68 Der Königspython

An dem Seeufer, dem die Reisenden folgten, wuchs dichtes Gestrüpp, das in Dschungel überging.

Auf seinen Erkundungsgängen in das Unterholz hatte François ein paar Pfauen aufgescheucht, und er wollte unbedingt einige dieser Vögel erlegen, um aus ihrem Gefieder Fächer für die zwei Schwestern machen zu lassen.

Er bat René, nach der Mahlzeit diesem Zeitvertreib nachgehen zu dürfen.

René wusste, dass der Pfau im Dschungel dort weilt, wo auch der Tiger weilt; darauf wies er François hin, doch als typischer Pariser Leichtfuß dachte dieser sogleich, es müsse noch viel vergnüglicher sein, einen Tiger zu erlegen, und er nahm seinen Entersäbel und eines von Renés doppelläufigen Gewehren und begab sich in den Urwald.

Er hatte noch keine zehn Schritte getan, als René bereute, einem so unerfahrenen Jäger gestattet zu haben, allein in den Dschungel zu gehen; da an ihrem Lagerplatz alles ruhig wirkte, machte er François ein Zeichen, auf ihn zu warten, denn bevor er aufbrach, wollte René sich vergewissern, dass den Schwestern kein Ungemach widerfahren würde.

Die Mädchen saßen im Gras und boten einen bezaubernden Anblick inmitten der Wilden, die sie begleiteten. René gab jedem der Elefanten ein Stück Brot zu fressen; dann führte er die zwei Kolosse zu einem Baum, dessen riesige, dicht belaubte Zweige sich bis auf zwanzig Fuß hinunterwölbten, wies auf die beiden Schwestern und sagte zu den Elefanten, als wären sie seiner Sprache mächtig: »Bewacht sie gut.«

Die Mädchen lachten über diese Vorsichtsmaßnahme, die ihnen recht übertrieben vorkam, da sie keine Gefahr drohen sahen.

Bevor er sie verließ, schärfte René ihnen alle möglichen Verhaltensmaßregeln ein, darunter die, dass sie sich im Fall des Angriffs durch ein wildes Tier zwischen die Beine der Elefanten flüchten sollten, die eine uneinnehmbare Festung darstellten.

René führte ein anderer Wunsch in den Dschungel als der, einen Pfau zu erlegen; wie wir wissen, hatte er bereits mit einigen indischen Ungeheuern zu tun gehabt, doch einem Tiger war er noch nicht begegnet. Er drückte beiden Schwestern die Hand, eilte hinter François her und verschwand mit ihm im dichten Unterholz.

Das Unterholz verwandelte sich schnell in unwegsamen Dschungel, durch den man sich ohne Hilfe einer Machete keinen Weg bahnen konnte.

François hatte schon seinen Säbel gezückt, als René einen frisch gebahnten Pfad entdeckte, auf dem verstreute Knochen verrieten, dass ein großes fleischfressendes Tier vor wenigen Stunden den Dschungel durchstreift hatte.

René rief François und betrat den Pfad.

Sein Gefährte folgte ihm.

Nach mehreren Windungen des Pfades unter dem Blätterdach, das sich wie eine Kuppel über ihren Häuptern wölbte, gelangten sie zur Höhle des Tiers. Es handelte sich um das Lager eines Tigerpaares, doch beide Majestäten waren ausgegangen; zwei kleine Tiger, kaum größer als dicke Katzen, spielten knurrend miteinander.

Als sie der fremden Geschöpfe ansichtig wurden, zeigten die kleinen Tiger ihre Krallen und fauchten, doch René streckte die Hand aus, packte eines der Jungen am Nacken und warf es François mit den Worten zu: »Da, nimm!« Dann ergriff er das zweite Junge und verließ schnellen Schritts den Bau, in dem er wehrlos gewesen wäre. Die Tigerjungen knurrten und maunzten, als wollten sie sich bei ihrer Mutter über die Vertraulichkeiten beklagen, die man sich mit ihnen erlaubte.

Im selben Augenblick erklang wenige hundert Schritte entfernt ein furchterregendes Brüllen. Das war die Mutter, die das Geschrei ihrer Kinder beantwortete.

»Raus aus dem Dschungel, raus aus dem Dschungel!«, rief René, »sonst sind wir verloren!«

François ließ sich nicht lange bitten, denn das Brüllen machte ihm klar, in welcher Gefahr sie sich befanden. Er rannte los, ohne den kleinen Tiger loszulassen, den er nach Frankreich mitnehmen und dem Pariser Zoo verkaufen wollte, und bald befand er sich außerhalb des Dschungels und in dem Saum aus Büschen am Waldesrand.

