Kapitel 6

Ich ritt in Plumpton. Ein typischer Tag mit vier Starts; ein Sieg, einmal Dritter, einmal nirgends, einmal beinah Letzter, mit dementsprechenden Besitzerreaktionen.

Weit mehr Leute als in der Vorwoche schienen die Texte in den >Intimen Details< gesehen zu haben, und ich verbrachte einen großen Teil des Tages damit, daß ich allen, die mich fragten, dreierlei versicherte: nein, Bobby sei nicht bankrott; ja, das wüßte ich genau; und nein, ich könnte nicht mit Bestimmtheit sagen, was denn nun die Absichten von Bobbys Vater seien.

Die übliche kleine Schar von Rennsportjournalisten war bei dem Meeting vertreten, aber keiner von der Flag. Die Rennsportseite in der Flag war meistens das Werk eines pfiffigen jungen Mannes, der geringschätzig über Kommendes und kritisch über Vergangenes schrieb und nach Möglichkeit von allen Jockeys gemieden wurde. An diesem Tag hätte ich ihn zwar ganz gern getroffen, doch ich mußte mich mit seinem Gegenstück vom Towncrier begnügen.

»Sie wollen was über die Flag hören? Wozu, um alles in der Welt. Abscheuliches Blatt.« Dick und gütig, sprach Bunty Ireland, der Mann vom Towncrier, mit der Selbstzufriedenheit desjenigen, der ein achtbares Blatt hinter sich wußte. »Aber wenn es Sie interessiert, ob die Sachen über Ihren Schwager aus der Feder unseres klugschnak-kenden Kollegen stammen - das ist ziemlich sicher nicht

der Fall. Er war am Freitag in Doncaster und wußte zunächst nicht, was in der Klatschspalte stand. Als er es sah, war er etwas eingeschnappt. Er sagte, die Klatschtypen hätten ihn nicht gefragt, und das hätten sie tun sollen. Er ist ja so ein sonniges Gemüt.« Bunty Ireland strahlte. »Sonst noch was?«

»Ja«, sagte ich. »Wer gibt die Intimen Details heraus?«

»Da kann ich Ihnen nicht helfen, alter Junge. Ich hör mich mal um, wenn Sie wollen. Aber viel nützen wird es Bobby nicht, Sie können ja nicht einfach hingehen und Leuten wie uns eine aufs Maul hauen, so groß die Provokation auch sein mag.«

Wenn ihr euch da nur nicht vertut, dachte ich.

Ich ergatterte eine Mitfahrgelegenheit heim nach Lam-bourn, aß Hummer und eine Apfelsine und erwog, mit Holly zu telefonieren.

Irgend jemand, das war sicher, würde das Gespräch mithören. Irgend jemand hörte diese Leitung wahrscheinlich schon seit recht langer Zeit ab. Lange genug, um eine Liste der Leute aufzustellen, mit denen Bobby in Newmarket geschäftlich verkehrte, lange genug, um seine Bankverbindung zu kennen, so lange, daß er wußte, wie es zwischen ihm und seinem Vater stand. Der Besitzer, der telefonisch mitgeteilt hatte, er könne sich die fünfzigtausend für seinen Jährling nicht leisten, mußte belauscht worden sein, und ebenso Bobbys erfolglose Bemühungen, ihn anderweitig zu verkaufen.

Irgend jemand mußte in der Tat auch Bobbys Terminplanung und seine vielen Gespräche mit Besitzern und Jockeys abgehört haben. Es gab keinen lebenden Trainer, der nicht irgendwann unvorteilhafte oder geradezu verleumderische Meinungen über Jockeys an Besitzer weitergab und umgekehrt, aber nichts von diesem Kaliber war in der Zeitung benutzt worden. Keine »internen« Enthüllungen über Wettschwindeleien. Keine Anspielungen auf Regelverstöße oder Manipulationen etwa der Art, daß man einem Pferd ein leichtes Rennen gegeben hätte; ein gängiges Verfahren, das mit einer Geldstrafe oder auch mit dem Entzug der Lizenz geahndet werden konnte, wenn es an den Tag kam. Tatsächlich hatten nicht Bobbys Trainingsgeheimnisse als Zielscheibe gedient, sondern allein seine Finanzlage.

