ACHT

Schmetterlinge sind wirklich eine anspruchsvolle Beute, weil sehr, sehr schwer zu fangen. Herr Beck tut natürlich wieder so, als sei es keine große Sache, die Freunde einfach aus der Luft zu fischen. Aber damit ärgert er mich nicht. Der nicht! Schließlich hat er schon deutlich mehr Frühlingsmonate erlebt als ich und hatte entsprechend mehr Zeit zum Üben. Der flatternde Kollege, auf den ich es abgesehen habe, scheint das auch zu wissen. Jedenfalls macht er einen sehr großen Bogen um Herrn Beck, der neben mir im Garten liegt, und umschwirrt stattdessen meine Nase. Dreimal habe ich schon nach ihm geschnappt, dreimal dabei nur Luft geschluckt. Langsam fängt es an, in meinem Bauch zu blubbern.

»Was machst du da eigentlich?«, erkundigt sich Beck nur scheinbar mitfühlend. Will mich offenbar provozieren. Aber der ärgert mich nicht. Der nicht.

»Wonach sieht’s denn aus?«, gebe ich betont gelassen zurück.

»Tja, das weiß ich eben nicht, deswegen frage ich ja.« Der nicht!

»Ich fange einen Schmetterling.«

»Ach. Aha. Und – hattest du mit deiner Methode schon mal Erfolg?« Beck kann so verdammt herablassend klingen. Aber noch mal: Der ärgert mich nicht! Ich bleibe cool, ich bleibe gelassen, ich bleibe ruhig. Der bringt mich nicht aus der Fassung! Anstelle einer Antwort drehe ich mich auf den Rücken und lasse mir die milde Frühlingssonne auf den Bauch scheinen. Herrlich!

»Ich habe übrigens Cherie gesehen. Ich glaube, sie ist wieder zurück.«

Was? Mit einem Ruck drehe ich mich um und springe auf. Okay – er hat es geschafft! Schon allein die Erwähnung dieses Namens bringt mich tatsächlich aus der Fassung, von cool und gelassen kann nicht mehr die Rede sein.

»Oh, ich dachte schon, du schläfst.« Täusche ich mich, oder klingt Herr Beck gehässig? Aber egal – wenn das stimmt, was er sagt, will ich unbedingt Details erfahren. Also ignoriere ich seinen Unterton und frage nach.

»Bist du sicher?«

»Ja. Ganz sicher. Sie kam die Straße entlangspaziert, als ich gerade im Vorgarten saß.«

»Und es war wirklich Cherie?«

»Herrgott, ja. Ich bin ja nicht blind!«

»Na ja. Aber ein Adlerauge auch nicht gerade.«

»Zum Schmetterlingsfangen reicht’s noch.«

Autsch. Vielleicht spare ich mir weitere Spitzfindigkeiten und beschränke mich auf das wichtigste Thema überhaupt.

»Also, Cherie kam die Straße lang. Und weiter?«

»Was und weiter

»Na, was ist dann passiert?«

»Was soll denn da passiert sein? Nix. Sie grüßte mich kurz, und dann war sie schon wieder weg.«

»Und ist dir irgendetwas Besonderes aufgefallen?«

»Nee. Eine zugegebenermaßen recht hübsche Retriever-Dame spaziert mitsamt Frauchen an unserem Haus vorbei. Ein alltäglicher Vorgang. Was soll mir da groß auffallen? Sei froh, dass ich alter, nicht mit Adleraugen gesegneter Kater überhaupt gemerkt habe, dass es sich bei der Hündin um Cherie gehandelt hat.«

