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Tubruk schritt ein neues Feld ab, das gepflügt werden sollte, und Gaius und Marcus marschierten hinter ihm her. Alle fünf Schritte streckte er die Hand aus und Gaius reichte ihm einen Pflock aus einem schweren Korb. Tubruk selbst trug die Schnur, die als großes Knäuel auf einer Spindel saß. Geduldig wickelte er dann die Schnur um den Pflock und reichte ihn Marcus zum Halten, damit er ihn mit dem Hammer in den trockenen Boden einschlagen konnte. Ab und zu betrachtete er die immer länger werdende Reihe von Markierungspfosten, die er gesetzt hatte, brummte zufrieden und fuhr dann mit seiner Arbeit fort.

Es war eine langweilige Aufgabe, der die beiden Jungen am liebsten auf den Campus Martius entflohen wären. Das riesige Gelände, auf dem man reiten und bei verschiedenen Sportarten mitmachen konnte, lag direkt vor der Stadt.

»Halt ihn ruhig«, fuhr Tubruk Marcus an, als die Aufmerksamkeit des Jungen abschweifte.

»Wie lange noch, Tubruk?«, fragte Gaius.

»So lange, wie es eben dauert, das hier ordentlich zu Ende zu bringen. Die Felder müssen für den Pflüger abgesteckt werden, und dann müssen noch die Pfosten eingeschlagen werden, um die Grenze zu markieren. Dein Vater will die Erträge des Gutes steigern, und diese Felder hier sind guter Boden für Feigen, die wir in der Stadt auf dem Markt verkaufen können.«

Gaius schaute sich um. Er blickte über die grünen und goldenen Hügel, die das Land seines Vaters ausmachten.

»Dann ist es also ein reiches Gut?«

Tubruk lachte in sich hinein. »Es reicht, um dich zu ernähren und zu kleiden. Aber wir haben nicht genug Land, um viel Gerste oder Weizen zum Brotbacken anzubauen. Dazu wäre die Ernte zu gering, also müssen wir uns auf das konzentrieren, was man in der Stadt kaufen will. In den Blumengärten ernten wir Samen, die zerquetscht werden, um daraus Gesichtsöl für die edlen Damen der Stadt zu machen. Dein Vater hat ein Dutzend Stöcke für neue Bienenschwärme gekauft. In ein paar Monaten könnt ihr Jungs zu jeder Mahlzeit Honig essen, und außerdem bringt auch Honig gutes Geld.«

»Können wir bei den Bienenstöcken helfen, wenn die Bienen kommen?«, fragte Marcus plötzlich interessiert.

»Vielleicht. Obwohl man sehr vorsichtig damit umgehen muss. Der alte Tadius hat früher Bienen gehalten, bevor er Sklave wurde. Ich zähle darauf, dass er weiß, wie man den Honig einsammelt. Die Bienen mögen es nicht, wenn man ihnen ihre Wintervorräte stiehlt, darum braucht man eine geübte Hand dafür. Jetzt halt diesen Pflock endlich gerade! So, damit haben wir ein Stadium, 625 Fuß. Hier geht’s jetzt um die Ecke.«

»Brauchst du uns noch sehr lange, Tubruk? Wir wollten eigentlich mit den Ponys in die Stadt und sehen, ob wir bei der Senatsdebatte zuhören können.«

Tubruk schnaubte verächtlich. »Du meinst wohl, ihr wollt mit den Ponys auf den Campus und dort mit den anderen Jungs um die Wette reiten, hm? Wir müssen heute nur noch diese letzte Seite hier abstecken, dann kann ich die Männer morgen die Grenzpfosten setzen lassen. In ein oder zwei Stunden dürften wir fertig sein.«

Die beiden Jungen sahen sich niedergeschlagen an. Tubruk legte Spindel und Hammer nieder und streckte mit einem Seufzer den Rücken. Dann klopfte er Gaius auf die Schulter.

»Das Land, auf dem wir hier arbeiten, ist dein Land. Vergiss das nicht. Es hat schon dem Vater deines Vaters gehört, und eines Tages, wenn du Kinder hast, wird es ihnen gehören. Sieh her!« Tubruk setzte ein Knie auf den harten Boden. Mit einem Pflock und dem Hammer brach er ihn auf, bis die schwarze Erde darunter zum Vorschein kam. Er grub die Hand hinein, griff eine Hand voll des dunklen Mutterbodens und hielt sie hoch, sodass die Jungen sie genau betrachten konnten.

Gaius und Marcus schauten verwundert zu, wie er den Schmutz zwischen den Fingern zerkrümelte.

»Seit Hunderten von Jahren haben Römer hier gestanden, wo wir jetzt stehen. Dieser Dreck ist mehr als nur Erde. Das sind wir, denn diese Erde ist der Staub von Männern und Frauen, die uns vorausgegangen sind. Ihr seid daraus hervorgegangen, und ihr werdet dorthin zurückkehren. Andere werden über euch hinweggehen und nicht einmal wissen, dass es euch gab, dass ihr einmal ebenso lebendig wart wie sie selbst.«

»Das Familiengrab liegt doch an der Straße zur Stadt«, murmelte Gaius. Tubruks plötzliche Ernsthaftigkeit machte ihn nervös.

Der alte Gladiator zuckte mit den Schultern. »Erst seit kurzem. Aber unsere Vorfahren sind schon viel länger hier gewesen, lange, bevor hier eine Stadt stand. Wir haben in längst vergessenen Kriegen für dieses Land geblutet und sind dafür gestorben. Und vielleicht werden wir das wieder tun, in Kriegen, die jetzt noch in der Zukunft liegen. Steck deine Hand in die Erde.«

Er nahm die Hand des zögernden Jungen und drückte sie in den aufgebrochenen Boden und krümmte ihre Finger, bevor er sie wieder zurückzog.