Warum?

Zu viele Warums.

Ich drückte die erforderlichen Tasten, und es klingelte nur einmal am anderen Ende.

»Kit?« sagte Holly sofort.

»Ja.«

»Hattest du es schon einmal versucht?«

»Nein«, sagte ich.

»Dann ist es gut. Wir hatten die meiste Zeit heute den Hörer nicht aufliegen, die Anrufe waren so schlimm. Aber gerade kam mir der Gedanke, du könntest uns zu erreichen versuchen, deshalb legte ich ihn vor kaum einer Minute erst auf ...« Sie stockte und wurde sich des Inhalts ihrer Worte bewußt. »Wir haben es wieder getan«, sagte sie.

»Ja.«

Sie mußte das Lächeln in meiner Stimme gehört haben, denn es war auch in der ihren, als sie antwortete.

»Hör zu«, sagte sie. »Ich habe nachgedacht. Ich muß jetzt weg. Ich ruf dich nachher an, okay?«

»Klar«, sagte ich.

»Tschüs.«

»Tschüs«, sagte ich und legte auf. Während ich wartete, fragte ich mich, wohin sie gehen würde. Was sie geplant

hatte. Sie rief innerhalb einer Viertelstunde zurück, und zwar unerwarteterweise vom Büro des Futterhändlers aus. Wie es schien, hatte der Futterhändler ihr aufgeschlossen, die Heizung angestellt und sie allein gelassen.

»Er war furchtbar nett«, erklärte Holly. »Ich glaube, er hat ein etwas schlechtes Gewissen, obwohl er das eigentlich nicht zu haben braucht. Jedenfalls sagte ich ihm, daß wir meinen, unser Telefon würde vielleicht abgehört, und er sagte, er halte das für sehr wahrscheinlich und ich könnte jederzeit herkommen und seinen Apparat benutzen. Ich sagte, ich würde dich heute abend gern anrufen ... und jedenfalls, hier bin ich.«

»Gut«, sagte ich. »Wie läuft’s denn?«

»Wir haben den ganzen Tag an diesen Briefen gearbeitet und sind offen gesagt hinüber. Bobby schläft im Stehen. Alle haben deinen Scheck ohne weiteres angenommen und uns schriftlich die volle Bezahlung bestätigt. Diese Schreiben haben wir zusammen mit der Widerlegung, die wir aufgesetzt hatten, bevor du nach Plumpton bist, fotokopiert, und bis wir das alles in die Umschläge verfrachtet hatten, ging gerade die letzte Post raus. Der Briefträger hat sogar am Schalter gewartet, während ich noch die letzten zehn Briefmarken aufklebte, und ich sah, daß er das Einschreiben an den Redakteur der Flag mitnahm. Wenn wir also Glück haben - wenn wir Glück haben -, ist alles vorbei.«

»Mm«, sagte ich. »Hoffen wir’s.«

»Ach, und Bobby war auch bei seinem Anwalt. Der sagte, er würde einen scharfen Beschwerdebrief an den Redakteur schreiben und einen Widerruf in der Zeitung verlangen, wie Lord Vaughnley dir empfohlen hat. Aber Bobby bezweifelt, daß dieser Brief heute schon raus ist, er meint, der Anwalt scheint das nicht für so wahnsinnig eilig gehalten zu haben.« »Sag Bobby, er soll den Anwalt wechseln.«

Holly lachte beinah. »Ja. Okay.«

Wir machten Pläne und Zeiten aus, wann ich sie am nächsten Abend, nach meiner Rückkehr von Devon, wieder anrufen könnte, aber es war erst acht Uhr früh, als mein Telefon läutete und ihre Stimme schrill und verzweifelt an mein Ohr drang.

»Hier ist Holly«, sagte sie. »Besorg dir eine Flag. Ich komme dahin, wo ich gestern abend war. Okay?«

»Ja.«

Sie legte ohne ein weiteres Wort auf, und ich fuhr ins Dorf, die Zeitung holen.

Die Kolumne mußte am vergangenen Abend gedruckt worden sein. Der Einschreibebrief würde den Chefredakteur erst später an diesem Morgen erreichen. Ich dachte im nachhinein, Bobby hätte besser nach London fahren und den Brief persönlich abgeben sollen; vielleicht wäre dann die Kampagne noch aufgehalten worden.