Abermals ertönte Gebrüll, diesmal aus nur mehr hundert Schritt Entfernung.

Zwanzig Schritte vor den Jägern befanden sich ein Baum und ein Strauch.

»Lass den kleinen Tiger los«, rief René und ließ die eigene Beute fallen. »Spring auf den Baum, ich nehme den Busch!«

Kaum hatten die beiden ihren Posten bezogen, ertönte ein drittes Brüllen, das sich diesmal ausnahm, als entlüde sich über ihren Köpfen ein Gewitter, und eine Tigerin sprang zwanzig Schritt von ihnen entfernt auf den Boden, als wäre sie hergeflogen und nicht gelaufen.

Für einen Augenblick zögerte sie sichtlich zwischen Mutterliebe und Rachsucht, bis die Mutterliebe siegte. Sie kroch auf ihren Nachwuchs zu und miaute wie eine Katze, doch es war ein fürchterliches Miauen.

Dabei bot sie François ihre ungeschützte Seite, und dieser legte an und schoss.

Die Tigerin, überraschend getroffen, tat einen Luftsprung und fiel zu Boden.

François hatte ihr die linke Schulter zerschmettert.

Die Tigerin erkannte schnell, welcher der zwei Schützen auf sie geschossen hatte, denn ihn umhüllte noch der Rauch; sie wendete sich in seine Richtung und tat trotz ihrer Verletzung einen gewaltigen Sprung auf ihn zu.

François hielt es für klüger, sie nicht noch näher kommen zu lassen, und feuerte den zweiten Gewehrlauf ab. Die Tigerin wälzte sich auf den Rücken, stieß ein grauenerregendes Röcheln aus, wälzte sich unter großer Anstrengung auf den Bauch und zerfurchte mit der gesunden Pfote den Boden, während sie die Zähne ins Gras grub, welches das Blut aus ihrer Schnauze rötete.

»Es hat sie erwischt! Es hat sie erwischt, Monsieur René«, rief François so freudig wie ein Kind, das sein erstes Kaninchen zur Strecke gebracht hat.

»Nimm dich in Acht, du Dummkopf«, herrschte René ihn an, »und lade sofort dein Gewehr nach!«

»Aber wozu, Monsieur René, wo sie doch mausetot ist?«

»Und der Tiger, ist der auch tot, du Schwachkopf? Hörst du ihn denn nicht?«

Kein Laut hat das menschliche Ohr je so erschreckt wie das Gebrüll, das sie nun vernahmen.

»Lade dein Gewehr, lade es endlich, und nimm hinter mir Aufstellung«, sagte René eindringlich. Als er jedoch sah, dass sein Begleiter vor Freude, Erregung oder Furcht so stark zitterte, dass er das Pulver auf dem Boden verstreute, statt es in den Gewehrlauf zu schütten, reichte er ihm sein geladenes Gewehr und nahm das andere Gewehr an sich.

Innerhalb einer Minute waren beide Gewehrläufe mit Pulver und Kugeln versehen, und die Gewehre wurden abermals getauscht.

»Er brüllt nicht mehr«, flüsterte François René zu.

»Und er wird auch nicht mehr brüllen«, sagte René. »Da sein Weibchen nicht geantwortet hat, weiß er, dass es entweder tot oder in einen Hinterhalt geraten ist. Um nicht ebenfalls gefangen zu werden, wird er versuchen, die Falle zu erkunden. Vorsicht! Wir müssen wachsam sein.«

»Pst!«, flüsterte François René ins Ohr. »Ich höre Zweige knacken.«

Im selben Augenblick drückte René seine Schulter und zeigte mit dem Finger auf den riesigen Kopf des Tigers, der geduckt am Ende des Pfades im Dschungel erschien. Nachdem er seinen Bau leer vorgefunden hatte, war er lautlos aus dem Wald geschlichen.

François nickte zum Zeichen, dass er ihn gesehen hatte.

»Auf Philipps rechtes Auge«, sagte René laut. Und er feuerte.

Mehrere Sekunden lang vernebelte der Rauch die Sicht.

»Da ich noch lebe«, sagte René gelassen, »nehme ich an, dass der Tiger tot ist.«

In der Tat sah man den Tiger röchelnd letzte Zuckungen vollführen.

