5

Das Erste, was ihnen mitgeteilt wurde, war, dass sie genug Schlaf bekommen würden. Acht Stunden lang, von kurz vor Mitternacht bis zum Morgengrauen, wurden sie in Ruhe gelassen. Ansonsten wurden sie unablässig unterrichtet und abgehärtet, oder sie stopften sich in kurzen Pausen von nur wenigen Minuten hastig Essen in den Mund.

Marcus war die Begeisterung gleich am ersten Tag ausgetrieben worden, als Renius ihn mit seiner ledrigen Hand am Kinn packte und eingehend musterte.

»Genauso willensschwach wie seine Mutter.«

Mehr sagte er zu diesem Zeitpunkt nicht, aber der erniedrigende Gedanke, dass der alte Soldat, dem er so gerne gefallen wollte, seine Mutter in der Stadt gesehen haben könnte, trieb Marcus die Schamesröte ins Gesicht. Vom ersten Moment an war sein Wunsch, es Renius recht zu machen, für ihn zugleich eine Quelle der Scham. Er wusste, dass er sich bei der Ausbildung hervortun musste, aber nicht auf eine Art, die der alte Bastard gutheißen würde.

Es war leicht, Renius zu hassen. Von Anfang an rief er Gaius bei seinem Namen, Marcus hingegen bezeichnete er als »den Jungen« oder »das Hurenbalg«. Gaius wusste, dass er das absichtlich tat. Es war ein Versuch, ihren Hass als Werkzeug einzusetzen, um sie härter und besser zu machen. Trotzdem ärgerte er sich jedes Mal, wenn sein Freund wieder und wieder gedemütigt wurde.

Durch das Anwesen führte ein Fluss sein kaltes Wasser zum Meer. Einen Monat nach Renius’ Ankunft hatte er sie noch vor der Mittagsstunde hinunter ans Wasser geführt und einfach auf einen dunklen Pfuhl gedeutet.

»Rein da«, sagte er.

Sie hatten einander angeschaut und mit den Achseln gezuckt.

Schon vom ersten Moment an machte die Kälte sie beinahe gefühllos.

»Ihr bleibt da drin, bis ich wiederkomme, um euch zu holen«, lautete der Befehl, den Renius ihnen über die Schulter zurief. Er ging zum Haus zurück, wo er ein leichtes Mittagessen verzehrte, ein Bad nahm und schließlich den ganzen heißen Nachmittag verschlief.

Marcus spürte die Kälte viel mehr als sein Freund. Schon nach ein paar Stunden war sein Gesicht blau, und er konnte vor Schlottern kaum noch sprechen. Während der Nachmittag immer länger wurde, spürte er seine Beine immer weniger, und die Muskeln in Gesicht und Nacken schmerzten vom ständigen Zittern. Mühsam unterhielten sich die beiden über alles Mögliche, Hauptsache es lenkte sie von der Kälte ab. Die Schatten wurden länger und ihr Gespräch erstarb. Gaius ging es bei weitem nicht so schlecht wie seinem Freund. Auch seine Glieder waren schon seit langer Zeit taub, aber das Atmen fiel ihm noch immer leicht, wohingegen Marcus nur in kurzen Stößen Luft holen konnte.

Unbemerkt kühlte der Nachmittag auch außerhalb des von Bäumen überschatteten Flussbeckens mit seinem schnell fließenden Wasser weiter ab. Marcus ruhte sich aus, so gut es eben ging. Er neigte den Kopf erst auf die eine, dann auf die andere Seite, ein Auge war immer halb unter Wasser und blinzelte träge, ohne etwas zu sehen. Manchmal schweiften seine Gedanken so weit ab, dass selbst seine Nase unter Wasser geriet. Dann prustete er plötzlich und richtete sich wieder auf, nur um bald darauf wieder in sich zusammenzusacken. Seit einer Ewigkeit hatten sie kein Wort mehr gesprochen. Die Sache war zu einer Art Privatkrieg geworden, doch sie kämpften nicht gegeneinander. Sie würden in dem kalten Wasser stehen bleiben, bis man sie rief, bis Renius kam und ihnen befahl, herauszukommen.

Der Tag verflog und sie wussten, sie würden nicht mehr aus eigener Kraft herausklettern können.

Selbst wenn Renius jetzt auftauchte und sie lobte, würde er sie eigenhändig herausziehen müssen. Falls die Götter überhaupt ein Auge auf sie hatten, würde er dafür wenigstens nass und schmutzig werden.