Die dritte Breitseite lautete:

Bedauern Sie nicht Robertson (Bobby) Allardeck (32), der trotz Geldmangels noch in Newmarket Rennpferde zu trainieren versucht. Leidtragend ist doch der Händler an der Ecke, wenn fette Kater unbezahlte Rechnungen auflaufen lassen.

In seinem luxuriösen Heim mochte sich Bobby gestern nicht zu Berichten äußern, wonach er mit dem Besitzer eines der Pferde in seinem Stall handgemein wurde und ihn mit Gewalt daran hinderte, sein Pferd abzuholen. »Ich bestreite alles«, keifte Bobby.

Unterdessen kürt sich Daddy Maynard (»Geldsack«) Allardeck (50) zum Knickstiefel des Monats. »Mein Sohn be-

kommt keinen Penny Unterstützung von mir«, verkündet er fromm. »Er hat es nicht verdient.«

Statt dessen überschüttet Geldsack gute, verdienstvolle Stiftungen, die der Regierung am Herzen liegen, demonstrativ mit Almosen. Kann die Ritterwürde heutzutage käuflich sein? Aber nicht doch!

Bobby jammert, daß er, während Daddy zu seinem eigenen Vorteil die Mäuse springen läßt, Drohbriefe von Daddys Anwälten bekommt, die ihn zur Rückzahlung eines vierzehn Jahre alten Darlehens auffordern. Anscheinend hat Geldsack dem 18jährigen Bobby zum Schulabschluß eine kleine Summe für den Kauf einer Benzinkutsche vorgestreckt. Nachdem das Vierrad längst auf dem Friedhof der Erinnerung verrottet ist, möchte Daddy nun sein Geld zurück. Bobbys Meinung von Daddy? »Rücksichtsloses Schwein.«

Ob der knickerige Maynard wohl obendrein Zinsen verlangt? Demnächst mehr.

Nachdenklich ließ ich mir von der Auskunft die Nummer des Futterhändlers geben und drückte die Tasten: Holly wartete am anderen Ende.

»Was sollen wir machen?« sagte sie unglücklich. »Das sind solche Säue. Diese ganzen Zitate ... die haben sie einfach erfunden.«

»Ja«, sagte ich. »Wenn ihr es über euch bringt, noch einen Stoß von den Briefen zusammenzustellen, die ihr gestern verschickt habt, könnte es ganz nützlich sein, sie an die Herausgeber der anderen überregionalen Zeitungen und an die Sporting Life zu schicken. Keine davon mag die Flag. Ein wenig Spott von der Konkurrenz könnte die Flag vielleicht zum Schweigen bringen.«

»Könnte«, meinte Holly wenig überzeugt.

»Alles tun, was einem einfällt, ist besser als nichts tun«, sagte ich. »Man weiß nie, welches Schrotkorn den Vogel tötet, wenn man den Schuß abgibt.«

»Poetisch«, sagte Holly grimmig. »Na schön. Wir versuchen es.«

»Und was ist mit dem Anwalt?« fragte ich.

»Bobby sagt, er sucht heute einen besseren. Nicht von hier. In einer Londoner Kanzlei. Hochkarätig.«

»Einige von seinen Besitzern wissen vielleicht, wer da am besten ist«, sagte ich. »Wenn nicht, könnte ich mir von jemand, für den ich reite, einen Namen geben lassen.«

»Fein.«

»Aber weißt du, was?« sagte ich.

»Was denn?«

»Ich bin mir nicht so sicher, ob Maynard völlig falsch lag. Die ganze Feindseligkeit richtet sich ebensosehr gegen ihn wie gegen Bobby.«

»Ja«, sagte Holly langsam. »Als wir die Schmähungen von heute lasen, fand Bobby das auch.«

»Ich würde glatt darauf wetten«, sagte ich, »daß so einige Exemplare der Intimen Details, Folge eins, zwei und drei auch in die Hände des Sekretärs für Titel und Auszeichnungen in Downing Street gelangen. Und daß hauptsächlich das der Grund für Maynards Zorn gestern war. Wenn Maynard wirklich für die Ritterwürde in Betracht gezogen wird, dann könnten die Intimen Details dem einen Riegel vorgeschoben haben, wenigstens fürs erste.«

