DICK FRENCIS AUSGESTOCHEN(Break in)

Kapitel 1

Blutsbande können Probleme bedeuten, Ketten und fatale Verpflichtungen. Das Band von Zwillingen ist unentrinnbar das stärkste. Mein Zwilling, meine Fessel.

Meine Schwester Holly, zehn Minuten nach mir am Weihnachtsmorgen auf die Welt gekommen, während Glocken über frostverharschte Felder läuteten und noch verhüllte Päckchen verheißungsvoll winkten - meine Schwester Holly war für mich dreißig Jahre hindurch Kinderbett- und Spielgefährtin, Box-Zielscheibe und beste Freundin gewesen. Ungefähr in dieser Reihenfolge.

Meine Schwester Holly kam zum Rennplatz in Cheltenham und paßte mich zwischen Waageraum und Führring ab, als ich hinaustrat, um in einem 3-Meilen-Jagdrennen zu starten.

»Kit!« sagte sie eindringlich, mich aus der Parade der Jockeys herausgreifend, und verstellte mir prompt und unheilvoll den Weg.

Ich blieb stehen. Die anderen Jockeys gingen weiter, teilten sich wie Wasser um einen Felsen. Ich sah die Züge starker Anspannung in Hollys normalerweise heiterem Gesicht und handelte, ehe sie mir mitteilen konnte, weshalb sie gekommen war.

»Hast du Geld bei dir?« sagte ich.

»Was? Wofür?« Sie konzentrierte sich nicht auf meine Frage, sondern auf irgendeinen inneren Katastrophenfilm.

»Hast du welches?« beharrte ich.

»Schon ... aber das ist nicht ...«

»Geh zum Toto«, sagte ich. »Setz alles, was du hast, auf Sieg für mein Pferd. Nummer acht. Tu es gleich.«

»Aber ich bin doch .«

»Tu es«, unterbrach ich. »Dann geh in die Bar und kauf dir vom Kleingeld einen dreifachen Gin. Danach komm und gratulier mir vor der Tribüne.«

»Nein, das ist doch .«

Ich sagte entschieden: »Stell dein Unglück nicht zwischen mich und den Zielpfosten.«

Sie blinzelte, als wäre sie gerade aufgewacht, betrachtete meine Sturzkappe und die Rennfarben, die ich unter meiner Daunensteppjacke trug, blickte nach den entschwindenden Rücken der anderen Jockeys und verstand, was ich meinte.

»Gut?« sagte ich.

»Gut.« Sie schluckte. »In Ordnung.«

»Danach«, sagte ich.

Sie nickte. Das Verhängnis, das Unglück zerrte an ihren Augen.

»Ich kümmere mich drum«, versprach ich. »Nachher.«

Sie nickte stumm, wandte sich ab und öffnete fast automatisch ihre Schultertasche, um nach Geld zu suchen. Tat, was ihr Bruder sagte, auch nach all den Jahren. Kam immer noch zu ihrem Bruder, um ihre schlimmsten Probleme zu lösen. Obwohl sie seit vier Jahren verheiratet war, schienen diese Verhaltensmuster, entstanden in einer elternlosen Kindheit, uns beiden nach wie vor selbstverständlich.

Ich hatte mich schon manchmal gefragt, was sich für sie geändert hätte, wäre sie um die entscheidenden zehn Minuten älter gewesen. Wäre sie dann mütterlich geworden? Herrisch vielleicht. Es gab ihr mehr Sicherheit, sagte sie, die jüngere zu sein.

Ich ging weiter zum Führring und verscheuchte bewußt die Erkenntnis, daß ihr jetziges Problem, was immer es war, schwerwiegend sein mußte. Sie war zunächst einmal 150 Meilen von Newmarket gekommen, um mich zu sehen, und sie fuhr ungern.