Marcus nickte immer wieder ein, schreckte dann plötzlich hoch und merkte, dass er irgendwie aus der Kälte und der Dunkelheit weggetrieben war. Dann fragte er sich, ob er im Fluss sterben würde.

In einem dieser halbwachen Traumzustände spürte er plötzlich Wärme und hörte das einladende Knistern eines ordentlichen Lagerfeuers. Ein alter Mann schob die brennenden Holzscheite mit den Zehen zusammen und lächelte in die aufstiebenden Funken. Er drehte sich um und schien erst jetzt den totenblassen, verirrten Jungen zu bemerken, der ihn beobachtete.

»Komm näher ans Feuer, Junge. Ich tu dir nichts.«

Das Gesicht des alten Mannes wies die Falten und den Schmutz von Jahrzehnten harter Arbeit und Sorgen auf. Es war vernarbt und von Runzeln durchzogen, sodass es fast wie eine zusammengeflickte Börse aussah. Die Hände waren von dicken Adern überzogen, die unter der Haut hin- und herwanderten, wenn er die geschwollenen Gelenke bewegte. Er war wie ein Reisender gekleidet, seine Kleider waren geflickt, und um seinen Hals war ein dunkelrotes Tuch geschlungen.

»Was haben wir denn hier? Einen Schlammfisch! Die sind selten in dieser Gegend, aber es heißt, von einem wird man satt. Du könntest dir ein Bein abschneiden, davon werden wir beide satt. Ich würde die Blutung stillen, mein Junge, doch, doch, ich habe so manche Tricks auf Lager.«

Bei dieser Vorstellung zogen sich riesige Augenbrauen interessiert nach oben. Die Augen glitzerten und der Mund öffnete sich und entblößte weiches Zahnfleisch, feucht und faltig. Der Mann klopfte seine Taschen ab, und auf den dunkelgelben Wänden, die nur von dem Feuer beleuchtet wurden, ahmten die Schatten seine Bewegungen zappelnd nach.

»Halt still, Junge. Ich habe ein Messer mit einer Sägeklinge für dich .«

Eine Hand wie rauer Stein presste sich über sein ganzes Gesicht, sie schien ihm plötzlich größer, als eine Hand eigentlich sein durfte.

Der Atem des alten Mannes streifte sein Ohr und roch süßlich nach faulen Zähnen.

Marcus erwachte würgend und schnappte verzweifelt nach Luft. Sein Magen war leer.

Inzwischen war der Mond aufgegangen. Gaius stand immer noch neben ihm, das Gesicht knapp über dem schwarzen, glasigen Wasser. Sein Kopf tauchte immer wieder mit einem Nicken in die Dunkelheit ein.

Es reichte. Wenn er die Wahl zwischen Aufgeben und Tod hatte, dann gab er eben auf und scherte sich nicht um die Folgen. Taktisch gesehen war das bestimmt die bessere Wahl. Manchmal war es besser, sich zurückzuziehen und seine Kräfte neu zu sammeln. Das war es, was der alte Mann ihnen hatte sagen wollen. Er wollte, dass sie aufgaben. Wahrscheinlich wartete er irgendwo ganz in der Nähe. Er wartete darauf, dass sie diese wichtigste aller Lektionen begriffen. Marcus konnte sich nicht mehr an den Traum erinnern, nur eine unbestimmte Angst, erstickt zu werden, war zurückgeblieben. Sein Körper schien seine gewohnte Form verloren zu haben und stand schwer und aufgedunsen unter der Wasseroberfläche. Er war zu einer Art dünnhäutigem, am Flussgrund lebendem Fisch geworden. Marcus konzentrierte sich, und sein Unterkiefer hing schlaff herunter; kaltes Wasser, Wasser, so kalt wie er selbst, rann davon herab. Er schwankte nach vorn und hob den Arm, um sich an einer Wurzel festzuhalten. Zum ersten Mal seit elf Stunden befand sich zumindest ein Teil seines Körpers endlich außerhalb des Wassers. Er fühlte eine Todeskälte in sich und empfand keinerlei Bedauern. Sicher, Gaius stand immer noch da, doch wahrscheinlich hatten sie einfach unterschiedliche Stärken. Marcus jedenfalls würde nicht sterben, nur um einem widerlichen alten Gladiator zu imponieren.

Zentimeter für Zentimeter kroch er aus dem Wasser. Mit Schlamm im Gesicht und auf der Brust zog er sich Stück für Stück ans Ufer. Sein aufgeblähter Bauch schien in die Höhe zu treiben, als würde er von innen aufgeblasen. Als endlich sein ganzes Körpergewicht auf der festen Erde wieder zum Tragen kam, überkam ihn eine ekstatische Erleichterung. Er lag einfach nur da und wurde von krampfartigen Würgeanfällen geschüttelt. Gelbe Gallenflüssigkeit tropfte ihm aus dem Mundwinkel und vermischte sich mit dem schwarzen Schlamm. Die Nacht war still, und es kam ihm vor, als sei er soeben aus seinem eigenen Grab gekrochen.

