Zeug namens Alkohol. Wenn ich es mir recht überlege, nicht nur heute nicht, sondern schon ziemlich lange nicht mehr. Daran kann es demnach auch nicht liegen.

Herr Beck hatte also Recht mit seinem Verdacht. Mein Frauchen ist krank! Und wir brauchen einen Arzt, dringend! Offenbar bin ich aber der Einzige, der die Lage besorgniserregend findet, denn weder Daniel noch Carolin wirken im Geringsten alarmiert. Daniel klopft Caro lediglich auf die Schulter, reicht ihr dann ein Taschentuch und fragt: »Geht’s wieder?«

Sie nickt.

»Danke, alles in Ordnung. Es war nur dieser Geruch … der hat mich gerade echt umgehauen.«

Ha! Da ist es wieder! Geruchsempfindlichkeit! Mensch, Carolin, lass uns doch mal zu einem Arzt gehen, das ist doch nicht normal! Mal ganz abgesehen von der Tatsache, dass Pansen sehr lecker riecht, war es natürlich nicht die erste Hundefutterdose, die Carolin in ihrem Leben geöffnet hat, und bisher hat es ihr nie etwas ausgemacht, am Inhalt zu schnuppern.

»Vielleicht setzt du dich einen Moment in den Sessel?«, schlägt Daniel vor. Als keine Widerrede kommt, nimmt er Caros Hand und zieht sie sanft in das große Zimmer vor der Terrasse, in dem neben den beiden Werkbänken von Carolin und Daniel auch ein gemütlicher Korbsessel steht. Er drückt Carolin in das weiche Sitzkissen und marschiert dann noch einmal in die Küche, um kurz darauf mit einem Glas zurückzukehren.

»Hier, ein stilles Wasser für die Patientin! Ich werde mich demnächst als dein hauptamtlicher Krankenpfleger bewerben.«

»Tu das, der Job liegt dir ja offensichtlich, und mein Arzt wäre begeistert. Er hat neulich wegen meines Arbeitspensums schon mit mir geschimpft und verlangt, dass ich mich mehr schone.«

Aha. Anscheinend weiß Carolin selbst um ihren schlechten Gesundheitszustand und war schon beim Arzt. Und sollte Daniel etwa auch eingeweiht sein? Wieso weiß ich dann nichts Näheres und muss mir hier meinen Teil zusammenreimen? Gut, als Dackel bin ich Jagd- und nicht Schutzhund, aber ich muss doch wohl nicht erst bei der Bergrettung anheuern, damit ich in Fragen des Wohlergehens meines Frauchens eingebunden werde.

Egal: Wenn ihr es mir nicht freiwillig erzählen wollt, muss ich euch wohl noch ein wenig belauschen. Dann kriege ich es schon selbst heraus und werde dann entsprechende Maßnahmen für die Genesung von Carolin ergreifen. Welche das im Einzelnen sein könnten, ist mir noch nicht ganz klar. Aber die meisten Krankheiten des Menschen bekommt man mit viel Bewegung und frischer Luft wieder hin. Das jedenfalls war die unerschütterliche Meinung meines Züchters, des alten von Eschersbach. Er erwähnte in diesem Zusammenhang auch immer wieder gerne einen längeren Spaziergang – oder Fußmarsch –, der an einem Ort namens Ostpreußen begann. Ich bekomme es nicht mehr ganz zusammen, aber irgendwie war der Alte der Meinung, dass er als Kind mit seiner Mutter sehr viel gelaufen und er deswegen heute bei so robuster Gesundheit sei, während die Jugend heute vom vielen Rumsitzen völlig verweichliche.

Ich hoffe also, Carolins Krankheit hat mit ihrem Bewegungsmangel in letzter Zeit zu tun, denn den werde ich mit Sicherheit ganz schnell in den Griff bekommen. Die Sache mit dem »Schonen« können wir dann immer noch machen, aber wenn Carolins Arzt wirklich Ahnung hätte, wäre sie doch längst wieder gesund.