»Hältst du das für möglich? Bloß ein paar Worte in einer Zeitung?«

»Weiß man nie. Das ganze Auszeichnungssystem ist ja so empfindlich. Jedenfalls wäre jetzt ungefähr die Zeit, wo sie diese streng geheimen Briefe verschicken, in denen sie

Herrn Soundso fragen, ob er einen Orden annimmt, wenn ihm einer angeboten wird. In diesem Augenblick werden sie dabei sein, die Vorschlagsliste für den Neujahrstag zusammenzustellen. Und die Vierundsechzig-Dollar-Frage ist, wenn du der Sekretär für Titel und Auszeichnungen wärst und müßtest eine Liste zusammenstellen, die der Premierminister genehmigen soll, würdest du dann Maynard daraufsetzen?«

»Aber wir wissen doch nicht, ob so etwas im Gange ist.«

»Nein, allerdings nicht.«

»Wahrscheinlich zeigt sich die Flag nur wieder mal von ihrer typisch giftigen, gemeinen, destruktiven Seite.«

»Vielleicht«, sagte ich.

»Du weißt, wie eklig die Presse sein kann, wenn sie es darauf anlegt. Und die Flag scheint es unentwegt darauf anzulegen.«

»Mm«, sagte ich. »Du magst recht haben.«

»Aber du glaubst nicht dran?«

»Tja ... Es wäre einleuchtender, wenn wir einen Zweck hinter diesen Angriffen erkennen könnten; und zu verhindern, daß Maynard Ritter wird, wäre ein möglicher Zweck. Aber warum sie das verhindern wollen und wie sie davon Wind bekommen haben ... das weiß der Teufel.«

»Über unser Telefon haben sie von keiner Adelung gehört«, sagte Holly bestimmt. »Das ist vielleicht bloß erfunden.«

»Alles andere in diesen Stories beruht auf Dingen, die geschehen oder die gesagt worden sind«, betonte ich. »Sie haben die Wahrheit hergenommen und verzerrt. Soll ich beim Sekretär für Titel nachfragen, ob Maynard auf seiner Vorschlagsliste steht?«

»Ja, ja, sehr lustig.« »Wie auch immer«, sagte ich. »Was hat Bobby bei den Fernmeldeleuten erreicht?«

»Sie wollen es sich mal ansehen. Sie sagten, Telefone abzuhören ist seit 1985 illegal. Gestern haben sie noch niemand zur Wanzensuche vorbeigeschickt. Sie sprachen davon, erst unser Amt zu überprüfen.«

»Das Amt? Ich wußte nicht, daß man ein Fernsprechamt anzapfen kann.«

»Tja, anscheinend kann man.«

»Also keine richtigen Wanzen?«

»Wir sagten ihnen, wir könnten keine finden, und sie meinten, wir wüßten wahrscheinlich nicht, wo wir nachschauen müßten.«

»Nun, wenigstens schenken sie der Sache Beachtung.«

»Sie sagten, eine Menge Leute glauben, daß sie belauscht werden, obwohl es nicht der Fall ist«, sagte Holly. »Trotz alledem, sie haben versprochen, sie würden nachsehen.«

»Erinnere sie dran.«

»Ja.«

»Ich ruf dich heute abend an, wenn ich aus Devon wiederkomme«, sagte ich. »Wenn ich nicht zurückkomme ... melde ich mich irgendwann.«

»Ja«, sagte sie. »Paß auf dich auf.«

»Tu ich immer«, sagte ich automatisch, und wir wußten beide, daß das unmöglich war. Wenn ein Hindernisjockey zu sehr auf sich aufpaßte, gewann er keine Rennen, und es gab schon mal Tage, an denen man nicht nach Hause fahren konnte. Ich war bis zu dem Grad abergläubisch, daß ich für die Abende von Renntagen keine bindenden Zusagen gab, und wie die meisten Hindernisjockeys akzeptierte ich Einladungen mit Worten wie: »Wenn ich kann« und: »Wenn’s klappt.«

Während der zweistündigen Fahrt zu dem Devon-und-Exeter-Meeting waren meine Gedanken mehr bei Holly, Bobby und Maynard als bei der bevorstehenden Aufgabe. Keins von den fünf Pferden, die ich reiten sollte, warf die Probleme von North Face auf, und ich hatte sie alle so oft geritten, daß ich mit ihren kleinen Eigenarten und ihren Fähigkeiten vertraut war. Ich mußte ihnen lediglich helfen, das Beste zu geben, was sie an dem Tag bringen konnten.

