SIEBEN

Und in jenen Tagen erließ Kaiser Augustus den Befehl, dass alle Welt sich schätzen lasse. Das geschah zum ersten Mal, da war Quirinius Statthalter von Syrien. Da ging jeder in seine Stadt, um sich eintragen zu lassen. So zog auch Josef von der Stadt Nazareth in Galiläa hinauf nach Judäa in die Stadt Davids, die Bethlehem heißt; denn er war aus dem Haus und Geschlecht Davids. Er wollte sich eintragen lassen mit Maria, seiner Verlobten, die ein Kind erwartete.

Der kleine Mensch, der diese Sätze mit großem Ernst vorträgt, ist äußerst seltsam angezogen. Er hat einen Sack an, der um den Bauch mit einer Kordel zugebunden ist. Außerdem trägt er ein Handtuch um den Kopf, ebenfalls mit einer Kordel gebunden. Offenbar ist dieser Aufzug eine Verkleidung, denn normalerweise laufen Menschen nicht so herum. Es ist für mich nicht immer ganz leicht zu durchschauen, welche Bedeutung Menschen ihrer jeweiligen Kleidung beimessen. Was ich aber schon herausgefunden habe, ist, dass es Kleidung für gewöhnliche Tage gibt und solche für besondere. Und manchmal nennt man die Kleidung dann Verkleidung. Meistens ist sie dann besonders ungewöhnlich. Also das Glitzerkleid von Hedwig heute könnte auch gut eine Verkleidung sein, und die Nummer hier mit dem Handtuch ist es bestimmt. Warum Menschen das machen? Keine Ahnung. Heute hat es wohl damit zu tun, dass die beteiligten Menschen so tun, als seien sie jemand anderes. Und dafür legen sie sich dann quasi ein anderes Fell zu. Eigentlich ganz schön schlau.

Als das Wort »Maria« fällt, robbe ich langsam nach vorne. Schließlich weiß ich ja, dass es sich bei Maria in Wirklichkeit um Luisa handelt. Ich will deshalb ganz genau wissen, was hier vor sich geht, und das kann ich von da, wo Marc und Carolin sitzen, unmöglich sehen. Der ganze Raum ist nämlich vollgequetscht mit Menschen. Fast genau wie in dem Kaufhausdings, außer dass hier in der Kirche fast alle sitzen und niemand herumrennt. Es ist mein erster Besuch in diesem Raum, denn normalerweise sind Hunde hier anscheinend verboten – nur bei Familiengottesdiensten, was auch immer das sein mag, dürfen sie mitkommen. Eine Tatsache übrigens, die Hedwig zu heftigem Kopfschütteln und Bemerkungen wie Früher hätte es das nicht gegeben hinriss, kaum hatte ihr Marc erklärt, warum er mich mitnehmen will. Eine Frechheit. Mehr Familie als Dackel mitsamt Herrchen und Frauchen geht wohl kaum.

Da! Luisa! Ich habe sie sofort erkannt – und das, obwohl auch sie völlig anders aussieht als sonst, eben verkleidet. Denn nicht nur, dass sie genau wie der andere Junge eine Art Handtuch auf dem Kopf trägt, nein, sie scheint sich auch ein Kissen oder irgendetwas anderes Großes unter ihre Bluse gesteckt zu haben, jedenfalls hat sie einen gigantischen Bauch. Luisa-Maria hält einen Jungen an der Hand, die beiden stehen ein wenig unschlüssig herum und scheinen nach etwas Ausschau zu halten. Wahrscheinlich nach dem Kind, auf das Maria wartet – ganz so, wie es der Kopftuch-Junge eben vorgelesen hat.

Es kommt aber kein Kind, was nun auch wieder kein Wunder ist. Die sind ja gerne mal unpünktlich, das kenne ich schon von Luisa, die wird deswegen oft von Marc ausgeschimpft. Stattdessen legt Luisa-Maria nun die Hände in den Rücken und beginnt zu stöhnen.

