DREI

Hatte ich Beck wirklich erzählt, dass es in diesem großen Kaufhausdings neulich voll war? Ich hatte ganz offensichtlich keine Ahnung. Denn jetzt ist es voll. Ich hetze hinter Marc her und versuche, ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Das ist keine leichte Aufgabe, vor und neben mir sind dermaßen viele Menschenbeine unterwegs, dass ich mich eigentlich in Marcs Hose verbeißen müsste, um sicher an ihm dranzubleiben. Luisa ist schon vor einiger Zeit verschwunden, ich hoffe sehr, dass das Absicht war und sie einen guten Plan hat, wie sie zu uns zurückfinden will.

Es ist im Übrigen auch nicht so, dass die anderen Menschen nur einfach da sind und gemütlich herumstehen oder – gehen. Im Gegenteil – verglichen mit dem sonst eher schwach ausgeprägten Bewegungsdrang von Zweibeinern scheinen nun gerade hier und heute alle wild entschlossen, den diesbezüglichen Mangel ganzer Monate auszugleichen. Sie rennen wild hin und her, bleiben sehr abrupt stehen, wenn sie etwas entdeckt haben, nur um einen Augenblick später wieder loszusprinten. Noch dazu schieben sie sehr rigoros andere Menschen zur Seite, die ihnen dabei in die Quere kommen. Ich muss höllisch aufpassen, dass mir hier niemand auf die Pfoten tritt.

Warum habe ich bloß darauf bestanden, Marc und Luisa zu begleiten? Das war wirklich eine saublöde Idee – allerdings hatte mich auch niemand gewarnt. Ich dachte, die beiden gehen einfach ein bisschen in dem frisch gefallenen Schnee spazieren. Für einen kleinen Kerl wie mich ist das hier der völlig falsche Ort. Das scheint auch Marc gerade zu dämmern. Jedenfalls beugt er sich zu mir runter, um mich hinter den Öhrchen zu kraulen, und riskiert dabei, von seinen Mitmenschen überrannt zu werden.

»Na, Herkules, geht’s noch? Ganz schön viel los hier. So sind die Menschen eben: Jeder will noch auf den letzten Drücker Weihnachtsgeschenke kaufen.«

Hä? Ich denke, die bringt der Weihnachtsmann? Und wenn er schon nicht persönlich vorbeikommen kann, besorgt er sie wenigstens. Irgendetwas stimmt hier doch nicht. An dieser Weihnachtsmanngeschichte ist etwas faul, das spüre ich genau. Bloß was? Wenn Herr Beck es während seiner gesamten Karriere als Haustier noch nicht herausgefunden hat, muss es schon sehr, sehr mysteriös sein. Ich mustere Marc. Bestimmt weiß er mehr. Leider kann ich ihn nicht fragen.

»Aber ich kann dich beruhigen, Kleiner. Ich habe fast alle Geschenke zusammen. Nur eine Sache für Luisa fehlt noch, dann machen wir hier die Biege, versprochen!«

Wir sind also hier, um ein Geschenk für Luisa zu besorgen. Sehr aufschlussreich! Es kann also auch nicht sein, dass der Weihnachtsmann sich um die Geschenke für die Kinder kümmert und alle anderen selbst sehen müssen, wo sie ihren Kram herbekommen. Denn dann müsste Marc sich ja nicht in dieses entsetzliche Getümmel stürzen, sondern könnte an Weihnachten schön abwarten, was der Weihnachtsmann für sein Töchterchen mitgebracht hat. Ich bin verwirrt.

In diesem Moment tritt mir eine große, dicke Frau kräftig auf die linke Pfote. Autsch! Ich jaule auf und knurre, schnappe aber nicht zu. Bin schließlich wohlerzogen. Die Frau fährt zu uns herum.

»Was war das denn? Wer kommt denn auf die bekloppte Idee, einen Hund in dieses Gedränge … oh, hallo, Herr Dr. Wagner! Das ist aber eine Überraschung! Habe ich etwa gerade Ihren kleinen Hund getreten? Das tut mir leid, aber bei diesen Menschenmassen habe ich den Winzling wirklich übersehen.«

Winzling? Unverschämtheit! Ob es noch als Reflex durchgeht, wenn ich sie jetzt doch beiße? Bevor ich mich entscheiden kann, hat mich Marc schon hochgehoben.