»Du hältst Geschichte in der Hand, mein Junge. Die Erde hat Dinge gesehen, die wir nicht sehen können. Du hältst deine Familie und Rom in deiner Hand. Dieser Boden lässt die Ernte für uns wachsen, er ernährt uns und wir verdienen Geld mit ihm, sodass wir uns an Luxusdingen erfreuen können. Ohne ihn sind wir nichts. Land ist alles, und ganz egal, in welche Winkel der Welt du dereinst einmal ziehen wirst, nur dieser Boden hier gehört wirklich dir. Nur dieser einfache, schwarze Dreck, den du in der Hand hältst, wird für dich die Heimat sein.«

Marcus beobachtete das alles mit ernstem Gesichtsausdruck. »Wird es auch meine Heimat sein?« Tubruk schwieg einen Moment und hielt Gaius’ Blick gefangen, der die Erde noch immer fest in seiner Hand hielt.

Dann drehte er sich zu Marcus um und lächelte.

»Natürlich, mein Junge. Du bist doch auch ein Römer, oder? Dann gehört dir diese Stadt genauso wie jedem anderen.« Das Lächeln erlosch, und er wandte den Blick wieder zu Gaius. »Aber dieses Anwesen hier gehört Gaius ganz allein, und eines Tages wird er der Herr darüber sein. Dann wird er auf schattige Feigenbaumreihen und schwirrende Bienenstöcke blicken und sich daran erinnern, dass er als kleiner Junge nichts anderes im Sinn hatte, als den anderen Knaben auf dem Campus Martius vorzuführen, was sein Pony alles kann.«

Die Traurigkeit, die einen Augenblick lang in Marcus’ Gesicht aufblitzte, bemerkte er nicht.

Gaius öffnete die Hand und ließ die Erde wieder in das Loch zurückfallen, das Tubruk aufgebrochen hatte. Nachdenklich drückte er sie fest.

»Sehen wir zu, dass wir mit dem Abstecken fertig werden«, sagte er, und Tubruk nickte zustimmend, als er sich wieder aufrichtete.

Die Sonne ging schon unter, als die beiden Jungen die Tiberbrücke überquerten, die zum Marsfeld führte. Tubruk hatte darauf bestanden, dass sie sich wuschen und saubere Tuniken anzogen, bevor sie loszogen. Selbst zu so später Stunde tummelte sich die Jugend Roms auf dem riesigen Gelände. Man stand in Gruppen zusammen, schleuderte Diskusse und Speere, spielte Ball oder ritt unter anfeuernden Rufen auf Ponys und Pferden um die Wette. Es war ein lauter Ort, und die Jungen sahen mit Begeisterung den Ringkampf-Turnieren und den Übungsrennen der Streitwagen zu.

Jung wie sie waren, fühlten sie sich beide in den hohen Sätteln sicher, die Lenden und Gesäß fest umschlossen und bei allen Manövern festen Halt boten. Ihre Beine hingen lang über die Rippen der Pferde herab und pressten sich in den Kurven des zusätzlichen Haltes wegen fest an die Pferdebäuche.

Gaius sah sich nach Suetonius um und war froh, dass er ihn nirgendwo in der Menge entdeckten konnte. Seitdem sie ihn in der Wolfsgrube gefangen hatten, waren sie sich nicht mehr begegnet, und dabei wollte Gaius es auch belassen, bei einem Kampf, den er gewonnen hatte und der beendet war. Weitere Auseinandersetzungen mit dem Älteren verhießen nur neuerlichen Ärger.

Er und Marcus ritten auf eine Gruppe Kinder ihres Alters zu, begrüßten sie, schwangen die Beine über die Hälse ihrer Reittiere und stiegen ab. Sie sahen niemanden, den sie kannten, doch als sie näher kamen, teilte sich die Gruppe und die Stimmung war freundlich. Die allgemeine Aufmerksamkeit richtete sich auf einen Mann, der einen Diskus in seiner Hand hielt.

»Das ist Tani. Er ist der Beste in seiner Legion«, raunte ein Junge Gaius laut zu.

Sie schauten zu, wie Tani sich in Wurfposition stellte. Dann drehte er sich ein paarmal um die eigene Achse und schleuderte den Diskus in die untergehende Sonne. Der lange Flug der Scheibe erntete bewundernde Pfiffe, und ein paar Jungen klatschten Beifall.

Tani drehte sich zu ihnen um. »Passt auf. Gleich kommt er aus dieser Richtung wieder zurückgeflogen.«

Gaius sah einen anderen Mann, der zu der auf dem Boden liegenden Scheibe rannte und sie aufhob, um sie zurückfliegen zu lassen. Dieses Mal kam der Diskus in einem weiten Bogen angeflogen und die Gruppe stob auseinander, als er auf sie zuraste. Ein Junge war langsamer als die anderen. Als der Diskus aufschlug und noch einmal hochsprang, traf er ihn mit einem dumpfen Schlag in die Seite, obwohl er noch im letzten Moment versucht hatte, ihm auszuweichen. Er wurde zu Boden gerissen und stöhnte, als Tani zu ihm rannte.

»Gut abgestoppt, Junge. Alles in Ordnung mit dir?«

Der Knabe nickte und rappelte sich hoch, hielt sich aber vor Schmerzen die Seite. Tani klopfte ihm auf die Schulter, bückte sich geschmeidig, um die Scheibe aufzuheben und kehrte auf seinen Platz zurück, um erneut zu werfen.

»Hat heute jemand Lust auf ein Pferderennen?«, fragte Marcus in die Runde.

Ein paar Köpfe drehten sich um und maßen ihn und das stämmige kleine Pony, das Tubruk für ihn ausgesucht hatte, mit abschätzenden Blicken.