»Ach, Joseph, ich kann nicht mehr. Nun sind wir schon so lange gelaufen, ich brauche dringend ein Lager, um mich auszuruhen. Bald kommt das Kind, und immer noch wissen wir nicht, wo wir bleiben können.«

Na ja, möchte ich mich einmischen, das ist ja nicht so schlimm. Immerhin könnt ihr Menschen doch lesen und schreiben. Sucht euch ein nettes Plätzchen und dann schreibt dem Kind auf einen Zettel, wo es euch finden kann. So würde ich es machen, ehe ich noch stundenlang auf das Gör warten würde. Also, ich meine, wenn ich schreiben könnte.

»Maria, mein Weib, halte durch. Ich frage den Wirt dieser Herberge, ob er nicht doch ein Zimmer für uns hat.«

Aha. Herberge. Scheint so eine Art Hotel zu sein. Im Urlaub haben wir dort auch schon mal ein Zimmer gemietet und dann darin gewohnt. Der Junge – offensichtlich Joseph – lässt Luisas Hand los und geht zu einem Türrahmen, der quasi im Nichts neben ihm steht. Er macht eine Klopfgeste, ein anderer Junge steht daraufhin von einem Stuhl auf und geht zu ihm. Das muss der Wirt des Hotels sein.

»Heda, was wollt ihr?«

Freundlich klingt das nicht gerade. Erstaunlich. Nach den Erfahrungen, die ich sowohl in unserem Hotel als auch beim stundenlangen Warten auf Carolin in Restaurants und Cafés gesammelt habe, sind die Menschen an solchen Orten sonst immer sehr nett und bemüht, sich um alle Wünsche zu kümmern. Na ja, vielleicht ist der Wirt heute mit dem falschen Bein aufgestanden. Joseph lässt sich dadurch nicht beirren.

»Wir brauchen ein Zimmer. Meine Frau erwartet ein Kind und muss sich ausruhen.«

Der andere schüttelt unwirsch den Kopf.

»Nix da. Ich habe keinen Platz – schon gar nicht für ein schreiendes Baby, das mir alle anderen Gäste stört.«

Ich weiß zwar nicht, woher der Wirt weiß, dass es sich bei dem erwarteten Kind um ein Baby handelt – aber falls das wirklich der Fall ist, kann ich ihn verstehen. Ich persönlich bin kein großer Babyfreund. So winzig diese Menschenkinder auch sind: Sie können wirklich unglaublich laut sein. Wenn die losbrüllen, fallen mir die Dackelöhrchen ab. Und sie brüllen oft, so viel steht fest. Eigentlich bei jeder Gelegenheit. Mit einem Baby zusammenzuleben stelle ich mir ganz furchtbar vor! Nein, ich bin echt froh, dass Luisa schon so groß ist.

»Bitte, Herr, lasst euch erweichen! Meine Frau kann ihr Kind doch nicht auf der Straße bekommen! Sie ist hochschwanger, es kann jederzeit losgehen. Habt Mitleid, ich bitte euch!«

Ach so! Das Kind muss erst noch geboren werden, jetzt verstehe ich. Denn schwanger ist das Gleiche wie trächtig, so viel habe ich auch schon mitbekommen. Jetzt erschließt sich mir auch der Sinn des Kissens: Es ist Teil der Verkleidung. So sieht das wohl aus, wenn eine Frau trächtig ist. Klar, so ein Baby nimmt auch ganz schön viel Platz im Bauch weg. Menschenfrauen scheinen in dieser Situation besonders schützenswert zu sein, jedenfalls legt der Wirt nun die Stirn in Falten, was bestimmt bedeutet, dass er sich die Sache noch einmal anders überlegt. Schließlich zeigt er in die andere Ecke des Raumes, in der etwas Stroh auf dem Boden liegt.

