30

Noch vor Einbruch der Nacht hatte Peritas die Leichen der Legionäre in einen leeren Kellerraum einschließen lassen. Die toten Pferde erwiesen sich als größeres Problem. Im ganzen Lager gab es keine Waffen mehr, nirgendwo ließ sich eine Axt auftreiben. Die glitschigen Kadaver konnten zwar von fünf oder sechs Mann angehoben, nicht aber die Steintreppen hinaufgetragen und über die Mauer geworfen werden. Schließlich ließ Peritas die schweren, leblosen Leiber vor das Tor schleppen, wo sie wenigstens die Angreifer aufhalten würden. Mehr durften sie sich nicht erhoffen. Keiner von ihnen glaubte daran, dass sie die Nacht überleben würden; Angst und Verzweiflung lasteten schwer auf ihnen.

Oben auf der Mauer stand Marcus und beobachtete die Lagerfeuer mit zusammengekniffenen Augen.

»Was ich nicht verstehe«, murmelte er an Peppis gewandt, »ist, warum sie uns ins Lager gelassen haben. Sie haben es doch schon einmal eingenommen, was sie einige Opfer gekostet haben dürfte. Warum also haben sie uns nicht draußen auf dem Weg niedergemacht?«

Peppis zuckte die Achseln. »Das sind Wilde, Herr. Vielleicht gefällt ihnen die Herausforderung, oder dass sie uns demütigen können.« Dann fuhr er fort, Schwertklingen mit einem abgenutzten, ausgehöhlten Wetzstein zu schleifen. »Peritas sagt, wenn wir am Morgen nicht zurück sind, wird man uns vermissen, und morgen Abend schicken sie eine kleine Streitmacht los, vielleicht sogar früher. Wir brauchen nicht sehr lange hier auszuhalten, aber ich glaube nicht, dass uns die Blauhäute so viel Zeit lassen.« Er zog den Stein über die nächste silbrige Klinge.

»Ich glaube, wir können dieses Lager einen Tag oder so halten. Sie sind zwar in der Überzahl, mehr aber auch nicht. Aber vergiss nicht, sie haben es schon einmal eingenommen.«

Marcus verstummte, als in der einsetzenden Dunkelheit Gesang einsetzte. Wenn er sich sehr anstrengte, konnte er tanzende Gestalten vor den Flammen der Lagerfeuer erkennen.

»Die amüsieren sich ja prächtig«, murmelte er. Das Wasser lief ihm im Mund zusammen. Der Brunnen im Fort war mit verwesendem Fleisch vergiftet und alles Essbare weggeschafft worden. Die Wahrheit war, wenn die Verstärkung nicht in einem, spätestens in zwei Tagen eintraf, würde der Durst den Blauhäuten die Arbeit abnehmen. Vielleicht lag es in ihrer Absicht, dass die Römer mit trockenen Kehlen in der brennenden Sonne starben. Das würde zu den grausamen Geschichten passen, die sie über sie gehört hatten, und die nun, als die Nacht sich über die Festung legte, von den nervösen Soldaten wieder ausgegraben wurden.

Peppis spähte über die Mauer in die Dämmerung und schnaubte verächtlich. »Da unten pisst einer an die Wand«, sagte er mit einer Stimme, die zwischen Zorn und Belustigung schwankte. »Sieh dich vor! Beug dich nicht zu weit hinaus, und nimm den Kopf nicht so hoch«, erwiderte Marcus, während er den eigenen Kopf dichter an den grob behauenen Stein drückte und versuchte, über den Rand zu schauen, ohne allzu viel von sich zu zeigen.

Direkt unter ihnen stand ein schwankender Wilder, das Gemächt in der Hand, und besprengte das Lager in kurzen, schwungvollen Bögen mit dunklem Urin. Die grinsende Gestalt bemerkte die Bewegung über sich, zuckte zusammen und zog sich rasch zurück. Dabei winkte er den beiden, die ihn beobachteten, mit der Hand zu und schüttelte sein Geschlechtsteil in ihre Richtung.

»Der hat wohl ein bisschen zu viel getrunken«, murmelte Marcus und musste unwillkürlich grinsen. Er sah zu, wie der Mann einen prallen Weinschlauch um den Körper nach vorn zog und kräftig daran sog, wobei er mehr verschüttete, als er trank. Mit trüben Augen stieß der Bursche den Propfen wieder hinein, fuchtelte wieder in Richtung Mauer hin und rief etwas in seiner verwaschenen, unverständlichen Sprache.

Da die beiden ihm eine Antwort schuldig blieben, drehte er sich um, machte zwei Schritte und fiel vornüber.

Marcus und Peppis beobachteten ihn. Er rührte sich nicht.

