ACHTZEHN
Als der Hammer auf das kleine Ferkel zurast, zucke ich unwillkürlich zusammen. Ich mag keine Schweine, aber das hat das arme Tier nun wirklich nicht verdient! Da muss man als Haustier solidarisch sein, keine Frage.
Aua! Mit einem klirrenden Geräusch zerbirst das Schweinchen in viele kleine Stücke, Luisa legt den Hammer zur Seite und wühlt in den Scherben herum. Wenn sie zu solchen Grausamkeiten fähig ist, muss sie finster entschlossen sein. Sie fischt mehrere Scheine aus den sterblichen Überresten des armen Ferkels, dann beginnt sie, über das ganze Gesicht zu strahlen.
»Zehn, zwanzig, dreißig, vierzig – fast fünfzig Euro, Herkules! Toll, oder?«
Tja, was soll ich dazu sagen? Ist das viel? Oder wenig? Soweit ich das von meinem Platz auf dem Sessel sehen kann, liegen auch noch eine ganze Menge Münzen zwischen den Scherben. Vorsichtig fischt Luisa auch diese heraus und beginnt, sie zu sortieren. Als sie fertig ist, steht sie auf und holt ein kleines Umhängetäschchen aus ihrem Kleiderschrank, in dem sie ihre gesamte Beute verstaut. Die Umhängetasche fliegt auf das Bett, auf dem schon ein Rucksack mit Kleidung von Luisa liegt.
»Hm, ich glaube, ich habe an fast alles gedacht. Jetzt noch etwas Proviant, dann kann es losgehen.« Sie geht aus dem Zimmer und schleicht in Richtung Küche, wo sie Käse und Brötchen in eine der Dosen packt, in denen ihr Marc immer das Frühstück für die Schule mitgibt. Die Dose steckt sie mit einer Flasche zusammen in eine Tüte, dann schleicht sie wieder in ihr Zimmer und setzt sich auf ihr Bett.
»So, Herkules, ich muss jetzt los. Papa und Caro habe ich einen Brief geschrieben, damit sie sich keine Sorgen machen und wissen, dass ich weg bin. Und du mach’s gut.«
Sie nimmt mich kurz auf den Arm und drückt mich ganz fest. Ich merke, dass ich anfange zu zittern. Das kann doch wohl nicht wahr sein! Luisa will sich doch nicht allen Ernstes alleine zu ihrer Mutter durchschlagen? Ich weiß zwar nicht, wo dieses München liegt, habe aber das dumpfe Gefühl, dass es mit einem etwas längeren Spaziergang nicht getan sein wird. Ich muss die Flucht also unbedingt vereiteln! Nur wie? Festhalten kann ich Luisa schlecht. Und sie einfach verraten? Das wäre überhaupt nicht nett und … wahrscheinlich eine gute Idee. Ich beginne, laut zu bellen.
»Pssst, Herkules, leise!«
Pah, ich denke gar nicht dran. Tatsächlich werde ich noch ein bisschen lauter.
»Herkules, aus! Du weckst noch Papa und Caro! Ich habe mir extra den Wecker ganz früh gestellt. Leise!«
Nee, ich denke gar nicht dran. Jetzt mache ich erst richtig Radau. Ich belle und jaule, was das Zeug hält. Luisa wird nun richtig böse und schimpft, aber das stört mich nicht. Ich mag ein Verräter sein, aber hier überwiegen höhere Interessen.
Die Tür zum Kinderzimmer wird geöffnet, und Marc taumelt verschlafen in den Raum.
»Hey, was ist denn hier los?«
»Äh, ich glaube, Herkules muss mal. Ich wollte deswegen gerade mit ihm Gassi gehen.«
»Morgens um halb fünf? Das ist ja seltsam. Hat sich Herkules die Blase erkältet? Das ist doch sonst nicht seine Zeit.«
In der Tat ist das nicht meine Zeit. Und wenn ich seit Luisas Streit mit Willi nicht förmlich an ihrer Hacke kleben würde, hätte ich von ihren Fluchtvorbereitungen auch nichts mitbekommen. Luisa wird langsam nervös, ich kann ihren Schweiß riechen.
»Ja, Papa, komisch, nicht? Aber mir macht es gar nichts aus, mit ihm rauszugehen. Ehrlich nicht.«
»Das ist lieb von dir, aber nicht nötig. Wir setzen Herkules kurz in den Garten, ich möchte nicht, dass du im Morgengrauen mit ihm durch die Gegend läufst.«
»Aber Papa!«
»Nichts aber Papa. Komm, gib ihn mir, ich bringe ihn kurz runter. Und du ziehst dir mal schnell dein Nachthemd wieder an und schläfst noch eine Runde.«
Ohne noch eine Antwort von Luisa abzuwarten, schnappt mich Marc und trägt mich aus dem Zimmer. Zwei Minuten später finde ich mich im Garten wieder. Marc setzt mich auf den Rasen.
