ZEHN
Wieso ist das Leben so ungerecht? Warum bin ich kein preisgekrönter Golden-Retriever-Rüde und höre auf einen klangvollen Namen? Warum biegen sich zu Hause nicht die Regale unter der Last der Pokale, die ich dann schon als Bundessieger, internationaler Champion und Gott weiß noch was alles gewonnen hätte? Wieso bin ich nur ein kleiner, kurzbeiniger Rauhaardackelmix, den kein Züchter jemals als Vater der Kinder einer so tollen Hündin wie Cherie in Erwägung ziehen würde? Warum? WARUM?! Warum bin ich getauft auf Carl-Leopold von Eschersbach und sehe doch keinen Deut imposanter aus als Herkules Neumann? Kurz: Wieso bin ich nur ich und nicht Alec of Greensbury Hills?
»Papa, ich glaube, Herkules ist krank. Kannst du ihn dir mal angucken?«
Luisa ist schon aus der Schule zurück und hat mich runter in die Praxis von Marc getragen. Das Kind ist einfach ungeheuer zartfühlend. Sie hat gleich gemerkt, dass mein Leben ein absolutes Jammertal ist. Gut, vielleicht hat auch geholfen, dass ich seit ungefähr einer Stunde in eine Art Dauerheulton verfallen bin.
»Wie kommst du denn darauf, dass Herkules krank sein könnte?«, will Marc wissen, als er mich aus ihren Armen nimmt und vorsichtig auf seinen Untersuchungstisch stellt.
»Er jault schon, seit ich aus der Schule bin. Und fressen will er auch nichts. Nicht mal die gute Kalbsleberwurst.«
»Verstehe. Der Fall ist also ernst.«
»Sehr ernst!«
Luisa ist einfach meine beste Freundin in dieser überaus tristen Welt. Während der fette Kater sich wahrscheinlich nur an meinem Unglück weiden würde, versucht sie sofort, mir zu helfen. Das ist wundervoll – auch wenn dieser Versuch in einer tierärztlichen Untersuchung mündet.
Marc streicht mit einer Hand über meinen Rücken, guckt in meine Ohren und tastet meine Beine ab. Dazu legt er den Kopf schief und murmelt hm, hm oder so, so. Schließlich öffnet er meine Schnauze und schaut in mein Maul. Okay, wenn er von da aus bis zu meinem Herzen sehen kann, ist das eine schlaue Idee. Denn das ist mit Sicherheit gebrochen und bietet einen jämmerlichen Anblick. Als Marc meine Schnauze wieder loslässt, jaule ich ein bisschen.
»Oh, das klingt in der Tat nicht gut!«
»Konntest du denn irgendetwas finden, Papa?«
»Ich würde sagen, Herkules bedrückt etwas. Man könnte meinen, sein Herz tut weh.« Wuff, jetzt bin ich platt! Ist Marc am Ende doch der Meister aller Hundeversteher? »Hast du eine Idee, was das sein könnte?«
»Vielleicht macht er sich Sorgen, weil das Baby bald kommt.«
Nein, falsch, Freunde! Marc war doch schon auf der richtigen Spur. Es geht um mein Herz!
»Glaubst du? Aber warum sollte er sich denn deswegen Sorgen machen?«
»Vielleicht hat er Angst, dass sich dann niemand mehr um ihn kümmert, weil alle nur noch mit dem Baby beschäftigt sind.« Also – wie kommt das Kind bloß auf solche Sachen? Klar mache ich mir über das Baby ab und zu Gedanken, aber deswegen liege ich doch nicht im Körbchen und heule!
»Hm. Hat dir Herkules so etwas erzählt?«
Luisa kichert. »Nein, Papa. Herkules kann doch gar nicht sprechen. Jedenfalls nicht richtig. Aber es kam mir irgendwie so vor, als würde er so etwas denken.«
Jetzt schaut Marc Luisa ganz nachdenklich an.
»Glaubst du das, weil du dir selbst deswegen Sorgen machst?«
Erst sagt Luisa nichts, dann nickt sie langsam.
»Ein bisschen schon. Ich meine, ich freu mich ganz doll auf das Baby, und ich habe mir immer ein Brüderchen oder ein Schwesterchen gewünscht – aber manchmal, da denke ich, dass du dann nicht mehr so viel mit mir machen kannst, wenn wir ein Baby haben.«
Marc legt seinen Arm um Luisa und zieht sie ganz nah an sich heran.
»Luisa, du bist doch mein kleines Mädchen. Und das wirst du auch immer bleiben. Mach dir bitte keine Sorgen – es wird sich nichts ändern, das verspreche ich! Großes Indianerehrenwort!«
Er hebt eine Hand hoch und reckt drei Finger in die Luft. Lustig – was soll das denn wohl bedeuten?