Im Morgengrauen lag er immer noch da. Ein Schatten verdeckte die bleiche Sonne über ihm. Renius stand vor ihm und runzelte die Stirn, nicht über Marcus, sondern über die kleine, blasse Gestalt des Jungen, der immer noch mit geschlossenen Augen und blauen Lippen im Wasser stand. Während Marcus ihn betrachtete, zuckte ein kurzer Anflug von Sorge über das eiserne Gesicht.

»Junge!«, bellte die Stimme, die sie bereits zu hassen gelernt hatten. »Gaius!«

Die Gestalt im Wasser schwankte leicht in der Strömung, doch es kam keine Antwort. Renius’ Kiefermuskeln traten hervor. Der alte Soldat watete bis zu den Oberschenkeln in das Flussbecken, fasste hinein und warf sich den Zehnjährigen wie einen Welpen über die Schulter. Gaius riss zwar kurz die Augen auf, doch er schien nicht zu begreifen, was mit ihm geschah. Marcus rappelte sich auf, als der alte Mann mit seiner Last davonging. Offensichtlich marschierte er zurück zum Haus. Mit protestierenden Muskeln trottete Marcus hinterher.

Hinter ihnen, im Schatten auf der anderen Uferseite, stand Tubruk, so wie er es schon die ganze Nacht getan hatte, durch das dichte Laub vor ihren Blicken geschützt. Seine Augen waren zu Schlitzen zusammengekniffen und so kalt wie der Fluss.

Renius schien von einer niemals versiegenden Wut angetrieben zu werden. In all den Monaten ihrer Ausbildung hatten die Jungen ihn nicht ein einziges Mal lächeln sehen, es sei denn aus Spott. An schlechten Tagen rieb er sich den Nacken, während er sie anbrüllte und erweckte den Eindruck, dass er jeden Augenblick die Geduld verlieren würde. Noch schlimmer war er in der Mittagssonne, wenn sein Gesicht schon beim kleinsten Fehler vor Wut fleckig wurde.

»Haltet den Stein gerade vor euch!«, bellte er, während Marcus und Gaius in der Sonne schwitzten. Ihre Aufgabe an diesem Nachmittag bestand darin, mit einem faustgroßen Stein in der ausgestreckten Hand ruhig dazustehen. Am Anfang war es leicht gewesen. Jetzt hingegen schmerzten Gaius’ Schultern, seine Arme fühlten sich an, als gehörten sie nicht mehr zu seinem Körper. Er versuchte, die Muskeln anzuspannen, doch sie gehorchten seinem Willen nicht mehr. Schweißüberströmt sah er, wie sich der Stein eine Handbreit senkte. Er spürte eine Welle aus Schmerz über seinen Bauch wandern, als Renius mit einer kurzen Peitsche zuschlug. Seine Arme zitterten, und die Muskeln bebten vor Schmerz. Er konzentrierte sich wieder auf den Stein und biss sich auf die Lippen.

»Ihr lasst ihn nicht fallen. Ihr nehmt den Schmerz an. Ihr lasst ihn nicht fallen.«

Renius’ Stimme verfiel in einen rauen Singsang, während er um die Jungen herumschritt.

Sie hatten die Steine jetzt zum vierten Mal angehoben, und jedes Mal wurde es schwerer. Renius ließ ihnen kaum eine Minute Zeit, um die schmerzenden Arme auszuruhen, bevor er schon wieder den Befehl gab, die Steine anzuheben.

»Ablegen«, befahl Renius und beobachtete mit bereit gehaltener Peitsche, ob sie die Steine auch langsam und kontrolliert absenkten. Marcus atmete heftig, und Renius verzog verächtlich den Mund.

»Es wird eine Zeit kommen, wo ihr glaubt, ihr könnt den Schmerz nicht mehr länger ertragen. Aber dann hängt das Leben anderer Männer von euch ab. Vielleicht haltet ihr ein Seil, an dem andere hochklettern, oder ihr marschiert vierzig Meilen in voller Ausrüstung, um Kameraden zu Hilfe zu kommen. Hört ihr mir zu?«

Die Jungen nickten und versuchten, nicht vor Erschöpfung laut zu keuchen. Sie waren nur froh, dass er weiterredete, anstatt sofort wieder den Befehl zu geben, die Steine aufzuheben.

