74 Tiger und Elefanten

In den Tagen unmittelbar nach der Beisetzung des Vicomte de Sainte-Hermine gebot das Zartgefühl den jungen Leuten, keine neuen Vergnügungen zu ersinnen und den geplanten Jagdausflug nicht zu erwähnen. Dieser Jagdausflug an das Ufer des Sittangs, wo Justin auf Tigerfährten gestoßen war, erforderte umsichtige Vorbereitungen.

Jules, der Möbeltischler, wurde beauftragt, hölzerne »Türme« von einem Meter Höhe zu bauen, die vier bis fünf Personen Platz boten, und Bernard, der Schlosser, war damit beschäftigt, mehrere Piken zu schmieden, wie sie in Bengalen zur Wildschweinjagd benutzt werden.

René hatte es sich angelegen sein lassen, die Freundschaft mit den Elefanten zu vertiefen. Jeden Tag führte er Omar und Ali, wie er die zwei Dickhäuter nannte, eigenhändig aus ihrem Stall.

Im Freien ließ er sich von ihnen hochheben, gebot ihnen, in die Knie zu gehen, kletterte auf ihre Rücken und ließ sich von ihnen mit dem Rüssel absetzen. Beide kamen, wenn er sie mit Namen rief; und zu guter Letzt konnte er sie nach Belieben in Zorn versetzen oder beruhigen, und beide gehorchten ihm jedes Mal aufs Wort.

Acht bis zehn Tage später waren die »Türme« gezimmert und die Piken geschmiedet, doch man wartete noch einige Tage länger.

Schließlich war es Jane, die fragte: »Monsieur René, was ist mit der Tigerjagd?«

René verbeugte sich vor Jane und ihrer Schwester und antwortete: »Meine Damen, Sie befehlen, und ich gehorche.«

Der darauffolgende Sonntag wurde festgesetzt; der Ort, wo die Jagd stattfinden sollte, befand sich in kaum zwei Wegstunden Entfernung; wenn man um sechs Uhr morgens ankommen wollte, musste man lediglich um vier Uhr aufbrechen.

Um vier Uhr morgens am vereinbarten Tag war jedermann zum Aufbruch bereit.

Zuerst wurden die Türme mit massiven Ketten versehen, die mehrmals um Bauch und Rücken der Elefanten geführt wurden. Um die Türme herum hängte man Behältnisse mit Munition und Lebensmitteln sowie Gefäße mit Trinkwasser.

Dann wurden die Waffen inspiziert. Justin und seine Brüder besaßen nur Kommissgewehre mit Bajonett.

René gab Justin seinen Stutzen mit gezogenem Lauf. Er hatte ihn schon mehrmals damit schießen lassen, ohne zu verraten, dass er ihm das Gewehr zum Geschenk machen wollte, und Justin hatte die Treffsicherheit der Waffe begeistert gelobt.

Die Jagdgesellschaft verteilte sich wie folgt: Justin ritt; Sir James, Jules und Hélène bestiegen den Elefanten Omar, Jane, Bernard und René seinen Gefährten Ali. In jedem der Türme kam zusätzlich ein Diener unter, der den Sonnenschirm hielt. Sir James lieh Jules eines seiner zwei Manton-Gewehre, und zwei Lanzen wurden in ihrem Turm aufgestellt.

Jane, René und Bernard nahmen in ihrem Turm Platz und rammten zwei Piken in den Holzboden des Gehäuses. René hatte seine zwei doppelläufigen Pistolen im Gürtel stecken; er wollte Bernard eine geben, doch dieser erwiderte, mit so einer Waffe sei er nicht vertraut.

Die Elefantenlenker setzten sich auf den Kopf der Tiere, so dass die Ohren der Dickhäuter ihnen als Panzer dienten. Statt des Eisenhakens, mit dem sie sonst die Tiere lenkten, bekamen sie eine Pike ausgehändigt, die auch zur Verteidigung einzusetzen war.

Treiber hatte man aus Furcht vor Unfällen nicht hinzuziehen wollen, doch zwölf Bedienstete hatten sich freiwillig gemeldet; angeführt und befehligt wurden sie von François, der als Waffen nur ein Kommissgewehr mit Bajonett und den sagenhaften Entersäbel mit sich führte, mit dem René die Boa in zwei Teile gehauen hatte.