»Sind noch alle Pfoten dran, Süßer?«

Er hält mich vorsichtig in seinen Armen, ich jaule so mitleiderregend, wie ich nur kann. Natürlich bin ich im engeren Sinne nicht schwer verletzt, aber erst getreten und dann auch noch geschmäht zu werden, ist eindeutig zu viel. Es gibt folglich keinen Grund, besonders tapfer zu sein. Die Frau stellt sich neben Marc und grinst blöde. Jetzt erst dreht sich Marc zu ihr um.

»Hallo, Frau Winkelmann. Sie haben Recht, es war keine gute Idee, ihn hierher zu schleifen. Gassigehen und Powershopping vertragen sich nicht besonders gut.«

»Ja, ja, Weihnachten, das Fest der Liebe – Zeit für Ruhe und Besinnlichkeit.«

Beide lachen. Warum, verstehe ich nicht. Das ist wohl wieder menschliche Ironie. Also, das Gegenteil von dem sagen, was man meint. Um deutlich zu machen, dass man das garantiert nicht meint. Und das finden Menschen dann auch noch komisch. Verrückt, oder? Ich lebe jetzt schon drei Jahre mit ihnen zusammen und kann bis heute nicht nachvollziehen, was an Ironie lustig sein soll. Eine wertvolle Information ist allerdings, dass Frau Winkelmann vom Fest der Liebe gesprochen hat. Klingt vielversprechend. Aber wie passt der Weihnachtsmann da rein? Vielleicht, weil alle behaupten, dass er die Geschenke bringt? Und Geschenke ein Zeichen von Liebe sind? Ist das etwa die heiße Spur, die ich brauche, um das Rätsel zu lösen.

Frau Winkelmann ist ein Stück an uns herangekommen und streichelt mir über den Kopf. Pah, plumpe Vertraulichkeit! Von hier oben kann ich sehen, dass sie ein sehr rundes Gesicht hat, versehen mit einem Paar ziemlich kleiner Augen. Letztere kneift sie nun zusammen und mustert mich eindringlich. Dabei erinnert sie mich an irgendein Tier. Eine Bulldogge vielleicht? Nein, kein Hund. Irgendetwas anderes auf vier Beinen. Ich komm schon noch drauf.

»Ach, das muss doch der Dackelmix sein, von dem mir Ihre Frau Mutter mal erzählt hat. Herbert, richtig?«

Marc lacht. Was bitte ist daran so lustig? Es betrifft einen der dunkelsten Flecken meines bisherigen Lebens!

»Na ja, fast richtig. Er ist tatsächlich ein Dackelmix, aber er heißt Herkules.« Frau Winkelmann prustet laut los.

»HERKULES? Das ist aber ein großer Name für ein so kleines Kerlchen!«

»Finden Sie? Immerhin stammt Herkules aus einer bedeutenden Dackelzucht. Zwar das Ergebnis eines kleinen Betriebsunfalls, aber mütterlicherseits mit einer Ahnengalerie von hier bis an die Ostsee.«

Ja, mindestens bis an die. Obwohl ich nicht weiß, wer oder was die Ostsee überhaupt ist. Auch egal, der Rest stimmt. Meine Mama, ihres Zeichens deutscher Jugendchampion und versehen mit dem Prädikat »vorzüglich 1«, hatte sich eines Tages unsterblich in den Terrier des Nachbarn verliebt. Das Ergebnis waren meine Schwester Charlotte und ich. Charlotte durfte auf Schloss Eschersbach bleiben – die Köchin hatte sich erbarmt. Ich hingegen wurde ins Tierheim abgeschoben. Eine Schmach, an die ich äußerst ungern erinnert werde. Schon gar nicht von einer Frau, die aussieht wie … wie … genau: wie ein Schwein! Diese Frau sieht aus wie ein Schwein! Natürlich riecht sie anders, aber der Rest stimmt. Die aufdringliche Art, das Vorwitzige, Neunmalkluge.

