23

Der Mond ging auf. Marius funkelte den Zenturio finster an.

»Meine Befehle waren eindeutig. Warum hast du sie nicht befolgt?«

»Ich dachte, es läge ein Fehler vor, Legat.« Der Mann kam ein wenig ins Stammeln. Sein Gesicht war fahl. Er kannte die Konsequenzen. Soldaten sandten keine Boten aus, um Befehle in Frage zu stellen. Sie führten sie aus. Aber das, was von ihm verlangt worden war, war Wahnsinn.

»Du bist angewiesen worden, dir eine Taktik gegen eine römische Legion zu überlegen. Insbesondere, Mittel und Wege zu finden, ihre Mobilität außerhalb der Tore zu neutralisieren. Was hast du daran nicht verstanden?«, knurrte Marius grimmig, und der Mann wurde noch blasser, während er seinen Rang und damit seine Pension dahingehen sah.

»Ich ... Niemand rechnet damit, dass Sulla Rom angreift. Noch nie hat jemand die Stadt angegriffen -«

Marius fiel ihm ins Wort. »Du bist degradiert. Schick mir Octavius, deinen Stellvertreter.«

Etwas zerbrach in dem Mann. Er war über vierzig Jahre alt und würde nie wieder befördert werden.

»Wenn sie wirklich kommen, Herr, möchte ich in der ersten Reihe stehen, um sie aufzuhalten.« »Um deinen Fehler gutzumachen?«, fragte Marius.

Der Mann nickte matt.

»Es sei dir gewährt. Dein Gesicht wird das erste sein, das sie zu sehen bekommen. Und sie werden kommen. Nicht als Lämmer, sondern als Wölfe.«

Marius blickte dem gebrochenen Mann nach, der steif davonwankte, und schüttelte den Kopf. So viele wollten einfach nicht glauben, dass Sulla ihre geliebte Stadt angreifen würde. Für Marius war es längst Gewissheit. Die täglich eintreffenden Nachrichten besagten, dass es Sulla gelungen war, den aufständischen Armeen unter Mithridates das Rückgrat zu brechen und dabei ein Gutteil von Griechenland in Schutt und Asche zu legen. Kaum ein Jahr war vergangen, und er würde als Held und Eroberer zurückkehren. Das Volk würde ihm alles gewähren. In einer derartig gestärkten Position würde er seine Legion keinesfalls im Feld oder in einer benachbarten Stadt lassen und mit seinen Kumpanen in aller Stille in den Senat zurückkehren. Das war das Risiko, das Marius eingegangen war. Obwohl es sonst nichts Bewundernswertes an diesem Mann gab, musste er zugeben, dass Sulla ein hervorragender Feldherr war, und Marius hatte die ganze Zeit über gewusst, dass er sehr wohl gewinnen und als Sieger zurückkehren konnte.

»Die Stadt gehört mir«, murmelte er dumpf und ließ den Blick über die Soldaten schweifen, die Brustwehren für Bogenschützen auf den gewaltigen Toren bauten. Er fragte sich, wo sich sein Neffe herumtreiben mochte und bemerkte geistesabwesend, dass er ihn in den letzten Wochen kaum zu Gesicht bekommen hatte. Müde rieb er sich den Nasenrücken. Er wusste, dass er sich zu wenig Ruhe gönnte.

Seit einem Jahr hatte er ständig zu wenig Schlaf bekommen, hatte seine Versorgungslinien aufgebaut, seine Männer bewaffnet und für die Belagerung Roms vorgesorgt. Rom war als Stadtfestung neu erschaffen worden, es gab keinerlei Schwachpunkte mehr an den Mauern. Die Stadt würde standhalten, das wusste er. Sulla würde sich an den Toren aufreiben.

Seine Zenturios waren handverlesen, und der Verlust dieses einen heute Morgen war durchaus ärgerlich. Jeder Mann war aufgrund seiner Flexibilität befördert worden, seiner Fähigkeit, auf neue Situationen zu reagieren, bereit für die Zeit, in der die größte Stadt der Welt ihren eigenen Kindern im Kampf gegenübertrat - sie vernichtete.

Gaius war betrunken. Er stand mit einem vollen Weinbecher am Rand eines Balkons und versuchte, klar aus den Augen zu sehen. Unten im Garten plätscherte ein Brunnen. Mit verschwommenem Blick beschloss er, hinunterzugehen und den Kopf ins Wasser zu stecken. Die Nacht war warm genug.