Das ist nun wieder typisch Herr Beck. Meine große Liebe, die unter mysteriösen Umständen aus meinem Leben verschwunden ist, taucht plötzlich wieder auf – und er hält das für einen alltäglichen Vorgang. Katzen sind solche Einzelgänger. Die Welt um sie herum könnte untergehen, es würde sie nicht kratzen. Sie würden es vermutlich gar nicht bemerken. Manchmal glaube ich, wo ich ein Herz habe, hat Beck einen Stein. Kein Wunder, dass der noch nie verliebt war. Mich hatte es jedenfalls im Sommer, als Carolin und Marc gerade zusammengezogen waren, total erwischt. Ich traf Cherie in einem Café an der Alster, und es war um mich geschehen. Herzrasen, Ohrenrauschen, das volle Programm. Ich dachte schon, ich sei krank. Dabei war ich nur schwer verliebt. Was allerdings fast dasselbe wie schwer krank ist, wenn das Objekt der Begierde ungefähr drei Köpfe größer als man selbst und von ungleich edlerer Abstammung ist.

Meine erste eigene Erfahrung in Sachen Liebe war also zunächst ein hoffnungsloser Fall, aber ich wäre kein von Eschersbach, hätte ich angesichts dieser Widrigkeiten gleich das Handtuch geworfen. Mit Hilfe eines ausgefeilten Schlachtplans gelang es mir, mich selbst in ein günstigeres Licht und Cherie in die Nähe meines Herzens zu rücken. Na gut, die strategische Unterstützung durch Herrn Beck will ich an dieser Stelle nicht verschweigen, vielleicht hat er doch kein Herz aus Stein. Jedenfalls hatte ich mehrere Verabredungen mit Cherie, einige sogar von romantischer Natur, aber ehe ich sie vollständig für mich gewinnen konnte, war sie auf einmal verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt. Und jetzt taucht sie wieder auf. Ich merke, dass ich Herzrasen bekomme.

»Herkules?«

»Ja?«

»Alles in Ordnung bei dir?«

»Wieso?«

»Du hechelst auf einmal so. Und wenn ich näher hingucke: Sabbern tust du eigentlich auch.«

Muss mir so etwas vor meinem Kumpel peinlich sein? Ich sage: Nein!

»Mensch, Beck, was soll ich denn jetzt machen?«

»Du liebst sie immer noch?«

Ich nicke.

»Auweia. Also ein schwerer Fall.« Er überlegt einen Moment. »Von der Richtung her würde ich denken, sie waren an die Alster unterwegs. Mit Glück sind sie noch auf der Hundewiese. Also, wenn du dich ein bisschen …«

Den Rest des Satzes höre ich nicht mehr, denn ich bin schon losgesaust in Richtung Terrassentür. Ein Sprung, schon lande ich in der Werkstatt genau vor Carolins Füßen.

»Hoppla, Herkules, was ist denn auf einmal mit dir los?«

Mit so viel Dynamik kann Carolin offensichtlich nichts anfangen. Kein Wunder, seit Weihnachten ist schon ganz schön viel Zeit vergangen, und mittlerweile weiß ich auch, was neben dem geschärften Geruchssinn die hervorstechendste Eigenschaft von schwangeren Frauen ist: Sie werden rund und runder. Carolin sieht langsam schon so aus wie Luisa als Maria mit dem Sofakissen unter der Bluse. Mal eben schnell irgendwohin springen ist also nicht mehr drin. Darauf kann ich jetzt allerdings überhaupt keine Rücksicht nehmen. Es geht schließlich um Leben und Tod. Jedenfalls fühlt es sich für mich so an.

Anstatt darauf zu warten, dass bei Carolin von allein der Groschen fällt, wetze ich zur Garderobe im Flur und schnappe mir meine Leine, die praktischerweise neben dem Schirmständer liegt. Zurück bei Carolin gucke ich so treu, wie nur ein Dackel es kann.

»Ach nö. Ich habe hier wirklich zu tun. Außerdem tritt mir das Baby momentan ständig auf die Blase, nach Spazierengehen ist mir da absolut nicht. Sei ein braver Hund und geh wieder in den Garten!«

Was interessiert mich denn in meiner Lage das blöde Baby? Das kann doch wohl nicht wahr sein, dass mir jemand, den es im Grunde genommen noch gar nicht gibt, jetzt schon Vorschriften machen kann? Eine FRECHHEIT ist das! GRRRR!