»Ich habe Männer gesehen, die sich zu Tode gelaufen haben. Sie sind vor Erschöpfung auf der Straße zusammengebrochen, aber ihre Beine haben immer noch gezuckt, weil sie versucht haben, weiterzulaufen. Sie wurden mit allen Ehren bestattet.

Männer meiner Legion, die ihre eigenen Gedärme mit der Hand im Leib gehalten haben, sind trotz allem auf ihrer Position geblieben und in der Formation mitgelaufen. Auch sie wurden ehrenvoll bestattet.« Nachdenklich hielt er inne und rieb sich den Nacken, als sei er gestochen worden.

»Es wird Zeiten geben, wo ihr euch einfach nur noch hinsetzen wollt, wo ihr aufgeben wollt.

Euer Körper sagt euch, es geht nicht mehr, und euer Geist ist schwach.

Das ist falsch. Nur Barbaren und wilde Tiere geben auf, wir aber halten durch.

Glaubt ihr etwa, ihr seid schon fertig? Tun euch die Arme weh? Ich sage euch, ihr werdet in dieser Stunde eure Steine noch ein weiteres Dutzend Mal anheben, und ihr werdet sie oben halten. Wenn der Stein auch nur ein einziges Mal mehr als eine Handbreit sinkt, kommt ein weiteres Dutzend Male dazu.«

Ein Sklavenmädchen wusch den Staub von einer Wand an der anderen Hofseite. Sie sah die Jungen nie an, obwohl sie bei den gebellten Befehlen des alten Gladiators gelegentlich zusammenzuckte. Gaius bemerkte, dass auch sie erschöpft wirkte, doch mit ihren langen, dunklen Haaren und in dem losen Sklavenkittel sah sie sehr hübsch aus. Sie hatte ein fein gezeichnetes Gesicht mit großen, dunklen Augen, und weil sie sich ganz auf ihre Arbeit konzentrierte, war ihr voller Mund zu einem schmalen Strich zusammengepresst. Er meinte sich zu erinnern, dass ihr Name Alexandria war.

Während Renius redete, bückte sie sich tief hinunter, um den Lappen im Eimer auszuwaschen. Als sie das Tuch ins Wasser tunkte, hing ihr loses Kleid weit herab und Gaius konnte die zarte Haut am Hals sehen, bis hinunter zu den sanften Rundungen ihrer Brüste. Er glaubte sogar die Haut am Bauch zu erblicken und stellte sich vor, wie ihre Brustwarzen sanft das raue Tuch streiften, wenn sie sich bewegte.

In diesem Moment war Renius trotz der Schmerzen in seinen Armen völlig vergessen.

Der alte Mann verstummte abrupt und fuhr auf dem Absatz herum, um zu sehen, was die Jungen von ihrer Lektion ablenkte. Als er die Sklavin sah, knurrte er wütend, überquerte mit drei schnellen Schritten den Hof und packte sie grob am Arm. Das Mädchen schrie auf, und Renius’ Stimme erhob sich zu wütendem Gebrüll.

»Ich bringe diesen Kindern hier gerade etwas Wichtiges bei, das ihnen einmal das Leben retten wird, und du stellst vor ihnen wie eine billige Hure deine Titten zur Schau!«

Das Mädchen duckte sich ängstlich unter seinem Zorn und versuchte, so weit wie möglich vor ihm zurückzuweichen, obwohl er ihr Handgelenk fest umklammert hielt.

»Ich ...«:, stammelte sie wie betäubt, doch Renius fluchte und packte sie an den Haaren. Sie wimmerte vor Schmerz, und er riss sie herum, sodass sie den Jungen direkt gegenüberstand.

»Es ist mir völlig gleichgültig, ob Tausend solcher Weibsbilder hier hinter mir stehen. Ich bringe euch bei, wie man sich konzentriert!«

Er holte mit dem Fuß aus und fegte dem Mädchen mit einer brutalen Bewegung die Beine unter dem Körper weg. Sie fiel zu Boden, doch Renius hielt sie noch immer am Haar fest. Mit der anderen Hand hob er die Peitsche und ließ sie im Takt zu seinen Worten auf sie niedersausen.

»Du lenkst diese Jungen nicht ab, wenn ich sie unterrichte

Als Renius endlich von ihr abließ, weinte das Mädchen. Sie kroch ein paar Meter über den Boden, kam dann geduckt hoch und rannte schluchzend vom Hof.

