ZWÖLF
Henri? Oh Gott, das ist ja ein scheußlicher Name.« Hedwig schüttelt den Kopf. Und zwar so heftig, dass ich es sehen kann, obwohl ich im Grunde genommen in einem Tragekorb versteckt worden bin. »Habt ihr nichts anderes?«
»Wir haben noch über Oskar nachgedacht.« Marc lässt sich durch seine Mutter nicht aus der Ruhe bringen. Carolin rollt bestimmt schon mit den Augen, aber das kann ich nicht genau erkennen, weil mir der Henkel des Korbes die Sicht versperrt.
Hedwig lässt sich davon allerdings nicht beirren.
»Oskar – das ist ja noch schlimmer! Dann nennt den Jungen wenigstens Heinrich, dann könnt ihr ihn immer noch Henri rufen.«
»Mutter, es ist dir wahrscheinlich nicht bewusst, aber das ist hier keine demokratische Angelegenheit.«
Ob dieser Einwand etwas taugt, vermag ich nicht zu beurteilen. Was bedeutet wohl demokratisch? Hedwig jedenfalls ignoriert ihn.
»Und hat der Junge noch einen zweiten Namen?«
»Ja«, mischt sich nun Carolin ein. »Er heißt Henri Leander.«
»Aha. Noch so ein komischer Name. Wie seid ihr denn auf den gekommen?«
Ich wette, Caro und Marc grinsen sich jetzt an. Ob sie Hedwig erzählen wollen, dass Klein-Henri quasi auf dem Grab des guten, alten Leanders geboren wurde?
»Äh, das ist ein Erbonkel von mir«, schwindelt Carolin. Gut, dann eben nicht. Die Geschichte ist für die frischgebackene Großmutter vielleicht auch nicht das Richtige.
Hedwig seufzt.
»Na gut, der Zweck heiligt wahrscheinlich die Mittel. Wollen wir hoffen, dass der arme Junge dann tatsächlich etwas erbt. Wann werdet ihr eigentlich entlassen?«
»Ich denke mal, morgen sind wir wieder zu Hause. Eigentlich hätten sie mich auch gleich entlassen können, aber die Oberärztin sagte, es sei ihr lieber, ich bliebe noch eine Nacht zur Beobachtung. So eine plötzliche Geburt ist doch ziemlich stressig für den Körper der Mutter – und für das Baby sowieso.«
Hedwig schüttelt schon wieder den Kopf.
»Ts. Sturzgeburt. Dass es so etwas wirklich gibt …vielleicht hast du auch einfach den Beginn der Wehen nicht bemerkt. Immerhin, als Erstgebärende …«
Caro schnaubt.
»Was soll das denn heißen? Ich hatte einen Blasensprung mit mehr oder weniger komplettem Fruchtwasserabgang – das war kaum zu übersehen. Und: Ja, eine so schnelle Geburt ist zwar selten, kommt aber immer wieder vor. Die Ärzte haben mir das genau erklärt und haben uns dafür gelobt, dass wir so ruhig geblieben sind. Du bist ehrlich gesagt die Erste, die meint, dass ich einfach den Anfang der Geburt verpennt habe. Übrigens heißt das überstürzte Geburt, nicht Sturzgeburt!«
Caro regt sich so auf, dass Klein-Henri, der auf ihrem Bauch liegt und schlummert, plötzlich anfängt zu quäken.
Hedwig hebt beschwichtigend die Hände.
»Ist ja gut, das war doch keine Kritik. Ich fahre jetzt mal nach Hause. Luisa kommt gleich aus der Schule, dann essen wir Mittag, und ich komme dann noch mal mit ihr ins Krankenhaus. Den Hund nehme ich allerdings nicht mit, ich finde, dass er hier wirklich nichts zu suchen hat.«
Wuff! Eine Unverschämtheit! Ich bin immerhin fast der Geburtshelfer von Klein-Henri, traurig genug, dass man mich hier heimlich reinschmuggeln musste. Caro und das Baby sind mit dem Krankenwagen, der schließlich doch noch kam, ins Krankenhaus gebracht worden, und Marc und ich sind im Wagen hinterhergefahren. Anstatt wie ein anständiger Familiendackel einfach vorne durch die Eingangstür zu traben, musste ich dann in dem Korb Platz nehmen, mit dem Marc normalerweise leere Flaschen transportiert. Entsprechend riecht der Korb auch. Igitt! Aber da die Alternative offenbar gewesen wäre, im Auto zu warten, bis Marc wiederkommt, musste ich meiner empfindlichen Dackelnase diesen Unbill zumuten. Und alles nur wegen des völlig blödsinnigen Verbots von Hunden im Krankenhaus. Dass sich nun allerdings auch noch Oma Hedwig auf die Seite des Unrechts schlägt, finde ich geradezu empörend.
