16

Auf der Straße zum Meer fragte sich Marcus, warum Renius so angespannt aussah. Vom Morgengrauen bis zum späten Nachmittag waren sie auf der gepflasterten Strecke schweigend abwechselnd im Trab und im Schritt geritten. Er hatte Hunger und fürchterlichen Durst, wollte es aber nicht zugeben. Mittags hatte er beschlossen, dass er nicht als Erster aufgeben würde, wenn Renius den ganzen Weg bis zum Hafen ohne Pause zurücklegen wollte.

Als schließlich der Geruch von totem Fisch und Algen die saubere Landluft verpestete, machte Renius Halt, und Marcus sah zu seiner Überraschung, wie bleich er war.

»Ich mache hier eine Pause, um einen Freund zu besuchen. Du kannst zum Hafen vorausreiten und dir dort ein Zimmer nehmen. Es gibt dort ein Gasthaus .«

»Ich komme mit dir«, sagte Marcus kurz.

»Wie du willst«, murmelte Renius mit zusammengebissenen Zähnen und bog von der Hauptstraße in einen kleineren Weg ab.

Verwundert folgte Marcus dem ehemaligen Gladiator auf dem Pfad, der sich meilenweit durch einen Wald schlängelte. Er fragte nicht, wohin der Weg führte, lockerte aber sein Schwert in der Scheide, für den Fall, dass sich im Laubwerk Banditen verbargen. Obwohl ein Schwert nicht viel gegen einen Bogen auszurichten vermochte, fiel ihm ein.

Die Sonne war dort, wo man sie durch das Blätterdach überhaupt sehen konnte, nicht mehr weit vom Horizont entfernt, als sie endlich ein kleines Dorf erreichten. Es bestand aus nicht mehr als zwanzig Häusern, machte jedoch einen gepflegten Eindruck. Neben den meisten Wohnhäusern sah man Hühner in Hühnerställen und angepflockte Ziegen. Marcus spürte keine Gefahr. Renius stieg vom Pferd.

»Kommst du mit rein?«, fragte er und ging auf eine Tür zu.

Marcus nickte und band die beiden Pferde an einem Pfahl fest. Als er damit fertig war, war Renius bereits hineingegangen, und mit gerunzelter Stirn legte Marius eine Hand auf den Dolch, als er eintrat. Drinnen war es ziemlich dunkel, nur eine Kerze und ein Feuer in der Feuerstelle spendeten Licht, doch er konnte sehen, wie Renius einen uralten Mann mit seinem guten Arm umarmte.

»Das ist mein Bruder Primus. Primus, das ist der Junge, von dem ich erzählt habe. Der mit mir nach Griechenland reist.«

Der Mann musste achtzig Jahre zählen, aber sein Händedruck war fest.

»Mein Bruder hat mir von den Fortschritten geschrieben, die du und der andere, Gaius, gemacht haben. Er mag niemanden, aber ich glaube, gegen euch beide hat er eine geringere Abneigung als gegen die meisten anderen Menschen.«

Marcus brummte etwas.

»Setz dich, Junge. Wir haben eine lange Nacht vor uns.« Er ging hinüber zu dem kleinen Holzfeuer und schob einen langen eisernen Schürhaken mitten in die Glut.

»Was ist denn los?«, fragte Marcus.

Renius seufzte. »Mein Bruder war früher Feldscher. Er wird mir den Arm abnehmen.«

Marcus spürte, wie ihn ein würgendes Grauen überfiel, als ihm klar wurde, was er zu sehen bekommen würde. Schuldgefühle meldeten sich und ließen ihn erröten. Er hoffte, Renius würde nicht erzählen, wie er verletzt worden war. Um seine Verlegenheit zu überspielen, sagte er: »Das hätten doch bestimmt auch Lucius oder Cabera machen können.«

Renius brachte ihn mit erhobener Hand zum Schweigen.

»Viele hätten es tun können, aber Primus war ... ist der Beste.«

Primus lachte gackernd und öffnete dabei einen Mund, in dem sich nur noch wenige Zähne befanden.