Eine Meute von einem Dutzend Hunden, die auf Tiger abgerichtet waren, folgte den Jägern.

Sir James, der in der Umgebung von Kalkutta bereits mehrmals an solchen Jagden teilgenommen hatte, wurde zum Leiter der Expedition erklärt.

Man legte ungefähr zwei Meilen zurück, ohne etwas zu bemerken. Dann gelangte man zu dem Dschungel, in dem Justin die Fährten entdeckt hatte. Die Hunde winselten unruhig, die Elefanten hoben den Rüssel, und Justins Pferd begann zu tänzeln, machte unerwartete Ausfälle, stellte die Ohren auf und schnupperte. François feuerte seine Männer an, doch diese zögerten, in den Dschungel einzudringen, obwohl er ihnen vorausging.

Daraufhin rief er die Hunde, die ihm brav folgten.

»Vorsicht!«, warnte Sir James. »Der Tiger ist nicht mehr weit!«

Kaum hatte er ausgesprochen, jaulte einer der Hunde erbärmlich.

Und ein tiefes, grollendes Brüllen ertönte.

Wer noch nie das Knurren eines Löwen und das Brüllen eines Tigers vernahm, der kennt zwei der erschreckendsten Geräusche der Natur nicht. Es sind Laute, die nicht allein über den Gehörgang, sondern geradezu durch alle Poren unserer Haut in uns eindringen.

Das Gebrüll wurde von verschiedenen Stellen des Dschungels aus erwidert: Man hatte es mit mehr als einem Tiger zu tun.

Die Gewehre wurden geladen; dann bellten alle Hunde wie verrückt, als könnten sie den Tiger nicht nur riechen, sondern auch sehen.

»Der Tiger kommt!«, rief François.

Fast gleichzeitig sprang mit einem Satz wie ein Blitz ein prachtvoller, voll ausgewachsener Königstiger aus dem Dschungel.

Mit seinem ersten Sprung hatte er eine Entfernung von zwanzig Metern zurückgelegt, doch als scheute er die Berührung des Erdbodens oder als schnellte er wie eine Feder zurück, sobald er den Boden berührte, war er wieder im Wald und in der Deckung verschwunden.

Alle Tiere wirkten eingeschüchtert, nur Justins Pferd zeigte mehr Zorn als Furchtsamkeit. Während des kurzen Erscheinens der Raubkatze blähte es die dampfenden Nüstern und warf ihr einen zornfunkelnden Blick zu. Man hätte meinen können, es hätte sich auf den Tiger gestürzt, hätte sein Reiter es nicht zurückgehalten.

Es ließ sich kaum ein bewundernswerterer Anblick denken als dieser Reiter ohne Steigbügel, ohne Sattel, ohne Decke auf seinem Pferd, das Stimme und Knien seines Herrn noch rascher gehorchte als dem Zügel.

Alle Blicke waren auf Justin geheftet, der barhäuptig, mit halb entblößter Brust und hochgerollten Ärmeln wie ein numidischer Reiter mit einer Hand die Mähne seines Pferdes hielt und mit der anderen seine Pike, als plötzlich unter den Rufen der Treiber, dem Schall von Büffelhörnern und dem Gebell der Hunde ein zweiter Tiger den Wald verließ, nicht mit einem Sprung wie der erste, sondern dicht am Boden schleichend wie auf der Flucht.

Zehn Fuß außerhalb des Dschungels angekommen, sah der Tiger die Elefanten vor sich und duckte sich, um zum Sprung anzusetzen.

Die jungen Mädchen riefen erschrocken: »Ein Tiger! Ein Tiger!« Die Elefanten gingen in Verteidigungsstellung; die Jäger legten an, um zu feuern, doch da sahen sie Justin und sein Pferd wie einen Blitz vorbeisausen.

Zwei Schritte vor dem Tiger, der nicht wusste, wie ihm geschah, stieß Justin einen Schrei aus, spornte sein Pferd an, das mit einem gewaltigen Sprung über die Raubkatze setzte, und mitten im Sprung schleuderte Justin seine Pike mit solcher Wucht, dass sie den Tiger an den Boden nagelte.

Einige Schritte weiter hielt er sein Pferd an, drehte sich um und sagte: »Bitte sehr, Messieurs, jetzt sind Sie an der Reihe. Mir genügt dieser hier.«

Und er reihte sich hinter den Elefanten ein.