»Da drüben ist der Stall, da kannst du mit deinem Weib schlafen. Aber seht bloß zu, dass das Kind niemanden stört. Ich kann keine Scherereien brauchen.«

Joseph nickt, dann holt er Luisa-Maria, und die beiden setzen sich ins Stroh. In der gesamten Kirche wird es auf einmal stockdunkel, Joseph und Maria sind nicht mehr zu erkennen. Wenig später geht über der Ecke mit dem Stroh plötzlich ein helles Licht auf. Im Schein dieser riesigen Lampe kann ich erkennen, dass Luisa nun eine Puppe auf dem Arm hält, die sie hin und her wiegt. Aha, das Baby ist also da. Wenigstens ist es friedlich.

Wie aus dem Nichts erscheint auf einmal der kleine Handtuch-Junge von eben wieder. Allerdings hat er nun kein Handtuch mehr auf dem Kopf, stattdessen trägt er zwei große, weiße Flügel auf dem Rücken. Was soll das nun wieder werden? Mit ernster Miene schaut der Junge in die Runde, dann fängt er langsam an zu sprechen.

»In jener Gegend lagerten Hirten auf freiem Feld und hielten Nachtwache bei ihrer Herde. Da trat der Engel des Herrn zu ihnen, und der Glanz des Herrn umstrahlte sie. Sie fürchteten sich sehr, der Engel aber sagte zu ihnen: Fürchtet euch nicht, denn ich verkünde euch eine große Freude, die dem ganzen Volk zuteilwerden soll: Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren; er ist der Messias, der Herr. Und das soll euch als Zeichen dienen: Ihr werdet ein Kind finden, das, in Windeln gewickelt, in einer Krippe liegt. Und plötzlich war bei dem Engel ein großes himmlisches Heer, das Gott lobte und sprach: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.«

Hä? Messias? Himmlische Heere? Gott in der Höhe? Bevor ich aber noch darüber nachdenken kann, was in aller Welt der Kerl mit den Flügeln damit sagen will, setzt ein ohrenbetäubender Lärm ein. Wahrscheinlich handelt es sich dabei mal wieder um menschliche Musik, aber diesmal wummert sie so stark und tief, dass es mir fast den Magen umdreht. Menno, warum mögt ihr Menschen es immer so laut? Und als sei das Wummern noch nicht schrecklich genug, tauchen neben dem geflügelten Freund auf einmal ganz viele Kinder mit Flügeln auf, die lauthals singen. Ach was, kreischen. Grausam. Von »Friede auf Erden« kann hier überhaupt nicht die Rede sein. Wer hat sich das bloß ausgedacht? Als dann auch noch Glockengeläut einsetzt, beschließe ich, die Biege zu machen und draußen zu warten. Ist ja nicht auszuhalten hier!


»Du warst eine großartige Maria! Überhaupt habe ich noch nie so ein schönes Krippenspiel gesehen, echt Weltklasse!«

Marc ist sichtlich stolz auf seine Tochter, er strahlt über das ganze Gesicht. Mittlerweile sind wir wieder in unserem Wohnzimmer angelandet – endlich Ruhe und Entspannung! Carolin schenkt den Erwachsenen ein Glas Champagner ein – offenbar ein besonders teures Getränk, denn es wird mit einigem Oh und Ah in Empfang genommen. In trauter Harmonie stehen nun alle um den kleinen Weihnachtsbaum und prosten sich zu.

»Ja, mein Schatz«, wendet sich nun auch Oma Wagner an Luisa, »das hast du wirklich ganz toll gemacht. Ich würde mich auch nicht wundern, wenn es dem Weihnachtsmann sehr gefallen hätte. Du weißt ja – der kann alle Kinder sehen, überall auf der Welt! Er schaut durch die Wolken und macht sich Notizen.«

Wenn es ihn denn überhaupt gibt, ergänze ich in Gedanken und wundere mich, dass Luisa hier so gar nichts von ihren neuen Erkenntnissen zum Thema Weihnachtsmann preisgibt. Stattdessen lächelt sie nur und bedankt sich artig für Omas Kompliment. Wahrscheinlich will Luisa nur nett sein. Sie ist eben ein sehr liebes Kind.

