32

Alexandria hämmerte an die Tür des kleinen Juwelierladens. Es musste doch jemand da sein! Sie wusste, dass er wie viele andere die Stadt verlassen haben konnte, und bei dem Gedanken, dass sie mit ihrem Klopfen vielleicht die Aufmerksamkeit auf sich zog, wurde sie ganz blass. Ein paar Häuser weiter schabte etwas knarrend, wie eine Tür, die sich öffnete.

»Tabbic! Ich bin’s, Alexandria! Bei den Göttern, mach auf, Mann!« Keuchend ließ sie den Arm fallen. Nicht weit entfernt wurden Rufe laut. Ihr Herz pochte wie wild.

»Mach schon. Mach schon«, flüsterte sie.

Dann wurde die Tür aufgerissen, und Tabbic funkelte sie an, ein Beil in der Hand. Als er sie erblickte, sah er erleichtert aus, auch seine Wut verrauchte ein bisschen.

»Komm rein, Mädchen. Heute Nacht sind die Tiere draußen«, sagte er ruppig. Er schaute nach links und rechts die Straße hinunter. Sie schien leer und verlassen, aber er spürte fremde Blicke auf sich ruhen.

Drinnen fiel Alexandria vor Erleichterung fast in Ohnmacht.

»Metella ... hat mich geschickt, sie ...«, sagte sie.

»Schon gut, Mädchen. Das erzählst du mir alles später. Meine Frau und die Kinder sind oben und bereiten das Essen zu. Geh hinauf und hilf ihnen. Hier bist du sicher.«

Sie hielt einen Moment inne, dann wandte sie sich an ihn. Sie musste es einfach loswerden. »Tabbic. Ich habe Papiere und alles. Ich bin frei.«

Er beugte sich zu ihr und sah ihr freudig lächelnd in die Augen.

»Wann bist du jemals etwas anderes gewesen? Geh jetzt nach oben. Meine Frau wundert sich bestimmt schon, was hier unten vor sich geht.«

Bei der Ausbildung brachten sie einem nicht bei, wie man eine quer über die Straße gezogene Barrikade mitten in einer Stadt angreift. Orso Ferito brüllte einfach den Namen seines toten Legaten und warf sich über den zusammengeschobenen Haufen aus zerbrochenen Karren und Türen hinweg auf den Feind. Zweihundert Männer folgten seinem Beispiel.

Orso bohrte seinen Gladius in die erste Kehle, die er sah und entging seinerseits nur dadurch knapp einem Treffer, weil er auf der wackligen Barrikade ausrutschte und auf der anderen Seite hinunterkugelte. Mit einem kräftigen Rundumschlag kam er wieder auf die Beine und wurde prompt mit dem Krachen von Knochen belohnt. Rings um ihn herum waren seine Männer, die sich unbeirrt weiter durchhackten und -säbelten. Orso wusste nicht, wie gut sie sich dabei hielten, oder wie viele gefallen waren. Er wusste nur, dass der Feind vor ihm stand und dass er ein Schwert in der Hand hielt. Er brüllte und schnitt einem Mann, der gerade einen Schild hochriss, um ihn aufzuhalten, den Arm von der Schulter. Er packte den Schild, aus dessen Griff der schlaffe Arm fiel, und benutzte ihn dazu, zwei weitere Männer aus dem Weg zu räumen. Als er über sie hinwegtrampelte, stach einer nach oben, und er spürte ein warmes Rinnsal am Oberschenkel, achtete jedoch nicht weiter darauf. Ab hier war zunächst einmal alles frei, nur am Ende der Straße rotteten sich mehr Feinde zusammen. Orso sah, wie ihr Hauptmann zum Angriff blasen ließ und warf sich ihnen in vollem Lauf entgegen. In diesem Augenblick wusste er, wie man sich als Berserker in einer der unzivilisierten Nationen, die sie bereits erobert hatten, fühlen musste. Es war eine merkwürdige Freiheit. Es gab keinen Schmerz, nur eine erfrischende Abwesenheit von Angst und Erschöpfung.

