70 Die Familie des Verwalters

Seit etwa eineinhalb Stunden hatten die Reisenden bemerkt, dass sie einem halbwegs kenntlichen Weg folgten, der zu einer Niederlassung mit zahlreichen Einwohnern führte. Bei näherer Untersuchung sah man die Spuren von Elefanten, Wasserbüffeln und Pferden. Der Weg endete an einem Fallgatter, das als Tor zu einer Zugbrücke fungierte. Durch die Pfosten des Fallgatters sah man die Umrisse mehrerer Hütten, die ein Gebäude flankierten, welches allem Anschein nach das Herrenhaus dieses Miniaturdorfs war. Den Anlass für den Aufruhr unter der Hundebewohnerschaft der Anlage hatte René gegeben, indem er sein Jagdhorn gezückt und das Signal der Rückkehr von der Fuchsjagd geblasen hatte.

Sir James war zusammengezuckt, denn seit seiner Abreise aus England hatte er kein so keck geblasenes Hornsignal zu hören bekommen.

Die Hunde, die so etwas noch nie gehört hatten, und die Bewohner der Niederlassung, die mit Ausnahme des Patriarchen nicht die geringste Vorstellung von dem Instrument haben konnten, das ihre Nachtruhe störte, was sonst nur dem Gebrüll wilder Tiere vorbehalten war, waren alle miteinander herbeigeeilt, die Hunde aus ihren Winkeln, wo sie sich abends frei bewegen durften, die Menschen aus ihren Hütten, wo sie nach beendetem Tagewerk mit ihren Familien das Abendbrot aßen.

Im Herrenhaus brach Geschäftigkeit aus: Türen wurden aufgerissen, Fensterflügel knarrend geöffnet, und ein Dutzend Diener in allen Hautfarben – Neger, Inder, Chinesen – erschienen mit entzündeten Harzfackeln in der Hand.

Ein Greis ging ihnen voran. Die Fackel in seiner Hand beleuchtete sein Gesicht, und man sah, dass er an die siebzig Jahre zählen musste. Seine langen weißen Haare und der weiße Vollbart hatten zweifellos weder Schere noch Rasiermesser gesehen, seit er nach Indien gekommen war. Große schwarze Augen, die ihr Strahlen nicht verloren hatten, waren von dichten silbrigen Brauen beschattet; die Körperhaltung des Mannes war aufrecht, sein Gang fest; zehn Schritt vor dem Tor blieb er stehen.

»Gegrüßt seien die Fremden«, sagte er, »die sich meiner Gastfreundschaft anempfehlen wollen; doch da wir uns nicht in Frankreich befinden, muss ich Sie bitten, mir zu sagen, wer Sie sind, bevor ich Ihnen die Tür eines Hauses öffnen kann, das mir nicht gehört.«

»Es wäre an meinem Vater, Ihnen zu antworten«, erwiderte Hélène, »doch ihm hat der Tod die Lippen versiegelt, und er kann nicht mehr sagen, was wir nun in seinem Namen sagen. Gottes Segen sei mit dir, Guillaume Remi, und mit deiner Familie!«

»Oh! Dass mir der Himmel dies vergönnt!«, rief der Alte. »An der Stelle meines verstorbenen Herrn die jungen Herrinnen, die ich so sehnlich erwartet habe, die ich noch nie sah und die vor meinem Tod zu sehen ich nicht mehr zu hoffen wagte!«

»Ja, Remi, wir sind es«, sagten beide Schwestern wie aus einem Mund.

Dann sprach Hélène allein weiter: »Öffne schnell, lieber Remi, denn wir sind müde von unserer dreitägigen Reise, und wir bringen Gäste mit uns, die noch ermüdeter wären als wir, hätten sie nicht ihre Tapferkeit und ihre Hingabe aufrechterhalten.«

Der alte Mann lief zum Tor und rief: »Her mit euch, Jules und Bernard! Lasst uns den vornehmen Herrschaften, die zu Besuch kommen, das Tor öffnen!«

Zwei kräftige Burschen von zweiundzwanzig und vierundzwanzig Jahren eilten zum Tor, während der Alte weiterrief: »Adda, sag dem Freitag, er soll die Öfen einheizen, und dem Domingo, er soll dem fettesten Geflügel den Hals umdrehen! Bernard, was hast du am Haken? Jules, was gibt es in der Speisekammer?«

»O Vater, seien Sie unbesorgt«, sagten die Söhne, »wir haben genug Vorräte, um ein ganzes Regiment zu verköstigen, obwohl nicht einmal eine Kompanie zu sehen ist.«

René und Sir James waren vom Pferd gestiegen und halfen Hélène und Jane von ihrem Elefanten herunter.

