EINS

Unfassbar! Es ist einfach unfassbar! Irgendetwas muss über Nacht mit meinem Frauchen Carolin passiert sein, und jetzt hat sie offensichtlich eine Nase, die der eines alten Königspudels gleicht. Um hier Missverständnissen vorzubeugen: Damit meine ich nicht etwa groß, feucht und eingerahmt von leicht ergrautem, lockigem Fell. Nein, sondern vielmehr mit dem Geruchssinn eines in die Jahre gekommenen Begleithundes ausgestattet. Also für einen Menschen geradezu sensationell gut.

Wie ich darauf komme? Ganz einfach: Vor etwa zehn Minuten habe ich es mir auf dem neuen Sofa im Wohnzimmer so richtig gemütlich gemacht. Die Gelegenheit war günstig, denn weit und breit war kein Mensch zu sehen, der es mir hätte verbieten können. Frauchens Freund Marc war schon morgens in seine Tierarztpraxis im Erdgeschoss verschwunden, sein Töchterchen Luisa in der Schule und Carolin selbst in ihrer Geigenbauwerkstatt auf der anderen Seite des Parks. Dachte ich jedenfalls.

Auf dem alten Sofa durfte ich immer ohne weiteres Platz nehmen, aber seitdem das neue die sonnigste Ecke des Wohnzimmers ziert, ist mein Leben deutlich unkomfortabler geworden. Am Tag seiner Lieferung stellte Marc nämlich eine neue, sehr spießige Regel auf: Hunde gehören ins Körbchen, auf den Teppich oder vor die Couch, keinesfalls aber auf Letztere. Begründet wurde das mit meinen Haaren und dem schönen, flauschigen Wollbezug der Neuerwerbung. Was natürlich totaler Blödsinn ist, denn das Sofa ist dunkelgrau und damit ziemlich genau meine Haarfarbe. Schließlich bin ich ein Rauhaardackel, jedenfalls fast. Selbst wenn ich also haaren würde – was ich selbstverständlich nicht tue –, würde es nicht weiter auffallen.

Gut, Regeln sind, was man selbst daraus macht – und so liege ich nun eben ab und zu heimlich auf dem Sofa und genieße die Sonne und das kuschelige Gefühl an meinem Bauch. Bis jetzt hat es noch niemand von meinen drei menschlichen Mitbewohnern bemerkt – so viel zum Thema störende Haare.

Auch in diesem Moment fläze ich mich auf meinem neuen Lieblingsplatz und freue mich über die Ruhe in der Wohnung. Eigentlich bin ich als Rudeltier nicht besonders gern allein, aber wenn es denn schon sein muss, dann bitte auf diesem Fleckchen. Hier fühlt sich selbst die Wintersonne, die um diese Tageszeit genau ins Fenster scheint, ganz warm und sommerlich an. Herrlich!

Ein Schlüssel wird im Haustürschloss gedreht. Mist! Ich springe schleunigst auf den Teppich, entferne mich weit genug vom Corpus Delicti und setze eine möglichst unschuldige Miene auf. Carolin streckt den Kopf durch die Tür.

»Hallo Herkules, ich bin wieder zurück. Muss mich mal ein bisschen hinlegen. Irgendwie ist mir heute flau. Vielleicht zu viele Schokoweihnachtsmänner zum Frühstück.«

Sie zögert kurz, dann geht sie in meine Richtung.

»Ach, ich komm zu dir ins Wohnzimmer. Ein wenig Gesellschaft ist vielleicht nicht schlecht.«

Sie nimmt auf dem Sofa Platz, dann legt sie sich mit dem Kopf auf eben jene Stelle, auf der auch ich gerade ein Nickerchen machen wollte. Normalerweise überhaupt kein Problem. Die Nase eines Menschen reagiert auf Duftmarken schließlich so empfindlich wie ein dickfelliger Berner Sennenhund auf die Temperaturen beim ersten Schneefall des Winters. Ich bin also ganz entspannt.

Kaum liegt Carolin jedoch, rappelt sie sich schon wieder auf.