Ich sage nur ungern etwas Schlechtes über andere Tiere, im Gegenteil, ich bin ein entschiedener Verfechter von Solidarität unter Haustieren – aber bei Schweinen mache ich eine Ausnahme. Ich mag sie nicht. Nicht, dass ich in meinem täglichen Leben viel mit ihnen zu tun hätte. Schweine scheinen nicht die Sorte Tier zu sein, die in der Stadt wohnen. Aber als Welpe bin ich bei einer Erkundungstour auf dem benachbarten Bauernhof einmal mit diesen unangenehmen Zeitgenossen aneinandergerasselt. Ich kam in friedlicher Absicht und wollte mit den Ferkeln spielen – die Sau hatte dafür kein Verständnis und jagte mich quer durch den Koben. Hinterher durfte ich mir hämische Bemerkungen der ganzen Truppe anhören. Die taten gerade so, als seien Schweine die schlausten Vierbeiner der Welt. Lächerlich! Wo doch jeder weiß, dass dieser Titel uns Hunden zusteht. Gut, ich könnte mich mit Herrn Beck auf ein Unentschieden mit den Katzen einigen. Aber Schweine? Auf keinen Fall!

»Na ja, dann grüßen Sie den Weihnachtsmann von mir!«, verabschiedet sich die Schweinefrau jetzt von Marc. Mist! Ich war so in Gedanken, dass ich von der Unterhaltung der beiden nichts mehr mitbekommen habe. Offenbar sind dort weitere wertvolle Informationen über den Weihnachtsmann gefallen. Oder über die Liebe zum Fest. Bloß welche? Ich werde es nie erfahren, denn Marc sagt dazu nichts mehr, sondern nickt der Frau nur freundlich zu, bevor er sich zum Gehen wendet. Wenigstens hält er mich immer noch auf dem Arm. Von hier oben aus sieht das Menschengewimmel nicht mehr ganz so bedrohlich aus. Nur Luisa kann ich auch aus diesem Blickwinkel nirgendwo sehen. Stattdessen einige andere Kinder, Marc steuert jetzt auf eine Ecke zu, wo diese geradezu im Rudel vorkommen. Sie drängen sich vor hohen Tischen und scheinen dort etwas sehr Interessantes zu beobachten, jedenfalls schubsen sie sich fast gegenseitig im Kampf um die besten Plätze. Leider stehen sie so dicht an dicht, dass ich nicht sehen kann, was das sein könnte. Von Zeit zu Zeit blinkt es allerdings, und laute Geräusche kommen auch von den Tischen. Nicht gerade Musik, aber so ähnlich.

Los, Marc, geh mal näher ran! Ich will auch sehen, was die kleinen Zweibeiner da so spannend finden! Meiner Erfahrung nach haben Menschenkinder nämlich einen guten Geschmack. Will sagen: Die meisten Sachen, die Luisa mag, gefallen mir auch. Schokolade in jeglicher Form, Rumtoben im Garten, Zwergkaninchen. Wenn also Marc, ob nun im Auftrag des Weihnachtsmannes oder auf eigene Faust, hier nach einem Geschenk für Luisa sucht, dann wäre vielleicht auch etwas Passendes für mich dabei. Marc steht jetzt direkt hinter den Kindern und lugt über ihre Köpfe. Na prima! Schön, dass der Herr jetzt offenbar einen guten Überblick hat. Ich sehe immer noch rein gar nichts! Einen Moment scheint Marc zu überlegen, dann geht er wieder einen Schritt zurück und verlässt diese Ecke des Raumes. Menno! Diesen Ausflug hätte ich mir echt sparen können – so etwas Langweiliges und gleichzeitig Gefährliches! Hätte ich das vorher gewusst, ich wäre zu Hause geblieben. Notfalls hätte ich mich eben im Designersofa verbissen.

»So, Herkules, jetzt pass auf deine Pfoten auf. Ich muss eben mal Carolin anrufen.«

Mit diesen Worten setzt mich Marc wieder auf den Boden. Der ist ja lustig! Wie soll ich denn hier bitte schön auf meine Pfoten aufpassen? Es sind doch wohl die Zweibeiner, die völlig außer Rand und Band sind. Beleidigt kauere ich mich zwischen Marcs Füße, der mir prompt einen kleinen Schubs gibt. Von wegen Fest der Liebe!