»Bis jetzt noch nicht. Wir sind hergekommen, um beim Ringen da drüben zuzuschauen, aber das ist schon seit einer Stunde vorbei.« Der Sprecher deutete auf einen nahe gelegenen, zertrampelten Platz, auf dessen Grasfläche ein Viereck abgesteckt worden war. Daneben standen noch ein paar Männer und Frauen beieinander, die aßen und sich unterhielten.

»Ich kann ringen«, warf Gaius rasch ein. Sein Gesicht erhellte sich. »Wir könnten unseren eigenen Wettkampf veranstalten.«

Die Gruppe murmelte interessiert. »Paarweise?«

»Alle auf einmal. Und der Letzte, der noch steht, ist der Sieger?«, schlug Gaius vor.

»Aber wir brauchen auch einen Preis. Wie wär’s, wenn wir alle unser Geld zusammenlegen, und der Letzte kriegt alles?«

Die Jungen in der Menge diskutierten den Vorschlag, und viele suchten bereits in ihren Tuniken nach Münzen. Sie gaben sie dem größten Jungen, der im Bewusstsein seiner Wichtigkeit mit dem wachsenden Münzenhaufen in Händen einherschritt.

»Ich bin Petronius. Hier sind etwa zwanzig Quadrantes. Wie viel habt ihr?«

»Hast du Geld dabei, Marcus? Ich hab nur ein paar Bronzestücke.« Gaius legte sie auf den Haufen in den Händen des Jungen, und Marcus steuerte drei weitere bei.

Petronius lächelte, als er noch einmal nachzählte. »Eine ganz hübsche Summe. Aber nachdem ich selbst auch teilnehme, brauche ich jemanden, der so lange darauf aufpasst, bis ich sie gewonnen habe.« Er grinste die beiden Neuankömmlinge an.

»Ich halte sie für dich«, sagte eins der Mädchen und ließ sich die Münzen in ihre kleineren Hände schütten.

»Das ist meine Schwester Lavia«, erklärte Petronius.

Sie zwinkerte Gaius und Marcus zu. Lavia sah aus wie eine kleinere, aber ebenso stämmige Version ihres Bruders.

Fröhlich schwatzend zog die Gruppe hinüber zu dem abgesteckten Ringplatz, und nur wenige blieben außerhalb des Vierecks stehen, um zuzusehen. Gaius zählte sieben Jungen außer Petronius, der bereits zuversichtlich seine Muskeln aufwärmte.

»Welche Regeln?«, fragte Gaius, während er selbst Beine und Rücken dehnte.

Mit einer Handbewegung versammelte Petronius die Gruppe um sich. »Es wird nicht geschlagen. Wer auf dem Rücken landet, scheidet aus. In Ordnung?«

Die Jungen stimmten grimmig zu, und die Atmosphäre wurde feindselig, als sie einander abschätzend musterten.

»Ich gebe das Zeichen. Sind alle bereit?«, rief Lavia von der Seite her.

Die Teilnehmer nickten. Gaius bemerkte, dass sich noch weitere Leute zu den Umstehenden gesellten, stets bereit zuzuschauen oder auf den einen oder anderen Teilnehmer zu wetten. Die Luft roch sauber und nach Gras, und Gaius fühlte sich unglaublich lebendig. Er scharrte mit den Füßen und erinnerte sich daran, was Tubruk über die Erde gesagt hatte. Römische Erde, gesättigt mit dem Blut und den Knochen seiner Vorfahren. Sie fühlte sich unter seinen Füßen stark an, und er machte sich bereit. Einen Augenblick lang schien die Zeit still zu stehen. Er sah, wie Tani, der Diskuschampion, sich drehte und losließ, sah, wie der Diskus hoch und gerade über den Campus Martius flog. Die sinkende Sonne war noch röter geworden und sandte eine warme Brise über die angespannten Jungen auf dem Ringplatz.

»Los!«, schrie Lavia.

Gaius ließ sich auf ein Knie fallen und wich so einem Angriff aus, der über seinem Kopf verpuffte. Mit aller Kraft seiner Oberschenkel stieß er nach oben und riss seinen Gegner von den Füßen. Der Junge blieb lang ausgestreckt im staubigen Gras liegen. Gerade als Gaius wieder aufstand, wurde er von der Seite gerammt. Noch im Stürzen drehte er sich um die eigene Achse, sodass sein unbekannter Gegner unter ihm zu Fall kam. Gaius’ Gewicht nahm ihm die Luft. Marcus und Petronius hielten einander fest an Armbeuge und Schulter umklammert. Plötzlich wurde ein anderer Ringer blindlings in Petronius hineingestoßen, woraufhin die beiden zu Boden gingen. Gaius’ kurze Unaufmerksamkeit wurde sofort bestraft. Ein Arm schlang sich von hinten um seinen Hals und drückte auf seine Luftröhre. Er trat nach hinten aus und schrammte mit seiner Sandale das Schienbein des Gegners hinunter. Zugleich hieb er mit dem Ellenbogen nach hinten. Er fühlte, wie sich der Griff lockerte, doch dann wurden sie beide von einem Knäuel kämpfender Jungen zu Boden gestoßen. Gaius schlug hart auf und versuchte, an den Rand des Rings zu kriechen, obwohl fast im gleichen Moment ein Fußtritt seine Wange traf und sie aufriss.

Zuerst spürte er, wie die Wut in ihm hochstieg, aber dann sah er, dass der Angreifer ihn nicht einmal gesehen hatte. Vom Rand des Ringes aus feuerte er Marcus an, der soeben wieder auf die Füße gekommen war. Petronius lag geschlagen und offensichtlich bewusstlos auf dem Rücken. Nur Marcus und zwei weitere Jungen kämpften noch um den Sieg. Die Menge, die sich versammelt hatte, feuerte sie lauthals an, und schon wurden Nebenwetten abgeschlossen. Marcus packte einen seiner beiden Widersacher im Schritt und am Hals und versuchte, ihn hochzuheben, um einen Wurf anzusetzen. Der Junge strampelte wie wild, und Marcus wankte unter seiner Last, als der andere Gegner ihn um die Brust fasste und nach hinten umriss. Alle drei kamen in einem zuckenden Haufen Gliedmaßen zu Fall.