»Aber die Kostüme waren auch toll, Oma. Und die hat fast alle Carolin gemacht.«

»Ach, ehrlich?« Hedwig dreht sich erstaunt zu Carolin um. »Ich wusste gar nicht, dass du so eine künstlerische Begabung bist.«

Carolin grinst.

»Na hör mal, ich bin Künstlerin. Jede Geige, die ich baue, ist ein kleines Kunstwerk.«

Hedwig guckt skeptisch.

»So? Das ist doch wohl eher ein Handwerk. Natürlich, nicht wie Maurer oder Lackierer, aber …«

Bevor sie noch weiter ausführen kann, was selbst in meinen Dackelohren nicht so richtig wohlmeinend klingt, klopft es an der Wohnungstür. Und zwar richtig laut: Wumm! Wumm! Wumm! Wie seltsam, wir haben doch eine Klingel. Und schon wieder: Wumm! Wumm! WUMM!

Marc steht vom Sofa auf.

»Nanu? Wer kann das denn sein?«

Carolins Mutter hat einen Verdacht: »Vielleicht der Weihnachtsmann?«

Genau! So wird es sein! Ich bin wie elektrisiert und merke, dass sich meine Haare von der Schwanzspitze bis in den Nacken aufzurichten beginnen. Nun wird sich herausstellen, ob der Weihnachtsmann nur Lug und Trug ist – oder ob Beck Recht hat und es ihn wirklich gibt. Und wer wird die Wahrheit ans Licht bringen? Richtig. Ich, Carl-Leopold von Eschersbach. Na gut, von mir aus auch ich, Herkules.

Ich renne hinter Marc her, als er zur Tür geht, um sie zu öffnen.

»Hoppla, Herkules! Fast wäre ich über dich gestolpert! Ich hoffe, du willst nicht gerade jetzt Gassi gehen, es wäre ein äußerst unpassender Moment«, schimpft er mit mir.

Ich ignoriere ihn und klebe mich geradezu an sein Bein. Als die Tür einen Spaltbreit geöffnet ist, zwänge ich mich nach draußen. JAAA! Bingo! Der Weihnachtsmann ist da! Unser Besucher ist wirklich unverwechselbar. In seinen Stiefeln, dem langen Mantel, dem buschigen Bart und der Mütze auf dem Kopf erkenne ich ihn sofort. In der einen Hand hält er einen sehr großen Sack, in der anderen Hand ein dickes Buch. Ich schaue mir den Gesellen genau an: Schlank ist er, viel schlanker als der Weihnachtsmann vor dem Kaufhaus, der ja bekanntlich der falsche ist. Und irgendwie … riecht er vertraut. Hm. Woher kenne ich diesen Geruch?

»Hallo Weihnachtsmann!«, begrüßt ihn Marc. »Komm doch herein. Hast du denn auch Knecht Ruprecht mitgebracht?«

»Hallo, lieber Marc«, antwortet der Weihnachtsmann mit tiefer Stimme. »Nein, Knecht Ruprecht ist leider krank. Aber weil ich gehört habe, dass hier ein besonders braves Kind wohnt, habe ich mich trotzdem auf den Weg gemacht.«

Marc öffnet die Tür jetzt ganz weit.

»So ist es. Folge mir ins Wohnzimmer, dann zeige ich dir das liebe Kind.«

Caro, Hedwig, Klaus und Elke stehen im Flur, auch sie begrüßen den Weihnachtsmann. Der lässt sich dadurch aber nicht aufhalten, sondern marschiert schnurstracks in Richtung Wohnzimmer. Komisch, woher weiß der denn, wo das Zimmer liegt? Ist es tatsächlich so, dass der echte Weihnachtsmann alle Kinder durch die Wolken beobachtet? Dann kennt er natürlich auch unsere Wohnung.

Im Wohnzimmer angekommen stellt er den Sack neben den Weihnachtsbaum und schaut sich um.

»So, wo ist denn die Luisa?«

»Hier!«, kommt es etwas zögerlich vom Sofa. Auch Luisa scheint sich momentan nicht mehr ganz so sicher zu sein, dass es den Weihnachtsmann nicht gibt und dieser Auftritt hier ganz großer Schmu ist.