Ich schüttelte den Kopf, sperrte Holly aus. Das wartende Pferd, die bevorstehende Härteprobe hatte zwangsläufig Vorrang. Ich war in erster Linie niemandes Bruder. Ich war in erster Linie Kit Fielding, Hindernisjockey, in manchen Jahren Champion, in manchen nicht - oder zusammen mit einem anderen -, kam an die Spitze, wenn meine Knochen heil blieben, und beugte mich dem Schicksal, wenn ich sie mir brach.

Ich trug die Farben einer Prinzessin in den mittleren Jahren aus einem enteigneten europäischen Herrscherhaus, einer Frau von starker weiblicher Ausstrahlung, deren Haut dem Sonnenuntergang entgegenwitterte wie Craquele-glasur auf Porzellan. Zobelmantel, wie gewohnt, über den schmalen Schultern. Schimmernd dunkle Haare, hoch aufgesteckt. Schlichte goldene Ohrringe. Ich ging über das Gras des Führrings zu ihr, lächelte, verneigte mich und schüttelte kurz die dargebotene behandschuhte Hand.

»Kalt heute«, sagte sie mit etwas harten Konsonanten, aber rein englischen Vokalen; ihr Tonfall war, wie immer, angenehm.

Ich stimmte zu.

»Und werden Sie gewinnen?« fragte sie.

»Wenn ich Glück habe.«

Ihr Lächeln war vorwiegend in den Augen. »Ich erwarte es.«

Wir beobachteten, wie ihr Dunkelfuchs im Ring herumstolzierte, wobei er den Kopf gesenkt hielt und alles andere, vom Widerrist bis zum Schweif, von der marineblauen Decke mit dem goldgestickten Wappen umhüllt war. North Face, Nordwand, hatte sie ihn genannt, weil sie die Berge liebte, und als entsprechend kalter, zäher und schwieriger Genosse hatte er sich auch entpuppt. Verschlagen, häßlich, reizbar, launisch. Ich hatte ihn in seinen Hürdenrennen für Dreijährige geritten, seinen ersten überhaupt, und weiter über die Hürden mit vier, fünf und sechs. Ich hatte ihn bei seinen Neulings-Jagdrennen als Siebenjährigen geritten und während seiner Blütezeit mit acht und neun. Er tolerierte mich, wenn ihm danach war, und ich kannte jede seiner hinterhältigen Bewegungen. Mit zehn war er immer noch ein unberechenbarer Sauerkocher, ein Strolch, wie er im Buche stand, und als Springer so gewieft wie eine Katze. Er hatte im Lauf der Jahre achtunddreißig Rennen gewonnen, und in allen außer einem hatte ich ihn geritten. Zweimal hatte er zu meiner Empörung absichtlich die Schulter fallen lassen und mich im Führring abgesetzt. Dreimal waren wir nach Sprüngen gemeinsam gestürzt, wobei er jeweils unverletzt aufstand und mir in aller Schnelle mit unzerstörbaren Beinen, unzerstörbarem Mut, unzerstörbarem Siegeswillen davonzog. Ich liebte ihn und haßte ihn, und er trat wie üblich als Favorit an.

Die Prinzessin und ich hatten schon unzählige Male so im Führring gestanden, da sie selten weniger als zwanzig Pferde im Training hatte und ich seit zehn Jahren konstant für sie ritt. Sie und ich waren zu einer fast einsilbigen, aber vollkommen klaren Form der Verständigung gelangt und, soweit ich es sagen konnte, zu gegenseitiger Achtung und Vertrauen. Sie nannte mich »Kit« und ich sie - auf ihren Wunsch - »Prinzessin«, und wir hegten eine ungetrüb-te und recht enge Freundschaft, die nichtsdestoweniger an den Rennbahntoren begann und endete. Trafen wir uns außerhalb, was hin und wieder vorkam, war sie wesentlich förmlicher.