Der Fremde sprang mit einem Jubelschrei wieder auf die Füße und lief mit erhobenen Händen eine Siegerrunde um den Ring. Gaius hörte Marcus lachen und sog die Sommerluft tief ein, während sein Freund aufstand und sich den Staub abklopfte.

In einiger Entfernung hinter dem ausgedehnten Campus sah Gaius die Stadt, die vor Jahrhunderten auf den sieben uralten Hügeln erbaut worden war. Überall um sich herum hörte er die Rufe und Schreie seines Volkes, und unter den Füßen spürte er sein Land.

Im Licht einer schmalen Mondsichel, die das Ende des Monats ankündigte, gingen die beiden Jungen schweigend durch die warme Dunkelheit über die Felder und Wege des Gutes. Die Luft war vom Duft der Blumen und Früchte erfüllt, die Grillen zirpten in den Büschen. Sie kamen zu der Stelle, an der sie noch vor ein paar Stunden mit Tubruk gestanden hatten, die Ecke der mit Pflöcken markierten Grenze des neuen Feldes.

Weil der Mond so wenig Licht gab, musste Gaius sich den Weg mit Hilfe der Schnur ertasten, bis er zu dem Fleck mit der aufgebrochenen Erde kam. Hier blieb er stehen und zog ein schmales Messer aus dem Gürtel, das er aus der Küche mitgenommen hatte. Er sammelte sich und zog die scharfe Klinge über seinen Daumenballen. Sie drang tiefer als beabsichtigt ein, Blut strömte über seine Hand. Dann reichte er Marcus das Messer und hielt, ein wenig besorgt über die Verletzung, seinen Daumen hoch, um die Blutung zu verlangsamen.

Auch Marcus zog die Klinge über seinen Daumen, zuerst einmal, dann noch ein zweites Mal. Seine Schnitte waren weniger tief, und er musste sie zusammendrücken, damit ein paar Blutstropfen hervorquollen.

»Ich hab mir den Daumen fast abgeschnitten!«, sagte Gaius gereizt.

Marcus versuchte, ernst zu bleiben, schaffte es jedoch nicht. Er streckte die Hand aus, und in der Dunkelheit pressten sie ihre Handflächen aneinander, sodass sich ihr Blut vermengte. Dann drückte Gaius seinen pochenden, blutenden Daumen in die aufgebrochene Erde. Marcus sah ihn lange an, bevor er es ihm nachmachte.

»Jetzt bist auch du ein Teil dieses Anwesens, und wir sind Brüder«, verkündete Gaius feierlich. Marcus nickte. Schweigend traten sie den Weg zu den weitläufigen weißen Gutsgebäuden an. Marcus’ Augen füllten sich mit Tränen, unsichtbar in der Dunkelheit. Verstohlen wischte er sie weg. Seine Hand hinterließ Blutspuren in seinem Gesicht.

Gaius stand oben auf dem Tor des Gutes, schützte die Augen mit der flachen Hand gegen die helle Sonne und sah Richtung Rom. Tubruk hatte gesagt, sein Vater würde aus der Stadt zurückkommen, und er wollte der Erste sein, der ihn auf der Straße entdeckte. Er spuckte sich auf die Finger und zog sie durch sein dunkles Haar, um es glatt zu streichen.

Er genoss es, dem täglichen Einerlei zu entkommen. Die Sklaven unter ihm sahen nur hin und wieder zu ihm herauf, wenn sie von einem Gebäude zum anderen gingen. Es war ein seltsames Gefühl, zu beobachten und dabei selbst unbeobachtet zu sein: ein Augenblick der Zurückgezogenheit und Stille. Wahrscheinlich suchte seine Mutter irgendwo nach ihm, damit er ihr beim Obstpflücken den Korb trug, oder Tubruk suchte jemanden, der die Ledergeschirre der Pferde und Ochsen wachste und ölte, das oder tausend andere kleine Aufgaben warteten auf ihn. Irgendwie hoben all diese Dinge, die er gerade nicht tat, seine Stimmung erheblich. Sie konnten ihn nicht finden, und er befand sich hier in seinem Geheimversteck und beobachtete die Straße nach Rom. Er entdeckte eine Staubwolke und stellte sich auf den Torpfosten. Er war sich nicht sicher. Der Reiter war noch weit weg, aber diese Straße führte an nicht allzu vielen Gütern vorbei, und so standen die Chancen gut.

Nach ein paar Minuten erkannte er den Mann auf dem Pferd und stieß einen Jubelschrei aus. Mit wirbelnden Armen und Beinen kletterte er eilig nach unten. Das Tor war schwer, doch Gaius warf sich mit seinem ganzen Gewicht dagegen, bis es knarrend so weit aufschwang, dass er sich hindurchzwängen konnte, um seinem Vater auf der Straße entgegenzurennen.

Seine Kindersandalen klapperten auf dem trockenen Boden, und er holte kräftig mit den Armen aus, als er auf die näher kommende Gestalt zurannte. Sein Vater war einen ganzen Monat fort gewesen, und Gaius wollte ihm unbedingt zeigen, wie viel er in der Zwischenzeit gewachsen war. Zumindest behaupteten das alle.

»Tata!«, rief er freudig. Sein Vater hörte ihn und zügelte das Pferd, als der Junge auf ihn zugerannt kam. Er war müde und staubig, doch Gaius sah den Ansatz eines Lächelns in den Winkeln seiner blauen Augen auftauchen.