Drinnen umfing ihn der Lärm des Gelages als tosendes Durcheinander aus Musik, Gelächter und trunkenen Rufen. Es war bereits nach Mitternacht, keiner war mehr nüchtern. Die flackernden Öllampen an den Wänden warfen ein sanftes Licht auf die Zecher.

Eine Frau streifte Gaius und legte ihm kichernd einen Arm um die Schultern, sodass er etwas von dem Rotwein auf den hellen Marmorboden verschüttete. Ihre Brüste waren unverhüllt, und sie zog seine freie Hand auf sie, während sie ihre Lippen auf seinen Mund presste.

Er löste sich von ihr und schnappte nach Luft. Sie nahm ihm den Wein aus der Hand und leerte den Becher mit einem Zug. Dann warf sie ihn über die Schulter, langte nach unten in die Falten seiner Toga und liebkoste ihn mit erotischer Fingerfertigkeit. Er küsste sie wieder und wankte unter ihrem betrunkenen Gewicht zurück, bis sein Rücken an einer Säule unweit des Balkons Halt fand. Er spürte den kalten Stein durch den Stoff.

Die Menge nahm keine Notiz von ihnen. Viele waren nur noch halb bekleidet, und in dem in der Mitte des Raumes eingelassenen Wasserbecken aalten sich nasse Pärchen. Der Gastgeber hatte für etliche Sklavenmädchen gesorgt, doch die Ausschweifungen hatten sich mit zunehmender Trunkenheit ausgeweitet, und zu dieser fortgeschrittenen Stunde nahmen die letzten hundert Gäste so ziemlich alles, was sie bekommen konnten.

Gaius stöhnte, als die Fremde ihren Mund über ihm öffnete, und winkte einem vorübereilenden Sklaven, damit er ihm noch einen Becher Wein brachte. Er ließ ein paar Tropfen auf seine nackte Brust fallen und sah zu, wie die Flüssigkeit bis zu ihrem emsig arbeitenden Mund hinunterrann, wo er ihn geistesabwesend mit den Fingern in ihre weichen Lippen rieb.

Die Musik und das Lachen rings um ihn herum wurden immer lauter. Die Luft war heiß und feucht vom aufsteigenden Dampf der Wasserbecken und dem Licht der Lampen. Er trank den Wein aus und warf den Becher über den Balkon hinunter in die Dunkelheit. Er hörte ihn nicht im Garten aufprallen. Sein fünftes Gelage in zwei Wochen. Eigentlich hatte er gedacht, er wäre zu müde, um schon wieder auszugehen, aber Diracius war bekannt dafür, dass es bei ihm immer besonders wild zuging. Die anderen vier waren erschöpfend gewesen, und ihm war klar, dass dieses hier sein Ende sein könnte. Sein Verstand schien ein wenig entrückt, wie ein Beobachter der sich windenden Knäuel rings um ihn herum. Eigentlich hatte Diracius Recht gehabt, als er sagte, die Feste würden ihm helfen, zu vergessen, aber selbst nach so vielen Monaten war ihm jeder Augenblick mit Alexandria noch so gegenwärtig, dass er ihn jederzeit heraufbeschwören konnte. Was er verloren hatte, war seine Fähigkeit zu staunen und sich an etwas zu erfreuen.

Er schloss die Augen und hoffte, seine Beine würden ihm nicht vorzeitig den Dienst versagen. Mithridates lag auf den Knien und spuckte Blut über seinen Bart auf den Boden. Er hielt den Kopf geneigt. Er war ein Stier von einem Mann und hatte in der Schlacht am Morgen viele Soldaten getötet. Sogar jetzt noch, da seine Arme gefesselt und ihm seine Waffen genommen waren, hielten die römischen Legionäre respektvollen Abstand. Er lachte immer wieder auf, doch das Lachen klang bitter. Im weiten Umkreis lagen Hunderte von Männern, die seine Freunde und Anhänger gewesen waren, der Geruch nach Blut und offenen Eingeweiden hing in der Luft.