Es sei denn … es wäre etwas Ernsteres. Hm. Kann das sein? Ist Caro vielleicht richtig krank? Nicht nur ein bisschen? Verstohlen betrachte ich sie von dem Platz neben dem Sessel, auf den ich mich gelegt habe. Aus diesem Blickwinkel sieht sie eigentlich ganz normal aus. Ein bisschen blass, aber sonst ganz die Alte. Ich robbe ein Stück vor und lege mich auf Caros Füße. Was auch immer sie haben mag, Körperkontakt ist immer gut.

Sie beugt sich zu mir herunter und krault mich zwischen den Öhrchen. Sehr gut, zumindest die alten Reflexe scheinen noch zu funktionieren!

»Herkules, mein Süßer, vielleicht sollte ich mich einfach zu Hause hinlegen und dich als Wärmflasche gleich neben mich packen. Von mir aus auch auf Marcs heiliges Sofa. In meinem Zustand darf ich das doch wohl.«

Oh, oh – einerseits eine verlockende Vorstellung, andererseits – was meint sie bloß mit Zustand? Klingt nicht gut. Daniel zieht sich einen der Werkbankschemel neben ihren Sessel und setzt sich.

»Habt ihr es Luisa eigentlich schon gesagt?«

Klingt gar nicht gut.

Carolin schüttelt nur den Kopf.

»Meinst du, sie ahnt schon etwas?«

»Ich hoffe nicht, ich will ja nicht, dass sie sich unnötig Sorgen macht. Wir wollten erst mal abwarten, wie es sich entwickelt.«

Schluck! Klingt überhaupt rein gar nicht auf keinen Fall gut!

»Wann wollt ihr es Luisa denn sagen? Viel Zeit habt ihr ja nicht mehr.«

O MEIN GOTT! Viel Zeit ist nicht mehr! Ich bin schockiert – was mache ich mir denn hier übers Gassigehen Gedanken? Carolin ist offenbar schwer krank. Sehr schwer krank.

»Na, wir dachten, an Weihnachten. Seitdem Luisa bei Marc wohnt, feiert sie Weihnachten eigentlich immer bei ihrer Mutter Sabine in München. Aber Sabine war einverstanden, dass Luisa diesmal Heiligabend noch bei uns verbringt. Ist ja schließlich das letzte Weihnachten in dieser Besetzung.«

Das letzte Weihnachten? Ich bekomme Ohrenrauschen und Atemnot, der Raum beginnt sich zu drehen. Carolin wird sterben. Ich werde mein geliebtes Frauchen verlieren! Ich werde eine einsame Dackelwaise sein, verlassen von der Welt, ich werde …

»Herkules, was ist denn auf einmal mit dir los?« Carolin hebt mich auf ihren Schoß und streichelt mich zärtlich. »Du zitterst ja plötzlich am ganzen Leib. Ist dir kalt? Oder bist du schon so geschwächt vor Hunger?«

Carolin, du gütigster Mensch auf der Welt – selbst im Angesicht deines eigenen Todes denkst du noch an deinen treuen, kleinen Freund Herkules. Am liebsten würde ich jetzt weinen – eine Fähigkeit, um die ich die Menschen schon oft beneidet habe –, aber so bleibt mir nur ein schwaches Winseln.

Daniel steht von seinem Schemel auf.

»Richtig, das Fressen für Herkules. Das haben wir ja ganz vergessen. Ich schau mal, ob man die Dose noch nehmen kann, sonst mache ich ihm eine neue auf.«

Ihr glaubt doch nicht ernsthaft, dass ich jetzt etwas fressen kann? Mir ist natürlich ob dieser grausamen Nachricht völlig der Appetit vergangen. Daniel verschwindet in Richtung Küche. Wie abgebrüht die beiden sind – sie müssen die furchtbare Wahrheit schon lange kennen. Wahrscheinlich ist Daniel auch deswegen zu Carolin zurückgekommen: Er will seine alte Freundin auf ihrem letzten, schweren Weg begleiten. Wahre Freunde. Ob Herr Beck das auch für mich tun würde? Wobei – eigentlich stellt sich die Frage eher umgekehrt. Herr Beck ist ja schon ganz schön betagt, während ich mit meinen drei Jahren noch fast ein junger Hüpfer bin. Also werde ich Herrn Becks Tatze halten, wenn es irgendwann mit ihm zu Ende geht?