»So, Kumpel. Dann mach hinne. Ich gehe so lange wieder rein. Nur mit Unterhose ist es doch ganz schön frisch hier.«
Soll ich jetzt netterweise so tun, als ob ich tatsächlich dringend pinkeln müsste? Unnötig. Marc ist schon wieder im Haus verschwunden. Andererseits: Wo ich gerade schon hier bin … Ich trabe zum Baum, der direkt an der hinteren Mauer unseres Gärtchens steht. Noch bevor ich das Bein richtig gehoben habe, höre ich eine vertraute Stimme direkt über mir.
»Na, weißt du noch? Genau so war es damals, als wir uns zum ersten Mal gesehen haben.«
Herr Beck. Was macht der denn hier? Ich setze mich und gucke hoch. Tatsächlich. Da hockt er auf unserer Mauer und grinst zu mir runter. Ich lege den Kopf schief.
»Natürlich weiß ich das noch. Wie könnte ich das auch vergessen. Ich versuchte zum ersten Mal, mein Beinchen zu heben, und wurde dabei von einer dicken, schwarzen Katze beobachtet, die sich vor Lachen kaum auf dem Baum halten konnte. Ein schwarzer Tag in meinem Dackelleben.«
Beck prustet.
»Unsinn. Dein Glückstag!«
»Du musst es ja wissen. Was machst du eigentlich hier?«
»Gegenfrage: Was machst du hier zu dieser für Hunde nachtschlafenden Zeit?«
»Ich versuche, Luisa am Abhauen zu hindern. Sie wollte sich eben einfach so davonschleichen, da musste ich mal kurz eingreifen und laut werden. Hat auch geklappt, aber Marc denkt jetzt, ich leide an Bettflucht und Blasenschwäche.«
»Lustig. Ich bin aus demselben Grund hier. Nach dem Theater im Park war ich mir ziemlich sicher, dass Luisa versuchen würde wegzulaufen. Da dachte ich, es sei besser, die Zielperson zu observieren. Bin nachts sowieso öfter hier in der Ecke, da bot sich das an.«
Nicht nur, dass Herr Beck mal einem Anwalt gehört hat, er schaut auch liebend gerne Fernsehen. Bevorzugt eine Sendung, die Tatort heißt und die zufälligerweise auch Ninas Lieblingssendung ist. Nachher gibt er immer mit seinem Expertensprech an, wirklich lächerlich! Herr Beck ist und bleibt ein ziemlicher Wichtigtuer.
»Aha. Und was hättest du gemacht, wenn die Zielperson ausgebüchst wäre? Du kannst ja nicht mal bellen.«
»Es wäre mir schon etwas eingefallen, mach dir keine Sorgen.«
»Was denn?«
»Ich hätte … also zum Beispiel könnte ich … also, vielleicht hätte ich … äh …«
»Gib’s zu, du hast keine Ahnung, was du gemacht hättest. Ihr Katzen könnt nämlich doch nicht alles.«
Herr Beck faucht.
»Ich habe auch nie behauptet, dass ich alles kann. Trotzdem bin ich gekommen. Weil ich mir Sorgen gemacht habe um das Mädchen.«
Oho. Ganz neue Töne.
»Du machst dir Sorgen? Um ein anderes Lebewesen? Gar um einen Menschen?« Was ist denn nun los? Wird der Kater altersmilde? Oder hat ihm Alex irgendetwas Bewusstseinsver-änderndes ins Futter gemischt?
Mit einem eleganten Satz springt er von der Mauer und landet genau neben mir.
»Ja, mach dich nur lustig über mich. Ich mag Luisa eben. So was kommt bei mir vielleicht nicht ganz so häufig vor wie bei dir, weil ich als Katze mit meiner Zuneigung eben nicht so wahllos bin wie du als Hund – aber wenn ich jemanden mag, bin ich durchaus in der Lage, mir Gedanken über ihn zu machen. Und: Ja, ich hatte noch keinen Plan, aber mir wäre schon noch etwas eingefallen.«
»Dann sind wir mit unseren Sorgen ja schon zu zweit. Ich habe jedenfalls beschlossen, nicht mehr von Luisas Seite zu weichen. Mit ziemlicher Sicherheit wird sie es noch einmal versuchen, ich muss einfach zusehen, dass ich dann mit von der Partie bin. Wenn sie schon ohne Willi loszieht, muss wenigstens ich auf sie aufpassen.«
Herr Beck wiegt den Kopf hin und her.