»Hallo, Carolin! Du, ich steh jetzt bei Karstadt. Die haben hier aber lauter verschiedene Spielekonsolen – welche soll ich denn mitnehmen?« Marc klingt gestresst. Offensichtlich macht ihm der Einkauf auch nicht so viel Spaß. Geschieht ihm Recht!

»Hm. Okay. Also gar keine Konsole, sondern nur diese Dinger zum Spielen. Kann man an den Fernseher anschließen. Gut. Wie heißen die? Wie? Nee, ich wollte wissen, wie die heißen. Hä?«

Manno, jetzt klärt das gefälligst schnell, damit ich hier rauskomme! Wie, wie? Warum habt ihr das denn nicht besprochen, bevor wir losgezogen sind? Man geht schließlich auch nicht auf die Jagd und überlegt sich erst vor Ort, was man eigentlich erlegen will. Dann hat man doch unter Umständen gar nicht die richtigen Sachen dabei. Beispielsweise, man entscheidet sich spontan für die Entenjagd, hat aber nur einen Dackel und keinen Wachtelhund dabei. Dann kann man es eigentlich schon vergessen. Denn um so eine wild um sich schlagende, schnell schwimmende Ente zu packen, bin ich mit meinen kurzen Beinen im Wasser viel zu langsam. Da saufe ich eher ab, als mit einer Ente wieder an Land zu kommen. Andererseits bringt einen der Wachtelhund bei der Kaninchenjagd nun so gar nicht weiter. Also: Gute Vorbereitung ist alles! Ich kenne das zwar nur aus Erzählungen, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass der alte von Eschersbach jemals so schlecht organisiert zur Jagd gegangen ist, wie es gerade bei Marc der Fall ist. Der hat offenbar immer noch nicht verstanden, was er besorgen soll.

»Wie? Nein, ich verstehe dich inhaltlich nicht. Mein Empfang ist ausgezeichnet. Ach, mit zwei I? Ach, das Ding heißt so? Wii? Was meinst du denn mit der letzte Mensch? Nur, weil ich diesen ganzen Elektronik-Scheiß …. Grundsatzdiskussion? Hör mal, ich stehe hier in einem knallvollen Kaufhaus. Selbst Herkules ist hier schon unter die Räder gekommen … Nein, nein, ist ja gut. So habe ich das doch gar nicht gemeint. Ich weiß, dass dir schnell schlecht wird. Okay. Ja, ja. Reg dich nicht auf. Mach ich. Tschüss.«

Er steckt sein Telefon in die Jackentasche und schüttelt den Kopf. Dann beugt er sich zu mir herunter.

»Echt, Herkules. Weiber. Vor allem, wenn sie in anderen Umständen sind. Aber da musste Rücksicht nehmen, ob es dir nun passt oder nicht.«

Ehrlich, ich bin ENTSETZT. Wie kann Marc nur so gefühllos sein? Carolin ist dem Tod offensichtlich näher als dem Leben, und Marc tut so, als sei das die normalste Sache der Welt. In Umständen. Caro ist doch nicht umständlich, weil sie mit einer schweren Krankheit ringt! Soll sie sich etwa in ihrem Zustand in dieses Chaos stürzen? Um ein Geschenk für seine Tochter zu kaufen? Und überhaupt – wo steckt eigentlich der Weihnachtsmann? Wieso müssen wir hier seinen Job erledigen? Wahrscheinlich hat Marc verpennt, ihm rechtzeitig zu sagen, dass wir dieses Jahr zusammen mit Luisa feiern. Als mich Marc unter dem Kinn kraulen will, zwicke ich ihn spontan in die Hand.

»Autsch! Sag mal, spinnst du jetzt völlig, Herkules?« Marc reißt die Hand zurück, nur um mich den Bruchteil einer Sekunde später am Genick zu packen und zu schütteln. »Mach das nicht noch mal, du böser Hund!«

He, nicht so grob! Ein wenig Kritik wird doch noch erlaubt sein, oder? Und ich war wirklich vorsichtig, das hat garantiert nicht besonders weh getan. Marc steht wieder auf und zerrt an meiner Leine. Ich setze mich einfach auf den Po. Wenn der glaubt, dass ich so mit mir umspringen lasse, täuscht er sich. Es war schließlich nicht meine Idee, mich an diesen furchtbaren Ort mitzunehmen.