»Mein Bruder hat die Leute in Stücke gehauen, und ich musste sie wieder zusammenflicken«, sagte er fröhlich. »Dafür brauchen wir mehr Licht.« Er drehte sich zu einer Öllampe um und zündete sie mit einer Kerze an. Als er sich wieder umdrehte, musterte er Renius mit zusammengekniffenen Augen.

»Ich weiß, meine Augen sind nicht mehr so gut wie früher, aber hast du dir die Haare gefärbt?« Renius lief rot an. »Ich will von dir eigentlich nichts über deine schlechten Augen hören, ehe du an mir herumschneidest, Primus. Ich habe mich nur gut gehalten, das ist alles.«

»Verdammt gut«, pflichtete Primus bei.

Er leerte einen Lederbeutel mit Werkzeugen auf einer Tischplatte aus und wies seinen Bruder an, sich hinzusetzen. Als Marcus die Sägen und Nadeln erblickte, wünschte er sich, er hätte den Rat befolgt und wäre zum Hafen vorausgeritten, doch jetzt war es zu spät. Renius setzte sich.

Schweiß tropfte ihm von der Stirn. Primus reichte ihm eine Flasche mit einer braunen Flüssigkeit. Er setzte sie an und trank mit großen Schlucken.

»Du, Junge, hol die Seile da drüben und binde ihn an den Stuhl. Ich will nicht, dass er um sich schlägt und meine Möbel kaputtmacht.«

Mit einem Gefühl aufsteigender Übelkeit griff Marcus nach den Seilen, wobei er mit Entsetzen die alten Blutflecken auf ihnen bemerkte. Er beschäftigte sich mit den Knoten und versuchte, nicht weiter darüber nachzudenken.

Nach ein paar Minuten konnte Renius sich nicht mehr rühren, und Primus goss ihm den Rest der braunen Flüssigkeit in die Kehle.

»Mehr habe ich nicht, fürchte ich. Es wird den schlimmsten Schmerz betäuben, aber nicht sehr.« »Jetzt mach schon«, knurrte Renius durch zusammengebissene Zähne.

Primus hielt ihm ein dickes Stück Leder vor den Mund und befahl ihm, hineinzubeißen.

»Damit retten wir dir wenigstens die Zähne.«

An Marcus gewandt sagte er: »Du hältst den Arm still. Dann geht es schneller mit dem Sägen.« Er legte Marcus’ Hand auf den drahtigen Bizeps und überprüfte den Sitz der Seile an Handgelenken und Ellenbogen. Erst dann zog er eine hässliche Klinge aus seinem Sack und hielt sie gegen das Licht, um die Schärfe zu überprüfen.

»Ich schneide erst einen Kreis um den Knochen herum, und dann einen weiteren ein Stück weiter unten, um Platz für die Säge zu schaffen. Wir nehmen einen Ring Fleisch heraus, sägen den Knochen durch und brennen dann die Wunde aus. Es muss schnell gehen, sonst verblutet er. Ich lasse genug Haut übrig. Die wird über den Stumpf gelegt und fest zugebunden. Er darf ihn die erste Woche nicht berühren, dann soll er jeden Morgen und jeden Abend eine Salbe draufschmieren, die ich ihm mitgebe. Ich habe keinen Lederdeckel für den Stumpf, ihr werdet selbst einen anfertigen oder kaufen müssen.«

Marcus schluckte nervös.

Primus tauchte die Finger in die Muskeln und Nerven des nutzlosen Arms. Nach einer Minute brummte er bedauernd und blickte traurig auf.

»Es ist so, wie du gesagt hast. Überhaupt kein Gefühl mehr. Die Muskeln sind durchtrennt und beginnen zu verkümmern. Ist das bei einem Kampf passiert?«

Marcus schaute Renius unwillkürlich an. In den Augen über den gebleckten Zähnen funkelte der Wahnsinn. »Ein Trainingsunfall«, sagte er leise. Der Lederstreifen dämpfte seine Stimme.

Primus nickte und legte die Klinge auf die Haut. Renius spannte sich an und Marcus packte den Arm.