Wir standen wie so oft allein miteinander im Führring, da Wykeham Harlow, der Trainer von North Face, an Migräne litt. Die Kopfschmerzen, hatte ich festgestellt, traten am regelmäßigsten an den kältesten Tagen auf. Das konnte wirklich ein gesundheitliches Phänomen sein, aber sie gediehen offenbar auch in direktem Verhältnis zu der Entfernung zwischen seinem Lehnstuhl und dem jeweiligen Rennereignis. Wykeham Harlow trainierte südlich von London und nahm jetzt nur noch ganz selten die Nordwestreise nach Cheltenham auf sich; er wurde alt und mochte nicht zugeben, daß er die Heimfahrt im winterlichen Dunkel scheute.

Das Zeichen zum Aufsitzen der Jockeys kam, und Dusty, der Reisefuttermeister, der neuerdings Wykeham in den meisten Fällen vertrat, zog mit einem Ruck die Decke von North Face herunter und warf mich geschickt in den Sattel.

Die Prinzessin sagte: »Viel Glück«, und ich sagte fröhlich: »Danke.«

Bei Hindernisrennen wünscht niemand »Hals- und Beinbruch« statt »viel Glück«, wie es im Theater Brauch ist. Knochenbrüche sind deprimierenderweise allzu wahrscheinlich.

North Face war blutdürstig: Ich spürte es in dem Moment, als ich auf seinem Rücken aufsaß und meine Füße durch die Bügel steckte. Die Gedankenübertragung zwischen diesem Pferd und mir war immer besonders stark, und ich verfluchte ihn einfach im Geiste und befahl ihm schweigend, den Rand zu halten und sich aufs Siegen zu konzentrieren. Und als wir auf die windige Bahn hinausgingen, lief der Gedankenaustausch unvermindert weiter.

Man mußte darauf vertrauen, daß die Rennlust seine schlechte Laune überwand, sobald der eigentliche Wettkampf begann. So war es fast immer, aber es hatte auch schon Tage gegeben, wo er sich weigerte, auf Enthusiasmus zu schalten, bis es zu spät war. Tage wie diesen, wo sein auf nichts Spezielles gerichteter Haß am stärksten strömte.

Es gab keine Möglichkeit, ihn umzustimmen, sei es mit guten Worten, aufmunternden Klapsen oder Zupfen am Ohr. Nichts gefiel ihm. Er legte es auf einen Machtkampf an, und gewöhnlich lieferte ich ihm den.

Wir kreisten am Start, sieben Teilnehmer insgesamt, während das Feld aufgerufen und die Gurte festgezurrt wurden. Warteten im frostigen Novemberwind, der die Gesichter der Jockeys hellblau färbte, auf das Vertickern der Sekunden bis zum Start, stellten uns in keiner bestimmten Ordnung auf, da es bei Hindernisrennen weder eine Auslosung noch Boxen gab, harrten darauf, daß der Starter die Bänder wegzog und uns laufen ließ.

North Faces Kommentar zu dem Verfahren war ein gesenktes Haupt und ein Buckel, und er keilte aus wie ein Mustang. Die anderen Reiter fluchten und hielten sich von ihm fern, und der Starter sagte mir, ich solle möglichst hinten bleiben.

Es war das Hauptrennen des Tages, wenn auch gewichtiger an Prestige als an Prämien; ein Ereignis, bei dem die Sponsoren, eine Zeitung, für minimalen Aufwand maximale Fernsehberichterstattung bekamen. Das Rennen um den Sunday-Towncrier-Ehrenpreis fand jedes Jahr naturgemäß an einem Samstagnachmittag statt, denn so konnte am nächsten Morgen der Sunday Towncrier ausführlich darüber berichten, sich selber auf die Schulter klopfen und dramatische Fotos neben die Skandale auf der Titelseite rücken. Dramatische Fotos von Fielding, wie er vor dem Start abgeworfen wurde, kamen überhaupt nicht in Frage. Ich schimpfte das Pferd einen Gaul, einen Sausack und ein verdammtes Schwein, und in dieser gepflegten Manier begann das Rennen.