»Süßes Herz Jesu!«, rief Remi beim Anblick der jungen Mädchen. »So hübsche Kinder! Und wie heißen Sie mit irdischem Namen, meine lieben Engel aus dem Paradies?«

Jane und Hélène nannten beide ihren Namen.

»Mademoiselle Hélène«, sagte der alte Mann, »Sie gleichen Ihrem Herrn Vater, dem Vicomte; und Sie, Mademoiselle Jane, sind Madame, Ihrer Mutter, wie aus dem Gesicht geschnitten. Ach, meine geliebte Herrschaft«, fuhr er fort und schüttelte den Kopf, so dass die Tränen fielen, die an seinen Wimpern gehangen hatten, »nie werde ich sie wiedersehen! Niemals! Nicht auf Erden! Doch das ist nicht alles«, sprach er weiter, »denn so sehr wir sie auch geliebt haben, dürfen wir um der Toten willen die Lebenden nicht vernachlässigen. Wir sind auf Ihre Ankunft vorbereitet worden. Eines Tages sahen wir, was wir noch nie gesehen hatten: den Postbeamten von Pegu mit seinen Glöckchen, der uns einen Brief von Ihrem Vater brachte, meine schönen Kinder! Und in diesem Brief teilte er mir sein und Ihr bevorstehendes Eintreffen mit. In dem Brief war vermerkt, der Überbringer sei mit hundert Francs zu entlohnen, und ich habe ihm zweihundert gegeben, hundert vom Geld Ihres Vaters und hundert aus meiner Tasche, so froh war ich über die Nachricht, die er mir gebracht hatte. Sie finden daher alle Zimmer für Sie vorbereitet; seit fast sechs Monaten werden Sie erwartet. Und solange diese Zimmer nicht gefüllt waren, herrschte in meinem Herzen Leere. Gott sei gepriesen! Sie sind gekommen, und die Leere ist gefüllt.«

Den Hut in der Hand, begab der alte Mann sich an die Spitze des Zugs zu dem großen Herrenhaus, dessen Fenster soeben geöffnet worden waren. Man betrat ein großes Speisezimmer, das von oben bis unten mit Ebenholz und goldfarbenem Akazienholz vertäfelt war und dessen Parkettboden von den Negerinnen des Hauses zierlich geflochtene Matten bedeckten. Der Tisch war mit Tischtüchern und Servietten aus Aloefasern gedeckt. Auf den Tischtüchern mit der Eierschalenfarbe jungfräulichen Leinens funkelte ein Service aus Steingut in leuchtenden Farben aus dem Königreich Siam. Löffel und Gabeln waren aus einem Hartholz geschnitzt, das Metall in nichts nachstand, und englische Messer aus Kalkutta vervollständigten das Besteck.

Die Geduld und Willenskraft, deren es bedurft hatte, diese Dinge an so abgelegenem Ort zu versammeln, grenzte ans Unglaubliche, doch Hingabe und Dankbarkeit sind unerschöpflich in ihrer Findigkeit!

Die übrige Möblierung – Betten, Spiegel, Wandbehänge – war englischer Machart und kam aus Kalkutta. Die Söhne des Alten waren zweimal nach Indien und bis über den Ganges hinaus gereist und hatten mit eigens zu diesem Zweck gemieteten Schiffen in das Herrenhaus all diese Gegenstände gebracht, die nicht allein dem Notwendigen dienten, sondern auch dem Luxus.

Guillaume Remi, der Zimmermann war, hatte jedes seiner Kinder ein Handwerk erlernen lassen. Der eine war Möbeltischler geworden, der andere Schlosser, der dritte Landwirt.