Luisa scheint es zu wissen, denn jetzt strahlt sie von einem Ohr zum anderen.
»Hugh! Ehrenwort angenommen!«
Aha. Na, ein kleiner Dackel muss schließlich nicht alles verstehen.
»Außerdem hat Mama gesagt, dass ich jederzeit zu ihr kommen kann, wenn ihr euch nicht mehr richtig um mich kümmert.«
Marc geht einen Schritt zurück und guckt Luisa sehr ernst an.
»Bitte, was hat deine Mutter gesagt?«
»Am Wochenende habe ich sie gefragt, wie ich eigentlich als Baby ausgesehen habe. Wir haben uns zusammen mein Babyalbum angeguckt. Na, und dabei hat Mama erzählt, wie viel Arbeit so ein Baby macht. Und dass es sein könnte, dass du für mich bald keine Zeit mehr hast.«
Dazu sagt Marc erst einmal nichts. Stattdessen presst er seine Handflächen so fest aufeinander, dass die Adern darauf deutlich hervortreten. Dann atmet er tief durch und setzt mich wieder auf den Boden.
»Glaube mir, Luisa, das wird nicht passieren. Damit kannst du auch deinen Freund Herkules beruhigen, wenn ihr euch mal wieder über das Thema unterhaltet. Ich bin nämlich ein ganz hervorragender Kümmerer.«
Wirklich schön zu wissen. Tröstet mich aber gerade überhaupt nicht. Schließlich will ich nicht, dass Marc sich um mich kümmert. Sondern Cherie. Ach, Cherie …
»Mein Gott, Herkules! Jetzt versuch doch bitte mal, die ganze Geschichte etwas sachlicher zu betrachten.«
Okay, im Rahmen seiner Möglichkeiten gibt sich Beck tatsächlich alle Mühe, mich zu trösten. Aber so wird das nichts. Denn das Letzte, was ich hören will, sind gute sachliche Argumente. Schließlich tut mir das Herz weh, nicht der Kopf. Das hat Marc schon ganz richtig erkannt.
»Überleg mal – sie kennt doch diesen Alwin gar nicht wirklich.«
»Alec. Er heißt Alec.«
»Wie auch immer. Mit dir ist sie richtig befreundet. Diesen Alec hat sie wahrscheinlich nur einmal im Leben gesehen. Dann haben sie rasch die Babys gemacht – und gut war’s.«
Becks Worte bohren sich regelrecht in meine Brust, ich spüre einen stechenden Schmerz und gehe jaulend zu Boden.
»Herkules?! Was ist los?«
»Ich habe Schmerzen.«
»Echt?«
»Ja. Echt!«
»Dann bist du krank.«
»Das sag ich ja die ganze Zeit. Aber du glaubst mir ja nicht.«
»Nein, ich meine: richtig krank.«
»Ich bin RICHTIG krank! Es tut RICHTIG weh!«
Herr Beck steht auf und geht um mich herum, um mich besser betrachten zu können.
»Hm. Aber was tut denn weh, wenn es weh tut?«
»Wie meinst du das?«
»Na ja, was genau tut dir denn weh?«
»Ich habe das Gefühl, dass mein Brustkorb auf einmal zu klein für mein Herz ist. Und das Herz selbst ist wie eingequetscht, richtig zusammengedrückt. Ich kann nicht mehr tief durchatmen, es ist schrecklich.«
»Auweia, das klingt furchtbar! Ich dachte bisher immer, Liebeskummer sei so eine menschliche Erfindung, die es im Grunde genommen gar nicht gibt. Scheint ja doch was dran zu sein.«
Ich drehe mich auf die Seite, weil mir das Atmen dann leichter fällt.
»Hattest du denn noch nie Liebeskummer?«
Beck schüttelt den Kopf.
»Nein. Offensichtlich nicht. Jedenfalls nicht so. Sicher, die ein oder andere Katze hat mir schon gut gefallen. Und da hat sich hin und wieder auch etwas ergeben. Aber dass es mir deshalb in irgendeiner Form das Herz zusammengedrückt hätte – nein, so war es bei mir nie.«
Ich seufze.