Er war störrisch und widerwillig; wir kamen langsam ab und hingen nach den ersten paar Schritten schon zehn Längen zurück. Dabei half es wenig, daß die Startlinie, anstatt diskret an irgendeinem fernen Winkel verborgen zu sein, direkt vor der Tribüne lag. Er trat zur Erbauung der Massen noch zweimal wie ein Mustang aus, und es gab nicht eben viele Pferde, die das fertigbrachten, während sie das erste Hindernis in Cheltenham angingen.

Er taperte über dieses Hindernis, blieb nach der Landung fast stehen und bockte erneut, ehe er weiterlief, begehrte körperlich und eindeutig auch geistig gegen Dirigismus aus dem Sattel auf.

Zwei volle Runden lagen vor uns. Noch neunzehn Sprünge. Eine Lücke von entnervenden und zunehmenden Ausmaßen zwischen mir und den anderen Rennern. Ich sandte ihm wütende Botschaften: Renn, du Pottsau, renn oder du kommst ins Hundefutter, ich bring dich eigenhändig um, Pottsau, und wenn du meinst, du kannst mich abwerfen, laß dir gesagt sein, du nimmst mich schön mit, Gaul, also renn endlich, mach schon, Gaul, Saukerl, du hast es doch gern, also los jetzt ...

Wir hatten das schon öfter durchgespielt, wieder und wieder, aber schlimmer war er noch nie gewesen. Er ignorierte alle Absprungsignale am zweiten Hindernis, vermasselte es und weigerte sich strikt, mit Anstand um die nächste Kurve zu galoppieren.

Einmal in früheren Zeiten, als er in dieser Laune gewesen war, hatte ich, statt mit ihm zu kämpfen, einfach versucht, ihn nach seiner Fasson selig werden zu lassen, und er hatte sich innerhalb weniger Schritte restlos zum Stehen gebracht. Dranbleiben war der einzige Weg - warten, bis der Dämon aus ihm herausfuhr.

Er zauderte beim Angehen des nächsten Hindernisses, als ob der abschüssige Hang dort ihn beunruhigte, obwohl ich wußte, daß er es nicht tat; und hinter dem nächsten, dem Wassergraben, landete er Kopf bei Fuß mit durchgekrümmtem Rücken, eine Kombination, die nahezu garantiert, daß der Jockey aus dem Sattel fliegt. Ich kannte seine Zicken so gut, daß ich darauf vorbereitet war und oben blieb, und nach diesem lustigen kleinen Manöver waren wir über dreihundert Meter hinter den anderen Pferden zurück und ernstlich unter Zeitdruck.

Meine Gefühle für ihn näherten sich dem Gipfel der Wut. Nur durch seine Dickköpfigkeit waren wir wieder einmal drauf und dran, ein Rennen zu verlieren, das wir ohne weiteres hätten gewinnen können, und wie bei anderen derartigen Anlässen schwor ich mir, daß ich das Biest nie wieder reiten würde, niemals. Nie mehr. Nie wieder. Ich glaubte es mir fast.

Wie ein unartiges Kind, das wußte, es war mit seinen Späßen zu weit gegangen, fing er plötzlich an zu rennen. Der ungleichmäßig-holprige Gang wurde glatt, der Zorn verrauchte, der herrliche Kampfgeist brach wieder durch, wie er es schließlich immer tat. Aber wir lagen mehr als dreihundert Meter zurück, und so viel aufzuholen und dann noch zu siegen, das hieß theoretisch, daß man mit dem gleichen Abstand hätte gewinnen können, wenn man es von Anfang an versucht hätte. Eine ganze Meile war vertan, zwei blieben zum Ausgleichen. Hoffnungslos.

Man soll nie aufgeben, heißt es.