»Warum sagten Sie vorhin, bevor Sie schossen: ›Auf Philipps rechtes Auge‹? Hieß dieser Tiger am Ende Philipp?«

»Nein«, sagte René, »er hieß vermutlich Tiger, und deshalb muss man sich vor ihm in Acht nehmen.«

Der Tiger war tödlich getroffen; man musste sich nicht mehr vor ihm fürchten, sondern konnte in Ruhe abwarten, dass der Tod sein Werk verrichtete. Es dauerte nicht lange, und der Tiger hatte sein Leben ausgehaucht, obwohl ihn nur eine Kugel getroffen hatte; sein Weibchen mit zwei Kugeln im Leib hatte länger gekämpft als er. Allerdings war Renés Kugel in das rechte Auge des Untiers gedrungen, wie der Meisterschütze angekündigt hatte, und auf diesem Weg unmittelbar in das Gehirn gelangt, was den sofortigen Tod des Tigers bewirkte, während man eine Viertelstunde lang hatte warten müssen, bis das Weibchen seinen letzten Seufzer tat.

Die zwei Jäger verharrten eine Weile in der Hoffnung, dass ihre Gewehrschüsse einige ihrer Begleiter anlocken würden, sei es nur aus Neugier, doch sie warteten vergebens; daraufhin beschlossen sie, zu ihren Reisegefährten zurückzukehren und mit einem Pferd die Kadaver der zwei Tiger abzuholen.

François jedoch wollte sich um nichts in der Welt von seiner Beute trennen; er warf sich das geladene Gewehr über die Schulter, ergriff jedes der beiden Tigerchen, wie er sie nannte, am Genick, wartete, dass René sein Gewehr nachlud, und machte sich mit ihm auf den Weg zum See, der höchstens einen Kilometer weit entfernt war.

Sie hatten kaum hundert Schritte getan, als ein Ruf wie Fanfarenklang im Wald widerhallte, gefolgt von einem zweiten ebensolchen Ton.

Die zwei jungen Männer sahen einander ratlos an. Dieser Ruf war ihnen völlig unbekannt. Welches Tier mochte ihn ausgestoßen haben?

Mit einem Mal schlug René sich an die Stirn. »Ach!«, rief er. »Unsere Elefanten rufen um Hilfe!«

Und er eilte so schnell davon, dass François es aufgab, mit ihm Schritt halten zu wollen.

René hatte sich in der Richtung nicht getäuscht, und er erreichte den See keine zwanzig Schritte von der Stelle entfernt, an der er die zwei Schwestern zurückgelassen hatte. Er blieb stehen, wie versteinert von dem schaurigen Schauspiel, das sich seinen Augen bot.

Die Eskorte hatte sich in einiger Entfernung zerstreut. Die Schwestern saßen noch immer am Fuß des Baums, hielten einander umarmt und waren vor Angst wie gelähmt. Die zwei Elefanten waren als Einzige auf dem Posten geblieben und hielten mit ihren erhobenen Rüsseln eine riesige Boa in Schach, die sich um einen der niedrigsten Äste des Baums gewickelt hatte, unter dem die Mädchen saßen, und ihren abscheulichen Kopf hin und her wiegte, ohne den Blick von den Mädchen abzuwenden, die sich wie hypnotisiert nicht von der Stelle rührten.

Die Elefanten standen kampfbereit, um die kostbare Fracht zu beschützen, die ihnen anvertraut war. Die Männer der Eskorte hatten die Flucht ergriffen, denn mit Säbeln und Piken als einzigen Waffen waren sie einem solchen Gegner nicht gewachsen.

Als die Elefanten René erblickten, trompeteten sie vor Freude.

Der Mann, den sie gerufen hatten, hatte ihren Ruf gehört und war gekommen. Mit einem Blick erfasste René, was zu tun war. Er legte sein Gewehr hin, sprang zu den beiden Mädchen, nahm sie in die Arme wie zwei Kinder und übergab sie François, der gerade aus dem Wald kam und dem er einschärfte, sich um sie zu kümmern.

»So«, sagte er mit einem Seufzer der Erleichterung, dann ergriff er sein Gewehr: »Meister Python, nun zu uns! Jetzt wollen wir sehen, ob die Kugeln eines Lepage den Pfeilen eines Apoll ebenbürtig sind!«

Der Blick der Boa war den zwei jungen Mädchen gefolgt; offenbar wollte die Riesenschlange nicht kampflos auf ihre Beute verzichten. Gleichzeitig wusste sie jedoch, welchen Kampf sie mit den zwei Kolossen auszufechten hätte, die sich ihr in den Weg stellen würden.