»Oh, schlechte Laune, der Herr?« Daniel kommt von seiner Werkbank herüber und kniet sich neben mich. »Soll ich vielleicht mit dir spazieren gehen?« Endlich! Gelebte Männersolidarität! Ich wedele wild mit dem Schwanz. »Hoppla, das muss ja ganz dringend sei. Na komm, dann wollen wir mal gleich los.«

»Äh, wolltest du nicht eben noch Herrn Klingsporn anrufen?«, mischt sich Caro ein. Das ist doch wohl der Gipfel! Nicht selbst mit mir Gassi gehen und jetzt noch andere von der guten Tat abhalten wollen. Aber Daniel zeigt sich unbeirrt.

»Keine Sorge, den vergess ich schon nicht. Das Anliegen von Herkules scheint mir dringender zu sein.« Wuff! Ein Freund, ein echter Freund.


Auf der Hundewiese angekommen: keine Cherie. Nirgends. Mit hängender Zunge renne ich mal in die eine, mal in die andere Richtung. Aber so sehr ich auch spähe und schnüffle – nichts! Zwar jede Menge Golden Retriever, aber keiner dabei, der Cherie auch nur annähernd das Wasser reichen könnte. Noch eine große Runde, dann lege ich mich hechelnd neben Daniel, der meine Fahndung von einer Bank aus beobachtet hat.

»Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass du hier jemand Bestimmtes suchst. Ich würde dir gerne helfen, aber leider kannst du mir ja nicht sagen, um wen es eigentlich geht.«

Ach was. Da stellt einer das Offensichtliche fest. Aber wen werde ich schon suchen auf einer Hundewiese? Eine Katze? Außerdem ist Cherie in den Augen von Daniel wahrscheinlich einfach nur ein Hund. Selbst wenn ich also reden könnte, würde es vermutlich nicht viel helfen. Er mustert mich.

»Lass mich mal nachdenken.« Nur zu! » Wir sind hier, weil du einen Hund suchst? Also wohl eher eine Hündin.« Wow! Gar nicht so schlecht. Hilft mir aber nicht weiter. »Kumpel, hast du etwa auch Stress mit den Frauen?« Okay, Daniel trägt vollkommen zu Recht das Prädikat denkendes Wesen. Und jetzt ist es tatsächlich schade, dass ich nicht mit Menschen sprechen kann, denn ich glaube, Daniel wäre ein sehr viel einfühlsamerer Gesprächspartner als Herr Beck. Wie gerne würde ich ihm mein Herz ausschütten – stattdessen muss ich es bei einem möglichst traurigen Blick belassen.

»Gott, du guckst ja herzerweichend, du Armer! Folgender Vorschlag: Wir machen mal ein kleines Päuschen hier, vielleicht kommt das Objekt deiner Begierde noch. Und ich kann mal in Ruhe eine rauchen, ohne von Carolin erwischt zu werden. Die ist ja so furchtbar geruchsempfindlich geworden, die würde das sofort merken. Und meckern, dass ich überhaupt wieder angefangen habe.« Er kramt in seiner Jackentasche, holt eine Schachtel hervor und fummelt eine Zigarette heraus. Brrr, muss das denn sein? Ich finde Zigarettenrauch auch nicht so doll. Zwar nicht so schlimm wie das Zigarrengequalme des alten von Eschersbach, wenn im Salon seine Herrenrunde tagte. Aber auf jeden Fall etwas, auf das ich gut verzichten kann.

»Sieben Jahre hab ich nicht geraucht – das hab ich mir gleich abgewöhnt, als ich mit Caro die Werkstatt aufgemacht habe. Aber jetzt der ganze Stress mit Aurora … ach ja, Weiber, nichts als Ärger!«

Mit dieser Einschätzung im Hinblick auf die blöde Aurora gebe ich ihm natürlich völlig Recht, aber ich verstehe nicht, was das mit Zigaretten zu tun hat. Andererseits – wenn Daniel sich Aurora vom Hals halten will, ist das wahrscheinlich ein probates Mittel.