»Der ist nicht tot. Ich sehe, dass sich seine Brust bewegt. Der ist höchstens sturzbesoffen«, flüsterte Peppis. »Eher ist das eine Falle. Diese Blauhäute sollen ziemlich hinterlistig sein.« »Kann sein, aber ich sehe nur einen von ihnen, und mit einem kann ich’s aufnehmen. Den Wein könnten wir gut gebrauchen. Ich jedenfalls«, erwiderte Marcus. »Ich gehe da runter. Hol mir ein Seil. Ich lass mich an der Mauer herunter, und bevor es brenzlig wird, bin ich wieder oben.« Peppis machte sich sogleich auf den Weg, und Marcus behielt die bäuchlings daliegende Gestalt und das umliegende Gelände im Auge. Er wog das Risiko ab und grinste spöttisch. Wenn sie ohnehin alle in der Nacht oder im Morgengrauen sterben mussten, warum sollte er dann noch auf irgendwelche Risiken Rücksicht nehmen? Das Problem verflüchtigte sich, und er spürte, wie seine Anspannung nachließ. Den fast sicheren Tod vor Augen zu haben, hatte etwas ziemlich Beruhigendes. Zumindest konnte er auf diese Weise noch einen Schluck trinken. Der Weinschlauch hatte jedenfalls so voll ausgesehen, als wäre für jeden von ihnen ein Becher drin. Peppis knotete ein Seilende fest und ließ das andere Ende geräuschlos an der zwanzig Fuß hohen Mauer hinunter. Marcus vergewisserte sich, dass sein Gladius fest saß und fuhr dem Jungen durchs Haar.

»Bis gleich«, flüsterte er, schwang ein Bein über die Brustwehr und verschwand in der Dämmerung. Inzwischen war es fast dunkel geworden, sodass Peppis ihn kaum erkennen konnte, als er mit gezücktem Schwert auf die immer noch reglos am Boden liegende Gestalt zuschlich. Marcus spürte wieder dieses Jucken und biss die Zähne zusammen. Etwas stimmte hier nicht, doch es war zu spät, um den Kopf wieder aus der Schlinge zu ziehen. Er schob einen Fuß vor, tippte den betrunkenen Wilden an und war nicht überrascht, als der Mann plötzlich aufsprang. Marcus zerquetschte ihm die Kehle, bevor sich der Triumph ganz auf seinem Gesicht abzeichnen konnte. Dann erhoben sich zwei weitere blaue Männer aus dem Staub. Es war ihre Anwesenheit, die er gespürt hatte. Sie hatten sich in den Boden eingegraben und seit Stunden mit unmenschlicher Disziplin absolut still dort gelegen. Als er auf die beiden losging, kam Marcus der Gedanke, dass sie sich dort womöglich schon vor der Ankunft der römischen Karawane eingegraben hatten. Das waren keine unzivilisierten Wilden, sondern Krieger.

Es schienen nur die drei zu sein, junge Männer, die es auf Ruhm oder ihre ersten toten Feinde abgesehen hatten. Sie hielten Schwerter in den Händen, und Marcus’ erster Rückhandschlag wurde mit einem lauten metallischen Klirren abgewehrt, bei dem der Legionär zusammenzuckte. Er musste hier weg, bevor die gesamte Armee der Blauhäute auftauchte.

Marcus’ Gladius glitt an der Klinge des staubbedeckten Kriegers ab, rutschte nach unten und wurde von einem primitiven Heft aus Bronze jäh aufgehalten. Der Mann grinste höhnisch, Marcus schlug ihm die andere Faust in den Magen, riss die Klinge zurück und trieb sie in ihn hinein, als er überrascht und mit schmerzverzerrtem Gesicht nach vorne zusammenklappte. Als seine Halsadern durchtrennt wurden, brach er zusammen und fiel zuckend auf den Boden.

Der Dritte war nicht so geschickt wie sein Gefährte, doch Marcus hörte Stimmen und wusste, dass ihm die Zeit davonlief. Seine Eile machte ihn unvorsichtig, und er duckte sich erst spät unter einem wütenden Hieb, der ihm das Ohr ritzte und ihm einen Strich über die Kopfhaut zog.

Er wich nach links aus und stieß dem Mann das Schwert von der Seite her durch die blau bemalten Rippen ins Herz. Als der Krieger mit einem gurgelnden Schrei fiel, hörte Marcus bereits das Patschen rennender Füße, an das er sich von der nachmittäglichen Flucht ins Lager noch lebhaft erinnerte. Es war zu spät, um zum Seil zurückzulaufen, also drehte er sich um, löste den Weinschlauch von dem ersten Toten, zog den Pfropfen heraus und nahm einen großen Schluck, während sich die Nacht rings um ihn mit Schwertern und blauen Schatten füllte.