Marcus und Gaius sahen Renius, der sich wieder zu ihnen umdrehte, fassungslos an. Sein Gesicht war zu einer mörderischen Fratze verzogen.

»Klappt die Mäuler wieder zu, Jungs. Das hier war nie als Spiel gedacht. Ich mache euch so hart und so ausdauernd, dass ihr der Republik dienen könnt, wenn ich einmal nicht mehr bin. Ich dulde keine Schwäche, egal welcher Art. Und jetzt hebt die Steine wieder auf und haltet sie, bis ich euch befehle, damit aufzuhören.«

Die Jungen, die es nicht wagten, auch nur einen Blick zu wechseln, hoben die Steine ein weiteres Mal an.

An diesem Abend, als Stille in das Gut eingekehrt und Renius in die Stadt zurückgeritten war, verschob Gaius seinen üblichen Erschöpfungsschlaf, um die Sklavenquartiere aufzusuchen. Er strich mit schlechtem Gewissen dort herum und hielt immer wieder nach Tubruks Schatten Ausschau, obwohl er eigentlich gar nicht so genau wusste, warum.

Die Haussklaven schliefen unter dem selben Dach wie die Familie, jedoch in einem eigenen Flügel mit einfachen Kammern. Diese Welt hier war ihm unbekannt. Nervös schlich er durch die dunkelnden Korridore. Er überlegte, ob er einfach an die Türen klopfen und ihren Namen rufen sollte.

Er fand sie auf der niederen Schwelle einer offenen Tür sitzend. Da sie völlig in Gedanken versunken schien, räusperte er sich leise, als er sie erkannte. Erschrocken rappelte sie sich auf, blieb dann regungslos stehen und starrte vor sich auf den Boden. Sie hatte den Staub des Tages von der Haut gewaschen, und ihr Gesicht leuchtete zart und blass im Abendlicht. Ihre Haare waren mit einem Stoffstreifen zurückgebunden, und in der Dunkelheit waren ihre Augen riesengroß.

»Heißt du Alexandria?«, fragte er leise.

Sie nickte.

»Ich komme, um dir zu sagen, dass es mir Leid tut wegen heute Mittag. Ich habe dich bei deiner Arbeit beobachtet, und Renius dachte, du lenkst uns ab.«

Sie stand vor ihm und rührte sich nicht, den Blick auf den Boden vor seinen Füssen gerichtet. Eine Weile blieb es still zwischen ihnen, und Gaius errötete, weil er nicht wusste, wie er fortfahren sollte.

»Es tut mir Leid, hörst du? Renius war sehr grausam zu dir.«

Sie sagte noch immer nichts. Ihre Gedanken überschlugen sich, doch er war schließlich der Sohn des Hauses. Am liebsten hätte sie gesagt: Ich bin eine Sklavin. Für mich bedeutet jeder Tag Schmerz und Erniedrigung. Es gibt nichts, was du mir sagen könntest.

Gaius blieb noch einen Moment wartend stehen, dann ging er und wünschte, er wäre nie hierher gekommen.

Alexandria sah ihm nach. Sie sah den selbstsicheren Gang und die aufkeimende Stärke, die Renius in ihm hervorbrachte. Wenn er erst älter war, würde er genau so gemein werden wie dieser alte Gladiator. Er war frei und ein Römer, sein Mitleid rührte nur von seiner Jugend her, und die wurde ihm mit der militärischen Ausbildung rasch ausgetrieben. Der Zorn, den sie nicht zu zeigen gewagt hatte, ließ ihr Gesicht brennen. Ihm nicht geantwortet zu haben, war zwar nur ein kleiner Sieg, doch sie genoss ihn.

Am Ende jedes Vierteljahres erstattete Renius Julius Bericht über ihre Fortschritte. Am Abend vor dem vereinbarten Termin kam Gaius’ Vater immer von seinem Quartier in der Hauptstadt nach Hause und hörte sich zunächst an, was Tubruk über das Wohlergehen des Gutes zu sagen hatte. Dann ließ er die beiden Jungen zu sich kommen und verbrachte noch ein paar zusätzliche Minuten allein mit seinem Sohn. Am folgenden Tag, bei Morgengrauen, sprach er dann mit Renius. Gaius und Marcus, dankbar für diese Unterbrechung des gewohnten Tagesablaufs, durften etwas länger schlafen.

Der erste Bericht war enttäuschend kurz ausgefallen.

»Sie haben einen Anfang gemacht. Beide haben etwas vom richtigen Geist in sich«, hatte Renius lapidar gesagt.

Nach einer langen Pause wurde Julius klar, dass kein weiterer Kommentar folgen würde. »Gehorchen sie denn?«, fragte er, verwundert über die mangelnden Informationen. Dafür zahlte er so viel Geld?

