EINUNDZWANZIG

So, min Deern, nu tu dir mal richtig wat op din Teller!«

Mit einem freundlichen Lächeln schiebt die Bäuerin eine Schüssel mit einem sehr wohlriechenden, dampfenden Inhalt über den Tisch. Ich sitze auf Luisas Schoß und würde dieser Aufforderung sofort nachkommen, habe aber leider keine Möglichkeit, nach dem Löffel zu greifen, der aus der Schüssel ragt. Schätze mal, wenn ich jetzt einfach meine Schnauze in die Schüssel stecke, gibt’s Riesenärger. Komm schon, Luisa, füll uns was auf! Luisa scheint jedoch gar keinen Hunger zu haben. Gott sei Dank holt die Bäuerin jetzt noch zwei Schüsseln aus dem Küchenschrank, füllt sie mit etwas, das sie aus einem anderen Topf schöpft, und stellt sie für Beck und mich auf den Boden.

Luisa sieht sehr erschöpft aus. Seit ihr – und mir! – klar geworden ist, dass wir immer noch ziemlich am Anfang unserer Reise stehen, ist sie ganz, ganz mickrig und sagt kaum mehr ein Wort. Ab und zu verdrückt sie eine Träne, sonst ist nichts aus ihr herauszubekommen. Ob sie Marc und Caro genauso vermisst, wie ich es gerade tue? In der Theorie fühlte sich Abhauen irgendwie besser an.

Wenigstens gibt es jetzt etwas zu essen. Der Bauer hat uns dazu eingeladen, nachdem er das Auto aus dem Feld geschleppt hat, und ich glaube, wir waren alle sehr froh darüber. Selbst Herr Beck schnurrte zufrieden, als wir die Hofeinfahrt erreichten. Die Bäuerin schaute zwar erstaunt, als ihr Mann mit so viel unerwartetem Besuch auftauchte, sagte aber nichts weiter dazu. Wahre Gastfreundschaft bei Daggi und Karl-Heinz, so heißen Bäuerin und Bauer.

»Hat du denn gar keinen Hunger, mein Kind?«, will Daggi wissen. Luisa sagt nichts, schüttelt nur den Kopf. Erst guckt die große, stämmige Frau ganz sorgenvoll, dann hellt sich ihr Gesicht auf. »Dann habe ich eine gute Idee! Wir haben seit zwei Tagen ganz süße Ferkel, willst du die mal sehen?«

Och nee, wen interessieren denn Schweine, wenn man etwas so Leckeres zu essen bekommen kann? Und außerdem ist doch unser Bedarf an Babys jedweder Art gerade gedeckt, oder nicht? Sonst hätten wir ja nicht abzuhauen brauchen! Also, mit Nachwuchs kann man Luisa jetzt garantiert nicht locken.

»Echt? So richtig kleine Ferkel? Wie süß!«

Sie packt mich mit beiden Händen und setzt mich auf den Boden. Wuff! Ich dachte, wir sind auf der Flucht vor zu viel süß? Menno.

»Na, du großer Kinderversteher? War wohl nichts mit Tröster in der Not. Gegen so ein kleines Ferkel siehst du einfach alt aus.«

Herr Beck kommt angeschlichen. Ich beschließe, ihn zu ignorieren. Lieber laufe ich jetzt auch zum Schweinestall, als mich hier weiter Becks Häme auszusetzen. Selbst wenn es da meiner Erfahrung nach unglaublich stinkt.


»Also, das ist die Jolante. Die hat schon richtig viele hübsche Ferkel bekommen, sie ist unsere beste Sau!«

Es stinkt wirklich unglaublich, aber ich scheine der Einzige zu sein, der sich daran stört. Luisa steht fasziniert im Stall und lässt sich alles erklären. Das fette Schwein, auf das Daggi jetzt zeigt, liegt seitlich auf einem Lager aus Stroh in einer mit Gitterstäben abgetrennten Box. An ihren Zitzen hängen sechs Ferkel und trinken gierig. Ich muss an Cherie denken. Was hätte sie wohl zu mir gesagt, nicht gerade die Welpen gekommen wären? Ob sie die gleichen Gefühle für mich hatte wie ich für sie?

»Darf ich mal ein Ferkel streicheln?«, will Luisa wissen.

»Nee, lieber nicht! Die Sau ist da sehr empfindlich, wie alle Mamis. Sie macht sich gleich Sorgen um ihre Kinder.«

Luisa dreht sich abrupt vom Stall weg.

»Um mich macht sich niemand Sorgen.«

Die Bäuerin guckt sie erstaunt an.

