76 Der Aufschub

Als René sah, dass Jane ohnmächtig wurde, war seine erste Regung die, einen Flakon mit Riechsalz aus der Tasche zu holen, um ihn ihr unter die Nase zu halten; dann erwog er jedoch, dass er sie nur wieder dem Schmerz aussetzte, wenn er sie ins Leben zurückholte, und dass er besser daran tue, auf die Natur zu vertrauen, die Jane helfen würde, während des Betäubungsschlafs ihrer Sinne die Kraft wiederzuerlangen, deren sie beim Erwachen bedurfte, so wie der Tag seine Kraft aus dem Dunkel der Nacht und den Tränen des Morgens schöpft.

Wahrhaftig kündete schon bald ein leiser Seufzer an, dass Jane im Begriff war, das Bewusstsein wiederzuerlangen, und René, an dem sie lehnte, konnte zählen, wie viele Herzschläge zwischen Tod und Leben liegen. Zuletzt schlug sie die Augen auf und flüsterte, noch ohne zu wissen, wo sie sich befand: »Oh, ist mir wohl!«

René schwieg; es war noch zu früh, die ersten, schwachen Lichtstrahlen der Rückkehr Janes in das Bewusstsein mit dem kalten, harten Tageslicht der Wirklichkeit zu vertreiben; stattdessen verlängerte er wie durch Hypnose den undefinierbaren Zustand, der weder Tod noch Leben ist und in dem die Seele gewissermaßen über dem Körper schwebt.

Dann kehrten Janes Gedanken einer nach dem anderen zurück und mit ihnen das Wissen um ihre Situation. Ihre Verzweiflung war kummervoll und sanft wie die jener, die unverschuldet ein Unglück trifft, und wandelte sich bald in Resignation. Tränen entquollen ihren Augen, doch ohne Heftigkeit und ohne Schluchzen, wie im Frühjahr der Lebenssaft aus einem jungen Baum rinnt, dem die Axt versehentlich eine Wunde zugefügt hat. Als sie die Augen öffnete und den jungen Mann neben sich sah, sagte sie: »Ach, René, Sie sind bei mir geblieben, das ist gütig von Ihnen; aber Sie haben recht, so kann es nicht länger weitergehen, um Ihretwillen wie um meinetwillen. Bleiben Sie noch einen Augenblick, lassen Sie mich Kraft aus Ihrer Nähe und aus Ihrer Berührung schöpfen, und Sie werden sehen, dass ich alles tun werde, was Vernunft und Willen im Verein zu tun vermögen. Was Ihr Geheimnis betrifft, müssen Sie nichts befürchten, es ist in meinem Herzen so tief begraben, wie es die Toten in ihren Gräbern sind, und glauben Sie mir, René, dass ich trotz meines Schmerzes, trotz allen Leides, das ich erlitten habe und noch erleiden werde, niemals wünschen könnte, Ihnen nicht begegnet zu sein. Wenn ich meine gegenwärtigen Kümmernisse mit dem Leben vergleiche, das ich führte, bevor ich Sie sah, und das ich führen werde, wenn ich Sie nicht mehr sehe, ist mir mein gegenwärtiges Leben mit allem Leid, das es mit sich bringt, tausendmal teurer als das farblose Leben von früher oder das ziellose Leben künftiger Zeiten. Ich werde jetzt allein mit der Erinnerung an Sie in meinem Zimmer bleiben. Gehen Sie hinunter; sagen Sie den anderen, dass ich nicht kommen werde, sagen Sie, es sei nichts Ernstes, ich sei nur unwohl, müde, weiter nichts, sagen Sie, Sie hätten mir geraten, im Bett zu bleiben; schicken Sie mir Blumen herauf, kommen Sie mich besuchen, wenn Sie die Zeit erübrigen können, ich werde Ihnen für alles dankbar sein, was Sie für mich tun können.«

»Soll ich Ihnen gehorchen«, sagte René, »oder soll ich trotz Ihrer Bitte bleiben, bis Sie wieder bei Kräften sind?«

»Nein, gehorchen Sie; erst wenn ich sagen werde: ›Gehen Sie nicht‹, wird es an der Zeit sein, nicht auf mich zu hören.«

René erhob sich, küsste seiner Cousine mit ungeheuchelter Zärtlichkeit die Hand, blieb einen Augenblick lang stehen und sah sie traurig an, dann ging er zur Tür, verharrte abermals, um sie anzusehen, und ging hinaus.

Einzig Hélène war aufgefallen, wie ernst die Erkrankung ihrer Schwester zu sein schien, die sie weder Erschöpfung noch überstandenen Gefahren zuschrieb, sondern der wahren Ursache, die sie zu erahnen begann.