»Ist das ein Bettler oder ein kleiner Bandit, den ich da auf der Straße sehe?«, sagte sein Vater und streckte den Arm aus, um seinen Sohn zu sich in den Sattel zu heben.

Gaius lachte, als er durch die Luft gewirbelt wurde und klammerte sich am Rücken seines Vaters fest. Das Pferd schlug eine langsamere Gangart an und trottete gemächlich auf die Einfriedung des Gutes zu.

»Du bist gewachsen, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe«, sagte sein Vater heiter.

»Ein bisschen. Tubruk sagt, ich wachse wie das Korn.«

Sein Vater nickte zur Antwort, und eine friedliche Stille machte sich zwischen ihnen breit, die anhielt, bis sie das Tor zum Gut erreichten. Gaius ließ sich vom Pferderücken gleiten und stieß das Tor weit genug auf, sodass sein Vater hindurchreiten konnte.

»Bleibst du dieses Mal länger zu Hause?«

Sein Vater stieg ab, zauste Gaius’ Haar und zerstörte so den glatten Sitz, an dem Gaius so sorgfältig mit Spucke gearbeitet hatte.

»Ein paar Tage, vielleicht sogar eine Woche. Ich wünschte, es wäre länger, aber es gibt etwas für die Republik zu tun.« Er hielt seinem Sohn die Zügel hin. »Bring den alten Merkur in den Stall und reibe ihn gründlich ab. Wir sehen uns, sobald ich das Gesinde inspiziert und mit deiner Mutter gesprochen habe.«

Gaius’ fröhlicher Gesichtsausdruck verdüsterte sich bei Aurelias Namen. Seinem Vater entging das nicht. Er seufzte, legte seinem Sohn die Hand auf die Schulter und zwang ihn, ihn anzusehen. »Ich würde ja gerne mehr Zeit außerhalb der Stadt verbringen, mein Junge, aber was ich tue, ist mir sehr wichtig. Verstehst du das Wort >Republik< überhaupt?«

Gaius nickte und sein Vater sah ihn skeptisch an.

»Das bezweifle ich. Nicht einmal alle meine Mitsenatoren verstehen es richtig. Wir leben eine Idee, eine Regierungsform, die jedermann eine Stimme gibt, selbst dem einfachen Mann. Ist dir klar, wie ungewöhnlich das ist? Jedes andere kleine Land, das ich kenne, wird von einem König oder einem anderen Oberhaupt regiert. Der König gibt seinen Freunden Land und nimmt Geld von denen, die es sich mit ihm verscherzt haben. Das ist so, als ließe man ein kleines Kind mit einem Schwert herumspielen.

In Rom wird alles durch Gesetze geregelt. Die Gesetze sind noch nicht vollkommen oder so gerecht, wie ich sie mir wünschte, aber zumindest versuchen sie es. Und diesem Versuch widme ich mein Leben, denn er ist es wert - auch deines, wenn die Zeit gekommen ist.«

»Aber ich vermisse dich«, erwiderte Gaius, obwohl er wusste, dass das selbstsüchtig war.

Der Blick seines Vaters wurde hart, dann jedoch streckte er die Hand aus und raufte noch einmal Gaius’ Haar.

»Ich vermisse dich auch. Deine Knie sind schmutzig, und diese Tunika würde besser zu einem Straßenjungen passen, aber ich vermisse dich. Geh und wasch dich, aber erst nachdem du Merkur abgerieben hast.«

Er lächelte wehmütig und sah zu wie, sein Sohn mit dem Pferd davontrottete. Tubruk hatte Recht. Gaius war wirklich gewachsen.

Im Stall rieb Gaius die Flanken des Pferdes seines Vaters ab. Er wischte Staub und Schweiß fort und dachte dabei über die Worte seines Vaters nach. Diese Idee von einer Republik hörte sich gut an, aber es war bestimmt viel aufregender, ein König zu sein.

Jedes Mal, wenn Gaius’ Vater Julius längere Zeit weg gewesen war, bestand Aurelia auf einem formellen Mahl im lang gezogenen Triclinium. Die beiden Jungen saßen dann auf Kinderstühlen neben den Liegen, auf denen Aurelia und ihr Mann barfuß und lang ausgestreckt ruhten. Das Essen wurde von den Haushaltssklaven auf niedrigen Tischen serviert.

Gaius und Marcus hassten diese Mahlzeiten. Es war ihnen verboten, miteinander zu schwatzen, und so mussten sie bei jedem einzelnen Gang in quälender Stille verharren. Bevor sie nach etwas griffen, mussten sie den Tischdienern die Hände zum Abwischen hinhalten. Obwohl sie beide über einen gesunden Appetit verfügten, hatten sie gelernt, Aurelia nicht durch zu hastiges Essen zu kränken, also kauten und schluckten sie ebenso langsam wie die Erwachsenen, während die Abendschatten immer länger wurden.

Gebadet und in saubere Kleider gehüllt, fühlte sich Gaius in Gegenwart seiner Eltern unwohl.

Ihm war heiß. Sein Vater hatte die Vertrautheit, mit der er ihm bei ihrem ersten Treffen auf der Straße begegnet war, abgelegt und sprach mit seiner Frau, als existierten die beiden Jungen überhaupt nicht. Immer, wenn er Gelegenheit dazu hatte, beobachtete Gaius seine Mutter genau, suchte nach Anzeichen des Zitterns, das einen ihrer Anfälle ankündigte. Am Anfang hatten sie ihm Angst eingejagt und ihn zum Weinen gebracht. Aber nach einigen Jahren hatte sich eine emotionale Hornhaut gebildet, und jetzt hoffte er manchmal sogar auf das Zittern, damit er und Marcus vom Tisch weggeschickt wurden.