Weitere Männer fielen unter seinem Schwert, und die Erstgeborenen trieben alles vor sich her, brachten mit blitzenden Klingen Tod und Verderben.

»Herr! Die Seitenstraßen! Sie haben Verstärkung herbeigebracht!«

Orso hätte die Hand, die ihn am Arm festhielt, beinahe abgeschüttelt, doch dann schlug seine Ausbildung wieder durch.

»Das sind zu viele, Männer! Für diesmal haben wir sie genug getroffen!« Er reckte triumphierend das Schwert in die Luft und rannte denselben Weg zurück, den sie gekommen waren. Erst jetzt erkannte er keuchend, wie viele von Sullas Männern gefallen waren. Wenn er es richtig beurteilte, mussten es mehr als hundert sein.

Hier und dort sah er Gesichter, die er einmal gekannt hatte. Das eine oder andere regte sich noch schwach, und er war versucht, bei ihm stehen zu bleiben, doch hinter ihm wurde das Trampeln von Sandalen auf dem Pflaster immer lauter, und er wusste, dass sie die Barrikaden erreichen mussten, wenn sie nicht mit dem Rücken zu ihnen in der Falle sitzen wollten.

»Lauft, Jungs! Ma-ri-us!«

Der Schrei wurde von allen ringsum erwidert, dann kletterten sie wieder auf das Durcheinander. Oben angekommen, schaute Orso zurück und sah, wie die langsamsten seiner Männer umgerissen und zertrampelt wurden. Die meisten jedoch hatten es geschafft, und als er sich daranmachte, auf der anderen Seite hinunterzurennen, feuerten die Bogenschützen der Erstgeborenen wieder über die Köpfe der Männer und schickten noch mehr Feinde schreiend und sich windend zum Sterben auf die Steine der Straße. Orso musste beim Laufen vor sich hinlachen, und sein Schwert senkte sich vor Erschöpfung, die ihn zu übermannen drohte, immer weiter nach unten. Er schob sich in ein Gebäude und blieb keuchend stehen, die Hände auf die Knie gestützt. Der Schnitt im Oberschenkel sah nicht gut aus und blutete stark. Ihm war ein bisschen schwindelig, und er konnte nur noch murmeln, als ihn mehrere Hände von der Barrikade wegführten.

»Du darfst hier nicht bleiben, Herr. Die Bogenschützen können uns nur so lange Deckung geben, bis ihnen die Pfeile ausgehen. Wir müssen noch ein oder zwei Straßen weiter. Komm, Herr.«

Er nahm die Worte wahr, wusste aber nicht genau, ob er etwas darauf antwortete. Wo war seine Kraft geblieben? Sein Bein fühlte sich schwach an. Er hoffte, dass Bar Gallienus es ebenfalls geschafft hatte.

Bar Gallienus lag in seinem Blut, Sullas Schwertspitze auf der Kehle. Er wusste, dass er starb und versuchte, den Legaten anzuspucken, konnte jedoch nicht genug Flüssigkeit sammeln. Seine Männer waren hinter den Barrikaden auf eine frisch verstärkte Zenturie gestoßen und wären beinahe beim ersten Versuch zurückgeschlagen worden. Nach mehreren Minuten wütenden Kampfes waren sie durch den Wall aus aufgestapelten Steinen und Holz durchgebrochen und hatten sich auf die dahinter wartenden Soldaten geworfen. Seine Männer hatten eine Menge von ihnen mitgenommen, aber es waren einfach zu viele gewesen. Die Frontlinie war keinesfalls so dünn gewesen wie erwartet.