»Kumpel, dann bin ich auch dabei. Vier Augen sehen mehr als zwei, und als Team sind wir doch eigentlich unschlagbar.«
Ein Kompliment aus Herrn Becks Mund – war doch etwas im Futter? Auf alle Fälle hat er natürlich Recht, obwohl mir deutlich wohler wäre, wenn wir im Notfall noch einen Menschen dabeihätten. Eben Willi. Herr Beck scheint das Gleiche zu denken.
»Herkules, wir sollten trotzdem versuchen, Willi mitzunehmen. Ich traue uns eine Menge zu, aber nicht alle Menschen sind freundlich zu Kindern. Was wollen wir machen, wenn Luisa unterwegs in echte Schwierigkeiten gerät? Ich glaube, dieses München liegt nicht gerade um die Ecke, es dauert bestimmt eine Weile, bis wir da ankommen. Und ich habe neulich im Tatort gesehen, wie ein kleines Mädchen …«
»Beck! Jetzt mach mich bloß nicht nervös! Lass uns lieber überlegen, wie wir Willi an Bord holen. Also, ich traue mir schon zu, Luisa zu seinem Verkaufsstand zu lotsen. Das habe ich neulich schon geschafft. Die Frage ist nur, ob er gleich kapiert, dass sie auf der Flucht ist. Erzählen wird sie es ihm wohl kaum.«
Erneut wiegt Herr Beck den Kopf hin und her, gleichzeitig saust sein Schwanz von links nach rechts, ein untrügliches Zeichen dafür, dass er nachdenkt.
»Grundsätzlich ist Willi ja gewarnt. Es müsste uns irgendwie gelingen, ihm einen Hinweis zu geben. Auf alle Fälle bleibe ich hier auf meinem Beobachtungsposten, damit ich mich gleich an eure Fersen heften kann, wenn es losgeht.«
Marc kommt wieder in den Garten.
»Sag mal, Herkules, willst du hier Wurzeln schlagen? Ich will wieder ins Bett. Los, rein mit dir!«
Dann bemerkt er Herrn Beck.
»Hey, ist das nicht die fette Katze von Nina?« Bevor er sich Herrn Beck noch genauer angucken kann, macht der sich mit einem Sprung auf die Mauer davon. Marc schüttelt den Kopf. »Hm, ich hätte schwören können, dass sie das war.« Dann lacht er. »Also wirklich, ich muss noch ’ne Runde schlafen. Jetzt bilde ich mir schon ein, dass sich hier zwei Tiere miteinander unterhalten haben. Unglaublich, wie dieser permanente Schlafentzug auf das Hirn wirkt.«
»Herkules, ich tue das wirklich nicht gern. Aber ich kann dich nicht mitnehmen, schon gar nicht, wenn du so stur bist. Nimm es nicht persönlich, aber ich muss weg. Und du bleibst hier.«
Tatsächlich wollte sich Luisa nach dem Frühstück wieder aus dem Staub machen und sich angeblich mit einer Freundin im Park treffen, aber ich bin nicht von ihrer Seite gewichen. Schließlich hat Carolin ihr die Hundeleine in die Hand gedrückt, weil ich doch offensichtlich ganz dringend raus wollte – nimm Herkules doch bitte mit zu deiner Verabredung. Jetzt steuert Luisa auf den Vorgarten eines Hauses zu, der von einem kleinen Zaun umgeben ist. Hey, will die mich etwa da anbinden? Mit aller mir zur Verfügung stehenden Kraft werfe ich mich in die Leine und lege den Rückwärtsgang ein. So haben wir schließlich nicht gewettet, mein Fräulein! Außerdem sind wir nur noch eine Ecke von Willi entfernt, das wäre doch gelacht, wenn ich so kurz vorm Ziel aufgeben müsste. Noch ein kräftiger Ruck, dann gleitet Luisa die Leine aus den Händen, und ich flitze los. Und ich habe Glück, sie rennt tatsächlich hinterher.
»Herkules, du ungezogener Hund! Komm zurück! Was soll das denn?«
Aber ich denke natürlich gar nicht daran zu gehorchen, sondern wetze auf den Supermarkt zu. Luisa läuft auch weiter und ruft hinter mir her. Aus den Augenwinkeln kann ich sehen, dass Herr Beck uns folgt, ganz so, wie wir es heute Morgen abgemacht haben.