Dieser dritte Sohn, den wir noch nicht kennengelernt haben, hieß Justin, und er befand sich auf Tigerjagd; einer seiner Büffel war von einem Tiger angefallen worden, der beim Fressen gestört worden war, und Justin hatte sich nahe den Resten des Büffels auf die Lauer gelegt. In seiner Eigenschaft als Landwirt und als Jäger war er dafür zuständig, den Haushalt mit Wild zu versorgen, und im Notfall waren alle drei Söhne brauchbare Soldaten, die sich überall auf der Welt als gute Schützen bewiesen hätten.

Seit Remi von dem bevorstehenden Kommen des Vicomte und seiner Töchter erfahren hatte, war der Tisch für sie gedeckt geblieben, damit sie sahen, dass man sie erwartete, zu welcher Tages- oder Nachtzeit sie auch eintreffen mochten, und Gläser und Porzellan wurden jeden Tag entstaubt und poliert.

Adda fiel die Aufgabe zu, die jungen Damen zu ihrem Zimmer zu bringen. Sie kamen aus dem Staunen nicht heraus: Wo sie eine Hütte mit Strohdach oder Lehmdach erwartet hatten, waren sie auf ein Herrenhaus gestoßen, in dem das Notwendige so reichhaltig vorhanden war, dass es fast an Überfluss grenzte.

Die jungen Männer wurden von Jules und Bernard zu ihren Räumen gebracht.

Jules hatte in Kalkutta seine Lehre gemacht und sprach Englisch, und deshalb war er dem englischen Kapitän zugeteilt worden.

Bernard, der neben dem Französischen nur einen Dialekt beherrschte, der auf Sumatra und der Halbinsel Malaysia gesprochen wird, war für René zuständig.

Und damit man uns nicht missverstehe: Die Wendungen »zugeteilt« und »zuständig« bezeichnen keinerlei Tätigkeit, die sich der des Dienstbotenstandes vergleichen ließe, und die Söhne Remis besaßen im Bewusstsein ihres Werts einen ungeschliffenen Stolz, der ihnen die Höflichkeit eines Gastgebers und nicht eines Dieners verlieh. Von Anfang an waren René und Bertrand gute Freunde. Sir James war von hochmütigerem Naturell, und es dauerte einige Zeit, bis er sich mit Jules arrangierte.

Nach einer halben Stunde wurden die Neuankömmlinge zu Tisch gerufen.

Als die Gäste das Speisezimmer betraten, fanden sie nur vier Gedecke vor. Vater, Söhne und Tochter standen an der Wand.

»Adda«, sagte Hélène mit ihrer sanften Stimme, »außer dem Gedeck Ihre Bruders, der auf der Jagd ist, fehlen vier weitere Gedecke.«

Adda sah Hélène erstaunt an. »Mademoiselle«, sagte sie, »ich verstehe Sie nicht.«

»Ein Gedeck für Ihren Vater«, sagte Hélène in beinahe gebieterischem Ton, »zwischen meiner Schwester und mir, eines für Sie zwischen diesen zwei Herren, eines zu meiner Rechten und zur Linken Janes für Ihre zwei anwesenden Brüder und ein fünftes Gedeck für Ihren Bruder, der noch auf der Jagd weilt. Ich wagte sogar zu behaupten, dass Monsieur René mir nicht widerspräche, wenn ich sagte, es würde ihn freuen, seinen Freund Monsieur François mit ihm zu Tisch sitzen zu sehen; François hat heute einen Tiger erlegt und dabei eine Gelassenheit und Selbstverständlichkeit bewiesen wie der geübteste Jäger; wer aber einen Tiger zu erlegen versteht, der hat es meiner Ansicht nach auch verdient, an jedem Tisch Platz zu nehmen, sogar an dem eines Kaisers.«

»Aber Mademoiselle«, wandte der alte Mann ein, indem er vortrat, »warum wollen Sie die Schranken zwischen Dienern und Herrschaft niederreißen? Sie können sie leugnen, doch wir werden sie niemals vergessen.«

»Meine Freunde«, sagte Hélène, »unter uns gibt es weder Diener noch Herren, denn das hat mein Vater mir beharrlich versichert. Wenn wir Sie um Ihre Gastfreundschaft bitten, erheben Sie sich von Ihrem Tisch, Sie empfangen uns, doch ist das Gastfreundschaft? Wir wollen keinen Einfluss auf Ihre Zeiteinteilung oder Ihre Gewohnheiten nehmen, doch wir bitten Sie, uns heute Abend die Ehre zu erweisen, mit uns zu speisen.«

»Wenn Mademoiselle es verlangt«, sagte Remi, »gehorchen wir ihr, Adda.«

Und er schlug auf ein Tamtam, dessen lautes Dröhnen die Diener herbeirief, und vier Neger präsentierten sich.