Hélène war von sanftmütigem und bezauberndem Wesen, doch eher kühl als feurig, und ihre Verbindung mit Sir James war keine Liebesheirat. Sie hatte Sir James in der vornehmen Welt kennengelernt und in ihm den dreifachen Adel von Geist, Geburt und Herzen gefunden; Sir James hatte ihr gefallen, doch ihre Liebe zu ihm war nicht so ausschließlicher Natur, dass Glück oder Unglück ihres Lebens von ihrer Vereinigung abhingen. Er seinerseits hegte ähnlich temperierte Gefühle für seine Braut; er war zum vereinbarten Zeitpunkt aus Kalkutta gekommen, doch eher wie ein Ehrenmann, der sein Wort hält, als wie ein Liebender, der sich nach der Geliebten verzehrt. Eine Weltreise hätte er ebenso pünktlich absolviert wie die Reise von vier-, fünfhundert Meilen von Kalkutta zum Land des Betels; doch hätte er nach vollbrachter Weltreise keine Hélène vorgefunden, hätte ihn das zwar verwundert, da in seinen Augen jede Frau aus gutem Hause ebenso unverbrüchlich ihr Wort hält wie ein Gentleman, aber es hätte ihn nicht in Verzweiflung gestürzt. Diese zwei Herzen waren füreinander geschaffen; diese zwei Menschen waren für ein ungetrübtes Eheglück geschaffen.

Mit Jane verhielt es sich anders. Jane mit ihrer reichen Phantasie, ihrem Hitzkopf, ihrem feurigen Herzen musste lieben und wiedergeliebt werden; auf den Augenschein gab sie nichts; die schlichte Seemannskleidung Renés hatte ihr kein Kopfzerbrechen bereitet; sie hatte keine Überlegungen angestellt, ob er reich oder arm, Edelmann oder Bürgersmann sei; wie ein rettender Engel war er vor ihr erschienen, als sie sich verzweifelt gegen die Umarmung und Küsse eines Piraten wehrte; sie hatte gesehen, wie er sich ins Meer stürzte, um einen einfachen Matrosen, den seine Kameraden im Stich gelassen hatten, vor dem Rachen eines Hais zu retten, und sie hatte gesehen, wie er dieses Ungeheuer, das alle Seeleute mit Schrecken erfüllt, attackiert und überwältigt hatte; sie hatte erlebt, dass er um ihretwillen und um ihrer Schwester willen eine Reise von fünfzehnhundert Meilen unternommen hatte, in deren Verlauf er gegen malaiische Piraten, gegen Tiger, gegen Riesenschlangen und gegen Räuber gekämpft hatte, und sie hatte gesehen, dass er in seiner Güte das Gold verschenkte wie ein Nabob. Genügte das nicht? Obendrein war er jung, schön, distinguiert. Sie hatte sofort gewusst, dass die Vorsehung und nicht der Zufall sie zusammengebracht hatte, und sie hatte sich in ihn verliebt, wie ein Mensch ihrer Gemütsverfassung zum ersten Mal liebt, mit allen Fibern ihres Herzens. Und nun musste sie die Hoffnung aufgeben, dass ihre Liebe Erwiderung fand, diese Hoffnung, die sie vom ersten Tag ihrer Bekanntschaft bis zu jenem Augenblick gehegt hatte, der ihr Renés Herz und ihr eigenes Herz ganz und gar enthüllte. Was sollte sie nun anfangen, viertausend Meilen von Frankreich entfernt in einer Einöde, in der Renés Abreise sie doppelt einsam zurücklassen würde? Wie glücklich war doch ihre Schwester! Sie liebte und wurde geliebt.

Eine Liebe wie die Sir James Asplays hätte ihrer Liebe niemals genügt. Warum muss es so leidenschaftliche Herzen geben, wenn ihnen kein besseres Los beschieden ist, als in der Einsamkeit zu leben und in der Kälte eines Lebens ohne Sonne zu vergehen?

Eine Frau, die nie schön war, war nie jung, aber eine Frau, die nie geliebt wurde, hat nicht gelebt.

In ihrer Verzweiflung biss Jane in ihre tränennassen Batisttaschentücher, an deren Rand sie sich eines fernen Tages die ineinander verschlungenen Initialen ihres und Renés Namens erträumt hatte.

So verging der Tag.

Janes Unwohlsein diente ihr als Vorwand, die anderen nicht sehen zu müssen, doch Hélène, die ihren wahren Zustand zu erraten begonnen hatte, ließ, was ungewöhnlich genug war, Jane fragen, ob sie sie empfangen wolle.

Jane ließ ihr ausrichten, es sei ihr recht, und kurz darauf hörte sie im Flur die Schritte ihrer Schwester.