Der Tiger brüllte markerschütternd und versuchte sich aufzurichten, doch die Pike hatte nicht nur seinen Körper aufgespießt, sondern sich tief in den Erdboden gebohrt, als wäre sie mit übermenschlicher Kraft geschleudert worden, und ihr hölzerner Schaft durchdrang den Leib des Tigers.

Daraufhin begann das unselige Tier zu toben und sich zu winden, biss in den Schaft der Pike und zerbrach ihn.

Doch dies waren die letzten Zuckungen gewesen; der Tiger stöhnte auf, erbrach Blut und hauchte sein Leben aus, noch immer an den Boden geheftet. Als wäre sein letztes Geheul eine Beschwörung gewesen, ihn zu rächen oder wenigstens seine Gegner zu bekämpfen, erschien der erste Tiger wieder auf sechzig Schritt Entfernung und tat zwei gewaltige Sprünge; er war nun den Jägern so nahe, dass er nur ein drittes Mal losschnellen musste, um einen der Elefanten anzuspringen.

Doch dazu blieb ihm keine Zeit; kaum hatte er seinen zweiten Sprung getan, wurden zwei Schüsse auf einmal abgefeuert.

Der Tiger fiel zur Seite.

Sir James hatte ihn seitlich anvisiert und neben der Schulter getroffen. René hatte frontal auf ihn gezielt und ihm die Stirn zertrümmert.

Der Tiger war mausetot.

Sogleich, als hätte die Detonation der Schüsse sie angelockt, sprangen drei neue Tiger unter grauenvollem Gebrüll aus dem Dschungel; doch als hätten sie begriffen, was geschehen war, und befürchteten, von den Jägern aufs Korn genommen zu werden, wenn sie innehielten, beschrieben sie unablässig Kreise im Gras, um den Gegner, mit dem sie sich messen mussten, auszukundschaften und einzuschätzen.

Die Jäger waren viel zu erfahren, um zu schießen, wo keine Aussicht auf Erfolg bestand. Sie warteten, bis die Tiger mit ihren Kapriolen fertig waren.

Nach einigen Sekunden sprang eine der Bestien Renés Elefanten von der Seite an, damit der Elefant sie nicht mit dem Vorderfuß treffen konnte.

René blieb genug Zeit, mit einer seiner Pistolen zu zielen und zu feuern, doch er traf den Tiger nur am Schenkel, und dieser Streifschuss fachte den Ingrimm des Raubtiers noch mehr an. Mit funkelnden Augen und geiferndem Maul krallte es seine Pranken in die Seite des Elefanten und versuchte, an ihm hinaufzuklettern, doch der Koloss schüttelte es einfach ab. Das ermöglichte René, einen zweiten Schuss auf den Tiger abzugeben, der ihn diesmal am Hals traf. Der Elefant ging auf den Tiger zu, schützte seinen Rüssel vor dessen Tatzen, indem er ihn hochhielt, und versuchte, ihn mit seinen riesigen Füßen zu zertreten, doch der Tiger entkam dieser Gefahr, indem er sich am Geschirr des Elefanten festzukrallen versuchte. Bernard auf der anderen Seite des Turms hielt vergeblich Ausschau nach dem Tiger, und Jane, die sich um René mehr Sorgen machte als um die eigene Sicherheit, beugte sich weit aus dem Turm hinaus. Glücklicherweise stieß der Elefantenlenker dem Tiger seine Pike in die Brust, um sein Bein aus den Krallen des für die Jäger unsichtbaren Tiers zu befreien. Der Tiger ließ das Bein los und stürzte zu Boden. Kaum lag er dort, stellte der Elefant ihm einen Vorderfuß auf den Kopf und trat zu.

Doch nun befanden sich Sir James, Hélène und Jules in noch größerer Gefahr, denn während ein Tiger ihren Elefanten von vorne angriff, war ein zweiter von hinten auf den Rücken ihres Trägers gesprungen und hielt sich fest. Doch er hatte die Rechnung ohne René gemacht, dem er seine linke Seite ungeschützt darbot, und René legte an, drückte ab und schoss ihm eine Kugel ins Herz.

Zuerst bäumte der Tiger sich auf dem Elefantenrücken auf, dann verbiss er sich in seine eigene Wunde und fiel hinunter.