»Sei froh. Schon allein der Gedanke, dass sie mit diesem Alec of Greensbury Hills … also, nein!«
»Kleiner, du solltest dich mit diesen Phantasien nicht quälen. Sondern dich lieber darüber freuen, dass du nicht so einen beknackten Namen hast. Und dass du wahrscheinlich Cheries bester Freund bist.«
»Aber ich will nicht ihr Freund sein! Ich will, dass sie mich liebt! Ich komme mir jetzt vor wie Daniel. Der ist auch Carolins bester Freund, aber wäre bestimmt lieber ihr Mann. Oder zumindest: wäre früher lieber ihr Mann gewesen.«
»Da siehst du doch schon den Unterschied, Herkules: Oft ist der Freund derjenige, den eine Frau ewig behält. Während die Liebe kommt und oft auch wieder geht. Jedenfalls wird Daniel auch noch Caros Freund sein, falls sie sich mal von Marc trennen sollte. Und wenn ich dich richtig verstanden habe, hat sich Daniel längst von seinem Kummer erholt, hat sich mit Aurora getröstet und flirtet mittlerweile sogar mit Cheries Frauchen. Du siehst: Es gibt ein Leben nach der großen Liebe. Und es ist kein schlechtes.«
Ja. Ich weiß. Das ist alles gut gemeint und bestimmt auch wahr. Aber es tröstet mich nicht. Jedenfalls nicht jetzt. Und so, wie sich mein Herz im Augenblick anfühlt, auch in Zukunft nicht. Es zieht vom Herzen direkt runter in den Magen, ein nagendes, brennendes Gefühl.
»Herkules, komm rein! Es gibt lecker Fresschen – ich habe sogar für dich gekocht!«
Carolin ist auf die Terrasse gekommen – oder sollte ich besser sagen: gerollt? Umgeben ist sie von einer sehr aromatischen Duftwolke, Pansen und Leber – lecker! Der Druck auf meinen Magen nimmt zu. Vielleicht ist ein Teil des Liebeskummers auch schlicht Hunger? Verwunderlich wäre es nicht, schließlich habe ich seit der schlimmen Nachricht von Cheries Rendezvous mit diesem aufgeblasenen Ausstellungscasanova kaum noch etwas gefressen. Was aber außer Luisa bis eben niemandem aufgefallen ist. Im Gegenteil: Statt als gewissenhafter Tierarzt mal etwas genauer auf mein Seelenheil zu achten, beschäftigt sich Marc seit seinem Gespräch mit Luisa nur noch mit der Frage, ob es für sie schlimm ist, wenn das Baby kommt. Selbst Caro hat er damit schon ganz wild gemacht. Typisch Mensch! Daran kann man doch jetzt sowieso nichts mehr ändern. Das Baby kommt, ob es uns nun gefällt oder nicht. Oder will Marc das Baby irgendwo abgeben? Geht das mit menschlichem Nachwuchs überhaupt? Also, so wie bei mir: ab in den Karton und ins Heim? Eine interessante Frage. Ich werde sie mit Beck diskutieren.
Später allerdings. Denn jetzt muss ich schnell in die Küche. Nicht, dass Caro mein Fressen noch in den Kühlschrank verfrachtet. Ich folge dem tollen Geruch Richtung Napf und falle dabei fast über Daniel, der zur gleichen Zeit von draußen hereinkommt und – wie bei Zweibeinern leider üblich – keinen Moment darüber nachdenkt, was sich im Fußraum direkt vor ihm abspielt.
»Hoppla, Herkules, dich habe ich gar nicht gesehen! Du hast es ja ziemlich eilig!«
Carolin lacht.
»Genau. Ein Dackel mit einer Mission. Und zwar Mission Essensaufnahme. Ich habe extra für ihn gekocht.«
»Holla – hast du es gut, Kleiner. Sind das schon die mütterlichen Triebe, Frau Kollegin? Und falls ja: Gibt’s für mich auch etwas Leckeres?«
Wie Caro auf diese Frage reagiert, bekomme ich schon nicht mehr mit, denn in diesem Moment tauche ich die Schnauze endlich in meinen Fressnapf. Göttlich! Er ist mehr als randvoll gefüllt mit Köstlichkeiten. Leber ist neben Herz eindeutig mein Favorit, leider kocht Caro sehr selten frisches Hundefutter. Meist gibt es etwas aus der Dose. So etwas hätte sich natürlich niemals in die Küche von Schloss Eschersbach verirrt. Oder nur im äußersten Notfall. Emilia, unsere Köchin, war bei der Zubereitung des Hundefutters genauso gewissenhaft wie beim Essen für die Herrschaften – wenn nicht sogar gewissenhafter. Aber diese Mahlzeit hier ist auch köstlich!
Als der Name Cherie fällt, taucht mein Kopf trotzdem ruckartig aus der Schüssel hoch. Was erzählt Daniel da? Ich trabe in Richtung Flur und bleibe im Türrahmen der Küche sitzen.
»Na ja, und jetzt wohnt sie mit Cherie in einem kleinen WG-Zimmer bei einer Freundin, und das ist natürlich viel zu eng.«
Daniel will Carolin von irgendetwas überzeugen, jedenfalls hat seine Stimme einen ganz eindringlichen Tonfall. Seltsam, so habe ich ihn noch nie gehört.