Die Rennbahn von Devon und Exeter lag auf dem Haldenmoor, einem majestätischen, kahlen Landstrich, über den heftige Winde vom Kanal zum Atlantik wehten. Die Bahn selbst, mit ihrem langen Rundkurs von nahezu zwei Meilen, erstreckte sich als grünes Wellenband zwischen Meeren von Gestrüpp und Heidekraut, ihre fernen, verlassenen Kurven so einsam, wie man es sich für den Wettstreit von Pferden und Menschen nur vorstellen konnte.

Unmodern, gemessen an Ascot, geographisch entlegen und Anziehungspunkt für relativ wenige Zuschauer, war sie dennoch eine meiner Lieblingsbahnen, gut geführt, gut verwaltet, mit netten, freundlichen Einheimischen.

Die Prinzessin kam gern dorthin, weil Freunde von ihr eine der wenigen Logen unterhielten; Freunde, die ein Haus an der Küste von Devon hatten und sie regelmäßig einluden, während der Renntage bei ihnen zu wohnen.

Sie war rechtzeitig nach dem Mittagessen und vor dem ersten Rennen dort, dezent erregt in ihrem Pelzmantel, und eine kleine Abordnung der Freunde begleitete sie im Führ-ring. Drei Freunde, um genau zu sein. Das Ehepaar, bei dem sie wohnte, und eine junge Frau.

Die Prinzessin stellte uns vor: »Kit . Sie kennen Mr. und Mrs. Inscombe ...« Wir schüttelten uns die Hände, »... und meine Nichte. Kennen Sie schon meine Nichte Danielle?«

Nein, ich kannte sie noch nicht. Ich gab der Nichte die Hand.

»Danielle de Brescou«, sagte die Nichte. »Hallo. Guten Tag.« Und trotz ihres Namens war sie keine Französin, sondern hörbar Amerikanerin.

Ich betrachtete kurz die weiße Wolljacke, die schwarze Hose, das breite, wie geblümter Chintz aussehende Band, das eine Fülle dunkler Haare zurückhielt. Empfing dafür einen kühl abschätzenden Blick; halb Interesse, halb ausgesetztes Urteil, überdeckt von einem strahlenden Lächeln ohne Tiefe.

»Was dürfen wir erwarten?« fragte die Prinzessin. »Wird Bernina siegen?«

Wykeham hatte die Reise nach Devon natürlich nicht gemacht. Darüber hinaus hatte er sich unklar ausgedrückt, als ich mit ihm am Telefon sprach, fast als hätte er keinen genauen Begriff davon, wer Bernina war, geschweige denn in welcher Kondition. Erst Dusty, dem ich meinen Sattel gab, damit er ihn der Stute vor dem Rennen auflege, hatte mir erklärt, sie gehe »die Wände hoch, als wollte sie nicht mehr runter«.

»Sie ist fit und startklar«, sagte ich zur Prinzessin.

»Und Wykehams Reitanweisungen?« erkundigte sich Mr. Inscombe freundlich. »Wie lauten die?«

Wykehams Anweisungen an mich waren gleich null, wie schon seit einigen Jahren. Ich sagte diplomatisch: »So ungefähr an vierter Stelle bleiben und an der vorletzten Hürde nach vorn gehen.«

Inscombe nickte wohlwollenden Beifall, und ich fing den Anflug eines Lächelns von der Prinzessin auf, die recht gut wußte, daß Wykehams Order allenfalls in der Form eines »Gewinnen Sie, wenn’s geht« gekommen wä-re, mit einer unkomplizierten Offenheit, die unter Trainern längst nicht gang und gäbe war.

Wykeham machte seine Pferde mit einer Mischung aus Instinkt und ererbter Weisheit kampffähig, wobei er sie individuell als Athleten und Kinder liebte. Er wußte, wie sie in Höchstform zu bringen waren, er verstand ihre Launen und Vorlieben, und wenn er heutzutage die eigentlichen Rennen weniger interessant fand als die Vorbereitung, so blieb er doch immer noch einer von den Großen.