Sie bildeten mit gezückten Schwertern und sogar in der Dunkelheit hell funkelnden Augen einen Kreis um ihn. Marcus ließ den Weinschlauch neben seinen Füßen zu Boden gleiten und hielt seinen Gladius bereit. Sie rührten sich nicht. Er sah, wie ihre Blicke zu den Toten wanderten. Lange Sekunden vergingen in Schweigen, dann trat einer von ihnen vor, ein großer, glatzköpfiger, blauer Kerl mit einer langen, gebogenen Klinge.

Der Krieger zeigte in die Ferne und deutete dann auf Marcus. Marcus schüttelte den Kopf und zeigte auf die Festung. Spott wurde laut, doch ein knappes Handzeichen des Mannes ließ ihn sofort wieder verstummen. Der Krieger trat furchtlos vor, sein Schwert auf Marcus’ Kehle gerichtet. Mit dem anderen Arm zeigte er wieder auf die Lagerfeuer und dann auf den jungen Römer. Der Kreis wurde enger, und Marcus spürte die Nähe der Männer hinter sich.

»Das soll wohl heißen, ihr wollt mich über dem Feuer zu Tode foltern«, sagte er und zeigte ebenfalls auf die Lagerfeuer.

Der große blaue Krieger nickte, ohne Marcus auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Er gab ein paar Befehle, ein anderer Krieger legte die Hand auf Marcus’ Schwert und entwand es vorsichtig seinem Griff.

»Aha, unbewaffnet und zu Tode gefoltert, das habe ich nicht gleich verstanden«, fuhr Marcus fort, bemüht, seine Stimme freundlich klingen zu lassen, da er wusste, dass sie ihn ohnehin nicht verstehen konnten. Er lächelte, und sie lächelten zurück.

Dann ließen sie das Lager in der Dunkelheit zurück. Wahrscheinlich bildete er es sich nur ein, doch als er sich umdrehte, glaubte er, einen Augenblick lang Peppis’ Gesicht vor dem Nachthimmel zu erblicken.

Die Blauhäute brachten ihren Gefangenen mit demonstrativem Selbstbewusstsein in ihr Lager. Marcus sah, dass dort alles zur Schlacht bereit war. Die Waffen waren ordentlich aufgeschichtet, und die Krieger tanzten und heulten im Feuerschein und spuckten, den blau aufschießenden Flammen nach zu urteilen, wenn die Strahlen ins Feuer trafen, reinen Alkohol hinein. Sie johlten und rangen miteinander, und der eine oder andere saß da und schmierte sich hellen Matsch auf die Arme und ins Gesicht. Marcus vermutete darin den Ursprung der blauen Färbung.

Ihm blieb kaum Zeit, sämtliche Eindrücke in sich aufzunehmen, bevor sie ihn vor dem Freudenfeuer auf die Knie zwangen und ihm jemand eine grob gefertigte Lehmtasse mit einer klaren Flüssigkeit in die Hände drückte. Schon von den daraus aufsteigenden Dämpfen fingen seine Augen an zu tränen, aber er schluckte den gesamten Inhalt hinunter und kämpfte gegen das Würgen an. Es war ein starker Trunk, und er winkte dankend ab, als man ihm eine zweite Tasse anbot. Er wollte einen klaren Kopf behalten. Seine Wächter ließen sich rings um ihn auf dem Boden nieder und schienen sich über seine Kleidung und sein Benehmen auszutauschen. Jedenfalls wurde dabei viel mit Fingern gezeigt und gelacht. Marcus achtete nicht auf sie und überlegte, ob er wohl eine Möglichkeit zur Flucht finden würde. Er musterte die Schwerter der Krieger direkt neben ihm und sah, dass sie aus den Gürteln gezogen waren und griffbereit im trockenen Gras lagen. Wenn es ihm gelang, eins davon zu packen ...

Hörner erklangen und unterbrachen seine Gedanken. Während alle in Richtung dieses Geräuschs blickten, warf Marcus noch einen verstohlenen Blick auf die ihm am nächsten liegende Klinge und sah, dass die Hand des Kriegers darauf lag. Als sein Blick weiter nach oben wanderte, sah er in die Augen des Mannes und grinste gequält, denn der stämmige Krieger schüttelte den Kopf und lächelte ihn mit braunen, fauligen Zähnen an.