»Sag mal, Herkules, du böser Hund – hast du etwa auf dem schönen neuen Sofa gelegen?«

Ich bin völlig verdutzt. Wie hat sie das gemerkt? Sollte ich etwa doch haaren?

»Du brauchst gar nicht so unschuldig zu gucken! Das ganze Sofa riecht nach dir. Also ehrlich – es stinkt regelrecht nach Hund! Igitt!«

Bitte? Sie hat es gerochen? Das KANN gar nicht sein. Denn ich habe maximal fünf Minuten dort gelegen, und nass war ich auch nicht. Für einen Menschen ist das genau so, als wäre ich niemals da gewesen. Ich bin – ich erwähnte es bereits – also fassungslos. Und, nebenbei bemerkt, was heißt hier eigentlich stinkt nach Hund? Ich bin mir sicher, dass ich sehr angenehm dufte. Carolin sollte sich lieber mal klarmachen, dass das Wässerchen aus dem kleinen Glasfläschchen, das sie selbst häufig benutzt, geradezu penetrant stinkt.

»Tja, mein Lieber, da staunst du, was? Ich habe dich erwischt. Du hast hier gelegen, hundert Prozent. Das rieche ich drei Meilen gegen den Wind. Und du weißt genau, dass wir dir das verboten haben. Also sei froh, dass ich dich erwischt habe und nicht Marc. Bei diesem sauteuren Designerstück kennt Herrchen keinen Spaß.«

Okay, sie hat es offenbar tatsächlich erschnuppert. Ich richte mich zu voller Größe auf und starre Carolin an. Sieht sie irgendwie anders aus? Irgendetwas, das ihren plötzlich sensationellen Geruchssinn erklären könnte? Nein, alles völlig normal und wie immer: Carolin hat ihre blonden langen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden, die hellen Augen strahlen, und ihre Nase ist kein Stück größer geworden. Sehr seltsam. Seeehr seltsam!

Bevor ich aber noch dazu komme, Carolin eingehender zu untersuchen, springt sie vom Sofa auf.

»Ich lege mich ins Bett. Hier wird mir ja ganz anders, ich fürchte, die Couch muss erst einmal auslüften. Schäm dich, Herkules!«


»Und du bist dir wirklich sicher, dass sie es gerochen hat?« Auch Herr Beck guckt erstaunt, als ich ihm am nächsten Tag von der Sofageschichte erzähle. Und das will etwas heißen. Denn der dicke schwarze Kater hat schon ziemlich viele Jährchen auf dem Buckel und mit Menschen wohl alles erlebt, was man als Vierbeiner so mit ihnen erleben kann. Seit ich ihn im Sommer vor zwei Jahren kennen gelernt habe, ist er deswegen nicht nur mein bester Freund, sondern auch mein wichtigster Ratgeber geworden.

»Ich meine, vielleicht hat sie es auch nur erraten. Du lagst immerhin neben dem Teil, und vielleicht hast du gleich so schuldbewusst geschaut.«

Ich schüttle den Kopf.

»Nee, völlig ausgeschlossen. Zum einen hatte ich überhaupt kein schlechtes Gewissen. Und zum anderen habe ich wirklich einen Sicherheitsabstand zwischen das Teil und mich gebracht, bevor Carolin ins Zimmer gekommen ist. Nicht nur das: Sie hat sogar behauptet, ihr würde ganz anders von dem Geruch.«

»Hm.« Beck guckt nachdenklich und rückt von dem Treppenabsatz unseres Hauseingangs näher an die Hauswand heran. Tatsächlich hat es angefangen zu schneien, und wie die meisten Katzen ist Beck wettertechnisch ein echtes Weichei. Wenn mein Opili – Gott hab ihn selig! – das sehen könnte, es würde ihn in seiner Meinung über diese Gattung vollauf bestätigen. Ich bleibe selbstverständlich wie angenagelt liegen und trotze dem Schneesturm. Na ja, drei Flocken mindestens haben schon meine Nase gestreift. Ich muss niesen. Herrn Beck scheint das an unser Ausgangsthema zu erinnern.