In diesem Moment hält mir Daniel einen bis zum Rand gefüllten Fressnapf direkt vor die Nase.

»Na, mein Freund – wie sieht das für dich aus? Lecker, oder?«

Pah, störe meine Trauer nicht! Wobei – es riecht schon ziemlich gut. Und durch Hunger geschwächt bin ich natürlich auch keine Hilfe für Carolin. Was sie jetzt braucht, ist ein ganzer Kerl. Von mir aus auch dank Chappi. Ich hüpfe von ihrem Schoß, Daniel stellt das Schälchen auf den Boden. Hastig schlinge ich los, immerhin ist meine letzte Mahlzeit schon eine ganze Zeit her. Hinzu kommt, dass Marc dem Diätwahn anheimgefallen ist. Leider nicht bei sich selbst, das wäre mir egal. Aber nein – er findet tatsächlich, dass ich zu viel angesetzt habe. Zum einen eine Frechheit. Und zum anderen ist eine leichte Gewichtszunahme jahreszeitlich völlig angemessen. Es ist schließlich kalt draußen, und ich habe beobachtet, dass auch die Menschen momentan einen gesteigerten Appetit zu haben scheinen. Vor allem auf Süßigkeiten. Die sind zwar für mich streng verboten, aber Luisa hat mir heimlich schon den ein oder anderen Schokoweihnachtsmann zugesteckt. Braves Mädchen.

»Sag mal, wo feierst du eigentlich Weihnachten?«, will Carolin von Daniel wissen.

»Ich weiß noch nicht so genau. Aurora hat mich gefragt, ob ich nicht doch mit ihr nach New York kommen will. Aber das halte ich für keine so gute Idee. Ich glaube, ein bisschen Abstand tut uns beiden nach dem ganzen Desaster erst einmal gut. Außerdem hat sie bei Konzertreisen erfahrungsgemäß sowieso wenig Zeit, und ich säße nur allein im Hotel.«

»Hm.« Mehr sagt Caro dazu nicht, was schade ist, denn die Kombination aus Aurora und Desaster klingt selbst in meinen Dackelohren interessant. Gut, natürlich ist Daniel gekommen, um Carolin beizustehen, so viel steht fest. Aber offenbar gibt es Zoff mit Aurora, der Stargeigerin. Das ist natürlich großartig, denn es erhöht nach meiner Kenntnis von menschlichen Beziehungen die Wahrscheinlichkeit, dass Daniel wirklich für immer hierbleibt, erheblich.

»Ach, ich glaube, ich besuche einfach meine Eltern in Lübeck. Die würden sich freuen, mich zu sehen.«

»Du kannst natürlich auch mit uns feiern. Marc und Luisa hätten bestimmt nichts dagegen.«

»Danke, das ist ein liebes Angebot. Aber du hast es ja schon selbst gesagt – dieses Weihnachten ist in gewisser Weise besonders für euch. Da möchte ich nicht stören.«

»Du störst überhaupt nicht.«

»Nee, danke, lass mal. Ich fahre nach Lübeck und lasse mich von meiner Mutter mästen.«

Carolin rappelt sich aus ihrem Sessel hoch.

»Tja, vielleicht hast du Recht. Ich bin auch schon sehr gespannt, wie Luisa reagieren wird.« Na, wie wohl? Entsetzt! »Ich meine, ich bin nicht ihre Mutter, aber trotzdem …« Also, da fallen mir doch so langsam die Schwanzhaare aus – für wie herzlos hält sie das Kind?