»Sehr schön, Luisa. Dann komm doch mal her!«

Während Luisa sich aufrappelt und in seine Richtung geht, schnuppere ich möglichst unauffällig an seinem Mantel. Wer ist das? Ich habe ihn schon mal gerochen, ich kenne ihn – da bin ich mir fast sicher. Bloß wo? Und wenn ich ihn kenne, dann kann es jedenfalls nicht der Weihnachtsmann sein, der mit seinen Rentieren hinter den Wolken am Nordpol wohnt. Denn ohne zu wissen, wo das genau ist, bin ich mir ziemlich sicher, dass mich mein täglicher Spaziergang dort noch nie hingeführt hat. Wer ist das also, wer?

Der Weihnachtsmann schlägt sein Buch auf.

»Also, Luisa. Hier steht, dass du deinem Vater immer sehr viel Freude machst, weil du so gut in der Schule bist. Und der Carolin auch. Stimmt das denn?«

Luisa nickt schüchtern.

»Und dann steht hier noch, dass du auch gerne im Haushalt hilfst, wenn man dich darum bittet. Das ist schön. Aber weißt du, was hier noch steht?«

Luisa schüttelt den Kopf.

»Hier steht, dass dein Zimmer oft ziemlich unordentlich ist.«

»Oh!«

»Ja, Luisa, das muss besser werden im neuen Jahr. Versprichst du mir das?«

Luisa nickt.

»Ja, lieber Weihnachtsmann.«

»Und dann habe ich eben erfahren, dass du eine ganz tolle Maria beim Krippenspiel in der Kirche warst. Das finde ich natürlich besonders gut, denn das Christuskind arbeitet ja mit mir zusammen.«

Marc und Carolin schmunzeln, Luisa guckt angestrengt und unsicher. Richtig glücklich sieht sie nicht dabei aus, und das gefällt mir gar nicht! Bestimmt überlegt Luisa, ob Pauli doch Unrecht hatte und hier der echte Weihnachtsmann vor ihr steht. Und in diesem Punkt werde ich meiner kleinen Freundin helfen. Ich beschließe, dass es an der Zeit ist, dies ein für alle Mal herauszufinden.

Der Mantel des Weihnachtsmannes ist ziemlich lang, bestimmt bekomme ich ein Stück davon zu fassen, wenn ich mich genug recke. Ich pirsche mich also an ihn heran, strecke meine Nase so weit wie möglich nach oben – und packe zu. Schnapp! Schon habe ich den Saum des Mantels im Maul und fange an, daran zu ziehen. Erst merkt der Weihnachtsmann nichts, aber dann mache ich einen richtigen Satz nach hinten und bringe ihn dabei ins Wanken.

»Hey, Herkules, spinnst du jetzt völlig?«

Wuff! Woher kennt der meinen Namen? Und warum klingt die Stimme plötzlich so anders, längst nicht mehr so tief? Hier ist doch ein Betrug im Gange, ich bin mir mittlerweile ganz sicher. Ich packe fester zu und zerre, so doll ich kann. Rrrratsch – ich halte einen Stofffetzen im Maul und schaue erstaunt nach oben. Tatsächlich, dem Weihnachtsmann fehlt ein großer Teil seines Mantels, und darunter kommt ganz normale menschliche Kleidung zum Vorschein. Eine Hose und ein Pullover. Und noch etwas anderes kommt ans Tageslicht, denn jetzt nimmt der Weihnachtsmann seine Mütze ab – und den Bart gleich mit. Es ist Alex, Ninas Freund!