»Natürlich«, erwiderte Renius mit verblüfftem Gesicht.

»Sind sie ... äh ... Machen sie sich denn vielversprechend?«, bohrte Julius weiter. Er wollte vermeiden, dass diese Unterredung die gleiche Wendung nahm wie die letzte, aber er hatte schon wieder das Gefühl, als redete er mit einem seiner alten Lehrer und nicht mit einem Mann, der in seinen Diensten stand.

»Ein Anfang ist gemacht. Eine solche Aufgabe lässt sich nicht über Nacht vollbringen.«

»So ist es immer bei Dingen von Wert«, erwiderte Julius leise.

Einen Moment sahen sie einander gelassen an, dann nickten beide, und damit war die Unterredung beendet. Der alte Krieger verabschiedete sich mit einem knappen, festen Händedruck und ging hinaus. Julius blieb stehen und starrte auf die Tür, die sich hinter Renius schloss.

Tubruk hielt seine Trainingsmethoden für gefährlich und hatte von einem Vorfall erzählt, bei dem die Jungen ohne Überwachung leicht hätten ertrinken können. Julius verzog das Gesicht. Er wusste, wenn er diese Bedenken Renius vortrug, kam das einer Auflösung ihres Abkommens gleich. Den alten Menschenschinder davon abzuhalten, zu weit zu gehen, musste er wohl oder übel seinem Gutsverwalter überlassen.

Seufzend setzte er sich hin und grübelte über die Probleme, die ihn in Rom beschäftigten. Cornelius Sullas Macht war weiter gewachsen, nachdem er einige Städte im Süden der Kontrolle ihrer Kaufleute entrissen und dem Schutze Roms unterstellt hatte. Wie hieß die letzte noch einmal? Pompeji, irgendeine Stadt in den Bergen. Mit solchen kleinen Triumphen sorgte Sulla dafür, dass sein Name der geistlosen Öffentlichkeit in Erinnerung blieb. Durch ein Netz aus Lügen, Bestechung und Gefälligkeiten hatte er eine ganze Gruppe Senatoren in der Hand. Sie waren alle noch jung, und der Gedanke an manche von ihnen ließ den alten Soldaten Julius erschauern. Sollte Rom tatsächlich zu seinen Lebzeiten auf diese Weise enden?

Statt die Angelegenheiten des Imperiums ernst zu nehmen, lebten sie nur für ihre schmutzigen, zweifelhaften Vergnügungen. Sie beteten im Tempel der Aphrodite und nannten sich »Neue Römer«. Es gab nicht mehr viel, womit man in den Tempeln des Kapitols noch Aufruhr verursachten konnte, aber diese neue Gruppe schien es als ihre Aufgabe zu betrachten, die Grenzen dafür aufzuspüren und sie eine nach der anderen zu überschreiten. Einer der Volkstribunen, der Sulla bei jeder sich bietenden Gelegenheit widersprochen hatte, war ermordet aufgefunden worden. Die Tatsache an sich war nicht einmal so bemerkenswert. Er lag in einem Wasserbecken, das von einer geschickt geöffneten Ader in seinem Bein blutrot gefärbt war, eine an sich nicht ungewöhnliche Todesart. Das Problem dabei war, dass man auch seine Kinder tot aufgefunden hatte, was wie eine Warnung für die anderen wirkte. Es gab weder Indizien noch Zeugen, und es war sehr unwahrscheinlich, dass man die Mörder jemals finden würde. Doch bevor ein anderer Tribun gewählt werden konnte, hatte Sulla eine Resolution durchgebracht, die den Generälen im Feld größere Entscheidungsfreiheit gewährte. Die Notwendigkeit dafür hatte er selbst mit überzeugender Leidenschaft und Eloquenz dargelegt. Der Senat hatte abgestimmt, und wieder war Sullas Einfluss ein Stückchen gewachsen, während die Macht der Republik langsam aber stetig schwand.