»Aber bestimmt machen sich deine Eltern um dich Sorgen, wenn es dir schlecht geht!«

Luisa schüttelt so heftig den Kopf, dass ihre Haare hin und her fliegen.

»Nein. Papa hat ein neues Kind, und Mama weiß gar nicht, dass ich gerade traurig bin.«

»Oje, oje, das klingt aber nicht gut! Magst du mir davon erzählen?«

»Nein.«

»Hm. Soll ich dir mal unsere anderen Tiere zeigen? Wir haben auch ein Pony.«

»Okay.«

Die beiden gehen Richtung Stallausgang. Ich bleibe noch eine Weile vor der Box mit den Ferkeln sitzen. Wenn es etwas gibt, was mich noch weniger interessiert als Schweine, sind es Pferde.

»Hey, du, bist du der neue Hofhund?«

Wer spricht? Die Sau war es nicht, die ist mit ihrem Kindergarten beschäftigt. Ich sehe mich im Stall um.

»Ich bin hier, du dummer Hund. Ich denke, ihr könnt so toll Fährte aufnehmen. Da müsstest du mich doch längst gefunden haben.«

Frechheit! Das kann nur ein Schwein sein. Ich strecke mich und marschiere in die Richtung, aus der die Stimme kam.

»Ich hätte längst Fährte aufgenommen, wenn es hier nicht so abscheulich stinken würde«, gifte ich zurück.

»Pah, also, ich hoffe für dich, dass du nicht der neue Hofhund bist. Wenn dich dieser Geruch schon so aus dem Konzept bringt, gehörst du hier eindeutig nicht her.«

Jetzt habe ich die Geräuschquelle ausgemacht: Es gibt noch eine Box weiter hinten im Stall. Mindestens zehn Schweine laufen, stehen und liegen in ihr herum, eines davon hat seinen Rüssel durch die Stäbe gesteckt und mustert mich neugierig.

»Na, das hat ja ganz schön lange gedauert. So schlau seid ihr Hunde offenbar doch nicht. Es ist mir ein Rätsel, warum Menschen das immer wieder behaupten. Es wäre viel sinnvoller, ein Schwein mit dem ganzen Kram zu beauftragen, den Hunde so erledigen sollen. Dann wäre wenigstens gesichert, dass es auch klappt.«

Schweine, so wie ich sie kenne! Einfach unverschämt. Na warte! Ich werfe den Kopf in den Nacken.

»Ich glaube kaum, dass jemals ein Schwein ein Kaninchen aus dem Bau gestöbert hat. Du wärst dafür viel zu fett. Und apropos fett: Für jemand, der bald ein Schnitzel wird und bis dahin sein freudloses, kurzes Leben in ein und demselben dunklen Stall fristen muss, bist du ganz schön frech.«

Ha! Diesem blöden Schwein habe ich es aber gegeben! Sage noch einer, ich würde mich nicht auskennen! Ich komme schließlich auch vom Land und weiß, wie der Hase läuft. Respektive die Sau. Das Geräusch, das das Schwein jetzt von sich gibt, klingt in etwa wie pffffrrrrrr und ist mit Sicherheit Ausdruck des blanken Entsetzens.

»Du bist vielleicht ein Komiker! Ha, ha, Schnitzel!« Hm, vielleicht doch nicht blankes Entsetzen. »Ich werde doch kein Schnitzel. Ich bin eine prämierte Sau. Mit mir wird der Bauer bald wunderschöne Ferkel züchten. Und überhaupt ist hier alles voll öko. Freudlos im dunklen Stall is nich. Morgen früh kommen wir wieder raus auf die Wiese. Und ärgern den neuen Hofhund, haha!«

Voll öko? Was heißt das? Versteh ich nicht. Und wieso hat das Schwein keine Angst? Ich bin verwirrt und merke, dass ich anfange, mich richtig über die Dreistigkeit der Sau zu ärgern. Und über mich selbst, denn eigentlich wollte ich mich durch Schweine nie mehr aus der Ruhe bringen lassen. Das ist eines stolzen Jagdhundes einfach unwürdig. Überhaupt – ich lebe jetzt in der großen Stadt, als Hund eines Tierarztes. Da werde ich mir von den Landeiern hier doch kein X für ein U vormachen lassen. Ich gebe mich so selbstbewusst wie mir nur irgend möglich:

»Neuer Hofhund? Nein, ich fürchte, da müsst ihr euch jemand anderen suchen. Ich halte nichts vom Leben auf dem Land. Es langweilt mich. Mein Herrchen ist Tierarzt, und ich muss ihm sehr oft helfen, ich habe sogar sein Baby mit auf die Welt gebracht. Ohne mich wäre er aufgeschmissen. Du siehst: Dein Jobangebot war zwar sehr freundlich, aber ich kann es leider nicht annehmen.«

Das Schwein starrt mich mit weit aufgerissenen Augen an. Dann grunzt es fröhlich.