»Mensch, Herkules! Ich würde sagen, du hast den Top Act geschrottet!«

Alex klingt sehr vorwurfsvoll, und obwohl ich nicht weiß, was ein Top Act ist, bin ich mir nicht mehr so sicher, dass es eine gute Idee war, den Weihnachtsmann gerade heute zu enttarnen. Ein Blick in die enttäuschten Gesichter von Caro und Marc bestätigt diese Einschätzung. Marc murmelt etwas, das wie so eine Mühe gemacht für das Kind, und dann dieser blöde Köter … klingt. Carolin schüttelt ununterbrochen den Kopf, so als könne sie einfach nicht fassen, dass ihr Herkules so einen Blödsinn macht. Auch Hedwig, Elke und Klaus schauen betreten zwischen mir und Alex hin und her. Wuff, schlechte Idee. Mist! Ich habe das Fest zerstört. Mein erstes richtiges Familienfest – und ich hab’s versaut.

Mit gesenktem Kopf trotte ich aus dem Zimmer und rolle mich in meinem Körbchen, das Marc heute Morgen in den Flur gestellt hat, zusammen. Am besten bleibe ich hier den ganzen Abend liegen, vielleicht vergessen dann alle, dass ich es war, der den Weihnachtsmann enttarnt hat. Wobei – unwahrscheinlich. Die meisten Menschen haben leider ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Das ist wahrscheinlich auch eine Trainingsfrage, und weil sich Menschen sehr gerne mit Dingen beschäftigen, die längst abgeschlossen sind und in der Vergangenheit liegen, haben sie natürlich unglaubliche Übung darin. Nein, sie werden meinen kleinen Auftritt so schnell nicht vergessen. Eher wird mir das noch die nächsten fünf Weihnachten vorgehalten werden, wenn ich überhaupt noch einmal mitmachen darf. Es ist zum Heulen!

»Armer Herkules! Du wolltest uns nur vor dem fremden Mann beschützen, nicht?« Luisa ist mir gefolgt und kniet sich neben mein Körbchen. »Du bist eben ein tapferer Jagdhund! Komm doch wieder rein, es ist bestimmt keiner mehr sauer auf dich. Ich habe Papa und Carolin jetzt erzählt, dass ich gar nicht mehr an den Weihnachtsmann glaube. Ich habe eben doch nur so getan, um Papa eine Freude zu machen. Und Alex hab ich sowieso gleich erkannt. Also alles gut, Süßer! Und außerdem habe ich auch ein Geschenk für dich, das möchtest du doch bestimmt haben, oder?«

Ach, Luisa, du bist wirklich das liebste Menschenkind, das ich kenne! Eine wahre Freundin! Ich schüttle mich kurz, dann richte ich mich auf und hüpfe aus meinem Körbchen. Zurück im Wohnzimmer scheint die Stimmung tatsächlich nicht schlecht zu sein. Alex hat seine Verkleidung komplett abgelegt und sitzt mit Caro auf dem Sofa, auch er hält mittlerweile ein Glas Champagner in der Hand. Als er mich sieht, steht er auf.

»Auweia! Da kommt der Killer-Dackel! Da muss ich mich ja wohl in Sicherheit bringen.«

Er lacht fröhlich, und auch die anderen beginnen zu lachen. Uff, dann ist ja alles wieder gut. Luisa kommt zu mir und hält mir etwas Großes, Braunes unter die Nase: einen gigantischen Kauknochen!

»Hier, Herkules, mein Geschenk für dich! Fröhliche Weihnachten!« Toll! Noch nie im Leben habe ich ein Weihnachtsgeschenk bekommen! Ich bedanke mich, indem ich Männchen mache und gleichzeitig mit dem Schwanz wedele. Keine leichte Übung, aber sie gelingt mir mit großer Eleganz.

Alex trinkt sein Glas aus, stellt es ab und klopft auf den Wohnzimmertisch.

»Ich sach mal: Der Weihnachtsmann muss jetzt los zu seinem Weib! Also feiert noch schön und fröhliche Weihnachten!«

»Grüß Nina!«, bittet ihn Carolin.

Als er gegangen ist, geben sich auch alle anderen ihre Geschenke. Luisas sind noch in dem großen Sack, den Alex hereingeschleppt hat, ich helfe ihr, sie dort herauszuzerren. Besonders freut sie sich übrigens über das Geschenk, das ich mit Marc gekauft habe. Na gut, gekauft hätte, wenn wir nicht aus dem Kaufhaus geflogen wären. Aber das war ja nicht meine Schuld. So gesehen ist es trotzdem auch mein Geschenk!