»Ja, ihr müsst sie gut darauf vorbereiten«, pflichtet ihr Daniel bei, »für die Kleine wird sich eine Menge ändern, und die Familie, die ihr jetzt seid, wird es so nicht mehr geben.«

Vielen Dank, Daniel. Jetzt hast du es geschafft. Mein Appetit ist mir endgültig vergangen. Ich lasse den Napf stehen und beschließe, die traurigen Nachrichten mit jemandem zu teilen, der zur Abwechslung mal mich trösten kann.


»Und du bist dir da ganz sicher?« Herr Beck ist fassungslos.

»Ja, leider. Im wahrsten Sinne des Wortes: todsicher.«

»Aber, aber – das ist ja schrecklich! So eine junge Frau! Was ist denn das bloß für eine fürchterliche Krankheit?«

»Das hat sie nicht so genau gesagt. Aber sie hat nicht mehr viel Zeit. Weihnachten wollen sie es Luisa sagen.«

»O nein. Das arme Kind.«

»Ach, Beck, ich bin so unglücklich.« Ich beginne zu jaulen. Beck macht ein Geräusch, das dem menschlichen hm, hm sehr nahekommt.

»Aber vielleicht ist es auch blinder Alarm, und du hast die beiden einfach falsch verstanden. Vielleicht wollen sie Luisa an Weihnachten etwas ganz anderes sagen. Weißt du, Menschen sind Meister der Doppeldeutigkeit, das ist als Haustier nicht immer leicht zu verstehen.«

Typisch Beck. Nie nimmt er mich ernst. Ein toller Freund. Ich jaule noch ein bisschen lauter.

Beck seufzt.

»Okay. Nehmen wir mal an, du hättest Recht. Dann musst du dich ein bisschen ablenken. Sonst wirst du noch schwermütig. Und mit einem schwermütigen Dackel ist auch niemandem gedient. Am wenigsten Carolin.«

»Ich bin bereits schwermütig. Mein Frauchen wird sterben, wie könnte ich da gut gelaunt sein?«

Beck seufzt.

»Noch mal: Vielleicht hast du sie einfach falsch verstanden. Leider können wir sie das nicht einfach fragen. Bis wir Gewissheit haben, bist du gut beraten, nicht die ganze Zeit über den Tod nachzudenken. Zu viel denken ist für Haustiere insgesamt nicht gut. Für Menschen eigentlich auch nicht, aber die sind für sich selbst verantwortlich. Also, lass uns über etwas anderes reden.«

Dieser fette Kater ist so verdammt herzlos! Worüber soll ich denn jetzt mit ihm reden?

»Mir fällt nichts ein, worüber ich mich im Moment mit dir unterhalten möchte.«

»Wie wäre es denn zum Beispiel mit dem Thema Weihnachten?«

»O nein! An Weihnachten wollen sie es doch Luisa sagen. Und dann wird das arme Kind erfahren, dass …«

»Herkules!«, unterbricht mich Beck rüde. »Keine Gespräche über den Tod!«

Na gut, dann eben nicht. Wir schweigen uns an.

»Wann ist eigentlich Weihnachten?«, will ich schließlich von Beck wissen.

»Na, so wie jedes Jahr.«

»Das ist mir klar, ich habe es nun schließlich auch schon zweimal mitgemacht – aber trotzdem habe ich es mit der menschlichen Zeiteinteilung nicht so. Also – ist Weihnachten eher morgen, oder dauert es noch ein bisschen?«

Beck bewegt den Kopf bedächtig hin und her. Offenbar weiß er es auch nicht so genau.

»Lass mal überlegen. Auf Ninas Wohnzimmertisch steht so ein rundes Teil mit Kerzen drauf. Vier Stück. Und soweit ich weiß, müssen alle brennen, damit Weihnachten ist.«

»Aha. Aber die brennen doch, weil die Menschen sie anzünden. Dann könnte ja jeder selbst bestimmen, wann das ist. Einfach alle Kerzen angezündet, fertig.«

Herr Beck zieht seine buschigen Augenbrauen hoch und schaut mich tadelnd an.