Mit geschickten, sicheren Bewegungen nahm Primus tiefe Einschnitte vor und hielt nur inne, wenn er vor Blut nichts mehr sehen konnte und es mit einen Stück Stoff wegtupfen musste.

Marcus spürte, wie sich ihm der Magen umdrehte, aber Renius’ Bruder wirkte vollkommen entspannt und stieß die Luft zwischen den Zähnen auf eine Weise aus, dass sie einem kleinen Lied ähnelte. Hinter einem rosa Schleier wurde weißer Knochen sichtbar. Primus grunzte zufrieden. Nach nur wenigen Sekunden hatte er den Knochen ringsum erreicht und begann mit dem zweiten Schnitt. Renius blickte auf die blutverschmierten Hände seines Bruders hinab und verzog die Lippen zu einer bitteren Grimasse. Danach starrte er mit zusammengebissenen Zähnen die Wand an. Ein leichtes Zittern beim Atmen war das einzige Zeichen seiner Angst.

Blut strömte über Marcus’ Hände, den Stuhl, den Fußboden, überall hin. In Renius schien es ganze Seen davon zu geben, die ihm glänzend und nass entströmten. Der zweite Ring wurde ausgeschnitten und hinterließ große Lappen überhängender Haut. Renius schnitt und kerbte und entfernte dunkle Fleischstücke, die er achtlos zu Boden fallen ließ.

»Mach dir keine Sorgen wegen der Schweinerei. Ich habe zwei Hunde, die freuen sich darüber, wenn ich sie nachher reinlasse.«

Marcus drehte den Kopf zu Seite und übergab sich hilflos. Primus gab ein missbilligendes Geräusch von sich und legte die Hände, die den Arm hielten, wieder an die richtige Stelle. Eine Handbreit über dem Ellenbogen war ein Stück weißen Knochens zu sehen.

Renius hatte begonnen, in harten Stößen durch die Nase zu atmen. Primus drückte eine Hand gegen den Hals des Bruders und fühlte den Puls.

»Ich mache so schnell wie möglich«, murmelte er.

Renius nickte mit starrem Blick.

Primus stand auf und wischte sich die Hände an einem Lappen ab. Er sah seinem Bruder in die Augen und verzog das Gesicht.

»Jetzt kommt der schlimmste Teil. Du wirst den Schmerz spüren, wenn ich den Knochen durchsäge, und die Vibrationen sind sehr unangenehm. Ich mache so schnell, wie ich kann. Halt ihn richtig fest, Junge. Zwei Minuten lang musst du fest sein wie ein Fels. Und nicht mehr kotzen, verstanden?«

Marcus atmete verzweifelt tief ein, und Primus holte eine Säge mit dünnem Blatt hervor, mit einem Holzgriff wie ein Küchenmesser.

»Fertig?«

Beide murmelten ihre Zustimmung. Primus setzte die Säge an und begann zu sägen, wobei er den Ellbogen so rasend schnell vor- und zurückbewegte, dass er kaum mehr war als ein verwischter Schemen.

Renius verkrampfte sich und sein ganzer Körper stemmte sich gegen die Seile, die ihn festhielten. Marcus hielt ihn fest, als ginge es um sein Leben, und zuckte jedes Mal zusammen, wenn seine Finger über das Blut rutschten und die Säge stecken blieb.

Ohne Warnung löste sich der Arm und hing seitlich von Renius’ Körper weg. Renius blickte auf ihn hinunter und knurrte vor Wut. Primus wischte sich die Hände ab und drückte ein Stoffknäuel in die Wunde. Er gab Marcus ein Zeichen, dass er es festhalten solle, und holte den Eisenstab, den er im Feuer heiß gemacht hatte. Die Spitze glühte und Marcus zuckte in Erwartung des Kommenden zusammen.

Kaum war der Stoff wieder vom Stumpf entfernt, arbeitete Primus sehr schnell und drückte die Spitze auf alle Stellen, an denen Blut hervortrat. Bei jeder Berührung zischte es, und der Gestank war fürchterlich. Marcus erbrach sich erneut auf den Fußboden, und ein Faden klebriger, gelber Gallenflüssigkeit blieb zwischen dem Boden und seinem Mund in der Luft hängen.