Meter für Meter fliegend, verkürzten wir in der zweiten Runde den Zwischenraum, aber wir waren immer noch zehn Längen hinter dem letzten, müde nachklappenden Pferd des Feldes, als wir zu den beiden abschließenden Sprüngen einbogen. Am ersten überholten wir es. Bildeten nicht mehr das Schlußlicht, aber das war kaum entscheidend. Fünf Pferde vor uns, alle noch auf den Beinen nach dem langen Kräftemessen, alle konzentriert auf den letzten Kampf bergan.

Alle fünf gingen vor North Face über das letzte Hindernis. Er muß in der Luft sieben Meter gutgemacht haben. Er landete und zog mit eleganter athletischer Kraft davon, als gingen die haarsträubenden Mustangiaden auf das Konto eines ganz anderen Pferdes.

Undeutlich konnte ich die Menge brüllen hören, was man normalerweise nicht erlebte. North Face legte die Ohren an und fiel in einen gestreckten, wild entschlossenen Galopp, jagte immer schneller auf den Platz zu, von dem er wußte, daß er ihm gebührte, den Platz, den er so eigensinnig aufs Spiel gesetzt hatte, den er im Innersten aber haben wollte.

Ich drückte mich flach nach vorn auf seine Nackenpartie, um den Luftwiderstand zu verringern, hielt die Zügel kurz, meinen Körper still, mein Gewicht gleichmäßig über seinen Schultern. Aller Ansporn ging von den Gedanken und den Händen aus, und mein einziger Gedanke war, diesem fantastisch rennenden Geschöpf seine größtmögliche Chance zu geben.

Die anderen ermüdeten, der Hang bremste sie drastisch, wie das so häufig geschah. North Face jagte an einer Gruppe von ihnen vorbei, als sie aus dem Tritt kamen, und plötzlich war nur noch einer vor uns, ein Pferd, dessen Jockey seinen Sieg gesichert glaubte und schon halb die Hände hängen ließ.

Er konnte einem leid tun, aber er war ein Geschenk des Himmels. North Face packte ihn gerade noch ein paar Schritte vor der Ziellinie, und ich hörte seinen gequälten Aufschrei, als ich vorbeiflog.

Um Haaresbreite, dachte ich beim Anhalten. Zu knapp, um schön zu sein.

Von dem Pferd kam nichts herüber; nur ein undifferenzierter Nebel, den man bei einem Menschen als Selbstzufriedenheit gedeutet hätte. Die meisten guten Renner wußten, wann sie gesiegt hatten - sogen ihre Lungen voll und hoben stolz die Köpfe. Manche waren eindeutig deprimiert, wenn sie verloren. Schuld empfanden sie niemals, sowenig wie Bedauern oder Mitleid: North Face würde mich, wenn er konnte, beim nächsten Mal abwerfen.

Die Prinzessin begrüßte uns vor der Tribüne mit strahlenden Augen und geröteten Wangen. Strahlend wegen des Erfolgs, diagnostizierte ich, und die Röte wegen vorausgegangener Bestürzung. Ich löste den Gurt, ließ den Sattel auf meinen Arm gleiten und blieb, bevor ich zum Zurückwiegen ging, kurz bei der Prinzessin stehen.

»Bravo«, sagte sie.

Ich lächelte ein wenig. »Ich war auf Flüche gefaßt.«

»Er war besonders schwierig.«

»Und brillant.«

»Eine Trophäe wartet.«

»Ich komme gleich rüber«, sagte ich und überließ sie den herbeigeströmten Presseleuten, die sie mochten und sie im großen ganzen ehrerbietig behandelten.

Ich passierte die Waage. Der Jockey, den ich in letzter Sekunde geschlagen hatte, sah beschämt aus, doch er war selbst schuld, und das wußte er sehr gut. Die Stewards konnten ihn mit einer Geldstrafe belegen. Seine Stallbesitzer konnten ihn feuern. Sonst schenkte niemand seiner Niederlage oder meinem Sieg sonderliche Beachtung. Was vorbei war, war vorbei: Auf das nächste Rennen kam es an.