Er versuchte zuzuhören und Interesse für die Unterhaltung zu zeigen, aber es ging ausschließlich um Gesetze und Stadtverordnungen. Sein Vater kam nie mit aufregenden Geschichten über Hinrichtungen oder berühmte Straßenräuber nach Hause.

»Du setzt zu viel Glauben in die Menschen, Julius«, sagte Aurelia soeben. »Man muss sich um sie kümmern, wie sich ein Vater um sein Kind kümmern muss. Manche mögen Geist und Intelligenz besitzen, das gebe ich zu. Aber die meisten müssen beschützt werden ...« Ihre Stimme erstarb plötzlich, und es herrschte Stille.

Julius hob den Blick und Gaius sah, wie Traurigkeit das Gesicht seines Vaters überzog. Beschämt sah er weg, als sei er Zeuge einer intimen Handlung zwischen den beiden geworden.

»Relia?«

Gaius hörte die Stimme seines Vaters und sah wieder seine Mutter an, die regungslos wie eine Statue dalag, den Blick auf ein Geschehen in weiter Ferne gerichtet. Ihre Hand zitterte, und plötzlich verzog sich ihr Gesicht wie das eines Kindes. Das Zittern, das in der Hand angefangen hatte, breitete sich über ihren ganzen Körper aus, und sie verdrehte sich krampfartig, wobei einer ihrer Arme die Schüsseln von dem niedrigen Tisch fegte. Ihre Stimme brach in kreischenden Lauten aus ihrer Kehle hervor, sodass die beiden Jungen unwillkürlich zusammenzuckten.

Mit einer geschmeidigen Bewegung erhob sich Julius von der Liege und nahm seine Frau in die Arme.

»Lasst uns allein«, befahl er. Gaius und Marcus verließen gemeinsam mit den Sklaven den Raum, und der Mann blieb allein mit der sich windenden Gestalt in den Armen zurück.

Am nächsten Morgen wurde Gaius von Tubruk geweckt, der ihn an der Schulter rüttelte.

»Steh auf, Junge. Deine Mutter will dich sehen.«

Gaius stöhnte leise, aber Tubruk hatte ihn gehört.

»Sie ist immer sehr ruhig nach einer ... schlechten Nacht.«

Gaius hielt beim Anziehen inne und schaute zu dem alten Gladiator auf.

»Manchmal hasse ich sie.«

Tubruk seufzte leise.

»Ich wünschte, du hättest sie noch gekannt, wie sie damals war, bevor die Krankheit begonnen hat. Früher hat sie vor sich hin gesungen, und im Haus herrschte immer Fröhlichkeit. Denk immer daran, dass sie noch da ist, aber eben nicht zu dir herauskommen kann. Sie liebt dich wirklich, weißt du das?«

Gaius nickte und strich sich achtlos über die Haare.

»Ist mein Vater schon wieder in die Stadt zurückgeritten?«, fragte er, obwohl er die Antwort bereits kannte. Sein Vater hasste es, hilflos zu sein.

»Er ist bei Tagesanbruch aufgebrochen«, antwortete Tubruk.

Ohne ein weiteres Wort folgte Gaius ihm durch den kühlen Gang zu den Gemächern seiner Mutter.

Sie saß aufrecht im Bett. Ihr Gesicht war frisch gewaschen, ihr langes Haar hing ihr in einem Zopf über den Rücken. Sie war blass, doch sie lächelte, als Gaius eintrat und er schaffte es, zurückzulächeln.

»Komm näher, Gaius. Es tut mir Leid, wenn ich dir gestern Abend Angst gemacht habe.«

Er ging auf sie zu und ließ sich von ihr umarmen, aber er fühlte nichts dabei. Wie sollte er ihr erklären, dass er keine Angst mehr hatte? Er hatte es zu oft miterlebt, und jedes Mal war es schlimmer gewesen. Ein Teil von ihm wusste, dass sie immer kränker wurde, und eigentlich war sie schon dabei, ihn zu verlassen. Aber daran durfte er im Augenblick nicht denken; es war besser, diese Gedanken für sich zu behalten, zu lächeln, sie zu umarmen und ungerührt wieder hinauszugehen.

»Was hast du heute vor?«, fragte sie, als sie ihn losließ.

»Meine Arbeit mit Marcus erledigen«, antwortete er.

Sie nickte und schien ihn zu vergessen. Er wartete noch eine Weile, und als sie nichts mehr sagte, drehte er sich um und verließ das Zimmer.

Als die kleine leere Stelle in ihren Gedanken verblasste und sie sich wieder im Raum umsah, war sie allein.

Marcus wartete bereits mit einem Vogelnetz am Tor auf ihn. Er sah seinem Freund in die Augen und schlug einen fröhlichen Ton an.

»Ich glaube, heute haben wir Glück. Wir fangen bestimmt einen Falken oder sogar zwei. Dann richten wir sie ab und sie sitzen uns auf der Schulter und greifen auf Befehl an. Suetonius rennt dann weg, wenn er uns sieht.«

Gaius kicherte und vertrieb die Gedanken an seine Mutter aus dem Kopf. Er vermisste seinen Vater schon jetzt, aber vor ihnen lag ein langer Tag, und im Wald gab es immer etwas zu erleben. Er zweifelte an Marcus’ Idee, Falken fangen zu gehen, doch er würde mitmachen, bis der Tag zu Ende und jeder Pfad abgelaufen war.

In dem grünen Zwielicht übersahen sie fast den Raben, der auf einem niedrigen Ast saß, nicht weit von den sonnenüberfluteten Feldern. Marcus entdeckte ihn zuerst, erstarrte augenblicklich und hielt Gaius mit einer Hand vor der Brust zurück.

»Sieh mal, wie groß der ist!«, flüsterte er und wickelte sein Vogelnetz auf.