Die Schlange ließ ein Zischen ertönen, das wie das Sausen des Sturmwinds klang. Stinkender Geifer troff aus ihrem Maul, ihre blutunterlaufenen Augen sandten Blitze aus, wenn sie den Kopf bewegte, und ihr Hals, die schmalste Stelle des Körpers einer Boa, war so dick wie ein Fass.

Die Windungen des Schlangenkörpers verloren sich in Astwerk und Laub des Baums.

René stemmte beide Beine auf den Boden. Er hatte es mit einem Gegner zu tun, den er mit dem ersten Schuss erlegen musste; er zielte auf das aufgerissene Maul und gab beide Schüsse ab. Der Baum wackelte unter den Zuckungen des Ungeheuers, das in die Zweige zurückkroch und von dem Laub verdeckt war, das wie bei einem Erdbeben geschüttelt wurde.

François kam herbeigeeilt, streckte René sein geladenes Gewehr hin und nahm ihm das leergeschossene ab.

»Bring die zwei Damen so weit weg wie möglich«, sagte René, »und lass mir deinen Entersäbel da.«

François gehorchte und führte die jungen Mädchen weg.

Die Elefanten hielten ihre Rüssel noch immer erhoben und verfolgten die Schlange mit dem Blick. Außer René sahen alle dem Schauspiel voller Schauder zu.

René hatte dafür keine Zeit.

Die Elefanten trampelten auf den Boden, als wollten sie die Schlange aus ihrem Versteck locken.

Und schon erschien sie: Ihr scheußlicher, unförmiger, blutverschmierter Kopf glitt den Baumstamm hinunter.

Zwei neue Gewehrsalven trafen das Reptil.

Ob aus Entkräftung oder bewusstlos durch die vierfache Verwundung – das Tier hatte offenbar die Herrschaft über seine Bewegungen verloren und stürzte wie ein Erdrutsch zu Boden.

Wenn die Pagode von Rangun über ihrer granitenen Basis eingestürzt wäre, hätte dies kaum lauter gedonnert und die Erde kaum vernehmlicher erschüttert.

Sobald die fühllos, aber nicht kraftlos gewordene Boa den Boden berührte, entrollte sie sich wie eine Feder, doch da sie in Reichweite eines Elefanten geriet, ohne ihn zu sehen, setzte dieser den Fuß auf ihren zerschundenen Kopf; sie bäumte sich mit aller Kraft auf, um der schrecklichen Umklammerung zu entkommen, doch Gewicht und Kraft des Elefantenfußes waren zu stark, und die Riesenschlange wand sich wie ein Wurm, der zertreten wird, und schlang sich um die Masse, die sie berührte.

Der zweite Elefant erkannte die Gefahr, in die sein Gefährte geraten war, und versuchte, die Schlange mit seinem Rüssel zu packen; die Boa jedoch, die den ersten Elefanten nur mit einem Drittel ihres Körpers umschlungen hatte, wand ihren beträchtlichen Rest um den zweiten Elefanten.

Für einen Augenblick bot das Gewirr unförmiger Körpermassen eine ins Riesenhafte vergrößerte Parodie der Laokoongruppe.

Die Elefanten brüllten vor Schmerzen, und René wirkte wie ein Pygmäe mitten unter diesen vorsintflutlichen Kolossen, doch andererseits verfügte er als Mensch über die Gabe des Denkens, und die konnte ihm zum Sieg verhelfen.

Er hob den Entersäbel auf, den François ihm vor die Füße geworfen hatte, und als durch die äußerste Anstrengung beider Elefanten ein Stück der Boa zwischen ihnen gestreckt war und keinen von ihnen berührte, erhob René den scharfen Säbel und teilte mit einem Schlag wie ein Homerischer Halbgott oder wie einer der Helden aus Tassos Befreitem Jerusalem das Reptil in zwei Hälften, die sich zwar noch regten, kraftlos jedoch, und bald zu Boden fielen.

Einer der Elefanten ließ sich halb erstickt in die Knie sinken; der andere blieb stehen, wenngleich er schwankte und die Luft mit schrillem und schmerzlichem Keuchen einsog.

René lief zum See, füllte seinen Hut mit Wasser und flößte es dem stehenden Elefanten in kleinen Schlucken ein; der kniende Elefant musste erst zu Atem kommen. Dann rief René die Elefantenführer herbei und eilte zu den jungen Mädchen, die bleich vor Todesangst warteten. Er nahm sie in die Arme und drückte sie an die Brust wie zwei Schwestern. Bei dieser Umarmung berührte Janes Mund Renés Lippen, doch er wendete schnell sein Gesicht ab, und Jane stieß einen tiefen Seufzer aus.


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