Das Horn wurde von der ersten alten Blauhaut gehalten, die Marcus zu sehen bekam. Er musste ungefähr fünfzig sein und hatte, im Gegensatz zu den harten, muskulösen Körpern der jüngeren Kämpfer, einen dicken Bauch, der sein Gewand ausbeulte und hin und her wackelte, wenn er seine dünnen Arme bewegte. Er musste einer der Anführer sein, denn die Krieger reagierten unverzüglich auf seine laut ausgestoßenen Befehle. Drei gewandte Burschen zückten ihre langen Schwerter und nickten Freunden im Kreis zu. Kleine Trommeln wurden hervorgeholt, und kurz darauf ertönte ein schneller Rhythmus. Die drei Männer standen entspannt da, die Trommeln wurden lauter, und sie bewegten sich mit einer Geschwindigkeit, die Marcus nicht für möglich gehalten hätte. Die Schwerter sahen aus wie Strahlen im Morgenlicht, und die Bewegungen gingen fließend ineinander über, völlig anders als die Schrittfolgen der römischen Tänze, die Marcus gelernt hatte.

Er erkannte, dass da ein Kampf vorgeführt wurde, allerdings eher als Tanz denn als gewaltsamer Wettstreit. Die Männer wirbelten und sprangen umher, und ihre Schwerter zerschnitten summend die heiße Nachtluft.

Fasziniert folgte Marcus der Darbietung, bis die Männer schließlich wieder ihre entspannte Haltung einnahmen und die Trommeln leiser wurden. Die Krieger jauchzten, und Marcus tat es ihnen ohne jede Scham nach. Erst als der alte Mann auf ihn zukam, verkrampfte er sich wieder ein wenig.

»Dir gefällt? Sie sind gut?«, fragte ihn der Mann mit schwerem Akzent.

Marcus verbarg seine Verwirrung und stimmte mit absichtlich nichtssagender Miene zu.

»Diese Männer haben kleine Burg genommen. Sie sind Krajka, die Besten von uns, ja?«

Marcus nickte.

»Eure Leute gut gekämpft, aber die Krajka schon kämpfen üben, wenn sie stehen, noch kleine Kinder, ja? Wir so nehmen alle eure hässliche Burge, ja? Stein von Stein, und Asche verstreut? Das tun wir.«

»Wie viele ... Krajka gibt es?«, fragte Marcus.

Der Alte lächelte und zeigte ihm seine letzten drei Zähne, die in schwarzem Zahnfleisch steckten. »Nicht genug. Wir üben mit Soldaten, die heute gekommen mit dir. Andere Krieger müssen sehen, wie kämpfen deine Leute, ja?«

Marcus sah ihn ungläubig an. Für die Besatzung im Lager sah die Zukunft wirklich nicht rosig aus. Man hatte sie in die Sicherheit der Mauern fliehen lassen, nur damit die jungen Blauhäute an den erschöpften Verteidigern ihre ersten Erfahrungen machen konnten. Es war eine grausige Vorstellung. Die Legion hielt die Blauhäute für Kreaturen, deren Intelligenz die von Tieren kaum überschritt. Jeder von ihnen, der gefangen genommen wurde, verlor schier den Verstand, zerbiss seine Fesseln und brachte sich, wenn er nicht entfliehen konnte, mit irgendeinem spitzen Gegenstand um. Dieser Beweis sorgfältiger Planung und die Tatsache, dass einer von ihnen eine zivilisierte Sprache sprach, zeugte von einer Bedrohung, die sie bislang nicht ernst genug genommen hatten.

»Warum haben mich die Männer nicht getötet?«, fragte Marcus. Der Alte beugte sich dichter zu ihm, und Marcus musste sich zwingen, ruhig zu blieben, als ihm der säuerliche Geruch aus seinem Mund ins Gesicht schlug.

»Sie sehr beeindruckt. Du tötest drei Männer mit kurzem Schwert. Tötest wie Mann, nicht mit Bogen oder Speer werfen. Sie bringen dich her zu mir, damit ich sehen kann, ja?«

Eine Sehenswürdigkeit, ein Römer, der gut töten konnte. Bevor der alte Mann weitersprach, erriet er, was jetzt kommen würde.

»Nicht gut, wenn junge Krieger bewundern Römer. Du kämpfst mit Krajka, ja? Wenn Sieger, du gehst wieder in Burg. Wenn Krajka tötet dich, dann sehen alle Männer und haben Hoffnung für Zukunft, ja?«

Marcus nickte. Ihm blieb nichts anderes übrig. Er blickte in die Flammen und fragte sich, ob sie ihn seinen Gladius benutzen lassen würden.