»Dagegen ist die Arbeit mit Caro wirklich die reinste Erholung. Insofern muss ich das mit den Weibern relativieren. Es gibt auch nette. Sehr nette sogar. Zu schade, dass sie jetzt diesen Tierarzt hat. Na, ich meine, ich freu mich natürlich für sie, Marc ist ja ein Netter, und mit uns hätte das sowieso nicht geklappt. Aber es gab schon Zeiten, da dachte ich, irgendwann habe ich mal Kinder mit Carolin. War halt so ein Traum von mir, weißt du?«

Nein, weiß ich nicht. Ich weiß nämlich generell nichts von menschlichen Träumen. Das muss jetzt eines dieser menschlichen Selbstgespräche sein, die Herr Beck meint. Selbstgespräch unter Zuhilfenahme eines Tieres. Ist für das Tier allerdings relativ langweilig. Mit seiner freien Hand langt Daniel zu mir herunter und krault mich hinter dem Ohr.

»Hm, Herkules? Hoffe nur, dass sich Caro mit dem Baby nicht in eine dieser Superglucken verwandelt, die nur noch in Zweiwortsätzen reden. Es wäre mir lieb, sie bliebe ganz die Alte. Ich brauche mal mehr Beständigkeit bei meinen Bezugspersonen. Und du doch bestimmt auch.«

Wuff? Versteh ich nicht. Besteht etwa die Gefahr, dass sich bei Carolin durch das Baby irgendetwas ändert? Und was in aller Welt ist eine Superglucke? Ich persönlich kann zwar nicht mal menschliche Einwortsätze, aber ich bin mir sicher, dass Zweiwortsätze für Carolin eine deutliche Verschlechterung wären. Wie kommt Daniel denn darauf, dass so etwas passieren könnte? Leider sagt er dazu nichts mehr, sondern inhaliert den Rauch seiner Zigarette und starrt vor sich hin. Hm. So machen Männergespräche keinen Sinn. Ich meine, so als Selbstgespräch. Ich brauchte jetzt dringend genauere Informationen.

Ein Windstoß weht den Zigarettenrauch genau in die Richtung meiner Nase, ich muss niesen. Pfui, das riecht wirklich nicht gut! Ich drehe mich zur Seite und atme tief durch, um das unangenehme Kribbeln in meiner Nase wieder loszuwerden, als es geschieht: Nur der Bruchteil, der Hauch des Hauchs eines Dufts, und trotzdem weiß ich sofort, dass sich das Warten gelohnt hat. SIE ist wieder da! Meine Cherie! Ich springe hoch und schaue in die Richtung, aus der ihr Duft kam.

Tatsächlich, da steht sie! Bildschön ist sie, fast noch schöner, als ich sie in Erinnerung hatte. Ihr langes, blondes Haar weht in der leichten Brise, sie hat den Kopf gehoben und schaut ihr Frauchen an, das neben ihr steht und ihr irgendetwas erzählt. Ich will zu ihr hinrennen – doch dann zögere ich. Was, wenn sie mich gar nicht mehr kennt? Oder schlimmer: mich erkennt, aber nichts mit mir zu tun haben will? Mein Herz fängt wieder an zu rasen, aber diesmal ist es nicht freudige Erwartung, sondern: Angst. Was mir als Jagdhund natürlich sehr peinlich ist. Aber ich kann es nicht leugnen. Sosehr ich mich nach diesem Moment gesehnt habe, so sehr fürchte ich mich nun vor ihm.