Ich war den ganzen wichtigsten Teil meiner Laufbahn hindurch sein Stalljockey gewesen, und er rief mich häufig beim Namen meines Vorgängers. Ziemlich oft erzählte er mir von längst verstorbenen Pferden, die ich reiten müßte. »Polonium beim Hauptrennen in Sandown«, sagte er beispielsweise, worauf ich dann verwirrt fragte, wessen Pferd das sei, da ich noch nie von ihm gehört hatte. »Polonium? Seien Sie nicht albern. Großer Fuchs. Mag gern Minze. Sie ham letzte Woche auf ihm gesiegt.« - »Ach so ... Pepperoni?« - »Was? Ja, natürlich Pepperoni, hab ich doch gesagt. Das Hauptrennen in Sandown.«

Er war fast so alt wie mein Großvater, und allmählich gelangte ich dahin, den gesamten Rennsport durch ihre Augen als eine Art Strom zu sehen, der sich durch die Zeit wälzte, wobei die neuen Generationen aufstiegen und die älteren langsam verschwanden. Pferderennen hatten eine längere Geschichte als nahezu jede andere Sportart und änderten sich weniger, und manchmal hatte ich stark das Gefühl, in meiner Person die Erfahrung von Generationen vorangegangener Jockeys zu wiederholen und ein flüchtiger Tupfer in einem Spiel ohne Ende zu sein; heute im Vordergrund, in aller Munde, gefeiert, aber morgen schon fort, eine zur Fußnote verblaßte Erinnerung, bis kein Lebender mich mehr ein Rennen hatte reiten sehen oder sich irgend etwas daraus machte, ob ich gesiegt oder verloren hatte.

Äußerst demütigend, das Ganze.

Bernina, so genannt nach dem Berg südlich von Sankt Moritz, hatte mit vier Jahren noch nichts von der Glorie der Alpen hervorgebracht und würde es nach meiner Ansicht auch niemals tun. Sie konnte jedoch eine respektable Leistung auf die Beine stellen, wenn sie sich, wie bei diesem Anlaß, in mittelprächtiger Gesellschaft befand, und ich hoffte durchaus auf unseren Sieg. Hoffte es für die Prinzessin ebenso wie für mich. Ich wußte genau, daß sie den verschiedenen Gastgebern im Land, die sie von allen Seiten mit Einladungen bedachten, gern etwas bieten wollte. Sie war immer ein wenig besorgt um das gute Abschneiden ihrer Pferde, denn sie hatte das Gefühl, die Tiere sollten zu ihrer Bewirtung einen Beitrag leisten. Ich fand, wenn Leute wie die Inscombes ihre Gesellschaft nicht als solche schätzten, würden sie sie nicht immer wieder zu Besuch bitten. Die inneren Unsicherheiten der Prinzessin waren manchmal erstaunlich.

Bernina, die mit den angedeuteten Komplikationen nichts im Sinn hatte, trug mich auf ihre unbescheidenste Art und Weise aus dem Führring und zum Start hinunter, indem sie ausgiebig mit dem Kopf schlug und auf den Hufspitzen ein paarmal nach der Seite tanzte. Diese Lok-kerungsübungen waren ein gutes Zeichen; an ihren schlechten Tagen schritt sie brav zur Startmaschine, trabte ohne Begeisterung daraus hervor und ließ sich Zeit mit dem Endspurt. Beim letzten Mal hatte mich das vor die Stewards gebracht und mir eine Geldstrafe wegen mangelnden Bemühens um den Sieg eingetragen. Ich hatte ihnen erklärt, sie müßten Verständnis dafür haben, daß ein Pferd, das nicht rennen will, nicht rennt und daß Stuten genauso ihre schwachen Tage haben wie jeder sonst. Sie hörten unbeeindruckt zu. Zahlen Sie die Strafe, sagten sie.

Die Prinzessin hatte darauf bestanden, mir das Geld dafür zu erstatten, während andere Besitzer vielleicht getobt hätten. »Wenn sie nicht will, dann will sie nicht«, war ihr letztes Wort gewesen. »Und sie ist mein Pferd, also bin ich auch für ihre Schulden verantwortlich.« Es gab keine unlogischeren und großzügigeren Besitzer als die Prinzessin.