Seine Frau und seine Töchter waren aus seinem Zelt gerissen und von kaltäugigen Soldaten abgeschlachtet worden. Seine Generäle waren gepfählt worden, ihre leblosen Körper wurden von mannshohen Spießen aufrecht gehalten. Es war ein trostloser Tag, an dem er alles so enden sah. Seine Gedanken eilten durch all die Monate zurück, kosteten noch einmal die Freuden der Rebellion, den Stolz, als starke Griechen aus allen Städten unter sein Banner geströmt kamen, angesichts eines gemeinsamen Feindes wieder vereint. Eine Zeit lang schien alles möglich, doch jetzt schmeckte er nur noch Asche im Mund. Er erinnerte sich an die erste gefallene Festung, an die Ungläubigkeit und die Scham in den Augen des römischen Präfekten, der mit ansehen musste, wie sie niederbrannte.

»Sieh dir die Flammen an«, hatte ihm Mithridates zugeflüstert. »So wird es Rom ergehen.« Der Römer hatte etwas antworten wollen, aber Mithridates hatte ihn mit einem raschen Schnitt durch die Kehle und unter dem Jubel seiner Männer zum Schweigen gebracht.

Jetzt war er als Letzter der Freunde übrig, die gewagt hatten, das Joch der römischen Regentschaft abzuwerfen.

»Ich bin frei gewesen«, murmelte er durch das Blut, doch die Worte munterten ihn nicht mehr auf, so wie sie es ehedem getan hatten.

Trompeten erschallten, und Pferde kamen durch eine frei gemachte Gasse zu der Stelle galoppiert, wo Mithridates wartend auf den Fersen hockte. Er hob den zottigen Kopf, das lange Haar fiel ihm über die Augen. Die Legionäre neben ihm nahmen schweigend Haltung an. Da wusste er, wer es sein musste. Ein Auge war mit Blut verklebt, aber durch das andere sah er eine goldene Gestalt von einem Hengst steigen und die Zügel einem anderen Mann übergeben. Die makellose weiße Toga wirkte unpassend auf diesem Feld des Todes. Wie war es möglich, dass irgendetwas auf der Welt vom Elend eines derartig grauen Nachmittags unberührt blieb?

Sklaven streuten Binsen auf den Schlamm, bildeten einen Weg zu dem knienden König. Mithridates reckte den Rücken. Sie sollten ihn nicht gebrochen und als Bittsteller sehen, nicht jetzt, da seine Töchter nicht weit von hier in friedlicher Stille lagen.

Cornelius Sulla schritt auf den Mann zu und musterte ihn interessiert. Als hätte er es mit den Göttern so abgesprochen, wählte die Sonne diesen Augenblick, um hinter den Wolken hervorzukommen, und sein dunkelblondes Haar schimmerte, als er einen glänzenden, silbernen Gladius aus einer einfachen Scheide zog.

»Ihr habt mir sehr viel Unannehmlichkeiten bereitet, Hoheit«, sagte Sulla ruhig.

Bei seinen Worten sah ihn Mithridates scheel an.

»Ich habe mich redlich bemüht«, erwiderte er grimmig und hielt dem Blick des Mannes mit seinem gesunden Auge stand.

»Aber jetzt ist es vorbei. Deine Armee ist zerschlagen. Die Rebellion ist beendet.«

Mithridates zuckte die Achseln. Was nützte es, das Offensichtliche zu bestätigen?

»Ich habe nichts mit der Ermordung deiner Frau und deiner Töchter zu tun«, fuhr Sulla fort. »Die Soldaten, die daran teilgenommen haben, sind auf meinen Befehl hingerichtet worden. Ich führe keinen Krieg gegen Frauen und Kinder, und es tut mir Leid, dass sie dir entrissen wurden.« Mithridates schüttelte den Kopf, als wolle er die Worte und die plötzlich aufblitzenden Erinnerungsbilder verscheuchen. Er hatte seine geliebte Livia seinen Namen schreien hören, doch er war von mit Keulen bewaffneten Legionären umgeben gewesen, die ihn lebendig gefangen nehmen sollten. Er hatte seinen Dolch in der Kehle eines Mannes verloren, und sein Schwert steckte in den Rippen eines anderen fest. Mit ihren Schreien in seinen Ohren hatte er sogar einem Mann, der sich auf ihn stürzen wollte, den Hals umgedreht, aber als er sich bückte, um ein Schwert vom Boden aufzuheben, hatten ihn die anderen bewusstlos geknüppelt, und als er aufwachte, war er zerschunden und gefesselt gewesen.