»Auweia! Ihr Städter seid ja wirklich so durchgeknallt, wie der Bauer immer behauptet! Ich dachte, das würde er nur sagen, um uns das Leben auf dem Hof schmackhaft zu machen. Aber nein, er hat völlig Recht! Donnerknispel!«

Wuff! Beleidigen lassen muss ich mich nicht. Ich stehe auf und trabe zur Stalltür.

»Hey, lauf doch nicht weg! Wir unterhalten uns doch gerade so nett! Ich bin übrigens Virginia, und wie heißt du?«

Virginia. Was für ein saublöder Name. Nein, dieses Gespräch ist definitiv beendet.


Auf dem Hof stehen Willi und Karl-Heinz vor Willis altem Auto und diskutieren. Ich laufe näher heran und spitze die Ohren.

»Jau, kannst natürlich haben, dass die Kardanwelle gebrochen ist bei dem Aufprall. Wenn die schon rott war, hat ihr das dann den Rest gegeben, nech?«

Willi nickt zwar, aber ich könnte schwören, dass er nur so fachmännisch tut, eigentlich aber kein Wort versteht. Ich übrigens auch nicht. Was ist denn eine Kardanwelle? Und was bedeutet das für die Fortsetzung unserer Reise? Es wird langsam dunkel, und bei Willis Fahrkünsten bin ich auf eine Nachtfahrt nicht besonders erpicht.

Karl-Heinz verschwindet im Schuppen neben dem Haupthaus und kommt kurz darauf mit einem Brett unter dem Arm wieder. An das Brett sind Rollen geschraubt. Ha! So was habe ich schon mal gesehen! Auf dem Schulfest von Luisa. Es heißt Skateboard, und man kann sich draufstellen und damit ziemlich schnell durch die Gegend sausen. Allerdings scheint mir Karl-Heinz schon ein bisschen alt fürs Skateboardfahren, ich kenne nur Kinder und Jugendliche, die mit dem Teil umgehen können.

Jetzt stellt Karl-Heinz das Brett auf den Boden neben das Auto – und legt sich mit dem Rücken darauf! Das habe ich nun wirklich noch nie gesehen, was soll das wohl für ein Kunststück werden? Sehr rätselhaft.

»Willi, wenn ich drunterliege, dann machst du den Motor an, ziehst die Handbremse fest und legst den Gang ein. Aber vorsichtig kommen lassen, nicht, dass du mir über die Füße fährst.«

Mit Schwung rollt sich Karl-Heinz unter das Auto. Also, das hat mit Skateboardfahren nun bestimmt nichts mehr zu tun. Willi steigt ins Auto, kurz darauf springt der Motor an. Eine Weile passiert gar nichts, dann kommt Karl-Heinz wieder unter dem Auto hervorgerollert und rappelt sich auf.

»Jau, wie ich schon vermutet hatte: Kardanwelle dreht sich nicht mehr. Die ist hin. Da brauchst du wohl ’ne neue.«

Willi macht den Motor wieder aus und wuchtet sich aus dem Wagen. Er sieht sehr nachdenklich aus.

»Ich kenn mich ja nicht so richtig gut mit Autos aus, aber das klingt irgendwie teuer. Und Geld ist bei mir gerade ein bisschen knapp. Außerdem komme ich ja nicht mal bis nach Hamburg, geschweige denn nach München. Verdammt, was mache ich denn jetzt?«

»Na ja, mein Nachbar, der Netto-Dieter, der hat einen kleinen Schrottplatz in Winsen. Da würden wir schon irgendwo eine Kardanwelle finden. Geht halt nicht ganz so schnell wie in einer normalen Werkstatt.«

Willi runzelt die Stirn.

»Netto-Dieter?«

»Tja«, Karl-Heinz grinst, »der Dieter macht ganz gern mal was ohne Rechnung. Aber immer saubere Arbeit, da kannst du dich drauf verlassen. Macht es doch einfach so: Ihr nehmt jetzt die Bahn zurück nach Hamburg, ich kann euch zum Winsener Bahnhof fahren. Und ich kläre das mit Dieter. Na, und wenn das Auto fertig ist, dann ruf ich an, und ihr holt es ab. Dann könnt ihr immer noch nach München fahren.«

Willi schüttelt den Kopf.