Sie duckten sich, krochen vorwärts, und der Vogel beobachtete sie interessiert. Selbst für einen Raben war er sehr groß, und als sie ihm zu nahe kamen, breitete er seine großen, schwarzen Schwingen aus und hüpfte fast träge mit einem einzigen Flügelschlag auf den nächsten Baum. »Du schleichst dich von hinten an«, flüsterte Marcus aufgeregt und untermalte seine Worte mit einer Kreisbewegung der Hand. Gaius grinste ihn an und verdrückte sich seitlich ins Unterholz.

Er vollzog kriechend einen großen Kreis und versuchte dabei, den Baum im Auge zu behalten und gleichzeitig auf dürre Äste und raschelndes Laub zu achten.

Als Gaius auf der anderen Seite wieder auftauchte, sah er, dass der Rabe erneut den Baum gewechselt hatte. Dieses Mal saß er auf einem langen Baumstamm, der schon vor Jahren halb umgestürzt war. Die sanfte Neigung des Baumes war leicht zu erklettern, und Marcus hatte bereits begonnen, Zentimeter für Zentimeter auf den darauf sitzenden Vogel zuzukriechen. Die ganze Zeit versuchte er, sein Netz für einen Wurf freizuhalten.

Gaius tastete sich vorsichtig näher an das untere Ende des Stammes heran. »Warum fliegt er nicht weg?«, fragte er sich, als er zu dem Raben hochsah, und genau in diesem Moment legte das Tier seinen großen Kopf von einer auf die andere Seite und breitete die Flügel aus. Beide Jungen erstarrten, bis der Vogel sich wieder beruhigt zu haben schien. Dann rutschte Marcus mit links und rechts von dem dicken Baumstamm herabbaumelnden Beinen noch ein Stück weiter.

Als Marcus nur noch wenige Meter entfernt war, glaubte er, der Vogel würde jetzt doch wieder davonfliegen. Der Rabe hüpfte auf dem Stamm und den Ästen herum und zeigte keinerlei Anzeichen von Furcht. Marcus wickelte sein Netz auf. Es war nur ein Geflecht aus rauem Garn, in dem normalerweise in der Gutsküche Zwiebeln aufbewahrt wurden, in Marcus’ Händen jedoch wurde es augenblicklich zum Furcht erregenden Werkzeug eines Vogelfängers.

Vorsichtig holte er aus, hielt den Atem an und warf. Der Rabe krächzte empört und flatterte auf, holte noch ein weiteres Mal mit seinen Schwingen aus und landete schließlich auf einem zarten, jungen Baum direkt vor Gaius, der ohne zu überlegen einfach auf ihn zurannte.

Während Marcus den Stamm wieder hinunterrutschte, versetzte Gaius dem jungen Baum einen solchen Stoß, dass er mit einem plötzlichen Krachen nachgab und der Vogel zwischen Ästen und Blättern am Boden gefangen war. Gaius hielt den Baum zu Boden gedrückt, sodass Marcus hineingreifen konnte und den schweren Vogel zu fassen bekam. Er hielt ihn mit beiden Händen umklammert und hob ihn triumphierend hoch. Als der Vogel sich verzweifelt wehrte, um doch noch zu entkommen, musste der Junge fester zupacken.

»Hilf mir doch! Er ist unheimlich stark«, schrie Marcus, und Gaius legte seine Hände ebenfalls um das zappelnde Bündel. Plötzlich durchfuhr ihn ein stechender Schmerz. Der Schnabel war lang und gebogen wie ein Speer aus schwarzem Holz, und damit hackte der Rabe auf seine Hand ein. Er schnappte nach dem Stück weicher Haut zwischen Daumen und Zeigefinger und bekam es auch zu fassen.

Gaius schrie auf. »Zieh ihn weg. Er hat meine Hand, Marcus.« Der Schmerz war unerträglich, und beide gerieten in Panik. Marcus bemühte sich weiter, den Vogel zu bändigen, während Gaius versuchte, den Schnabel von seiner Hand zu lösen.

»Ich krieg ihn nicht los, Marcus!«

»Dann musst du die Hand eben rausziehen«, erwiderte Marcus aufgebracht. Sein Gesicht war vor Anstrengung ganz rot.

»Das geht nicht. Der Schnabel ist wie ein Messer. Lass ihn los!«

»Ich lasse ihn nicht los. Dieser Rabe gehört uns, und wir haben ihn wie richtige Jäger in der Wildnis gefangen.«

Gaius stöhnte vor Schmerzen.

»Sag lieber, er hat uns gefangen.« Er zappelte vor Schmerz mit den Fingern, und der Vogel ließ überraschend die Hand los und versuchte, nach einem der Finger zu schnappen. Gaius stöhnte erleichtert auf, brachte sich rasch aus der Gefahrenzone, presste die Hand an den Bauch und krümmte sich.

»Jedenfalls ist er ein echter Kämpfer«, meinte Marcus grinsend und wechselte den Griff, damit ihn der suchende Vogelkopf nicht doch noch zu fassen bekam.

»Wir bringen ihn nach Hause und richten ihn ab. Raben sind sehr klug, hab ich gehört. Er kann Kunststücke lernen, und dann nehmen wir ihn mit aufs Marsfeld.«

»Er braucht einen Namen. Irgendwas Kriegerisches«, nuschelte Gaius, der an seiner verletzten Hand lutschte.

»Wie heißt noch mal dieser Gott, der aussieht wie ein Rabe, oder der immer einen bei sich trägt?« »Keine Ahnung. Ein griechischer wahrscheinlich. Zeus?«

»Der hat eine Eule, glaube ich. Irgendeiner hat jedenfalls eine Eule.«

»Ich erinnere mich zwar an keinen mit einem Raben, aber Zeus ist ein guter Name für ihn.«

Sie lächelten einander an. Der Rabe wurde ruhig und sah sich mit scheinbarer Gelassenheit um. »Dann also Zeus.«

Sie liefen quer über die Felder zum Gut zurück. Marcus hielt den Vogel die ganze Zeit über gut fest.