Ich gab meine Sturzkappe und meinen Sattel dem Jok-keydiener, schlüpfte in andere Farben, ließ mich wiegen, zog die Farben der Prinzessin wieder über die, die ich im nächsten Rennen tragen würde, kämmte mich und ging pflichtbewußt hinaus zur Siegerehrung. Es kam mir immer geschmacklos vor, wenn der Jockey auf den Fotos von der Preisverleihung nicht die Farben des Siegers trug, und bei Besitzern, an denen mir lag, erschien ich möglichst im richtigen Dreß. Das kostete mich bloß ein paar Minuten, und ich fand es befriedigender.

Die Rennbahn (in Gestalt des Vereinsvorsitzenden) dankte dem Sunday Towncrier für seine Großzügigkeit, und der Sunday Towncrier (in Gestalt seines Verlegers Lord Vaughnley) sagte, es sei ein Vergnügen, den Hindernissport und alle, die dazugehörten, zu unterstützen.

Kameras klickten.

Holly war nirgends zu sehen.

Die Frau des Verlegers, dünn, geschminkt und gutmütig, trat in maßgeschneiderter Eleganz vor und überreichte der Prinzessin die fußhohe vergoldete Statue eines (mittelalterlichen) städtischen Ausrufers, indem sie ihr mit Handschlag gratulierte. Die Prinzessin nahm außerdem noch eine kleinere vergoldete Version für Wykeham Harlow entgegen, und dann empfing ich das Lächeln, den Handschlag, die Gratulationen und die Zuwendung der Fotografen, zu meiner Überraschung aber nicht mein drittes Paar goldener Towncrier-Manschettenknöpfe.

»Wir hatten kommen sehen, daß Sie wieder gewinnen könnten«, erklärte Lady Vaughnley freundlich, »darum gibt es dieses Jahr auch für Sie mal ein Figürchen.« Herz-lich drückte sie mir den kleinen goldenen Mann in die Hände, der die Neuigkeiten auszurufen pflegte, als es noch keine Zeitungen gab.

Ich dankte ihr aufrichtig. Ich hatte bereits mehr Manschettenknöpfe als Hemden mit Manschetten.

»Was für ein Finish Sie uns geboten haben«, meinte sie lächelnd. »Mein Mann war begeistert. Wie ein Pfeil, sagt er.«

»Wir hatten Glück.«

Ich sah ihr automatisch über die Schulter in der Erwartung, auch ihren Sohn zu begrüßen, der seine Eltern bei allen anderen Towncriers begleitet hatte, um entweder herumzulungern oder bereitwillig Botengänge zu übernehmen. Der Junge war ganz nett, wenn auch kein allzu heller Kopf.

»Ihr Sohn ist nicht bei Ihnen?« fragte ich.

Lady Vaughnleys Munterkeit verschwand weitgehend. Sie blickte rasch und unbehaglich zu ihrem Mann hinüber, der meine Bemerkung nicht gehört hatte, und sagte unglücklich: »Nein, heute nicht.«

»Es tut mir leid«, sagte ich; nicht wegen Hugh Vaughnleys Abwesenheit, sondern weil es offensichtlich Zank in der Familie gab. Sie nickte und wandte sich blinzelnd ab, und mir kam flüchtig der Gedanke, daß die Mißhelligkeiten neu und schlimm sein mußten, fast ein Grund zum Weinen.

Die Prinzessin lud Lord und Lady Vaughnley in ihre Loge ein, und der Vorschlag wurde sofort angenommen.

»Sie auch, Kit«, sagte sie.