Caro räuspert sich. Will sie Hedwig deswegen abmisten? Richtig wäre es. Luisa darf immerhin nachher auch noch kommen.
»Hedwig, dann tu mir bitte den Gefallen und gib Herkules bei Daniel in der Werkstatt ab. Ich habe schon mit ihm besprochen, dass er die nächsten Tage den Hundesitter gibt.«
Klasse. Kaum ist das Baby da, schon werde ich abgeschoben. Allerdings: Seit gestern wohnt Cherie in der Werkstatt. Es wäre also eine gute Gelegenheit, sie mit der spannenden Geschichte von Caros Geburt zu beeindrucken. Hoffentlich rieche ich nun nicht genauso penetrant wie der Weidenkorb nach Bier und Wein. Das käme bei Cherie wahrscheinlich nicht so gut an.
»Ua, Kumpel – du stinkst ja widerlich!«
Okay. Ich habe leider tatsächlich den Geruch des Korbes angenommen. Herr Beck jedenfalls tut so, als hätte ich die letzte Nacht auf einer Mülldeponie übernachtet. Mist. Dabei will ich Cherie doch in ein Gespräch verwickeln, wenn sie später wiederkommt.
»Hm, ist es wirklich so schlimm?«
»Nein, noch schlimmer. Viel schlimmer!«
»Dann muss ich baden.«
»Du musst – WAS? Baden? Freiwillig?« Klar, dass eine Katze diesen Gedanken für abwegig hält. Herr Beck sieht allerdings richtiggehend schockiert aus.
»Hör mal, Herkules, das ist doch Blödsinn, der Gestank geht sicherlich irgendwann von alleine weg. Vielleicht schläfst du mal eine Nacht draußen, ist im Sommer ja kein Problem. Dann bist du richtig schön ausgelüftet, und alles ist wieder gut.«
»Du verstehst mich nicht. Ich muss sofort gut riechen, und das geht wohl nur, wenn ich bade.«
Beck schüttelt den Kopf.
»Ihr Hunde seid wirklich verrückt. Aber davon mal ganz abgesehen: Wo willst du jetzt jemanden herkriegen, der dich badet? Alleine wirst du es kaum bewerkstelligen, es sei denn, du springst mal wieder in die Alster und lässt dich danach von deiner Angebeteten retten.«
Der fette Kater gibt ein Geräusch von sich, das bestimmt eine Art Kichern ist. Ha, ha, wirklich sehr lustig. Aber leider hat er Recht. Ich kann mich tatsächlich nicht einfach so alleine baden. Ich brauche eine schon vorhandene Waschgelegenheit, die aber nach Möglichkeit nicht so tief wie die Alster ist.
Auf der Suche nach einer solchen stromere ich im Garten herum. Vielleicht eine Pfütze im Wäschekorb der ollen Meier, immerhin hat es gestern geregnet. Nein, der Korb ist ganz trocken, offenbar hat sie ihn erst heute Morgen zur Wäschespinne gestellt. Und die Regentonne, die an der Seite des Hauses steht, ist viel zu hoch, da komme ich nicht rauf. Ist vielleicht der Rasensprenger an? Ich laufe zum hinteren Teil des Gartens, wo das lustige Dings oft steht. Ebenfalls Fehlanzeige. Allerdings bringt mich das auf eine Idee. Der Rasensprenger hängt immer an dem Gartenschlauch, der direkt neben unserer Terrasse aus der Wand kommt. Vielleicht ist da ja immer Wasser drin? Und vielleicht kann ich das Wasser irgendwie anders rauskriegen? Schließlich ist der Hahn, an dem der Schlauch hängt, in der Nähe des Bodens angebracht. Da müsste ich eigentlich drankommen.