Der Kopf des ersten Tigers war nur noch wenige Fuß von Hélène entfernt, als Sir James die beiden Läufe seines Gewehrs gegen das Tier hielt und sie abfeuerte. Kugeln, Pulver und Feuer fraßen sich in den Körper des Tigers, der tödlich getroffen zu Boden fiel.

Die Jagdgesellschaft konnte aufatmen.

Fünf Tiger waren erlegt.

François kam mit seinen Treibern und den Hunden aus dem Dschungel zurück; zwei Männer fehlten: Dem einen hatte einer der Tiger den Kopf zerschmettert, dem anderen war von einer der Bestien die Brust aufgerissen worden, als sie ihnen im Wald in die Quere gekommen waren. Der Tod hatte die beiden so schnell ereilt, dass sie nicht einmal aufschreien konnten, oder ihr Todesschrei war in dem Getümmel aus Elefantentrompeten, Hundegebell und Rufen der anderen Treiber untergegangen.

Als die Treiber jedoch die fünf Tiger erblickten, die auf dem Boden lagen, dachten sie nicht länger an ihre toten Freunde. Die Bengalen und Birmanen sind so besessene Tigerjäger, dass in ihren Augen zwei getötete Menschen kein zu hoher Preis für fünf tote Tiger sind.

Die Elefanten waren beide verletzt, doch nicht schwerwiegend.

Auf ihrem kleinen birmanischen Pferd, das dem Pferd ihres Bruders Justin glich, kam Adda der Karawane entgegengeritten und preschte dann im Galopp zum Herrenhaus zurück, um zu melden, dass die vier Besucher und ihre Brüder unversehrt und wohlbehalten waren.

Die Elefanten Omar und Ali hatten sich erneut um die Schwestern verdient gemacht. Hélène äußerte deshalb den Wunsch, sie zu erwerben, denn sie wollte die intelligenten Tiere zum Schutz und zur Verteidigung des Hauses einsetzen. René erklärte den Schwestern, sie könnten die Elefanten auf der Stelle als ihr Eigentum betrachten; er versprach ihnen, über den Shabundar als Mittelsmann alles Erforderliche mit dem Besitzer der Elefanten zu regeln.

Am Abend litt Jane unter Fieber, was die anderen den Strapazen dieses Tages zuschrieben. Ihre Schwester blieb bei ihr.

René und Sir James plauderten miteinander.

Adda, von ihnen gebeten, sich nach Janes Befinden zu erkundigen, berichtete, sie habe Schluchzen vernommen, als sie sich dem Zimmer näherte, und sei aus Furcht, indiskret zu sein, nicht weitergegangen.

Sir James, dem nicht verborgen blieb, wie groß Renés Anteilnahme an Janes Kummer war – Adda hatte nur Janes weinende Stimme gehört -, versprach René, gleich als Erstes am nächsten Tag für ihn in Erfahrung zu bringen, was diesen Kummer ausgelöst hatte.

In diesem heißen Erdteil sind die Nächte von köstlicher Kühle. Die beiden jungen Männer ergingen sich bis um ein Uhr auf der Veranda; durch die Musselinvorhänge sahen sie wie einen Stern im Nebel das zitternde Licht der Kerze in Janes Zimmer.

So wie René sich fast alle Bereiche der Naturwissenschaften angeeignet hatte, hatte er auch alle Gelegenheiten genutzt, die sich boten, sich auf den Gebieten der Chirurgie und der Heilkunde kundig zu machen. Dies war seinen Reisegefährten nicht verborgen geblieben, und deshalb war René bekümmert, aber nicht erstaunt, als Sir James ihn am nächsten Morgen in Hélènes Auftrag bat, Jane aufzusuchen, deren Leiden sich von Stunde zu Stunde verschlimmerte.

Angesichts des vertrauten Umgangs, der zwischen René und den Schwestern herrschte, wäre es lächerlich gewesen, dieser Bitte nicht nachzukommen.

Offenbar hatte Jane ausdrücklich verlangt, allein mit René zu sprechen, denn als dieser Hélène zu ihrer Schwester begleiten wollte, erwiderte Hélène, sie glaube, dass ihre Anwesenheit bei einem so vertraulichen Gespräch störe.

René ging allein die Treppe hinauf; er klopfte leise an die Tür, und eine bebende Stimme antwortete: »Treten Sie ein.«


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