»Ich starte im nächsten Rennen.«

»Kommen Sie anschließend.«

»Ja. Danke.«

Wir ließen die Trophäen zum Eingravieren der Namen auf dem Tisch stehen, und ich kehrte in den Umkleideraum zurück, als die Prinzessin mit den Vaughnleys fortging.

Sie bat mich immer in ihre Loge, da sie gern über ihre Pferde und deren Leistungen sprach und ihnen allen ein zärtliches, kundiges Interesse entgegenbrachte. Am liebsten ließ sie sie dort laufen, wo sie eine Privatloge gepachtet hatte, nämlich in Cheltenham, Ascot, Sandown und Lingfield, und zu anderen Plätzen ging sie nur, wenn sie von logenbesitzenden Freunden eingeladen wurde. Sie war nicht so demokratisch, daß sie sich anfeuernd auf die Ränge gestellt hätte.

Ich ging in den richtigen Farben hinaus zum nächsten Rennen und fand augenblicklich Holly grimmig an meiner Seite.

»Hast du deinen Gewinn abgeholt?« fragte ich.

»Ich kam nicht zu dir durch«, sagte sie empört. »Die ganzen Offiziellen, die einen zurückgehalten haben, und das Getümmel ...«

»Hör mal, es tut mir leid. Ich starte jetzt wieder.«

»Gleich nachher dann.«

»Gleich nachher.«

Das Pferd, das ich in diesem Rennen ritt, war im Gegensatz zu North Face einfallslos, geistlos und nur durchschnittlich begabt. Dennoch strengten wir uns an, wurden Dritte und schienen die Besitzer und den Trainer damit einigermaßen zu erfreuen. Brot und Butter für mich, gedeckte Unkosten für sie. Der Grundstoff des Hindernisrennsports.

Ich wog mich zurück und schlüpfte rasch in Straßenkleidung, und draußen vor der Tür stand Holly.

»Also, Kit .« »Hm«, sagte ich. »Die Prinzessin erwartet mich.«

»Nein! Kit!« Sie war aufgebracht.

»Na ja ... es ist mein Beruf.«

»Keine Privatbesuche im Büro, meinst du?«

Ich gab nach. »Okay. Was ist los?«

»Hast du das hier gesehen?« Sie zog die herausgerissene Seite einer Zeitung, die sich Daily Flag nannte, aus ihrer Umhängetasche. »Hat irgend jemand im Waageraum was gesagt?«

»Nein und nein«, erwiderte ich, nahm das Zeitungsblatt und folgte mit den Augen ihrem fuchtelnden Finger. »Ich lese den Schund nicht.«

»Meinst du, wir vielleicht? Sieh es dir nur mal an.«

Ich blickte auf den mit dicken roten Strichen eingekästelten Text unter der Seitenüberschrift »Intime Details« -eine Rubrik, deren bekannt seichter bis zotiger Inhalt darauf angelegt war, Unruhe zu stiften.

»Das ist von gestern«, sagte ich, aufs Datum sehend.

»Ja, ja. Lies mal.«

Ich las den Beitrag. Er lautete:

Es geht rapide abwärts mit Robertson (Bobby) Allardeck (32), dem Vollblüter trainierenden Sohn des Großunternehmers Maynard Allardeck (50). Noch niemals Daddys Liebling (man spricht nicht miteinander), hat Bobby, dieser Schlingel, mehr gekauft, als er bezahlen kann, und nun raten Sie mal, wer ihm nicht aus der Patsche helfen mag. Demnächst mehr an dieser Stelle.

Robertson (Bobby) Allardeck (32) war der Mann meiner Schwester Holly.

»Das ist Verleumdung«, sagte ich. »Bobby kann klagen.«

»Womit denn?« wollte Holly wissen. »Das können wir uns nicht leisten. Und vielleicht würden wir auch nicht gewinnen.«

Ich betrachtete den Kummer in ihrem normalerweise faltenlosen Gesicht.

»Es stimmt also?« sagte ich.