»Befehlen Sie«, sagte Remi zu Hélène.

Hélène befahl, fünf weitere Gedecke aufzulegen, und zeigte, wo sie aufgelegt werden sollten.

Die zwei Schwestern rückten auseinander, so dass der Greis zwischen ihnen sitzen konnte; seine zwei Söhne setzten sich zu Hélènes rechter und Janes linker Seite. Die beiden Franzosen waren ebenfalls auseinandergerückt, und mit französischer Galanterie bot René Adda einen Stuhl an.

Dann wurde François gerufen, der nach ein wenig Zieren sah, dass ihm keine Wahl blieb, und sich dareinschickte, gegenüber dem Gedeck des abwesenden Jägers Platz zu nehmen.

Erst da beachteten die Besucher Adda; ihre Schönheit war so außergewöhnlich, dass sogar die zwei Französinnen einen leisen Ruf der Bewunderung ausstießen.

Mit ihren großen schwarzen Augen, ihrem leicht bräunlichen Teint, ihren glatten schwarzen Haaren, die an Rabengefieder erinnerten, mit ihren kirschroten Lippen und ihren Zähnen wie Perlen war Adda die Verkörperung einer indischen Venus; ihre Arme und Hände waren vom Ebenmaß einer Statue, und gekleidet war sie in einen Sari aus bengalischer Seide, dessen dünne Falten keine der Beschönigungen europäischer Gewänder erlaubten. Solche Gewänder legen die Bildhauer über den Marmor ihrer Statuen, Gewänder, die alle Liebesgeheimnisse verraten, welche die Keuschheit ihnen anvertraut. Addas Anmut war von jener Art, wie sie nicht nur Frauen, sondern auch wilde Tiere auszeichnet. Sie hatte sowohl etwas vom Schwan als auch von der Gazelle und daneben Feuer und Geist zutiefst französischer Prägung. Sie war das glanzvolle Ergebnis der Kreuzung zweier Rassen.

Niemand wäre auf den Gedanken verfallen, Adda Komplimente zu ihrer Schönheit zu machen. Man bewunderte sie wortlos.

Die vier Negerdiener hatten soeben den ersten Gang abgetragen, als die Hunde wieder laut zu bellen begannen.

Alle blickten erstaunt auf, doch Remi sagte: »Beachten Sie sie nicht, es ist nur Justin, der nach Hause kommt.«

Mit einem Mal schwoll das Geheul der Hunde an. Die Brüder nickten einander zu.

»Hat er den Tiger erlegt?«, fragte René.

»Ja«, erwiderte Remi, »und er bringt sein Fell mit, was die Hunde in Raserei versetzt.«

In diesem Augenblick wurde die Zimmertür geöffnet, und der älteste der drei Brüder, ein schöner junger Mann von herkulischer Gestalt, mit rotblondem Haupthaar und Bart, erschien auf der Schwelle, gekleidet in einen Kittel nach gallischer Art, der ihm bis zu den Knien reichte und gegürtet war, und wie auf einem antiken Bildnis mit dem Kopf des Tigers bekrönt, dessen Tatzen sich über seiner Brust kreuzten.

Diese Erscheinung war so fremdartig und unerwartet, und der Anblick dieses Antlitzes, an dem die Blutstropfen des Tiers hinabrannen, war so gebieterisch, dass alle Anwesenden sich erhoben.

Justin jedoch verneigte sich an der Tür, ging auf Hélène zu, beugte ein Knie und sagte: »Mademoiselle, seien Sie so gnädig, den Fuß auf diesen Teppich zu setzen, den ich Ihrer würdiger wünschte.«


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