»Aha. Das ist es also, das Objekt deiner Begierde.« Daniel steht wieder neben mir. Und seine Äußerung zeugt nicht einmal von besonderem Hundesachverstand. Vielmehr ist wahrscheinlich kaum zu übersehen, dass ich mittlerweile angefangen habe zu zittern, als ob ich es mit einer ganzen Rotte Wildsauen aufnehmen müsste. Kein Wunder, es fühlt sich gerade auch genauso an.

»Na, eins muss ich sagen: Geschmack hast du. Eine sehr hübsche Hündin. Das Frauchen sieht übrigens auch nicht übel aus. Lass uns doch mal näher rangehen.«

Nein!, möchte ich laut rufen, aber natürlich kann ich nicht verhindern, dass sich Daniel schnurstracks zu den beiden aufmacht.

»Einen schönen guten Tag!« Oh nein, er spricht sie auch noch an! Damit dürfte die Chance, unerkannt von dieser Wiese wieder runterzukommen, gleich null sein. Und natürlich: Frauchen dreht sich zu uns und Cherie gleich mit. Mir wird heiß und kalt.

»Ich weiß, das klingt nach einer billigen Anmache. Aber ich glaube, unsere Hunde kennen sich.«

Frauchen und Cherie starren uns an. Ich fürchte, dass mir der Sabber mittlerweile aus den Mundwinkeln läuft. Heiß ist mir nicht mehr, nur noch kalt. Eiskalt. Heute ist ein furchtbarer Tag. Wahrscheinlich der furchtbarste meines bisherigen Lebens. Ach was. Ganz sicher der furchtbarste meines bisherigen Lebens. Frauchens Blick wandert zwischen Daniel und mir hin und her. Dann fängt sie an zu lachen.

»Aber klar! Das ist doch Herkules, der Hund von Doktor Wagner!«

Uff. Die hat mich schon mal erkannt. Dann macht auch Cherie einen Schritt auf mich zu. Mein Herz macht einen so großen Sprung, dass ich fast mit hochgerissen werde. Als sie mich mit der Schnauze in die Seite stupst, fühle ich mich genauso wie damals, als ich mich an den Weidezaun unseres Nachbarn angelehnt hatte. Ein gigantischer Schlag, dann sträuben sich meine Nackenhaare. Ich bekomme dermaßen starkes Ohrenrauschen, dass ich zuerst kaum verstehe, was mir Cherie jetzt ins Ohr raunt.

»Herkules! Du bist es tatsächlich! Wie schön, dich zu sehen!«

Sie freut sich, mich zu sehen! Sie FREUT sich, MICH zu sehen! Es ist ein großartiger, es ist ein grandioser Tag! Möglicherweise der schönste Tag meines bisherigen Lebens. Ach was. Ganz sicher der schönste Tag meines bisherigen Lebens. Auch Daniel scheint mit diesem Zusammentreffen ganz zufrieden zu sein, er unterhält sich angeregt weiter mit Cheries Frauchen.

»Also, genau genommen ist Herkules der Hund von Carolin Neumann, der Freundin vom Tierarzt«, klärt Daniel sie auf. »Ich bin übrigens Daniel Carini.« Er reicht Frauchen die Hand. Die schlägt lächelnd ein.

»Hallo! Ich bin Claudia Serwe.« Sie streicht sich mit einer Hand ihr langes, dunkles Haar hinters Ohr. Das sieht irgendwie … absichtlich aus. Habe ich früher ab und zu bei Nina beobachtet, wenn die sich mit Männern unterhalten hat. Ob das bei Menschen irgendeine tiefere Bedeutung hat?

»Freut mich, Frau Serwe! Tja, wie ich schon sagte: Es klingt seltsam, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, dass Herkules auf der Suche nach Ihrem Hund sein könnte. Kennen sich die beiden also tatsächlich?«

»Ja, und wie! Die beiden haben eine richtige Geschichte miteinander! Cherie hat Herkules mal aus der Alster gerettet. Er war hinter irgendetwas hergesprungen und kam nicht mehr allein ans Ufer. Golden Retriever sind ja sehr gute Schwimmer, sie hat ihn gepackt und rausgezogen.«

Cherie stupst mich noch mal in die Seite.