»Wir müssen ein Versteck für ihn finden«, sagte er. »Deine Mutter kann es nicht leiden, wenn wir Tiere fangen. Weißt du noch, als sie die Sache mit dem Fuchs herausgefunden hat?«

Gaius zuckte zusammen und blickte verschämt auf den Boden. »Neben den Stallungen gibt es noch einen leeren Hühnerstall. Dort könnten wir ihn unterbringen. Was fressen Raben eigentlich?«

»Fleisch, glaube ich. Jedenfalls kommen sie immer auf die Schlachtfelder. Oder waren das Krähen? Wir holen einfach ein paar Reste aus der Küche, dann sehen wir schon, was er frisst.

Das wird kein Problem.«

»Wenn wir ihn abrichten, müssen wir ihm eine Leine ans Bein binden, sonst fliegt er weg«, murmelte Gaius nachdenklich.

Tubruk sprach gerade mit den drei Zimmermännern, die einen Teil des Hausdaches reparieren sollten. Als die Jungen in den Hof einbogen, erspähte er sie sofort und winkte sie zu sich. Sie wechselten einen fragenden Blick. Noch war Zeit zum Wegrennen. Aber Tubruk, der sich wieder zu den Arbeitern umgedreht hatte, würde sie trotz seiner scheinbaren Unaufmerksamkeit nur ein paar Schritte weit kommen lassen.

»Jedenfalls gebe ich Zeus nicht wieder her«, flüsterte Marcus entschlossen.

Gaius konnte nur nicken, weil sie sich bereits in Hörweite der Männer befanden.

»Ich komme in ein paar Minuten nach«, wies Tubruk die Männer an, die sich auf den Weg zur Arbeit machten. »Nehmt schon mal die Ziegel von diesem Abschnitt herunter, bis ich da bin.«

Er drehte sich zu den Jungen um. »Was ist das? Ein Rabe. Der muss krank sein, wenn er sich von euch hat erwischen lassen.«

»Wir haben ihm im Wald eine Falle gestellt. Wir sind ihm gefolgt, haben ihn vom Baum heruntergeholt und gefangen«, antwortete Marcus trotzig.

Tubruk lächelte, als habe er verstanden, und streckte die Hand aus, um über den langen Vogelschnabel zu streichen. Der Kampfgeist des Raben schien verflogen. Der Vogel hechelte fast wie ein Hund. In dem scharfen Schnabel konnte man die schmale Zunge sehen.

»Armes Tier«, murmelte Tubruk. »Sieht aus, als hätte er große Angst. Was wollt ihr mit ihm anfangen?«

»Sein Name ist Zeus. Wir richten ihn als Haustier ab, wie einen Falken.«

Tubruk schüttelte langsam den Kopf. »Man kann ein wildes Tier nicht mehr abrichten. Ein Falke wird von einem Fachmann schon vom Küken an aufgezogen, und selbst der bleibt wild. Sogar der beste Falkner verliert hin und wieder einen, weil er zu weit wegfliegt. Zeus ist schon ausgewachsen. Wenn ihr ihn behaltet, geht er ein.«

»Wir könnten ihn doch in einen der alten Hühnerverschläge setzen«, entgegnete Gaius beharrlich. »Die stehen doch sowieso leer. Wir können ihn füttern und an einer Leine fliegen lassen.«

Tubruk schnaubte ein wenig verächtlich. »Weißt du, was ein wilder Vogel tut, wenn man ihn eingesperrt hält? Er hasst Mauern um sich herum, und ganz besonders die engen Wände eines Hühnerverschlags. Damit zerstört ihr seine Seele, und es dauert nicht lange, bis er sich aus lauter Verzweiflung selbst die Federn ausreißt. Er frisst nicht mehr und verletzt sich selbst so lange, bis er stirbt. Euer Zeus hier zieht den Tod der Gefangenschaft vor. Das Beste, was ihr für ihn tun könnt, ist, ihn wieder freizulassen. Ich glaube nicht, dass ihr ihn überhaupt hättet fangen können, wenn er nicht krank wäre, also stirbt er vielleicht ohnehin. Aber lasst ihn doch wenigstens seine letzten Tage in Freiheit genießen, draußen im Wald und in der Luft, dort, wo er hingehört.«

»Aber .« Marcus verstummte und schaute auf den Raben hinunter.

»Kommt schon«, drang Tubruk in sie. »Gehen wir hinaus aufs Feld und sehen zu, wie er davonfliegt.«

Mit schweren Herzen schauten sich die beiden Jungen an und folgten Tubruk zum Tor hinaus. Dort blieben sie stehen und schauten zusammen den Hügel hinunter.

»Lass ihn frei, Junge«, sagte Tubruk. Etwas in seiner Stimme veranlasste sie, ihn verwundert anzuschauen.

Marcus hob die Arme, öffnete die Hände, und Zeus erhob sich in die Luft. Er breitete seine großen schwarzen Schwingen aus und versuchte, an Höhe zu gewinnen. Dann krächzte er von oben empört auf sie herab und stieg noch höher, bis er nur noch als Punkt am Himmel über dem Wald zu sehen war. Schließlich entschwand er im Sinkflug in Richtung Wald ihren Blicken. Tubruk legte jedem der Jungen eine raue Hand auf den Nacken.

»Das war eine edle Tat. Aber es warten noch etliche andere Aufgaben auf euch. Die ganze Zeit konnte ich euch nicht finden, und jetzt hat sich so einiges angesammelt. Also marsch hinein mit euch.«

Er schickte die Jungen durch das Tor zurück in den Hof und ließ noch einen letzten Blick über die Felder und hinüber zum Wald schweifen, bevor er ihnen folgte.

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