»Nun komm schon, du sturer Dackel! Los, auf geht’s! Wir haben keine Zeit mehr. Gleich kommt Luisa, dann müssen wir fertig sein!«

Ist mir wurscht. Ich bewege mich keinen Millimeter von der Stelle. Soll er mich doch tragen, wenn es so eilig ist. Auf die Idee kommt Marc aber nicht, stattdessen zerrt er noch doller an der Leine. Langsam wird es unangenehm, ich stemme mich mit den Vorderläufen gegen den Zug. Leider hat Marc offenbar beschlossen, etwas Grundsätzliches daraus zu machen, denn er gibt nicht nach, sondern zieht unvermindert weiter. Der Boden ist so glatt, dass ich auf meinem Po in seine Richtung rutsche. Mist! Das passt mir gar nicht. Das Recht des Stärkeren ist ja so was von ungerecht! Ich fange an zu jaulen. Wenn Marc hier schon auf Powerplay setzt, soll wenigstens jeder mitkriegen, was mir hier widerfährt. Tatsächlich dauert es nicht besonders lang, bis sich ziviler Widerstand regt.

»He, Sie! Was machen Sie denn mit dem Hund? Sie tun dem Tier doch weh!«, empört sich eine ältere Dame, die neben uns stehen bleibt.

»Gnädige Frau, ich kann Ihnen versichern, dass ich ihm nicht weh tue. Im Gegenteil, mein kleiner Freund hier hat mich gerade in die Hand gebissen.«

»Na und? Kein Wunder, bei dem Stress, dem Sie das Tier hier aussetzen. Sie haben ja von Hunden offenbar gar keine Ahnung. Schlimm, solche Menschen wie Sie, die sich ohne Sachverstand ein Tier anschaffen.« Die Frau ist so aufgeregt, dass sie beim Sprechen richtig schnauft.

»Also, erstens gehört mir der Hund nicht. Und zweitens bin ich Tierarzt, ich kenne mich also sehr wohl mit Vierbeinern aus. Und ich sage Ihnen – dieses Exemplar leidet nicht, es ist einfach stur. Typisch Dackel.«

Jetzt schnappt die Dame regelrecht nach Luft.

»Sie wollen Tierarzt sein? Das glauben Sie doch wohl selbst nicht! Kein Fachmann würde einem Tier so etwas antun.«

Marc lacht, und zwar ziemlich gepresst.

»Tja, glauben Sie es, oder lassen Sie es bleiben, davon hängt mein Seelenheil nun wirklich nicht ab. Schlimmer als unfähige Tierärzte sind meiner Meinung nach übrigens Leute wie Sie. Vermeintliche Tierfreunde, die mit ihrer übertriebenen Fürsorge allen auf den Senkel gehen. Die Tiere eingeschlossen.«

»Was für eine Unverschämtheit! Sie haben dem Tier weh getan, eindeutig!«

»Ach was! Herkules ist ein echtes Raubein, der kann so einiges ab. Eben ein echter Dackel! Und jetzt kümmern Sie sich gefälligst um Ihren eigenen Kram, Sie alte Schachtel. Ich jedenfalls habe zu tun.« Oh, oh – ich bin zwar kein Experte, was die menschliche Etikette anbelangt, aber mir scheint, dass Marc sich hier nicht als Kavalier zeigt. Eher ziemlich unhöflich. Der Stress in diesem vollgestopften Haus scheint ihm gar nicht zu bekommen.

»Was fällt Ihnen ein!«, erbost sich die alte Frau auch prompt. »Ich werde die Geschäftsleitung informieren.«

Geschäftsleitung? Ich verstehe nicht, wovon sie redet, aber langsam wird mir ihre Solidarität und Anteilnahme etwas unangenehm. Zumal die Erwähnung des Wortes »Geschäftsleitung« vermutlich nichts Gutes verheißt.