Julius hatte es zwar bis jetzt geschafft, neutral zu bleiben, aber durch seine Ehe war er mit einem der an dem Machtspiel Beteiligten verwandt; Marius, der Bruder seiner Frau, und so würde er früher oder später Stellung beziehen müssen. Als kluger Mann sah er die Veränderungen kommen, doch es machte ihn traurig, dass die Gleichheit in der Republik von immer mehr Hitzköpfen im Senat als Fesseln empfunden wurde. Auch Marius vertrat die Ansicht, dass ein mächtiger Mann das Gesetz eher für sich selbst nutzen sollte, als ihm nur zu gehorchen. Diese Haltung hatte er bereits unter Beweis gestellt, als er das System zur Wahl der Konsuln zur Farce gemacht hatte. Das römische Gesetz schrieb vor, dass ein Konsul vom Senat nur einmal gewählt werden durfte und dann von seiner Position zurücktreten musste. Durch Siege gegen die Stämme der Kimbern und Teutonen, die er mit der Primigenia Legion vernichtend geschlagen hatte, hatte Marius vor kurzem seine dritte Wiederwahl gesichert. Noch immer war er ein Löwe des aufsteigenden Roms, und Julius würde in seinem Schatten Schutz suchen müssen, falls Cornelius Sulla noch mächtiger wurde.

Er würde Gefälligkeiten erweisen müssen und einen Teil seiner Eigenständigkeit verlieren, wenn er sich dem Lager des Marius anschloss, doch es war vielleicht die einzig vernünftige Entscheidung. Er wünschte, er könnte seine Frau um Rat fragen, ihr so wie früher zuhören, wenn ihr wacher Geist einem Problem auf den Grund ging. Stets hatte sie eine bestimmte Fassette einer Frage erkannt, einen besonderen Blickwinkel, den sonst niemand wahrnahm. Er vermisste ihr feinsinniges Lächeln und die Art, wie sie ihm, wenn er müde war, immer die Handflächen auf die Augen legte, und ihm eine wunderbare, friedvolle Kühle schenkte .

Leise ging er über den Gang zu Aurelias Gemächern, blieb vor ihrer Tür stehen und lauschte ihren tiefen, gleichmäßigen Atemzügen, die in der Stille kaum zu hören waren.

Vorsichtig betrat er den Raum und näherte sich der schlafenden Gestalt. Er küsste sie sanft auf die Stirn, doch sie bewegte sich nicht, und so setzte er sich neben das Bett und betrachtete sie.

Im Schlaf sah sie aus wie die Frau, an die er sich erinnerte. Jeden Augenblick konnte sie aufwachen, und ihre Augen würden sich mit Geist und Verstand füllen, und sie würde über ihn lachen, wie er so in der Dunkelheit dasaß. Dann würde sie für ihn die Bettdecke zurückschlagen, damit er sich neben ihren warmen Körper legte.

»An wen soll ich mich nur wenden, Liebste?«, flüsterte er. »Wem soll ich meine Unterstützung geben, wem kann ich vertrauen, dass er sich um das Wohlergehen der Stadt und der Republik kümmert? Ich glaube, dein Bruder Marius hält genauso wenig von der Idee wie Sulla.« Nachdenklich rieb er über die Bartstoppeln an seinem Kinn.

»Wo finde ich Sicherheit für meine Frau und meinen Sohn? Werfe ich Haus und Familie dem Wolf oder der Schlange zum Fraß vor?«

Nur die Stille antwortete ihm. Langsam schüttelte er den Kopf. Er stand auf und küsste Aurelia abermals. Nur noch einen Augenblick lang stellte er sich vor, dass ihn aus ihren Augen jemand ansehen würde, den er kannte. Dann ging er leise hinaus und schloss behutsam die Tür hinter sich.

Als Tubruk an diesem Abend seinen Rundgang machte, waren alle Kerzen heruntergebrannt, die Räume lagen in Dunkelheit. Julius saß noch immer in seinem Stuhl, doch seine Augen waren geschlossen und die Brust hob und senkte sich ruhig und gleichmäßig. Nur ein leises Pfeifen aus seiner Nase war zu hören. Tubruk nickte vor sich hin und war froh, dass Julius sich ein wenig von seinen Sorgen ausruhen konnte.

Am nächsten Morgen nahm Julius mit den beiden Jungen zusammen ein kleines Frühstück aus Brot, Früchten und warmem Kräutertee gegen die morgendliche Kälte ein. Er hatte die bedrückenden Gedanken des Vortages niedergerungen und saß jetzt aufrecht und mit klarem Blick da.

»Ihr seht gesund und stark aus«, sagte er zu den beiden. »Renius macht junge Männer aus euch.«

Die Jungen grinsten sich verstohlen an.

»Renius sagt, wir sind bald für das Kampftraining bereit. Wir haben bewiesen, dass wir Hitze und Kälte ertragen können, und wir finden allmählich unsere eigenen Stärken und Schwächen heraus. Das ist zwar alles nur innerlich, aber Renius sagt, es ist die Voraussetzung für die äußeren Fertigkeiten.« Gaius plauderte lebhaft und unterstrich seine Worte mit weit ausholenden Gesten. Beide Jungen gewannen zusehends an Selbstvertrauen, und Julius versetzte es einen kurzen Stich, weil er einen Großteil ihrer Entwicklung verpasste. Er sah seinen Sohn an und fragte sich, ob er nicht eines Tages zu einem Fremden heimkehren würde.