»Leg das Ding wieder ins Feuer, schnell. Ich halte den Stoff, bis es wieder heiß ist.«

Marcus richtete sich taumelnd auf, nahm die Stange und schob sie in die Flammen. Renius’ Kopf rollte auf seinen Schultern herum, der Lederstreifen fiel ihm aus dem offenen Mund.

Primus hielt den Stoff fest und nahm ihn dann weg, um zu sehen, wo noch Blut hervortrat. Er fluchte kräftig.

»Ich habe mindestens die Hälfte der Adern verfehlt. Früher konnte ich alle mit einem Mal erwischen, aber ich habe das jetzt schon seit ein paar Jahren nicht mehr gemacht. Es muss richtig gemacht werden, sonst gibt es eine Blutvergiftung. Ist das Eisen schon so weit?«

Marcus zog es hervor, doch die Spitze war noch schwarz. »Nein. Wird er es überleben?«

»Nicht, wenn ich die Wunde nicht schließen kann. Geh raus und hol noch mehr Holz für das Feuer.«

Marcus war dankbar für den Vorwand und eilte hinaus, wo er die wundervolle Luft tief einsog.

Es war schon fast dunkel. Bei den Göttern, wie lange waren sie dort drin gewesen? Er sah zwei große Jagdhunde, die an einer Wand angebunden waren und schliefen. Er schauderte und nahm ein paar schwere Stücke Holz von dem Stapel in ihrer Nähe. Als er sich näherte, wachten sie auf und knurrten leise, erhoben sich aber nicht. Ohne sie anzusehen ging er wieder hinein und warf zwei Scheite auf das Feuer.

»Bring mir das Eisen, sobald die Spitze rot glüht«, knurrte Primus und presste den Stoff fest gegen den Stumpf.

Marcus vermied es, den abgetrennten Arm anzusehen. So losgelöst vom Körper wirkte er irgendwie fehl am Platz, und sein Magen krampfte sich mehrmals kurz zusammen, ehe er wieder die Vernunft besaß, in die Flammen zu blicken.

Das Eisen musste noch ein weiteres Mal erhitzt werden, ehe Primus endlich zufrieden war. Marcus wusste, dass er das zischende Geräusch des Ausbrennens niemals würde vergessen können und unterdrückte ein Schaudern, während er half, den Stumpf mit sauberen Stoffbinden zu verbinden. Gemeinsam trugen sie Renius auf eine Pritsche in einem anderen Zimmer. Marcus setzte sich auf die Kante, wischte sich den Schweiß aus den Augen und war froh, dass es vorbei war.

»Was passiert ... damit?« Er deutete auf den Arm, der immer noch am Stuhl festgebunden war. Primus zuckte die Achseln. »Es kommt mir nicht richtig vor, das ganze Ding den Hunden zu geben. Wahrscheinlich vergrabe ich ihn irgendwo im Wald. Wenn ich es nicht tue, fängt er nur an zu faulen und zu stinken, aber viele Männer wollen so etwas behalten. An einer Hand hängen so viele Erinnerungen. Ich meine, diese Finger haben Frauen gehalten und Kinder gestreichelt. Es ist ein großer Verlust, aber mein Bruder ist stark. Ich hoffe nur, er ist auch stark genug hierfür.« »Unser Schiff legt in vier Tagen bei Flut ab«, sagte Marcus leise.

Primus kratzte sich am Kinn. »Er kann auf einem Pferd sitzen. Er wird noch ein paar Tage geschwächt sein, aber er ist stark wie ein Bulle. Das größte Problem wird das Gleichgewicht sein. Er wird den Umgang mit dem Schwert neu lernen, wird fast ganz von vorne anfangen müssen. Wie lange dauert die Seereise?«

»Einen Monat, bei gutem Wind«, antwortete Marcus.

»Nutze die Zeit. Übe jeden Tag mit ihm. Von allen Männern wird es meinem Bruder am wenigsten gefallen, nicht mehr zu allem in der Lage zu sein.«

Загрузка...