»Stimmt! Daran kann ich mich noch gut erinnern! Du dich auch?«

Das soll wohl ein Witz sein? Diese Schmach hat sich unauslöschlich in mein Gedächtnis eingebrannt. Mit meiner Aktion wollte ich Cherie damals beeindrucken. Dass sie mich anschließend retten musste, war mir peinlich ohne Ende. Was soll ich darauf also antworten? Etwas Intelligentes fällt mir nicht ein. Eigentlich fällt mir gar nichts ein. Wenn ich Cherie angucke, stellt sich in meinem Hirn die große Leere ein. Cherie sieht mich gespannt an. Ich hole Luft – und bleibe stumm. Es ist, als hätte ich einen riesigen Knoten in der Zunge. Und anstelle des Gefühls von Sabber habe ich jetzt den Eindruck, dass mein Maul ganz trocken ist.

»Herkules? Alles in Ordnung? Hat es dir die Sprache verschlagen?« Cherie betrachtet mich neugierig von der Seite. Ich fürchte, mit ihrer Diagnose hat sie Recht. Ich bringe einfach kein Wort hervor. Sie stupst mich noch einmal an. Wieder der Stromschlag!

»Ich, also, äh …« Mist. Es geht einfach nicht.

»Ist schon komisch, wenn man sich nach so langer Zeit zufällig begegnet, oder?« Wie nett. Cherie will mir offenbar den Gesprächseinstieg erleichtern. Ich nicke ergeben. Sie braucht nicht zu wissen, dass wir gar nicht zufällig hier sind. »Ich habe nach unserem Umzug häufiger an dich gedacht. Der war ja sehr spontan, weißt du?« Meine Sprachlähmung hält an, also schüttle ich nur den Kopf. Cherie hat die Güte, so zu tun, als sei das völlig normal, und erzählt einfach weiter. »Claudia folgte nämlich der Stimme ihres Herzens. In eine andere Stadt.«

Stimme des Herzens. Das ist das Stichwort! Ich muss husten – und plötzlich kann sich meine Zunge wieder frei bewegen. Uff – hoffentlich war das ein einmaliger Aussetzer, sonst muss mich Cherie ja für völlig unterbelichtet halten. Schnell bemühe ich mich, möglichst sinnvoll in das Gespräch einzusteigen.

»Ach so. Ein Umzug. Also seid ihr nur zu Besuch hier?«

»Nein. Das menschliche Herz ist offenbar nicht besonders zuverlässig, insbesondere Claudias nicht, und deswegen sind wir jetzt wieder zurück. Letzte Woche sind wir mit Sack und Pack umgezogen.«

Mein Herz macht einen weiteren Sprung. Cherie wohnt wieder in meiner Nähe!

»Ich sag’s dir: Umziehen ist ein mörderischer Stress! Ich hoffe, Claudia verliebt sich so schnell nicht wieder. Oder wenn, dann nur in ihren direkten Nachbarn.«

»Hm, als Caro und ich damals zu Marc gezogen sind, war das gar nicht so anstrengend.«

»Na, euer Umzug fand ja auch nicht mitten in der Nacht und heimlich statt.«

»Mitten in der Nacht und heimlich? Nein, bei uns kam ein Riesenlaster, und fünf Männer haben Kartons geschleppt. Wie will man das denn heimlich machen?«

»Ganz einfach: indem man auf den Laster und die Kartons verzichtet, die wichtigsten Sachen in einen Koffer schmeißt und einfach nachts abhaut.«

»Das habt ihr gemacht? Warum denn?«

»Du wirst es nicht glauben, aber Claudia hatte Angst vor ihrer einstmals großen Liebe. Der war nämlich ein echter Tyrann und hat ständig rumgebrüllt. Ich glaube, Claudia dachte, dass der uns nicht einfach gehen lässt.«

»Das ist ja furchtbar! Thomas, Carolins Exfreund, war auch ein echter Schreihals und noch dazu ein Lügner und Betrüger – aber Angst hatte Caro vor ihm nicht. Leider. Sie glaubte unerschütterlich an das Gute in ihm. Was dort natürlich überhaupt nicht vorhanden war. Also mussten Herr Beck und ich gaaaanz tief in die Trickkiste greifen, um den Typen loszuwerden.«

»Echt? Das habt ihr beiden geschafft?«

Ich recke mich stolz.