Ich mache mich auf den Weg zur Terrasse, und richtig: Direkt neben der Tür, fein säuberlich aufgerollt, liegt der Gartenschlauch. Er ist, wie ich mich richtig erinnerte, an einem Hahn in der Wand befestigt, und Letzterer liegt praktischerweise auf Schnauzenhöhe. Da geht doch was! Ich setze mich direkt davor und überlege, was ich wohl machen muss, um das Wasser vom Schlauch auf den Dackel zu bekommen. Wie machen das die Menschen noch mal? Die fummeln doch irgendwie immer an diesem Hahndings rum. Ich gebe dem Hahn einen Stups mit meiner Schnauze. Autsch! Ganz schön hart, das Ding! Noch ein Versuch: Diesmal packe ich das obere Teil mit meinen Zähnen und versuche, es hin und her zu bewegen. Vergeblich. Da tut sich gar nix.
Beim nächsten Anlauf rutsche ich vom Hahn ab, und meine Zähne landen im Schlauch. Im Gegensatz zum Hahn ist der so weich, dass ich sofort ein paar kleine Löcher hinterlasse. Aus diesen – tataaa! – rinnt tatsächlich etwas Wasser. Es ist allerdings so wenig, dass es kaum reichen wird, um einen ganzen Hund damit zu waschen, selbst ein so kleines Kerlchen wie mich nicht. Und wenn ich einfach ein paar Löcher mehr in den Schlauch nage? Sicher, Carolin wird nicht begeistert sein. Aber die ist doch sowieso gerade mit dem Baby beschäftigt, und ich muss einfach auch mal an mich denken. Und an mein Herz.
Nach zwei weiteren Bissen wird das Rinnsal langsam zu einem stetigen Wasserfluss, nach fünf weiteren zu einem ernstzunehmenden Strahl. Sehr gut! So kann es gehen. Ich stelle mich direkt unter die so entstandene Dusche und lasse mich berieseln. Ich weiß wirklich nicht, warum sich dieser fette Kater so anstellt. Eigentlich ist Wasser an einem heißen Tag wie diesem sehr angenehm. Es könnte sogar noch etwas mehr sein. Ich drehe mich noch einmal zu der angenagten Stelle und beiße wieder zu. Erst passiert nicht viel mehr als vorher. Doch auf einmal gibt es ein zischendes Geräusch – und dann platzt der Schlauch. Ein Schwall von kaltem Wasser schießt geradezu aus der Wand, ich werde regelrecht weggestoßen. Entsetzt heule ich auf. Was habe ich da bloß angestellt?
»Herkules, was ist denn los?«
Beck kommt angerannt.
»Ich … ich glaube, ich habe einen Fehler gemacht.«
Becks Blicke gehen zwischen mir, dem mittlerweile triefnassen Herkules, und dem immer noch aus der Wand schie-ßenden Wasser hin und her.
»Auweia! Wie ist das denn passiert?«
»Ich habe nur ein bisschen am Schlauch genagt, weil ich duschen wollte.«
»Du verrückter Köter! Jetzt sieh dir mal an, was du angestellt hast: Wenn wir das Wasser nicht irgendwie abstellen können, dann kann ich auch bald ein Bad im Garten nehmen.«
Das ist zwar übertrieben, aber leider nur ein bisschen. Denn tatsächlich strömt so viel Wasser aus dem angenagten Schlauchende, dass sich zumindest auf der Terrasse schon eine ziemlich große Lache gebildet hat. Was noch schlimmer ist: Ein Teil des Wassers schwappt bedrohlich in Richtung Treppenstufen zur Werkstatt. Und diese liegt tiefer als die Terrasse selbst. Sogar ein Vierbeiner wie ich kann sich leicht ausrechnen, wohin das Wasser fließen wird, wenn auf der Terrasse kein Platz mehr ist.
»Was sollen wir denn jetzt machen?«, jaule ich kleinlaut.
Herr Beck schnaubt.
»Wieso wir? Was habe ich denn damit zu tun? Ich habe dir gleich gesagt, dass diese Idee mit dem Bad völlig abwegig ist. Hättest du auf mich gehört, hätten wir das Problem gar nicht.«
Natürlich hat Beck Recht. Von einem wahren Freund hätte ich mir allerdings eine andere Antwort erwartet. Ich ziehe den Schwanz ein und jaule noch lauter.