»Also gut, wenn du unbedingt wieder zum Supermarkt willst, dann binde ich dich gleich bei Willi an.«
Nichts lieber als das!, würde ich ihr gerne entgegnen, denn dann merkt Willi bestimmt gleich, was Sache ist, und informiert Marc und Carolin. Direkt vor mir taucht der Markt auf, und ich sehe schon Willi neben seinem Tisch sitzen. Ich gebe noch einmal richtig Gas und spurte auf ihn zu. Als ich ihn fast erreicht habe, springt Willi überrascht von seinem Stuhl auf.
»Hoppla, was ist denn hier los? Willst du mich über den Haufen rennen?«
Nur Sekunden später kommt auch Luisa angekeucht.
»Hallo, Willi! Herkules ist mir einfach abgehauen, ich konnte ihn nicht mehr halten.«
»Aha.« Misstrauisch beäugt Willi das Mädchen. »Und wohin wolltest du? Einfach nur spazieren gehen?«
Luisa nickt.
»Sicher?«
»Ja, ganz sicher. Warum?«
»Na, das letzte Mal, als wir gesprochen haben, wolltest du zu deiner Mutter nach München abhauen. Und so lange ist das noch nicht her. Genau genommen war das gestern.«
»Na ja, jetzt habe ich eine Nacht darüber geschlafen und finde, dass du Recht hast. Ist ’ne blöde Idee gewesen. Also mach dir keine Sorgen.«
Empört jaule ich auf. Wie kann Luisa hier nur so eine Lügengeschichte auftischen. Schämen sollte sie sich!
»Und wieso hast du dann einen Rucksack mit?«
»Ich … äh … wollte baden gehen. Im Freibad. Ist ja endlich schönes Wetter.«
»Mit Hund ins Freibad? Geht denn das?«
Willi bleibt hartnäckig ungläubig. Gut so!
»Stimmt, du hast Recht. Das geht nicht. Daran hab ich gar nicht gedacht. Sag mal, kannst du mir einen Gefallen tun und die nächste Stunde auf Herkules aufpassen? Ich hole ihn dann wieder ab, wenn ich aus dem Schwimmbad komme.«
WIE BITTE? Was für ein ausgefuchstes Biest! Hoffentlich fällt Willi auf diese Finte nicht herein. Er schaut unschlüssig, ich fange an zu bellen.
»Also, Herkules scheint mit deinem Plan nicht einverstanden zu sein. Warum bringst du ihn nicht schnell zu Hause vorbei?«
»Da ist gerade keiner.«
»So, so. Und wo sind Carolin und das Baby?«
»Beim Kinderarzt. Und die Praxis ist noch zu. Och bitte, Willi, ich will so gerne schwimmen gehen.«
Willi seufzt.
»Na gut, kleines Fräulein. Dann will ich dir mal glauben. Gib mir die Leine. Aber in zwei Stunden bist du spätestens wieder da, versprochen?«
Luisa hebt die Hand.
»Großes Indianerehrenwort!«
Dann drückt sie Willi die Leine in die Hand. Mist! Was mach ich jetzt? Und wo ist mein angeblich so wild entschlossener Teamkollege Herr Beck? Der wollte sich doch etwas ganz Tolles überlegen, um genau diese Situation zu verhindern. Das klappt hier ja großartig. Bevor es sich Willi noch einmal anders überlegen kann, ist Luisa schon fast um die nächste Ecke verschwunden.
»Na, die hat es ja eilig, Herkules. Hoffentlich hat der Willi jetzt keinen Fehler gemacht.«
DOCH! Hast du! Warum bin ich so schlau und kann trotzdem nicht sprechen? Was ist das für eine himmelschreiende Ungerechtigkeit! Die dümmsten Menschen können reden und quälen ihre Umwelt mit dem größten Unsinn, der menschliche Lippen verlassen kann – und so ein helles Kerlchen wie ich muss stumm bleiben.
Aber während ich noch mit meinem Schicksal hadere, sehe ich, wie von der anderen Seite der Straße etwas Schwarzes pfeilschnell auf Luisa zuschießt und aus vollem Schwung auf ihre Schultern springt. Genauer gesagt auf ihren Rucksack. Mir ist natürlich sofort klar, was das zu bedeuten hat, aber Willi bleibt vor lauter Staunen der Mund offen stehen.
»Was zur Hölle …?«
Bevor er den Satz noch zu Ende gesprochen hat, schlägt Luisa mit einem spitzen Schrei der Länge nach hin. Heilige Fleischwurst! Wer hätte gedacht, dass in dem alten Kater noch so viel Energie steckt? Ich fürchte nur, Herr Beck ist ein bisschen zu weit gegangen.