»Danke, aber das wird nicht funktionieren. Die Lütte will unbedingt weiter nach München. Ich kann es dir jetzt nicht genau erklären, aber das ist wichtig. Wir können nicht nach Hamburg zurück. Notfalls müssen wir irgendwie anders weiter. Per Anhalter, oder was weiß ich.«

»Per Anhalter? Du, die Lütte, der Dackel und der Kater? Wer soll euch denn mitnehmen? Und heute ist es sowieso zu spät. Komm, hol eure Sachen aus dem Auto – heute könnt ihr hier auf dem Hof übernachten, morgen überlegen wir weiter. Über dem Stall haben wir eine kleine Wohnung, da hat früher der Knecht gelebt. Also, auf Gäste sind wir eingestellt. Bisher haben auch alle Besucher behauptet, dass es dort nicht nach Schwein stinkt. Gut isoliert eben.« Er lächelt und klopft Willi auf die Schulter, der seufzend den Wagenschlüssel wieder aus der Hosentasche kramt und dann den Kofferraum aufschließt.

Mit den Taschen in der Hand geht er hinter Karl-Heinz zurück ins Bauernhaus, ich trabe hinterher. Die Vorstellung, bei diesen netten Leuten zu übernachten, gefällt mir. Abhauen ist doch anstrengender, als ich dachte. Lieber bette ich mein müdes Haupt jetzt auf ein kuscheliges Kissen, selbst wenn es über dem Schweinestall ist.

Karl-Heinz führt uns wieder in die Küche, wo Daggi gerade damit beschäftigt ist, in einer großen Schüssel herumzurühren. Luisa sieht ihr dabei zu, und nach ihrem Gesichtsausdruck zu urteilen, geht es ihr wieder deutlich besser. Selbst Herr Beck, der auf der Bank neben ihr liegt, sieht für seine Verhältnisse sensationell gut gelaunt aus. Sein Schwanz wippt locker hin und her, und obwohl ihn niemand krault, schnurrt er. Was für ein friedliches Bild! Ich taxiere kurz die Bank, dann hüpfe ich auch hoch und lege mich neben Herrn Beck.

Daggi nimmt den Rührlöffel aus der Schüssel und legt ihn zur Seite.

»Ich mache gerade den Teig für belgische Waffeln, und Luisa hilft mir. Habt ihr auch Appetit, oder müssen unsere Gäste gleich weiter?«

»Lass dir Zeit, unser Besuch bleibt noch ein bisschen«, erklärt ihr Karl-Heinz. »Der Wagen ist so schnell nicht flottzukriegen, ich habe Willi angeboten, dass sie in der alten Gesindewohnung übernachten können.«

Daggi nickt und lächelt.

»Das ist eine gute Idee! Es ist ja schon ganz schön dunkel draußen. Dann backe ich uns jetzt die Waffeln und schlage noch Sahne dazu, und wir machen es uns richtig gemütlich. «


Als ich spätabends tatsächlich auf einem sehr weichen, bequemen Kissen im Wohnzimmer der Gesindewohnung liege, bin ich glücklich. Ich habe noch drei dicke Scheiben Fleischwurst abgestaubt, für Herrn Beck gab es sogar Fisch, und beide zusammen haben wir am Ende die große Schüssel mit der restlichen Schlagsahne ausgeschlabbert. Luisa liegt schon im Bett im Schlafzimmer und schläft, Willi bereitet sich gerade sein Nachtlager auf dem Sofa. Er gähnt.

»Ein anstrengender Tag. Nicht wahr, ihr beiden? Ich bin zwar todmüde, aber gleichzeitig völlig überdreht. Steht hier irgendwo ein Radio? Ich glaube, ein bisschen Musik zur Entspannung täte mir jetzt gut. Vielleicht was Klassisches.«

Er schaut sich in dem kleinen Wohnzimmer um, dann geht er zu dem dunklen Kasten, der auf dem mittleren Regal der Schrankwand steht. Das könnte in der Tat ein Radio sein. Richtig! Er dreht an einem Knopf – so hat es der alte von Eschersbach auch immer gemacht. Jetzt ertönt allerdings keine Musik, sondern eine sehr ernst klingende Stimme.

Luisa Wagner trägt wahrscheinlich eine Jeans und ein blau-weiß geringeltes T-Shirt und ist vermutlich in Begleitung eines kleinen Hundes unterwegs. Ich wiederhole: Vermisst wird die zehnjährige Luisa Wagner aus Hamburg. Luisa ist ungefähr 1 Meter 40 groß, hat braune, gelockte Haare und blaue Augen. Sie trägt vermutlich eine Jeans und ein blau-weiß geringeltes T-Shirt und ist wahrscheinlich mit ihrem kleinen Hund unterwegs. Wer Luisa Wagner gesehen hat, verständige bitte umgehend die Kriminalpolizei Hamburg oder jede andere Polizeidienststelle.

Загрузка...