»Ja, ja, die Nase. Damit hat sie dich also ertappt. Für einen Menschen ist das wirklich eine unglaubliche Leistung. Selbst mir fällt es mittlerweile schon deutlich schwerer, Duftmarken exakt zuzuordnen. Das Alter!« Er seufzt. »Ist dir denn sonst noch etwas aufgefallen? Vielleicht sind das ja Anzeichen irgendeiner seltenen Krankheit?«

Ich denke kurz nach.

»Nein. Oder, na ja. Ich finde, Carolin ist in letzter Zeit immer sehr müde. Normalerweise dreht sie bei schönem Wetter gerne eine Extrarunde mit mir im Park. Das ist schon länger nicht mehr vorgekommen, sie ist immer zu schlapp dafür. Meinst du, ich muss mir Sorgen um Carolin machen?«

Becks Schwanzspitze zuckt. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass er nachdenkt.

»Tja, so spontan weiß ich damit auch nichts anzufangen. Geruchsempfindlichkeit und Müdigkeit – habe ich so als Krankheitssymptome beim Menschen noch nicht erlebt. Beim Kater erst recht nicht. Vielleicht sind das auch alles nur Zufälle? Ihre Nase hatte heute nur einen guten Tag, und außerdem ist es ihr momentan schlicht zu kalt, um mit dir spazieren zu gehen? Ich fürchte, wir müssen das weiter beobachten, mein Freund. Nur so kommen wir zu einer fundierten Diagnose.«

Ich nicke, dann wälze ich mich hoch und trotte Richtung Terrassentür zur Werkstatt. Beobachten ist bestimmt eine gute Idee, und wenn ich schon dabei bin, kann ich auch gleich mal beobachten, ob sich schon etwas Essbares in meinem Napf befindet.

Carolin läuft in dem großen Raum mit den Werkbänken hin und her und telefoniert. Aus der kleinen Küche hinter dem Flur, in der sich Caro und ihr bester Freund und Kollege Daniel immer Tee oder Kaffee kochen, höre ich es verdächtig klappern. Vielleicht denkt wirklich jemand an mich? Muss ja nicht unbedingt frisches Rinderherz sein, eine Zwischenmahlzeit in Form von Hundekuchen würde mir auch gefallen.

Hoffnungsfroh renne ich hinüber und schaue durch die Tür: Tatsächlich hantiert Daniel mit einem Karton. Ich schnuppere kurz in die Luft – nein, bedauernswerterweise sind keine Hundekuchen darin, sondern wohl nur die kleinen Papiertüten, in die er immer das Kaffeepulver füllt. Vielleicht kann ich ihm trotzdem einen Snack aus den Rippen leiern. Direkt neben der Tür stehen mein Trink- und mein Fressnapf. Letzterer ist – leider! – leer. Ich gebe ihm einen kräftigen Stoß mit meiner Schnauze und werfe ihn damit gegen den Trinknapf, so dass es ziemlich laut scheppert. Daniel dreht sich erschrocken zu mir um. Recht so! Ein schlauer Kerl und Hundefreund wie er sollte doch mit dieser Botschaft etwas anfangen können.

»He, du Randale-Dackel! Oder sollte ich besser Hooligan-Hund sagen? Was soll das denn?«

Also bitte, Daniel, das ist jetzt nicht der passende Moment für sprachliche Spitzfindigkeiten, die mir persönlich auch rein gar nichts sagen. Ich will etwas zu fressen, und zwar schnell! Um die Botschaft noch etwas klarer zu machen, gebe ich dem umgekippten Fressnapf noch einen Stups und knurre ein bisschen.

»Ach, daher weht der Wind. Monsieur verlangt nach einer Mahlzeit!«

Sehr gut, hundert Punkte, Daniel. Und nun mach schon, du weißt bestimmt, wo Carolin meine Leckerlis aufbewahrt – in dem kleinen Schränkchen, auf dem die Kaffeemaschine steht. Das ist doch für dich nur ein Griff!