Beck gibt ein unwilliges Knurren von sich.
»Du musst Daniel rausholen. Und zwar schnell. Also steh hier nicht wie angenagelt, sondern lauf los!«
»Daniel ist nicht da.«
»Was? Wo steckt er denn?«
»Er hat Claudia angeboten, noch die letzten Sachen aus ihrer alten Wohnung zu holen, weil er doch ein Auto hat. Deswegen ist er gerade noch mal los.«
Beck betrachtet mit finsterer Miene das Wasser, das nun tatsächlich schon die erste Treppenstufe erreicht hat.
»Da hätte dein Hundesitter dich mal besser mitgenommen. Ihr Hunde seid so verdammt unselbständig, man kann euch wirklich keinen Moment aus den Augen lassen.«
Herr Beck ist echt gemein, ich könnte heulen. Sollte er mal in Schwierigkeiten stecken und meine Hilfe brauchen, dann werde ich ihn auch erst eine Runde belehren, bevor ich ihm helfe. Wenn ich ihm überhaupt helfe, jawoll! Ich trabe näher an den Hahn heran – vielleicht kann ich das Loch irgendwie mit meiner Schnauze stopfen? Andererseits – wenn ich sie mitten ins Wasser stecke, ertrinke ich wahrscheinlich, obwohl ich gar nicht in die Alster gefallen bin.
Beck ist inzwischen die Stufen zur Werkstatt hinuntergesprungen.
»Na, bravo! Hier unten ist es schon nass! Und es ist nur eine Frage der Zeit, bis das Wasser in die Werkstatt fließt. Die Terrassentür ist gekippt. Aber was rege ich mich auf – mir kann es ja egal sein. Ich wohne da ja nicht. Für deine Freundin Cherie wird es natürlich ungemütlich. Kann mir vorstellen, dass die ihre Babys lieber im Trockenen unterbringen will.«
»Können wir nicht Nina oder Alexander alarmieren?«
Beck schüttelt den Kopf.
»Nina ist immer noch in Stockholm oder -halm oder wie das heißt, und Alex ist arbeiten. Könnte höchstens versuchen, die alte Meier irgendwie auf uns aufmerksam zu machen. Oder besser noch: Du machst sie aufmerksam. Bellen ist diesbezüglich doch um einiges wirkungsvoller als Maunzen.«
Also belle ich, was das Zeug hält. Und zwar sowohl im Garten vor den Balkonen als auch im Vorgarten. Immer wieder laufe ich von hinten nach vorne – ohne Erfolg.
»Und? Kommt jemand?«, will Beck wissen, als ich das nächste Mal an der Terrasse vorbeihetze.
»Nein, es scheint niemand da zu sein.«
»So eine Scheiße!« Auweia. Wenn sich Herr Beck für seine Verhältnisse so ungewöhnlich derb ausdrückt, dann haben wir ein echtes Problem. »Hier unten staut sich das Wasser schon richtig. Wenn es in dem Tempo weitersteigt, hat es den Türspalt bald erreicht.«
Oh nein! Wenn das passiert und daraufhin die ganze Werkstatt unter Wasser steht mitsamt allen Violinen und Celli, dann dreht mir Carolin wahrscheinlich den Hals um. Und dann kann Claudia nicht bei uns wohnen, und Cherie also auch nicht, und ich kann ihr nicht zeigen, dass ich ein zwar kleiner, aber cooler Hund bin, und dann wird sie niemals …
»Herkules, jetzt reiß dich endlich zusammen und hör mit der Jaulerei auf!«, herrscht Herr Beck mich an. Er ist wieder nach oben gesprungen und guckt mich so böse-stechend an, wie nur eine Katze es kann. »Wir müssen einen kühlen Kopf bewahren und nachdenken. Also: Welche Menschen können wir jetzt noch schnell hierherlotsen? Caro? Marc?«
Ich schüttle den Kopf.
»Nein, die sind im Krankenhaus. Hedwig und Luisa auch. Und andere Menschen, die in der Nähe wohnen und die ich auch finden würde, kenne ich nicht.«
Einen kurzen Moment schweigen wir – und dann kommt uns beiden fast gleichzeitig die rettende Idee:
»Willi!«
»Genau, Willi! Wir müssen Willi holen!«