Ich hatte ihr empfohlen, ihre Freunde niemals an den Tagen auf Bernina setzen zu lassen, wo sie plattfüßig zum Start ging, und sie hatte den Rat ernst genommen. Als ich jetzt auf diesem Energiepaket in Devon saß, hoffte ich, daß sie, die Inscombes und die Nichte augenblicklich zu den Buchmachern oder zum Totalisator pilgerten. Die Stute fühlte sich gut und war auf Wettkampf eingestellt.

Auf dem Programm stand ein Hürdenrennen über zwei Meilen, das hieß acht Sprünge über Gestelle, wie man sie zum Einpferchen von Schafen verwendet: Hürden aus Holz, durchflochten mit Ginster oder Reisig. Sie waren lose nebeneinander aufgebaut, damit, wenn eine gerissen wurde, nicht die ganze Reihe umfiel. Gute Springer flogen mühelos über die Hürden, erhoben sich nur wenig in die Luft, aber bogen die Vorderbeine durch; der Trick bestand dann, sie so abspringen zu lassen, daß sie die Hürde mitten im Schritt nehmen konnten.

Bernina, die mir gnädig die Führung in dieser Frage überließ, ging um das ganze Geläuf, ohne einen Zweig zu berühren. Außerdem nahm sie die Aufgabe, ihre Gegner zu schlagen, mit einem derartigen Elan in Angriff, daß man es den Stewards kaum hätte verübeln dürfen, wenn sie sie diesmal einer Dopingkontrolle unterzogen hätten, so groß war der Gegensatz.

Wäre sie ein wirkliches Talent gewesen, hätte sie mit zwanzig Längen Vorsprung gewonnen, zumal der Hauptkontrahent etwa auf halber Strecke in einem Wirbel von Hufschlägen gestürzt war. Wie die Dinge lagen, machte sie, als ich ihr zwischen den letzten beiden Hürden einen ermutigenden Tritt versetzte, genügend Boden gut, um den letzten Sprung zugleich mit dem einzigen noch vor uns reitenden Pferd zu erreichen, und beim Einlauf erhielt sie den schwachen Spurt gerade so lange aufrecht, daß sie ihren ermüdenden Rivalen überholen und demoralisieren konnte.

Sie nahm meine herzlichen Klapse auf ihr siegreiches Genick als völlig verdient entgegen, als sie anhielt und vor die Tribüne stolzierte, und dort tänzelte sie rastlos herum, schwitzte ausgiebig und rollte die Augen in einer Hochstimmung, wie jeder triumphierende Gewinner sie kennt.

Die Prinzessin hielt sich erleichtert und zufrieden von dem mächtigen Körper fern, als ich den Gurt löste und den Sattel auf meinen Arm heruntergleiten ließ. Sie selbst sagte nichts weiter, da die Inscombes ziemlich viel redeten, aber bei ihr war das ohnehin nicht nötig. Ich wußte, was sie dachte, und sie wußte, daß ich es wußte; wir hatten das alles schon etliche hundert Mal erlebt.

Die Nichte sagte ein wenig nachdenklich: »Mann!«

Ich blickte ihr flüchtig ins Gesicht und sah, daß sie erstaunt war. Worüber sie staunte, wußte ich nicht und hatte auch keine Zeit, es herauszufinden, denn für mich hieß es zurückwiegen, umziehen und wiegen für das nächste Rennen. Icicle, der andere Renner der Prinzessin, kam erst im vierten an die Reihe, aber davor mußte ich noch zwei andere Pferde reiten.

Diese zwei wurden ohne Prestigeverlust Fünfter und Zweiter und waren beide von dem einheimischen Trainer, für den ich ritt, wenn ich es einrichten konnte. Neben Wykeham ritt ich noch oft für einen Stall in Lambourn, und wenn beide keine Renner hatten, für jeden anderen, der mich fragte. Nachdem ich die Form des betreffenden

Pferdes im Leistungsbuch studiert hatte, versteht sich. Dauerstürzer lehnte ich ab, indem ich sagte, Wykeham sei nicht einverstanden. Wykeham lieferte mir eine bequeme Ausrede.