»So, ihr Lieben, zu Tisch!«, scheucht uns Oma Hedwig schließlich ins Esszimmer. »Die Gans ist fast fertig, und ich möchte euch schon mal den ersten Gang servieren.«

»Das ist ja toll, wie du uns umsorgst«, lobt sie Klaus Neumann.

»Ja«, pflichtet ihm Marc bei, »Mutter hat heute Vormittag extra noch für die Vorspeise eingekauft, ich war zeitlich ein bisschen knapp.« Den Teil der Geschichte, dass er Hedwig auch mal kurz aus der Wohnung haben wollte, damit sich die Wogen glätten, verschweigt er natürlich. Für menschliche Harmonie, so viel habe ich mittlerweile gelernt, ist eben nicht nur wichtig, was man sagt, sondern ebenso wichtig, was man nicht sagt. Wenn nicht noch wichtiger.

»Setzt euch doch schon, ich bringe die Teller gleich rein«, dirigiert Hedwig jeden an seinen Platz. Ich hoffe, dass sie auch für mich eine Kleinigkeit besorgt hat, und lege mich erwartungsfroh neben den Tisch.

Hedwig verschwindet in der Küche, um kurz darauf mit sehr vielen Tellern auf dem Arm wieder herauszukommen, die sie Marc, Caro, Klaus und Elke direkt vor die Nase stellt. Ich kann zwar nicht sehen, was sich darauf befindet, aber eines sagt mir meine Nase deutlich: Es ist keine Rindfleischsuppe. Es ist FISCH. Brrrr. Davon will ich doch nichts.

Neben mir rumpelt es, dann fällt ein Stuhl um. Erschrocken springe ich zur Seite. Was ist denn hier los? Carolin ist wie der Blitz von ihrem Platz hochgesprungen und rennt aus dem Zimmer, die anderen schauen ihr erstaunt hinterher. Hedwig räuspert sich.

»Marc, was ist mit deiner Frau los? Will sie mich unbedingt kränken?«

»Äh, sie mag keinen Fisch. Ich hatte dich doch gebeten, eine Markklößchen-Suppe zu besorgen.«

»Aber das ist Balik-Lachs mit Kaviar. Das haben wir immer an Weihnachten gegessen, als dein Vater noch lebte.« Hedwig klingt schwer getroffen. »Ich dachte, ihr freut euch. Ich dachte, du freust dich.« Sie fängt an zu schluchzen. »Weißt du, das hätte Carolin mir jetzt auch anders sagen können. Ich gebe mir solche Mühe – und sie ist so gemein zu mir. So gemein!« Jetzt weint Hedwig richtig.

Klaus und Elke schweigen betreten. Los, Marc! Tu was! Caro ist nicht gemein, sie ist krank! Du musst es den anderen jetzt erklären. Und offen gestanden will ich auch endlich wissen, woran mein Frauchen leidet.

»Mutter, das war nicht böse gemeint. Wirklich nicht. Aber Carolin verträgt keinen Fisch. Ihr wird davon sofort schlecht.«

Elke Neumann mischt sich ein.

»Du meine Güte, seit wann verträgt sie denn keinen Fisch mehr? Ist sie etwa krank? Eine Allergie?«

Marc schüttelt den Kopf.

»Nein, sie ist nicht krank.«

Wuff? Ist sie nicht? Gott sei Dank! Mir fallen ganze Wagenladungen Steine von meinem kleinen Dackelherzen. Aber … was hat sie dann?

»Carolin ist schwanger. Wir bekommen ein Baby. Wir wollten es euch eigentlich nach dem Essen sagen.«

Ach so. Sie ist schwanger. Sie ist schwanger? Wir bekommen ein Baby? Heilige Fleischwurst! WIR BEKOMMEN EIN BABY!!!

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