Bar grinste und entblößte blutverschmierte Zähne. Er hatte gewusst, dass Sulla rasch Verstärkung herbeischaffen konnte. Schade nur, dass er Orso das nicht mehr unter die Nase reiben konnte. Er hoffte, dass es dem haarigen Kerl besser ergangen war als ihm selbst, sonst war die Legion abermals ohne Anführer. Es war tollkühn gewesen, sich auf ein solches Abenteuer einzulassen, aber zu viele von ihnen waren an jenem schrecklichen ersten Tag des Gemetzels und der Hinrichtungen gefallen. Er hatte gewusst, dass Sulla Verstärkung herbeischaffte.

»Ich glaube, er ist tot, Herr«, hörte Bar eine Stimme sagen.

Dann hörte er Sullas Stimme antworten: »Wie schade. Er hat so einen merkwürdigen Gesichtsausdruck. Ich wollte ihn fragen, was er gerade denkt.«

Orso knurrte den Zenturio an, der ihm aufstehen half. Sein Bein schmerzte heftig, und er hatte eine Krücke unter einer Schulter, aber er war nicht in der Stimmung, sich helfen zu lassen. »Keiner ist zurückgekommen?«, fragte er.

»Wir haben beide Zenturien verloren. Dieser Abschnitt ist kurz vor unserem Angriff entsetzt worden, Herr. Ich glaube nicht, dass diese Taktik noch einmal funktioniert.«

»Dann habe ich Glück gehabt«, grunzte Orso. Niemand sah ihm ins Gesicht. Er hatte wirklich Glück gehabt, dass er einen Abschnitt der Barrikade angegriffen hatte, der nicht sehr gut besetzt war.

Bar Gallienus musste gelacht haben, als er sah, dass er in dieser Hinsicht Recht behalten hatte. Es war wirklich schade, dass er dem Mann keinen mehr ausgeben konnte.

»Herr? Hast du weitere Befehle?«, wollte einer der Zenturios wissen.

Orso schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Erst wenn ich weiß, wo wir stehen.«

»Herr.« Der Jüngere zauderte.

Orso wirbelte herum und sah ihn an. »Was gibt’s? Spuck’s aus, Junge!«

»Einige der Männer reden von Kapitulation. Wir sind auf halbe Stärke zusammengeschmolzen, und Sulla hält die Versorgungsrouten zum Meer. Wir können nicht gewinnen, und .« »Gewinnen? Wer hat je gesagt, dass wir gewinnen? Als ich Marius habe sterben sehen, habe ich gewusst, dass wir nicht gewinnen können. In diesem Augenblick ist mir klar geworden, dass Sulla der Erstgeborenen das Rückgrat brechen würde, bevor sich genügend von uns zusammenfinden können, um ihm ernsthafte Schwierigkeiten zu bereiten. Es geht hier nicht ums Gewinnen, Junge, es geht darum, für eine gerechte Sache zu kämpfen, Befehle auszuführen und das Leben und den Tod eines großen Mannes zu ehren.«

Er schaute sich um, sah in die Gesichter der anderen. Nur wenige hielten seinem Blick nicht stand, und er wusste, dass er unter Freunden war. Er lächelte. Wie hätte Marius es ausgedrückt? »Ein Mann kann sein ganzes Leben auf einen Augenblick wie diesen warten, ohne ihn je zu erleben. Einige werden einfach nur alt und welken dahin, ohne jemals ihre Chance zu bekommen. Wir sterben jung und stark, und anders würde ich es auch nicht haben wollen.«

»Aber, Herr, vielleicht können wir aus der Stadt ausbrechen. Wir ziehen uns in die Berge zurück .«

»Kommt mit nach draußen. Ich hab keine Lust, eine große Rede an euch Halunken zu verschwenden.«

Orso grunzte und humpelte zur Tür hinaus. Auf der Straße standen an die hundert Legionäre der Erstgeborenen, müde und schmutzig, die Wunden notdürftig bandagiert. Sie sahen schon jetzt besiegt aus, und dieser Gedanke ließ ihn die richtigen Worte finden.