»Bitte, tun Sie, was Sie nicht lassen können. Ich setze jetzt meinen Einkauf fort. Es hat schließlich nicht jeder so viel Zeit wie Sie als Rentnerin.« Spricht’s, beugt sich zu mir, nimmt mich auf den Arm und dreht sich zum Gehen. Dabei streift er die Frau an der Schulter, ihre Handtasche fällt zu Boden. Normalerweise würde Marc sich jetzt bücken und sie aufheben, aber diesmal geht er einfach weiter.

Aus den Augenwinkeln kann ich sehen, dass die Frau noch etwas rufen will, aber dann sind wir schon weg. Und zwar wieder in die Richtung, in der sich die geheimnisvollen Tische befinden. Inmitten der Traube von Kindern steht ein Mann, Marc steuert direkt auf ihn zu.

»Entschuldigen Sie, ich brauche fachkundige Hilfe. Ich suche ein Spiel namens Wii. Sagt Ihnen das etwas?«, will Marc von dem Mann wissen. Der nickt.

»Klar. Ist ein echter Verkaufsschlager dieses Jahr. Mit wie vielen Spielern wollen Sie es denn spielen?«

»Zu dritt. Oder nein – perspektivisch eher zu viert. Also, sehr perspektivisch zwar, aber immerhin.« Marc lächelt, das kann ich deutlich sehen. Und ich würde jetzt auch lächeln, wenn ich könnte. Denn egal, was perspektivisch bedeutet – offensichtlich bin ich wieder wohlgelitten und werde schon als Spielpartner eingeplant. Na gut, wenn man mir die Hand zur Versöhnung hinstreckt, will ich mal nicht so sein. Als Zeichen der großen, unverbrüchlichen Freundschaft zwischen Dackel und Mann lecke ich Marc über das Gesicht.

»Herkules, hör auf mit dem Quatsch! Du nervst heute richtig!« Marc setzt mich sehr abrupt wieder auf den Boden.

Hey, Friede! Was soll das denn? Ich dachte, der wollte sich wieder mit mir vertragen! Wenn ich nicht wüsste, dass Marc im Grunde genommen ein netter Kerl ist, wäre ich nun mehr als vergrätzt. Zu seinen Gunsten nehme ich an, dass es natürlich auch die Sorge um Carolin ist, die ihn so eklig werden lässt. Vermutlich kann er seine wahren Gefühle nicht zeigen und reagiert deswegen hilflos-aggressiv. Genau. So wird es sein. Bei diesem Gedanken bin ich ein bisschen stolz auf mich, zeigt es doch, wie sehr ich mittlerweile zum Menschenkenner geworden bin. Allerdings habe ich mir auch schon zahllose Gespräche zu diesem Thema zwischen Carolin und ihrer Freundin Nina anhören müssen. Warum können Männer ihre Gefühle nicht zeigen? ist ein absoluter Dauerbrenner bei ihren Frauengesprächen. Zu Recht, wie sich jetzt zeigt.

»Da, das ist der Mann!« Eine schrille Stimme unterbricht meine zweifelsohne wichtigen Gedanken über mein Verhältnis zu Männern im Allgemeinen und Marc im Besonderen. Die ältere Dame, die eben zu meiner Hilfe eilen wollte, ist uns gefolgt. Und zwar nicht allein, zur Verstärkung hat sie einen finster und entschlossen dreinblickenden Mann mitgebracht. Jedenfalls deute ich seinen Gesichtsausdruck, soweit ich ihn von hier unten erkennen kann, so. Er ist eben nicht … freundlich. Das beunruhigt mich allerdings gar nicht, denn er ist ein kleines, dürres Männlein. Mit dem würde selbst ein Hund meiner Größe spielend fertigwerden.

»Bleckede mein Name. Ich bin hier der Abteilungsleiter. Dürfte ich Sie in mein Büro bitten?« Ganz offensichtlich ist Marc damit gemeint. Der scheint die Situation fast lustig zu finden, jedenfalls verzieht er seinen Mund zu einer Art Grinsen. Kein Wunder, vor so einem Männlein hat er natürlich keine Angst.