»Also, ich verstehe immer noch nicht ganz, was ich damit zu tun habe.« Carolin wiederum klingt noch nicht besonders überzeugt. Daniel muss offenbar noch eine Schippe drauflegen. Worauf auch immer.
»Na ja, ich dachte, wo wir unser Zimmer neben der Küche doch nie nutzen und du demnächst sowieso eine Zeitlang nicht da bist, da könnten wir …«
»Da könnten wir was?«, unterbricht Caro ihn ungeduldig.
»Claudia das Zimmer vermieten.«
»Bitte was?«
»Ich dachte, wir könnten Claudia das Zimmer vermieten. Es ist groß genug, und Tageslicht hat es auch. Nur, bis sie etwas anderes gefunden hat. Ihr Hund würde uns doch nicht weiter stören, wir haben schließlich Herkules, und die beiden mögen sich.«
Ohne weiter nachzudenken, schieße ich los und springe an Daniel hoch. Und zwar gleich drei-, viermal – ich habe mich selbst nicht mehr im Griff.«
»Guck mal, Caro – einer ist schon ganz begeistert von der Idee!« Daniel beugt sich zu mir, ich höre auf herumzuhopsen und wedele einfach ein bisschen mit dem Schwanz.
»Also, du meinst, wir geben Claudia und ihrem Hund hier Asyl, bis sie eine neue Wohnung hat. Aber wieso sucht sie denn nicht einfach von ihrer WG aus?« Caro scheint noch skeptisch, was ich angesichts des Planes, den ich zwar nicht verstanden habe, aber trotzdem großartig finde, nicht begreifen kann.
»Es ist so: Dieses Zimmer bei ihrer Freundin ist wirklich winzig. Und immerhin bekommt Cherie in den nächsten Tagen Junge, das ist nicht wirklich günstig. Einen Garten gibt es da auch nicht.«
Caro seufzt.
»Auch das noch! Richtig toll passt mir das nicht. Wie soll denn das werden – so ein großer Hund und lauter Welpen?«
»Ich dachte, dafür würdest du als Schwangere besonderes Verständnis haben. Du und Cherie – ihr seid doch fast in der gleichen Situation.«
»Na hör mal! Was meinst du denn damit? Ich bin doch kein Hund!« Täusche ich mich, oder findet Caro den Vergleich mit Cherie nicht so passend? Dabei sind sie beide blond und schön. Ich finde, Daniel hat völlig Recht!
»Ach, komm schon! Es wäre mir wichtig. Und du wirst davon so gut wie nichts mitbekommen. Bis du wieder an Deck bist, hat Claudia längst etwas Neues gefunden. Bitte!« Daniel klingt sehr flehentlich. Es muss ihm wirklich wichtig sein. Toll, dass ihm Cheries Schicksal dermaßen am Herzen liegt!
Carolin atmet tief durch – ich bin gespannt, wie sie sich entscheidet! Allein die Vorstellung, dass Cherie hier eine Weile wohnen könnte, sorgt bei mir für verstärkten Speichelfluss. Gut, sie hat mich gewissermaßen betrogen. Und sie wird ihre Gören mitbringen. Aber vielleicht kommt jetzt meine große Chance? Wenn sie erst mit mir zusammenlebt, erkennt sie bestimmt, was für ein toller Kerl ich bin. Dann wird dieser Alec schnell vergessen sein. Und so anstrengend wird das mit den süßen Kleinen schon nicht werden. Wahrscheinlich bin ich sogar ein spitzenmäßiger Ersatzpapa, gewissermaßen das große Vorbild. Und schon bald wünscht sich Cherie noch mehr Kinder!
Carolin räuspert sich. Los! Gib deinem Herzen einen Ruck!
»Ich glaube zwar nicht, dass sich deine Flirtchancen bei dieser Claudia dadurch wesentlich erhöhen – aber von mir aus kann sie erst mal hier einziehen.«
»Danke, Caro!« Daniel zieht sie an sich heran, soweit das bei dem dicken Bauch möglich ist, und gibt ihr ein Küsschen auf die Wange.
»Halt, halt. Nicht so schnell. Zwei Bedingungen habe ich.«
»Schieß los!«
»Erstens: Wenn ich aus der Babypause wiederkomme, muss Claudia eine neue Bleibe haben. Zweitens: Du passt ab und zu auf Herkules auf. Wenn das Baby da ist, sind wir bestimmt froh, Entlastung zu haben.«
Daniel nickt ergeben.
»Mach ich, Caro. Gerne sogar – gell, Kumpel? Wir kümmern uns dann um die holde Weiblichkeit vor Ort.«
Worauf du dich verlassen kannst!