Von allen anderen Feuern kamen Blauhäute herbei und ließen ihre Lager fast ohne Schutz zurück. Marcus wusste, dass die Männer im Fort sich dieser Gelegenheit nicht bewusst sein konnten. Sie sahen nach wie vor die Lichtpunkte in der Bergdunkelheit, ohne zu wissen, dass die meisten Feinde sich an einem Punkt versammelt hatten, um dem Zweikampf beizuwohnen. Marcus durfte aufstehen. Mit Dolchen wurde ein Kreis abgesteckt. Die Blauhäute stellten sich außerhalb der Markierung auf. Einige von ihnen nahmen Freunde auf die Schultern, damit diese besser sehen konnten. Ganz gleich, in welche Richtung Marcus sich wandte, er sah eine wogende Mauer aus blauer Haut und grinsenden gelben Zähnen. Ihm fiel auf, wie viele Augen rötlich umrandet waren und kam zu dem Schluss, dass etwas in der Farbe die Haut reizen musste. Der Alte mit dem Schmerbauch trat in den Kreis, reichte Marcus würdevoll seinen Gladius und zog sich sofort wachsam zurück. Marcus achtete nicht auf ihn. Hier war kein besonderer Riecher nötig, um die Feindseligkeit zu spüren, die in der Luft lag. Wenn er verlor, würde er in Stücke gehackt werden, um ihre Überlegenheit zu beweisen, wenn er gewann, würde ihn die rasende Meute zerfleischen. Einen flüchtigen Augenblick dachte er daran, was Gaius an seiner Stelle wohl täte und musste bei dem Gedanken daran lächeln, dass Gaius den Anführer in dem Augenblick getötet hätte, als dieser ihm das Schwert reichte. Letztendlich konnte es nicht mehr schlimmer kommen.

Der Anführer war immer noch in Reichweite, streckte seinen Bauch in den Kreis hinein, aber irgendwie kam es Marcus nicht richtig vor, einfach hinzugehen und den alten Teufel aufzuspießen. Vielleicht würden sie ihn ja tatsächlich laufen lassen. Er blickte in die Runde der Gesichter und zuckte die Achseln. Eher nicht.

Gedämpfter Jubel brandete auf, als einer der Krajka sich dem Kreis näherte. Die Krieger bildeten eine Gasse für ihn, die sich sogleich wieder schloss, damit keiner seinen guten Platz verlor. Marcus musterte seinen Gegner von oben bis unten. Er war viel größer als jede durchschnittliche Blauhaut und überragte Marcus um einen halben Kopf, obwohl dieser nach seinem Aufbruch aus Rom noch ein ganzes Stück gewachsen war. Unter der Haut seines nackten, bemalten Oberkörpers bewegten sich kräftige Muskeln. Marcus schätzte, dass sie in etwa die gleiche Reichweite hatten. Seine eigenen Arme waren lang, die Handgelenke durch stundenlange Schwertübungen kräftig. Er wusste, dass er eine Chance hatte, egal wie gut sein Gegner auch war. Renius hatte jeden Tag mit ihm gearbeitet, und inzwischen gab es niemanden mehr, der Marcus im Training hätte herausfordern können.

Er beobachtete, wie sich der große Mann bewegte, wie er seine Füße setzte. Dann sah er ihm in die Augen und fand keine Nachgiebigkeit. Der Mann lächelte nicht und würde Beleidigungen sowieso nicht verstehen. Er schritt den Kreis ab, immer darauf bedacht, sich außerhalb von Marcus’ Reichweite zu halten. Marcus drehte sich in der Mitte des Kreises auf der Stelle und behielt ihn unablässig im Auge, bis er seine Position gefunden hatte, auf der gegenüberliegenden Seite, ungefähr zwanzig Fuß entfernt. Taktik, alles Taktik. Renius sagte, man dürfe nie aufhören zu denken. Es ging nicht darum, anständig zu sein, sondern darum, zu gewinnen. Als der Mann ein langes Schwert zog, das von seiner Hüfte bis zum Boden reichte, zuckte Marcus angesichts der glänzenden Länge der bronzenen Waffe zusammen. Doch genau das war seine Chance. Bisher war ihm überhaupt nicht bewusst geworden, dass die Blauhäute Waffen aus Bronze benutzten. Ein Gladius aus gehärtetem Eisen konnte eine solche Waffe stumpf machen, wenn er nur die ersten paar Hiebe überstand. Die Gedanken rasten durch seinen Kopf. Bronze wurde stumpf. Es war weicher als Eisen.

Der Mann kam näher und lockerte seine nackten Schultern. Er trug lediglich eine Hose über nackten Füßen, bewegte sich wie eine Raubkatze und machte einen ausgesprochen athletischen Eindruck.

»Wenn ich ihn töte, darf ich gehen, ja?«, rief Marcus dem alten Mann zu.

Lauter Spott ertönte ringsum, und er fragte sich, wie viele von ihnen seine Sprache verstanden. Der Alte nickte, lächelte und gab mit der Hand das Zeichen zum Anfangen.