Aber leider öffnet Daniel nicht einfach die Schranktür, sondern sieht sich etwas hilfesuchend in der kleinen Küche um und fährt sich dann ratlos mit den Händen durch die vielen hellen Locken auf seinem Kopf.

»Hm, wo mag denn dein Frauchen etwas für dich verstaut haben?« Er öffnet den Schrank über dem Herd mit den zwei Platten. »Also, das hier sieht schon mal schlecht aus. Vielleicht daneben? Nee, auch nicht.« Er beugt sich zu mir herunter. »Tja, Herkules, da siehst du es – ich war wirklich verdammt lange weg. Ich muss mich hier erst einmal wieder einleben.«

Mit diesen Worten verlässt er die Küche und geht in den großen Werkraum.

»Sag mal, Carolin«, höre ich ihn fragen, »hast du hier unten irgendetwas zu fressen für Herkules? Er scheint Hunger zu haben.«

»Kann zwar eigentlich nicht sein, aber vielleicht hat ihn die allgemeine Vorweihnachtsvöllerei angesteckt. Moment, ich zeig’s dir.« Sie kommen beide in die Küche.

»Danke!«

»Keine Ursache, ist ja auch in meinem Interesse, wenn du dich so schnell wie möglich wieder heimisch fühlst.«

Recht hat sie. Ich will doch schwer hoffen, dass Daniel diesmal für immer dableibt. Carolin und Daniel haben sich nämlich schon einmal die Werkstatt geteilt und zusammen Geigen gebaut. Das war zu der Zeit, als mich Caro aus dem Tierheim gerettet hat. Aber dann war Daniel als Mann zu nett für Carolin, aber nicht für Aurora, und deswegen verliebte sich Carolin in Marc, und Daniel zog mit der doofen Aurora weit, weit weg und kam nur noch ganz selten bei uns vorbei. Also, das ist jetzt die sehr verkürzte Fassung, aber so ungefähr war’s. Es ist auch müßig, sich bei Menschen alles merken zu wollen. Ich habe es jedenfalls mittlerweile aufgegeben. Dafür passiert bei denen einfach viel zu viel.

Das soll mich jetzt auch nicht weiter kratzen, denn immerhin ist Daniel nun wieder da und scheint auch bleiben zu wollen. Umso sinnvoller ist es deswegen natürlich, dass Carolin ihn gründlich in die wesentlichen Dinge der Werkstatt einweist. Wozu selbstverständlich auch gehört, wo sich mein Futter befindet.

Nach einer solchen Einarbeitung sieht es allerdings momentan nicht aus. Stattdessen stehen die beiden in der Küche voreinander und schweigen sich an. Dann lächelt Daniel und knufft Caro in die Seite.

»Carolin, ich bin froh, dass wir jetzt wieder ein richtiges Team sind.« Sie nickt.

»Ja, ich auch. Ich hoffe nur, du wirst München nicht zu sehr vermissen. Und alles, was damit zusammenhängt.«

Daniel brummt irgendetwas Unverständliches, und diesmal ist es Carolin, die ihn knufft.

He! Das ist ja geradezu rührend, wie ihr hier den Geist eurer Freundschaft beschwört, aber: WO BLEIBT MEIN FUTTER? Ich winsle ein bisschen, um den Ernst der Lage zu verdeutlichen.

»Ist ja gut, Süßer, geht schon los!« Carolin beugt sich zu dem Schränkchen, öffnet eine der Türen und nimmt eine Dose heraus. Na endlich!, möchte ich laut rufen, beschränke mich aber meinen Fähigkeiten entsprechend auf ein gutgelauntes Schwanzwedeln.

Als Carolin die Dose öffnet, passieren mehrere Dinge, und zwar fast zeitgleich: Erst strömt der verführerische Duft von Pansen und Leber in die Küche – und nur den Bruchteil einer Sekunde später lässt Carolin die Dose auf den Boden fallen, gibt ein tiefes, würgendes Geräusch von sich, dreht sich blitzschnell zur Seite und übergibt sich in die Spüle neben der Kaffeemaschine.

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