Sie unterdrückte ihre Tränen und versuchte zu lächeln, doch sobald sie die geliebte Schwester erblickte, vor der sie noch nie Geheimnisse gehabt hatte, brach sie in Schluchzen aus, breitete die Arme aus und rief: »O Schwester, ich bin so unglücklich! Er liebt mich nicht, und er wird uns verlassen!«

Hélène schloss die Tür, schob den Riegel vor und eilte zu Jane, die sie umarmte.

»Oh!«, rief Hélène. »Warum hast du mir nichts von dieser Liebe erzählt, solange noch Zeit war, sie zu unterdrücken?«

»Ach!«, sagte Jane. »Ich habe ihn vom ersten Augenblick an geliebt.«

»Und ich in meiner Selbstsucht«, sagte Hélène, »war nur mit meinen eigenen Gefühlen beschäftigt, statt auf dich Acht zu geben, wie es meine Pflicht als ältere Schwester und zweite Mutter gewesen wäre! Und wie blind war ich, auf den Anstand dieses Mannes zu vertrauen!«

»O nein, Hélène, ihm darfst du keinen Vorwurf machen«, rief Jane, »der Himmel ist unser Zeuge, dass er nichts getan hat, um meine Liebe zu wecken, und dass ich mich in ihn verliebt habe, weil er für mich der schönste, der ritterlichste und der tapferste Mann der Welt ist!«

»Und er hat gesagt, dass er dich nicht liebt?«, fragte Hélène ungläubig.

»O nein, o nein! Er weiß, wie sehr mich das verletzen würde.«

»Er ist also verheiratet?«

Jane schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie.

»Ist es eine Frage seines Ehrgefühls?«, fragte Hélène. »Hält er dich für zu vornehm und zu reich, um dich zur Frau eines einfachen Korsarenoffiziers zu machen?«

»Er ist vornehmer und reicher als wir, liebe Schwester!«

»Dann steckt hinter dieser Geschichte ein Geheimnis?«, fragte Hélène.

»Mehr als das, ein Bündel von Geheimnissen!«, erwiderte Jane.

»Die du mir nicht verraten darfst?«

»Ich habe es gelobt.«

»Armes Kind, sag mir nun, was ich für dich tun kann.«

»Sorge dafür, dass er so lange wie möglich bei uns bleibt; jeder weitere Tag, den er hierbleibt, ist ein Tag Leben, den ich gewonnen habe.«

»Und du willst ihn sehen, bis er abreist?«

»Sooft ich kann.«

»Bist du deiner denn so sicher?«

»Nein, aber ich bin seiner sicher!«

Das Fenster stand offen, und Hélène trat hin, um es zu schließen. Im Hof sah sie Sir James, der mit einigen staubbedeckten Männern sprach, die offenbar eine lange Reise hinter sich hatten; sie unterhielten sich lebhaft und wirkten fröhlich.

Sir James bemerkte Hélène am Fenster und rief: »Ah, meine Teure, kommen Sie, kommen Sie, ich habe eine gute Nachricht für Sie!«

»Geh schnell, Hélène«, sagte Jane, »und komme bald wieder, damit du mir die gute Nachricht erzählen kannst. – Ach!«, murmelte sie, »für mich gibt es keine gute Nachricht, und niemand wird mich je rufen, um mir etwas Freudiges mitzuteilen.«

Fünf Minuten später kam Hélène zurück. Jane hob den Blick und lächelte sie traurig an. »Liebe Schwester«, sagte sie, »ich habe mich darauf besonnen, dass mein Leben doch nicht ohne Glück ist, denn mein Glück ist die Anteilnahme an deinem Glück. Komm, setz dich zu mir, und erzähl mir, was dir Schönes widerfahren ist.«

»Du hast sicherlich erraten«, sagte Hélène, »warum wir die Priester weiterziehen ließen, die für unseren Vater die Totenmesse gehalten haben, ohne dass wir unsere Ehe von ihnen hätten segnen lassen, nicht wahr?«

»Ja«, erwiderte Jane, »es wäre euch pietätlos erschienen, von denselben Stimmen die Totenmesse und die Hochzeitsmesse sprechen zu lassen.«

»Ja. Und nun entschädigt Gott uns: Ein italienischer Priester mit Namen Pater Luigi, der in Rangun wohnt, macht alle paar Jahre eine Rundreise durch das Land, um fromme Taten zu vollbringen; und von den Leuten im Hof, die gerade aus Pegu kommen und sich als Tagelöhner verdingen wollen, hat Sir James erfahren, dass Pater Luigi in wenigen Tagen hier sein wird. Ach, liebe Jane, was für ein schöner Tag wäre es gewesen, wenn er vier Menschen gleichzeitig hätte glücklich machen können!«


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