»Nein. Ja. In gewisser Hinsicht. Natürlich hat er Sachen gekauft, die er nicht bezahlen kann. Das tut doch jeder. Er hat Pferde gekauft. Die Jährlingsauktionen laufen, verdammt noch mal. Jeder Trainer kauft Jährlinge, die er nicht bezahlen kann. Das ist immer so, wie du weißt.«

Ich nickte. Trainer ersteigerten Jährlinge für ihre Besitzer, zahlten notgedrungen auf der Stelle und verließen sich darauf, daß die Kosten ihnen bald erstattet wurden. Manchmal machten die Besitzer einen Rückzieher, nachdem ein Jährling gekauft war; manchmal kauften Trainer ein oder zwei Tiere zusätzlich, um sie selbst herauszubringen und sie später mit Gewinn abzugeben. Jedenfalls war es nichts Ungewöhnliches, zur Zeit der Versteigerungen kurzfristig Tausende von der Bank zu leihen.

»Wie viele hat Bobby gekauft, die er nicht los wird?« fragte ich.

»Natürlich wird er sie noch los«, sagte sie schroff.

Natürlich. Wahrscheinlich. Vielleicht.

»Aber jetzt?«

»Drei. Wir haben drei.«

»Gesamtschaden?«

»Über hunderttausend.«

»Die Bank hat finanziert?«

Sie nickte. »Es ist ja nicht so, daß wir am Ende nicht alles wieder geregelt kriegen, aber wo hat das widerliche Blatt die Informationen her? Und was soll das überhaupt in der Zeitung? Ich meine, das ist doch witzlos.«

»Und was ist passiert?« fragte ich.

»Passiert ist, daß alle, denen wir Geld schulden, uns telefonisch aufgefordert haben zu bezahlen. Ich meine, wirklich happige Drohungen - sonst würden sie uns vor Gericht schleifen. Gestern den ganzen Tag ... und heute morgen rief der Futterhändler an, daß er uns kein Futter mehr liefert, wenn wir unsere Rechnung nicht begleichen. Dabei haben wir dreißig Pferde, die fressen, was das Zeug hält, und dauernd hängen die Besitzer in der Leitung, erkundigen sich, ob Bobby noch weiter trainiert, und lassen durchblicken, daß sie ihre Tiere vielleicht abholen.«

Ich war skeptisch. »Soviel Reaktion auf diese kleine Notiz?«

»Ja.« Sie war plötzlich den Tränen nahe. »Jemand hat die Zeitung bei der Hälfte aller Händler in Newmarket in den Briefkasten gesteckt, auf dieser Seite aufgeschlagen, und der Text war, genau wie hier, rot umrandet. Der Schmied hat’s mir gezeigt. Die Zeitung ist von ihm. Er kam, um einige der Pferde zu beschlagen, und ließ sich im voraus bezahlen. Machte einen Scherz darüber. Aber er meinte es trotzdem ernst. Nicht alle waren so nett.«

»Und ihr könnt wohl nicht allen einfach ihr Geld geben und sie zum Schweigen bringen?«

»Das weißt du doch genau. Der Banker würde die Schecks platzen lassen. Wir müssen es schrittweise machen, so wie immer. Sie kriegen alle ihr Geld, wenn sie sich gedulden.«

Bobby und Holly lebten nach ziemlich allgemeinem Brauch, indem sie ihr Konto ständig bis zum äußersten be-lasteten, das heißt, sie balancierten die eingehenden Schecks der Besitzer mit den Ausgaben für Futter, Löhne, Gemeinkosten und Steuern. Besitzer zahlten manchmal erst mit mehrmonatiger Verspätung, aber die Pferde mußten gefüttert werden und die Löhne für die Pfleger pünktlich kommen. Da konnte der Geldfluß schon einmal blok-kiert sein.

»Tja«, sagte ich, »hol dir noch einen dreifachen Gin, während ich mit der Prinzessin rede.«

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