Als die Trommeln über dem Geschnatter der Menge einsetzten, schreckte Marcus zusammen.

Sein Gegner entspannte sich sichtlich, als die Schläge ihren Rhythmus fanden. Marcus sah, wie er sich ein wenig duckte und Kampfhaltung einnahm. Das Schwert hielt er unentwegt ausgestreckt vor sich. Die längere Klinge verlieh ihm in punkto Reichweite einen Vorteil, dachte Marcus und rollte die Schultern. Er hielt die Hand hoch, machte einen Schritt zurück und zog sich die Tunika aus. Es war eine Erleichterung, sich ihrer in der erstickenden Hitze zu entledigen, die von dem nahen Feuer und der schwitzenden Menge noch verstärkt wurde. Das Trommeln wurde lauter, und Marcus heftete den Blick auf die Kehle des Mannes. Damit ließen sich manche Gegner verunsichern. Während der andere leicht hin und her schaukelte, stand er absolut still. Zwei verschiedene Kampfstile.

Der Krajka schien sich kaum zu bewegen, doch Marcus spürte den Angriff, wich seitlich aus und ließ die Bronzeklinge ins Leere stoßen. Er ließ den Gladius nicht auf die Klinge treffen, weil er zunächst die Geschwindigkeit des Mannes einschätzen wollte.

Ein zweiter Stoß, eine elegante Fortführung des ersten, zielte auf sein Gesicht, und Marcus riss verzweifelt seinen Gladius nach oben. Metall traf klirrend auf Metall. Die Klingen glitten übereinander, und er spürte frischen Schweiß an seinem Haaransatz prickeln. Die Bewegungen des Mannes waren schnell und flüssig, und seine Hiebe kamen rasch, aus dem Handgelenk, wie Finten. Marcus parierte den nächsten, niedrig angesetzten Stoß auf seinen Bauch, setzte sofort nach und stieß nach dem blauen Körper.

Er war nicht da, und Marcus landete der Länge nach auf dem harten Boden. Sofort stand er wieder und bemerkte, dass der Krajka ein Stück zurückgewichen war, um ihn aufstehen zu lassen. Dann ging es hier also nicht um eine rasche Entscheidung. Marcus nickte ihm mit zusammengepressten Zähnen zu. Keinen Zorn fühlen, befahl er sich, keine Scham. Er erinnerte sich an Renius’ Worte: Es spielt keine Rolle, was in einem Kampf geschieht, solange der Feind am Schluss zu deinen Füßen liegt.

Der Krajka machte einen kleinen Sprung auf ihn zu. In der letzten Sekunde schoss das Bronzeschwert hervor, und Marcus war gezwungen, sich darunter wegzuducken. Diesmal folgte er nicht dem Impuls, den Angriff mit einem Gegenstoß zu kontern, und sah, dass der Mann darauf vorbereitet war und sein Schwert für einen Schlag nach unten bereit hielt. Er hat schon gegen Römer gekämpft!, schoss es Marcus durch den Kopf. Dieser Mann war mit ihrer Kampftechnik vertraut, vielleicht hatte er sie sogar im Kampf gegen einige der Legionäre gelernt, die in den vergangenen Monaten verschwunden waren, bevor er sie getötet hatte.

Es war ärgerlich. Alles, was er gelernt hatte, stammte von Renius, einem in Rom ausgebildeten Soldaten und Gladiator. Er konnte nicht zu einem anderen Stil wechseln. Der Krajka war eindeutig ein Meister seiner Kunst.

Das Bronzeschwert zuckte, und Marcus parierte. Er konzentrierte sich auf die leicht pulsierende blaue Kehle, konnte dabei aber immer noch die Bewegungen der Arme und des geschmeidigen Körpers wahrnehmen. Er ließ einen Hieb an sich vorbeisausen, wich einem anderen mit einem Schritt zur Seite aus. Dabei hatte er die Entfernung perfekt eingeschätzt. In dem Raum, der sich ihm bot, schlug er zu wie eine Schlange und ritzte einen dünnen roten Strich in die Seite des Krajka.

Entsetzt verstummten die Zuschauer. Der Krajka sah verwirrt aus und wich mit zwei geschmeidigen Schritten von Marcus zurück. Er runzelte die Stirn, und Marcus erkannte, dass er den Schnitt nicht gespürt hatte. Er drückte die Hand auf den roten Strich und betrachtete sie mit ausdruckslosem Gesicht. Dann zuckte er die Achseln und tänzelte sich wieder heran. Sein Bronzeschwert war ein verschwommener Schemen in dem Wechsel aus Licht und Schatten. Marcus spürte den Rhythmus der Bewegungen und fing an, gegen den flüssigen Stil zu arbeiten. Er unterbrach den glatten Fluss, brachte den Krajka dazu, einen Satz nach hinten zu machen, als er ihm sein Schwert entschlossen entgegenstieß, und kurz darauf ein zweites Mal, als Marcus’ harte Sandalen gegen seine Zehen rammten.