»Ich bin ein Soldat Roms!« Seine von Natur aus tiefe und raue Stimme trug weit über sie hinweg und ließ sie Haltung annehmen.

»Alles, was ich immer gewollt habe, war, meine Zeit abzudienen und mich dann auf einem Fleckchen Land zur Ruhe zu setzen. Ich wollte mein Leben nicht in irgendeinem fremden Land aushauchen und vergessen werden. Aber dann diente ich unter einem Mann, der mir mehr ein Vater war als mein eigener Vater es je gewesen ist, und ich habe seinen Tod gesehen und seine Worte gehört, und ich dachte mir, Orso, vielleicht solltest du dir daran ein Beispiel nehmen. Und vielleicht ist das ja genug.

Ist hier einer unter euch, der glaubt, er kann ewig leben? Lasst andere Männer Kohlköpfe pflanzen und in der Sonne vertrocknen. Ich werde sterben wie ein Soldat, in den Straßen der Stadt, die ich liebe, bei ihrer Verteidigung.«

Seine Stimme wurde ein wenig leiser, als verrate er ihnen ein Geheimnis. Die Männer beugten sich vor, und von hinten schloss eine stetig anwachsende Menge auf.

»Ich habe diese Wahrheit begriffen. Nur wenige Dinge sind mehr wert als Träume oder Ehefrauen, die Freuden des Fleisches oder sogar Kinder. Aber manche sind es, und dieses Wissen macht uns erst zu Menschen. Das Leben ist nur ein warmer, kurzer Tag zwischen zwei langen Nächten. Für jeden wird es einmal dunkel, sogar für diejenigen, die sich dagegen wehren und so tun, als blieben sie immer jung und stark.«

Er zeigte auf einen älteren Soldaten, der beim Zuhören langsam ein Bein beugte und streckte. »Tinasta! Ich sehe, dass du dein altes Knie prüfst. Hast du gedacht, das Alter versüßt dir den Schmerz darin? Warum warten, bis es sich vor Schwäche krümmt, bis dich jüngere Männer beiseite drängen? Nein, meine Freunde. Meine Brüder. Lasst uns abtreten, solange das Licht noch strahlend leuchtet und der Tag noch hell ist.«

Ein junger Soldat hob den Kopf und rief: »Wird man sich unser erinnern?«

Orso seufzte, aber er lächelte »Eine Zeit lang schon, mein Sohn, aber wer erinnert sich heute noch an die Helden von Karthago oder Sparta? Sie wissen, wie sie ihren Tag beendet haben. Und das ist genug. Mehr gibt es für niemanden.«

»Besteht denn überhaupt keine Möglichkeit, dass wir gewinnen?«, fragte der junge Mann leise. Orso humpelte auf ihn zu, wobei er sich auf die Krücke stützte. »Mein Sohn. Warum verlässt du die Stadt nicht? Ein paar von euch könnten sich an den Patrouillen vorbeischleichen. Du musst nicht hier bleiben.«

»Das weiß ich, Herr.« Der junge Mann machte eine kurze Pause. »Aber ich bleibe trotzdem.« »Dann besteht kein Anlass, das Unvermeidliche aufzuschieben. Sammelt die Männer. Alle machen sich bereit, Sullas Barrikaden anzugreifen. Lasst jeden ziehen, der es will, er soll mit meinem Segen gehen. Lasst sie an anderen Orten ein anderes Leben finden und niemandem jemals sagen, dass sie für Rom gekämpft haben, als Marius starb. Eine Stunde, meine Herren. Greift noch einmal zu den Waffen.«

Orso sah sich um, während die Männer ihre Klingen und Rüstungen kontrollierten, so wie sie es gelernt hatten. Mehr als einer klopfte ihm auf die Schulter, als sie zu ihren Stellungen gingen, und er hatte das Gefühl, sein Herz müsse vor Stolz zerspringen.

»Gute Männer, Marius«, murmelte er leise. »Das sind gute Männer.«

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