»Warum? Wie Sie sehen, bin ich gerade damit beschäftigt, den Umsatz Ihres Hauses zu mehren, und mein Zeitbudget ist heute sehr beschränkt.«

»Es tut mir leid, Herr … äh …«

»Wagner. Marc Wagner.«

»Äh, Herr Wagner, aber diese Kundin hat sich über Sie beschwert, und ich würde über den Vorfall gerne etwas abseits dieses Trubels sprechen.«

»Ja? Ich nicht. Ich bin mir im Übrigen auch keiner Schuld bewusst und habe nichts zu verbergen, also nur heraus damit.«

Marc schiebt sein Kinn etwas nach vorne, was ihn für menschliche Verhältnisse sehr angriffslustig aussehen lässt. Hoffentlich kommt Luisa nicht gleich zurück und findet ihren Vater in einen Kampf mit diesem Bleckede verstrickt. Andererseits – Marc ist locker zwei Köpfe größer, das sollte für ihn kein Problem sein. Dabei fällt mir auf, dass ich Menschen noch nie miteinander habe kämpfen sehen. Eigentlich seltsam. Mit Worten streiten sie sich häufiger mal, selbst wenn sie Paare bilden wie Carolin und Marc. Aber so ein richtig ehrlicher Kampf, Mann gegen Mann oder meinetwegen auch Frau gegen Frau? Fehlanzeige. Da ist an jedem normalen Tag auf der Hundewiese an der Alster mehr los als hier, obwohl hier gerade so viele Menschen rumlaufen und die Stimmung so angespannt ist. Selbst in Standardsituationen habe ich das bisher nicht beobachtet. Also, als beispielsweise Carolin und Marcs Exfrau Sabine aufeinandertrafen, da hätte man doch zumindest mal ein wenig Haareziehen erwarten können, oder? Aber nichts von alledem. Fast ein bisschen schade. Die Art allerdings, wie Marc jetzt guckt, verheißt zumindest den Hauch einer Chance auf eine Keilerei. Ah – und jetzt plustert sich auch Bleckede merklich auf. Sehr gut!

»Herr Wagner, ich muss Ihnen wirklich sagen …«

»Doktor Wagner, übrigens. So viel Zeit muss sein.«

»Meinetwegen, Herr Doktor Wagner. Unsere Kundin, Frau Goldberg, hat Sie dabei beobachtet, wie Sie diesen kleinen Hund geschlagen haben. Als sie Sie darauf ansprach, sind Sie ihr gegenüber beleidigend und handgreiflich geworden. Außerdem haben Sie zugegeben, dass der Hund gar nicht Ihnen gehört.«

»Bitte? Ich soll die Frau beleidigt haben? Und handgreiflich geworden sein? Das ist doch Humbug! Den Hund habe ich natürlich auch nicht geschlagen, ich bin mir sicher, dass Frau Goldmann ein Opfer ihrer schlechten Augen oder ihrer lebhaften Phantasie wurde.«

Jetzt mischt sich die Frau ein.

»So eine Frechheit! Ich bin doch nicht blind! Und eingebildet habe ich mir das auch nicht – UND außerdem heiße ich Goldberg, nicht Goldmann!«

»Von mir aus, dann eben Goldberg. Deswegen habe ich Herkules trotzdem nicht geschlagen. Ich bin doch kein Tierquäler.«

»Frau Goldberg sagt, Sie hätten sie beschimpft. Und ihr einen Schlag versetzt.«

»Quatsch. Ich habe lediglich darauf hingewiesen, dass ich sehr in Eile sei und vermutlich nicht so viel Zeit hätte wie Frau Goldmann als Rentnerin.«

»Goldberg! Ich heiße Goldberg!«

»Aha. Sie geben also zu, dass Sie Frau Goldberg beschimpft haben?«, versucht Bleckede, das Gespräch wieder an sich zu reißen.

»Gar nichts gebe ich zu. Rentner ist keine Beleidigung, sondern eine Tatsache. Oder will Frau Goldmann etwa behaupten, dass sie die siebzig noch nicht gesehen hat?«

Die Goldberg schnappt wieder hörbar nach Luft.

»Sehen Sie? Es geht schon wieder los!«

»Herr Dr. Wagner, bitte kommen Sie mit in mein Büro!«

»Ich denke gar nicht daran.«

»Nun seien Sie doch vernünftig!«

»Das ist ein freies Land. Sie können mir gar nichts, Sie Zwerg!«

Загрузка...