Marcus ging zum Gegenangriff über, denn er merkte, dass das Selbstvertrauen seines Gegners schwand. Jeder Schritt wurde von einem Hieb begleitet, der zu einem anderen fließenden Muster wurde, das den Stil des Krajka imitierte. Der Gladius wurde zu einer Verlängerung seines Arms, ein Dorn in seiner Hand, der nur einer Berührung bedurfte, um zu töten. Der Krajka ließ einen Hieb um Haaresbreite an seiner Kehle vorbeisausen, und Marcus spürte den wütenden Blick auf seiner eigenen Haut. Der Mann war wütend, weil er nicht so leicht wie erwartet gewann. Noch ein Schlag wurde pariert, und wieder wurden die nackten Füße unter den malmenden, harten römischen Sandalen begraben.

Der Krajka ließ ein ersticktes Stöhnen vernehmen und wirbelte herum, sprang wie ein Gespenst in die Luft, so wie Marcus es bereits bei den anderen gesehen hatte. Es war eine Tanzbewegung, und das Bronzeschwert wirbelte mit ihm herum, kam unvermutet aus dem Wirbel heraus und riss Marcus die Haut quer über der Brust auf. Die Menge brüllte. Doch als der Mann wieder auf den Füßen landete, griff Marcus nach oben und packte die Bronzeklinge mit der bloßen linken Hand. Der Krajka blickte ihm erstaunt in die Augen und stellte zum ersten Mal während des gesamten Zweikampfes fest, dass sie ihn ebenfalls ansahen, kalt und schwarz. Dieser Blick ließ ihn erstarren, und dieses Zögern war sein Tod. Er spürte, wie der eiserne Gladius von vorne in seine Kehle stieß, und die Nässe des hervorschießenden Blutes, das ihn seiner Kraft beraubte. Er wollte seine Klinge zurückziehen, die Finger wie überreife Halme abschneiden, doch es war keine Kraft mehr in ihm, und er fiel wie ein schlaffer Sack vor Marcus zusammen.

Marcus atmete langsam, hob das Bronzeschwert auf und warf einen kurzen Blick auf die Schneide und die verbogene und eingedellte Stelle, an der er sie festgehalten hatte. Er spürte Blut aus dem Schnitt in seiner Handfläche über die Knöchel tropfen, doch er konnte die Finger immer noch bewegen, wenn auch etwas steif. Dann wartete er darauf, dass die Menge sich auf ihn stürzte und tötete.

Die Umstehenden schwiegen eine Weile, und in die Stille hinein rief die Stimme des Alten schroff klingende Befehle. Marcus hielt den Blick auf den Boden gerichtet und die beiden Schwerter in den Händen. Er vernahm Schritte und drehte sich um, als der Alte ihn am Arm packte. Die Augen des Mannes waren dunkel vor Verwunderung ... aber es lag auch noch etwas anderes in ihnen.

»Komm. Ich halte mein Wort. Du gehst zurück zu Freunde. Wir euch alle holen am Morgen.« Marcus nickte, obwohl er es kaum glauben konnte. Er suchte nach Worten.

»Er war ein sehr guter Kämpfer, der Krajka. Ich hatte noch nie einen besseren Gegner.« »Natürlich. Er war mein Sohn.« Der Mann sah auf einmal viel älter aus, als lasteten die Jahre schwerer auf seinen Schultern. Er führte Marcus aus dem Kreis heraus ins Freie und zeigte in die Nacht.

»Geh zurück jetzt.«

Er blieb stumm, als Marcus ihm das Bronzeschwert reichte und in die Dunkelheit davonging.

Marcus sah die dunkle Mauer der Festung vor sich aufragen. Als er noch ein Stück weit entfernt war, pfiff er eine Melodie, damit ihn die Soldaten erkannten und ihm nicht aus Versehen einen Armbrustbolzen durch die Brust jagten.

»Ich bin allein! Peppis, wirf den Strick wieder runter!«, rief er in die Stille.