»Nein, so geht das natürlich nicht. Diese Kerzen kann man nicht einfach so anzünden.«

»Kann man nicht? Brennen die dann nicht?«

»Quatsch, das meine ich nicht. Ich meine, sie werden nach einem bestimmten … na … wie nenne ich es? Genau – sie werden nach einem bestimmten Ritus angezündet. Erst eine, dann zwei … und so weiter. Bis sie schließlich alle brennen. Dazwischen müssen aber immer ein paar Tage liegen.«

»Welchen Sinn soll das denn haben?«

»Herkules, manchmal stellst du Fragen wie ein Maikätzchen. Als ob bei den Menschen immer alles einen Sinn hätte.«

Nee, nee, mein Lieber – so einfach kommst du mir nicht davon. Wer den Spezialisten gibt, muss auch mit kritischen Nachfragen rechnen.

»Ich sage ja gar nicht, dass bei den Menschen immer alles einen Sinn haben muss. Aber wenn sie es so kompliziert machen, haben sie sich doch in der Regel schon etwas dabei gedacht«, halte ich dagegen. Herr Beck macht ein Geräusch, das wie PFFF klingt und wahrscheinlich Missbilligung ausdrücken soll, aber an den Bewegungen seiner Schwanzspitze kann ich erkennen, dass er tatsächlich über meinen Einwurf nachdenkt.

»Okay, wenn ich mich richtig erinnere, hat das irgendetwas mit Abwarten zu tun.«

»Abwarten?«

»Ja. Die Menschen warten auf irgendetwas oder irgendjemanden. Und damit die Zeit schneller vergeht, zünden sie nach jeder Woche, die sie erfolgreich hinter sich gebracht haben, eine neue Kerze an.«

»Aber auf wen oder was warten sie denn? Das muss ja etwas ganz Besonderes sein, wenn dafür so ein Brimborium veranstaltet wird. Ich meine – Carolin wartet auch häufiger mal auf einen Kunden, der sich verspätet. Oder auf Marc, dem ein Notfall dazwischengeplatzt ist. Meines Wissens hat sie deswegen aber noch nie eine Kerze angezündet.«

Jetzt guckt Herr Beck wirklich sehr nachdenklich.

»Du hast Recht. So habe ich es noch nie betrachtet. Ich schätze mal, sie warten auf den Weihnachtsmann.«

»Den Weihnachtsmann? Aber den gibt es doch momentan an jeder Ecke. Auf den muss man nicht warten, man kann ihm zurzeit eigentlich kaum entgehen. Erst heute Morgen hat mir Luisa einen kleinen Schokoweihnachtsmann zugesteckt. Sehr lecker! Und ein großer, dicker Weihnachtsmann sitzt jetzt auch vor dem riesigen Haus, in dem man von der Fleischwurst bis zur Unterhose alles besorgen kann. Vor ein paar Tagen war ich mit Carolin dort, es war unglaublich voll, und gleich am Eingang war dieser Weihnachtsmann und brüllte ho ho ho und bimmelte ununterbrochen mit einer sehr lauten Klingel. Also, für den würde ich garantiert keine Kerze anzünden. Ich wäre eher froh, wenn der nicht kommt.«

Beck seufzt.

»Herkules, mein Freund. Das war mit Sicherheit nicht der echte Weihnachtsmann.«

»War er nicht? Er sah aber so aus. Genau wie so ein Schokoladenkerl, nur in echt.«

»Nein. Der echte Weihnachtsmann kommt nur an Weihnachten und bringt die Geschenke.«

»Ach? Die Geschenke sind vom Weihnachtsmann? Bist du sicher?«

»Ganz sicher. Er kommt und verteilt sie an die Kinder. Ich habe ihn schon selbst dabei gesehen.«

»Wo denn? Nina hat doch gar keine Kinder. Weder eigene noch geliehene. Und ihr Freund Alex hat auch keine.«

Herr Beck lebt nämlich bei Nina, Carolins bester Freundin, und das praktischerweise in der Wohnung über Carolins Werkstatt. Insofern kenne ich Nina sehr gut und weiß aus eigener Anschauung, dass sie eine echte Kinderallergie hat. Die Vorstellung, dass Nina eine für Menschen so wichtige Veranstaltung wie Weihnachten womöglich freiwillig mit fremden Kindern verbringen könnte, ist geradezu ausgeschlossen. Der Kater gibt also nur an, sonnenklar.