»Jepp!« Dass der Ärger ohne Thomas erst richtig losging, lasse ich an dieser Stelle mal weg. Es gab ja trotzdem ein Happy End.

»Und nun ist sie mit dem Doktor glücklich. Das ist ja wie im Märchen!« Cherie wirkt sehr beeindruckt. Was ist es eigentlich, was Frauen an Ärzten so toll finden? Gut, Marc hat Cherie nach ihrem Unfall operiert, aber das ist schließlich sein Job. Quasi, als ob Daniel einen Riss im Cello wieder zusammenflickt. Handwerk eben. Aber Daniel erntet nie solche Blicke von Frauen, wenn er von seinem Beruf erzählt. Weder von zwei-, noch von vierbeinigen.

»Ja, das Zusammenleben mit Marc klappt wirklich gut. Nur anfangs gab es Probleme mit einem magischen Kleiderschrank.«

Cherie guckt mich mit ihren großen, dunklen wunderschönen Augen erstaunt an.

»Echt? Ein magischer Schrank?«

Ich nicke.

»Immer, wenn Caro und Marc vor dem Schrank standen, haben sie angefangen, sich zu streiten. Zuerst ging es um Marcs Hosen und die Frage, ob man die wegschmeißen muss, wenn sie so eng sind, dass man sie nicht mehr zumachen kann, oder ob die nicht doch ein tolles Andenken an alte Zeiten sind. Und dann darum, ob Marcs Mutter die Unterwäsche von Carolin im Schrank sortieren darf.«

»Aha? Und wie kommst du drauf, dass das an dem Schrank gelegen hat? Versteh ich nicht.«

»Na, das ist doch sonnenklar! Das sind doch völlig verrückte Themen! Wäsche und enge Hosen! Darüber würden sich doch denkende, vernünftige Wesen sonst niemals streiten. Es muss also am Schrank gelegen haben.«

Cherie gibt ein Geräusch von sich, das wie ein Kichern klingt.

»Ach komm, Herkules. Du bist doch auch nicht erst seit gestern ein Haustier. Das hast du doch mittlerweile schon mitbekommen, dass Denken und Vernunft beim Menschen nicht viel miteinander zu tun haben.«

Auch wieder wahr. Den Fehler mach ich halt immer wieder. Ich glaube, dass Menschen dank der Fähigkeit zum logischen Denken auch logische Schlüsse ziehen müssten.

»Apropos versteh einer die Menschen: Wer ist eigentlich der Typ, mit dem du gekommen bist?«, will Cherie wissen.

»Daniel, Carolins Kollege. Die beiden haben doch zusammen die Werkstatt.«

»Hm. Sagt mir nichts. Ich glaube, den habe ich noch nie gesehen.«

»Na ja, er war auch eine Zeitlang nicht da. Ist ebenfalls der Stimme seines Herzens gefolgt. War aber auch ein Reinfall. Er musste zwar nicht nachts mit einem Koffer türmen, aber ich glaube, ein paar Schrammen hat sein Herz doch abbekommen.«

Cherie legt den Kopf schief und guckt nachdenklich.

»Dafür, dass das Herz so empfindlich ist, müssten die Menschen einfach mal besser darauf aufpassen.«

Wie wahr, wie wahr. Cherie hat vollkommen Recht. Sie ist eben nicht nur schön, sie ist auch schlau. Ich habe sie echt vermisst.

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