Von drinnen ertönte Rascheln und Scharren; alle wollten einen Blick über die Mauer werfen. Über ihm tauchte ein Kopf in der Dunkelheit auf. Marcus erkannte Peritas’ mürrische Züge. »Marcus? Peppis hat gesagt, die Blauhäute hätten dich erwischt.«

»Das stimmt, aber sie haben mich wieder freigelassen. Wirfst du mir jetzt ein Seil runter oder nicht?«, blaffte Marcus. So weit von den Lagerfeuern entfernt war es wesentlich kälter, außerdem hatte er seine verletzte Hand unter die Achsel geklemmt, damit die steifen Finger warm blieben. Er vernahm geflüsterte Unterhaltungen von oben und fluchte über Peritas und seine übertriebene Vorsicht. Warum sollten ihnen die Wilden eine Falle stellen, wenn sie einfach nur zu warten brauchten, bis sie alle verdurstet waren?

Endlich wurde ein Seil heruntergelassen, und Marcus zog sich mit vor Müdigkeit brennenden Armen hinauf. Oben angekommen, halfen ihm hilfreiche Hände über die Brustwehr, und dann wurde er von Peppis, der die Arme um ihn schlang, beinahe umgeworfen.

»Ich dachte, die fressen dich auf«, sagte der Junge. In seinem schmutzigen Gesicht waren Tränenschlieren zu sehen, und Marcus verspürte einen schmerzhaften Stich, weil er den Jungen zu seiner letzten Nacht an diesen trostlosen Ort gebracht hatte.

»Nein, Kleiner«, sagte er und zauste Peppis liebevoll das Haar, »die fanden mich zu zäh. Junges, zartes Fleisch ist ihnen lieber.«

Peppis starrte ihn entsetzt an, und Peritas lachte. »Du hast noch die ganze Nacht Zeit, um uns zu erzählen, was passiert ist. Ich glaube nicht, dass einer von uns ein Auge zukriegt. Sind viele von denen da draußen?«

Marcus sah den Älteren an und wusste, dass es Dinge gab, die er vor dem Jungen nicht sagen durfte.

»Genug«, erwiderte er leise.

Peritas wandte den Blick ab und nickte.

Bei Tagesanbruch warteten Marcus und die anderen mit vor Schlafmangel trockenen Augen auf den Angriff. Jeder Mann stand auf der Mauer und wandte bei der kleinsten Bewegung eines Vogels oder eines Kaninchens unten im Buschland nervös den Kopf. Die Stille war erschreckend, doch als sie von einem umfallenden Schwert zerrissen wurde, musste sich der achtlose Soldat, dem es entglitten war, von mehreren Seiten Beschimpfungen gefallen lassen.

Dann hörten sie in der Ferne die blechernen Trompeten einer römischen Legion, deren Klang sich in den Hügeln brach. Peritas rannte den schmalen Laufgang hinter der Mauer entlang und jubelte laut, als auf den Bergpfaden in der Ferne drei im Laufschritt herantrabende Zenturien sichtbar wurden.

Es dauerte nur wenige Minuten, bis eine Stimme rief: »Macht das Tor auf!«, und die Flügel weit aufgerissen wurden.

Nachdem die Karawane nicht rechtzeitig zurückgekommen war, hatten die Kommandeure der Legion nicht lange gezögert und eine Entsatztruppe losgeschickt. Nach den Angriffen der letzten Zeit wollten sie ihre Stärke unter Beweis stellen, waren in der Dunkelheit über unwegsames Terrain marschiert und hatten in der Nacht zwanzig Meilen zurückgelegt.

»Seid ihr irgendwo auf Blauhäute gestoßen?«, erkundigte sich Peritas besorgt. »Als wir hier ankamen, sind Hunderte von ihnen um die Festung herumgewimmelt. Wir waren eigentlich auf einen Angriff eingestellt.«

Ein Zenturio schüttelte den Kopf und schürzte die Lippen. »Wir haben rauchende Lagerfeuer und Abfall von ihnen gesehen. Sieht ganz so aus, als wären sie in der Nacht abgezogen. Aber man kann ja nie wissen, was diese Wilden denken. Vielleicht hat einer ihrer Hexenmeister einen Unglücksvogel oder sonst ein schlechtes Omen gesehen.«

Er blickte sich im Lager um, und der Leichengeruch stieg ihm in die Nase.

»Sieht aus, als hätten wir hier noch einiges zu tun. Unser Befehl lautet, diesen Posten zu halten, bis die Ablösung kommt. Ich schicke eine halbe Legion mit euch zum Lager zurück. Von jetzt an geht niemand mehr ohne Streitmacht raus. Schließlich befinden wir uns hier in Feindesland, verstanden?«

Marcus öffnete den Mund, um zu antworten, doch Peritas legte ihm den Arm um die Schulter, drehte ihn energisch zur Seite und schickte ihn mit einem Schubs weg.

»Wir haben verstanden«, sagte er, bevor er sich umdrehte, um seine Männer für den Rückmarsch bereitzumachen.

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