Er starrte Sulla an, suchte nach Anzeichen von Spott. Stattdessen fand er nichts als Aufrichtigkeit. Er glaubte diesem Mann und wich seinem Blick nicht aus. Erwartete dieser Römer, dass Mithridates, der König, lachte und sagte, alles sei vergeben? Die Soldaten waren Soldaten Roms gewesen, und diese goldene Gestalt war ihr Herr und Meister. War der Jäger nicht für seine Hunde verantwortlich?

»Hier ist mein Schwert«, sagte Sulla und hielt ihm die Waffe hin. »Schwöre bei den Göttern, dass du dich Zeit deines Lebens nicht mehr gegen Rom erheben wirst, und ich lasse dir dein Leben.« Mithridates blickte auf den silbernen Gladius und versuchte, sich die Überraschung nicht anmerken zu lassen. Er hatte sich darauf eingestellt, sterben zu müssen. Jetzt so unvermittelt noch einmal das Leben angeboten zu bekommen, war, als risse man Schorf von versteckten Wunden. Es war Zeit, seine Frau zu begraben.

»Warum?«, grunzte er durch das trocknende Blut.

»Weil ich glaube, dass du ein Mann bist, der sein Wort hält. Heute hat es schon genug Tote gegeben.«

Mithridates nickte schweigend, und Sulla reichte mit der unbefleckten Klinge um ihn herum, um die Fesseln zu durchschneiden. Der König spürte, wie die Soldaten sich anspannten, als sie sahen, wie ihr Feind wieder befreit wurde, doch er ignorierte sie, streckte die Hand aus und ergriff die Klinge mit seiner vernarbten rechten Handfläche. Das Metall lag kalt auf seiner Haut.

»Ich schwöre es.«

»Du hast Söhne. Was ist mit ihnen?«

Mithridates sah den römischen Legaten an. Er wunderte sich, wie viel er wusste. Seine Söhne waren im Osten, sammelten Unterstützung für ihren Vater. Sie würden mit Männern, Ausrüstung und einem neuen Anlass zur Rache zurückkehren.

»Sie sind nicht hier. Ich kann nicht für meine Söhne antworten.«

Sulla hielt die Klinge ganz ruhig im Griff des Mannes.

»Nein. Aber du kannst sie warnen. Wenn sie zurückkehren und Griechenland gegen Rom aufwiegeln, werde ich Kummer und Leid über das Land bringen, wie es noch nirgendwo gesehen wurde.«

Mithridates nickte und ließ die Hand von der Klinge fallen. Sulla schob sie wieder in die Scheide, drehte sich um und ging zu seinem Pferd zurück, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Jeder Römer in Sichtweite entfernte sich mit ihm. Mithridates blieb allein auf den Knien zurück, umgeben von den Toten. Er erhob sich steif und zuckte endlich bei dem Schmerz zusammen, den ihm seine vielen Wunden bereiteten. Mit kaltem, verwirrtem Blick sah er zu, wie die Römer ihre Zelte abbrachen und nach Westen abzogen, zum Meer.

Die ersten Wegstunden ritt Sulla schweigend dahin. Seine Freunde wechselten stumme Blicke, aber lange Zeit wagte keiner von ihnen, das grimme Schweigen zu brechen. Schließlich streckte Padacus, ein gut aussehender Jüngling aus Norditalien, die Hand aus und berührte Sullas Schulter. Der Legat zügelte sein Pferd und sah ihn fragend an.

»Warum hast du ihn am Leben gelassen? Wird er sich im nächsten Frühling nicht abermals gegen uns erheben?«

Sulla zuckte die Achseln. »Möglicherweise. Aber wenn er das tut, weiß ich wenigstens, dass ich es mit einem Mann zu tun habe, den ich besiegen kann. Sein Nachfolger wird sich hüten, die gleichen Fehler zu begehen. Ich hätte noch weitere sechs Monate damit verbringen müssen, seine Anhänger in winzigen Lagern in den Bergen ausfindig zu machen und zu vernichten, aber was hätte uns das außer ihrem Hass eingebracht? Nein, der eigentliche Feind, die eigentliche Schlacht .« Er unterbrach sich und richtete den Blick auf den westlichen Horizont, als könnte er bis zu den Toren Roms schauen. »Die eigentliche Schlacht muss noch geschlagen werden, und wir haben schon jetzt viel zu viel Zeit hier verbracht. Reitet weiter. Wir sammeln die Legion an der Küste. Und treten unverzüglich die Überfahrt nach Hause an.«

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