»Doch nicht bei Nina. Ich habe ihn bei Frau Wiese gesehen.« Frau Wiese war Becks altes Frauchen. Die hatte allerdings auch keine Kinder. Ich hole tief Luft, Beck macht eine hektische Bewegung mit seiner Tatze.

»Stopp, stopp – ich weiß, was du sagen willst: Ja, Frau Wiese hatte auch keine Kinder. ABER sie hatte ja diesen nichtsnutzigen Neffen. Der wiederum bekanntermaßen drei ungezogene Kinder hat.«

Stimmt. Ich erinnere mich. Herr Beck war einmal ein paar Tage bei Wiese junior untergebracht und kehrte danach mit Geschichten heim, die denen vom alten Eschersbach über etwas, was er Krieg nannte, in nichts nachstanden. Herr Beck blickt nur bei dem Gedanken an diese Familie ausgesprochen finster drein.

»Und diese ganze grausame Sippe war auch an Weihnachten einmal zu Besuch. Du kannst dir ja gar nicht vorstellen, wie schlimm –«

»Beck«, unterbreche ich ihn, »was war denn nun mit dem Weihnachtsmann?«

»Äh, richtig. Der Weihnachtsmann. Na, der kam mit einem großen Sack voller Geschenke für diese furchtbaren Gören. Die Kinder sangen ein Lied, der Weihnachtsmann guckte sehr streng und las vor, wann die Kinder im letzten Jahr unartig waren. Das hat natürlich ziemlich lange gedauert, und als der Weihnachtsmann dann auch noch mit der Rute gewedelt hat, fing das kleinste Kind an zu weinen, und die anderen beiden versteckten sich hinter dem Sofa. Da hat sich der Weihnachtsmann beeilt, doch noch etwas Nettes zu sagen und Geschenke zu verteilen. Die Kinder haben dann gelobt, in Zukunft immer brav zu sein. Aber als der Weihnachtsmann wieder weg war, haben sie sich natürlich sofort um das Spielzeug gestritten, das er ihnen mitgebracht hatte. Die Erwachsenen tranken viel Alkohol und stritten sich schließlich auch. Irgendwann fing Frau Wiese an zu weinen, die Frau des Neffen keifte sehr laut, und der Neffe selbst schlief auf dem Sofa ein. Das ist also Weihnachten. Wenn alle vier Kerzen brennen.«

Wow! Da bin ich geradezu froh, dass bei uns der Weihnachtsmann noch nie da war. Allerdings haben wir bisher auch immer ohne Kind gefeiert. Sondern sehr kuschelig zu dritt, nur Caro, Marc und ich. Gestritten hat niemand, gesungen Gott sei Dank auch nicht. Stattdessen gab es ausgesprochen leckeres Essen, sogar für mich. Allerdings gab es auch Geschenke. Ein Punkt, der mich stutzig macht.

»Beck, bei uns gab es aber auch Geschenke für Marc und Carolin. Vom Weihnachtsmann hingegen keine Spur.«

Becks Schwanzspitze zuckt wieder hin und her.

»Hm. Wahrscheinlich schickt der Weihnachtmann die den Leuten ohne Kinder mit der Post. Damit er mehr Zeit für die Familien hat. Der gute Mann kommt ja ganz schön rum.«

Aha. Ob der Weihnachtsmann wegen Luisa diesmal also auch zu uns kommt? Ich muss dringend nachschauen, wie viele Kerzen auf diesem Kranzdings schon gebrannt haben. Vielleicht habe ich noch etwas Zeit, mich zu wappnen. Schließlich werde ich Luisa wegen Carolin trösten und womöglich diesen Weihnachtsmann im Auge behalten müssen. Dieses Weihnachtsfest, so viel ist schon jetzt klar, wird den ganzen Hund erfordern.

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