Icicle, der Eiszapfen, war seinem Namen entsprechend von ganz hellem Grau; außerdem langrückig, eckig und von sanftem Naturell. Er war schnell und geschickt an den Hürden gewesen, dem Sport für die jüngeren Pferde, erwies sich aber mit reifen acht Jahren beim Rennen über größere Hindernisse eher vorsichtig als verwegen, eher zuverlässig als brillant, guten Willens, doch kein Wirbelwind.

Ich ging wieder in den Farben der Prinzessin hinaus zum Führring und fand sie und ihre Freunde in eine Diskussion vertieft, die nichts mit Pferden zu tun hatte, bei der man aber ziemlich häufig auf die Uhr sah.

»Der Zug von Exeter ist sehr schnell«, meinte Mrs. Inscombe eben tröstend, und die Nichte strahlte sie mit verhaltener Ungeduld an.

»So betrüblich es ist«, polterte Mr. Inscombe. »Es bleibt nur der Zug.«

Die Prinzessin sagte behutsam, wie zum zehntenmal: »Aber meine Lieben, der Zug geht zu spät ...« Sie unterbrach sich, um mir mit geistesabwesendem Lächeln eine kurze Erklärung zu geben.

»Meine Nichte Danielle wollte mit Freunden im Wagen zurück nach London fahren, aber die Verabredung ist geplatzt.«

Sie hielt inne. »Sie wissen wohl auch niemand, der nach diesem Rennen gleich von hier nach London fährt?«

»Leider nein«, sagte ich bedauernd.

Ich schaute die Nichte an: Danielle. Sie schaute besorgt zurück. »Ich muß um halb sieben in London sein«, sagte sie. »In Chiswick. Sie wissen doch, wo das ist? Direkt wenn man von Westen nach London reinkommt?«

Ich nickte.

»Könnten Sie da drin«, sie winkte mit der Hand zur belagerten Tür des Waageraums, »vielleicht mal fragen?«

»Ja, werde ich tun.«

»Ich muß zur Arbeit.«

Anscheinend war mir Überraschung anzumerken, denn sie setzte hinzu: »Ich arbeite für ein Nachrichtenstudio. Diese Woche habe ich abends Dienst.«

Icicle stakte methodisch um den Führring, er hatte zweieinhalb Meilen anstrengender Sprünge vor sich. Danach, im fünften Rennen, würde ich nochmals zwei Meilen über die Hürden gehen.

Danach dann ...

Ich sah kurz zur Prinzessin rüber, musterte ihren Gesichtsausdruck, der gütig war, und dachte an die Geldstrafe, die sie für mich bezahlt hatte, ohne dazu verpflichtet zu sein.

Ich sagte zu Danielle: »Gleich nach dem fünften Rennen kann ich Sie selber mitnehmen ... falls ehm, Ihnen das etwas nützt.«

Sie heftete die Augen auf mein Gesicht, und ihre Unruhe löste sich wie Nebel in der Sonne auf.

»Ja«, sagte sie entschieden. »Es nützt bestimmt.«

Nur keine bindenden Zusagen an Renntagen .

»Ich treffe Sie dann nach dem fünften vorm Waageraum«, sagte ich. »Die Straße ist gut. Wir müßten rechtzeitig nach Chiswick kommen.«

»Großartig«, sagte sie, und die Prinzessin schien erleichtert, daß wir uns jetzt auf ihr Pferd und die unmittelbare Zukunft konzentrieren konnten.

»Nett von Ihnen, Kit«, sagte sie nickend.

»Gern geschehen.«

»Was meinen Sie, wie sich mein alter Knabe heute schickt?«

»Er hat jede Menge Stehvermögen«, erwiderte ich. »Er dürfte sich gut schlagen.«

Sie lächelte. Sie wußte, daß »jede Menge Stehvermögen« ein beschönigender Ausdruck war für »nicht sehr spurtstark«. Sie kannte Icicles Fähigkeiten ebensogut wie ich, doch wie alle Besitzer wollte sie von ihrem Jockey gute Neuigkeiten hören.

»Tun Sie Ihr Bestes.«

»Ja«, sagte ich.

Ich saß auf und führte Icicle hinaus auf das Geläuf.

Zum Teufel mit dem Aberglauben, dachte ich.

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