»Du bist mein Sohn. Renius hat zwar schon viele ausgebildet, aber meinen Sohn noch nicht. Ich glaube, dass du ihn überraschen wirst.« Julius blickte ernst in Gaius’ ungläubiges Gesicht. Er wusste, dass der Junge Lob und Anerkennung nicht gewohnt war.

»Ich versuche es. Aber ich glaube, Marcus wird ihn auch überraschen.«

Julius sah den anderen Jungen am Tisch nicht an, obwohl er dessen Augen auf sich ruhen fühlte. Verärgert über Gaius’ Versuch, seinen Freund in das Gespräch mit einzubeziehen, und um die Wichtigkeit seiner Aussage zu unterstreichen, antwortete Julius so, als sei Marcus gar nicht da. »Marcus ist nicht mein Sohn. Du trägst meinen Namen, und meinen Ruf dazu. Du allein.« Beschämt senkte Gaius den Kopf, unfähig, dem eigenartig ernsten Blick seines Vaters standzuhalten. »Ja, Vater«, murmelte er und aß weiter.

Manchmal wünschte er sich, es gäbe noch andere Kinder, Brüder und Schwestern, mit denen man spielen konnte und mit denen man die Last teilte, den Erwartungen seines Vaters gerecht zu werden. Natürlich hätte er ihnen das Gut nicht überlassen. Es war schon immer nur für ihn bestimmt gewesen, aber manchmal spürte er den auf ihm allein ruhenden Erwartungsdruck wie eine erdrückende Last. Besonders seine Mutter flüsterte ihm, wenn sie ruhig und friedlich war, immer zu, dass er ja das einzige Kind sei, das ihr die Götter zugestanden hatten, ein einziges, vollkommenes Leben. Sie erzählte ihm oft, dass sie gerne Töchter gehabt hätte, die sie hätte herausputzen und an die sie ihr Wissen hätte weitergeben können. Aber das Fieber, das sie bei seiner Geburt befallen hatte, hatte ihr diese Möglichkeit genommen.

Renius kam in die warme Küche. Er trug offene Sandalen und eine rote Soldatentunika. Die kurzen Beinlinge, die an den Waden endeten, spannten sich bis zum Zerreißen über den beinahe anstößig dicken Muskeln, die er seinem Leben als Infanterist in der Legion verdankte. Trotz seines Alters schien er vor Gesundheit und Kraft nur so zu strotzen. Mit geradem Rücken und wachem, aufmerksamem Blick blieb er vor dem Tisch stehen.

»Herr, mit Eurer Erlaubnis. Die Sonne geht bereits auf und die Jungen müssen fünf Meilen laufen, ehe sie ganz über die Hügel steigt.«

Julius nickte. Die beiden Jungen standen auf und warteten darauf, von ihm entlassen zu werden. »Geht und strengt euch an«, sagte er lächelnd. Sein Sohn war ganz bei der Sache, doch in den dunklen Augen und auf der Stirn des anderen Jungen stand noch etwas anderes geschrieben.

Zorn? Aber nein, schon war es wieder verflogen. Die beiden stoben davon, und die zwei Männer waren wieder einmal allein. Julius deutete auf den Tisch.

»Ich habe gehört, du willst bald mit dem Kampftraining anfangen.«

»Sie sind noch nicht stark genug. Vielleicht werden sie das dieses Jahr auch nicht mehr, aber ich bin schließlich nicht nur angestellt worden, um sie ausdauernder zu machen.«

»Hast du darüber nachgedacht, ihre Ausbildung über den Jahresvertrag hinaus fortzusetzen?« Julius hoffte, seine beiläufige Miene würde sein Interesse verbergen.

»Ich will mich nächstes Jahr aufs Land zurückziehen. An diesem Entschluss dürfte sich so schnell nichts ändern.«

»Dann sind diese beiden deine letzten Schüler, dein letztes Vermächtnis an Rom«, erwiderte Julius.

Renius erstarrte einen Moment, und Julius’ Gedanken verrieten sich in keinem seiner Gesichtszüge.

»Ich denke darüber nach«, sagte Renius schließlich, bevor er auf dem Absatz kehrtmachte und in das graue Morgenlicht hinaustrat.

Julius schaute ihm mit einem wölfischen Grinsen nach.

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