Kapitel 4

Wunderbar klappen mochte die Glocke zwar, doch niemand kam mehr in der Nacht, um erneut ihre Warnfunktion auszulösen. Ich schlief ungestört in Jeans und Sweater, einsatzbereit, aber nicht gerufen, und Bobby ging raus und löste die Schnur, ehe die Pfleger am Morgen zur Arbeit erschienen.

Er und Holly hatten die Liste der Flag-Empfänger zusammengestellt, und nach dem Kaffeetrinken, als es hell war, fuhr ich mit Hollys Wagen los, um ihnen einen Besuch abzustatten.

Da es Sonntag früh war, klapperte ich zunächst alle Zeitungshändler in der Stadt sowie der näheren Umgebung ab und erkundigte mich, ob sie vor zwei Tagen, am Freitag, einen Haufen Flags an eine bestimmte Person verkauft hätten oder ob irgend jemand für diesen Morgen viele zusätzliche Exemplare bestellt habe.

Die Antwort war durchwegs nein. Die Flag war am Freitag so viel oder so wenig verkauft worden wie am Donnerstag. Keiner der Läden, ob groß oder klein, hatte mehr Exemplare als sonst angefordert, sagten sie, und keinem war die Flag ausgegangen. Die Jungens hatten ihren normalen Zustelldienst versehen, nichts weiter.

Die erste und leichteste Spur war damit eine Sackgasse.

Als nächstes fuhr ich zu dem Futterhändler, einem anderen als dem, der meinen Großvater belieferte. Tatsächlich war mir sofort aufgefallen, daß ich die Namen von Bobbys

Zulieferern alle nicht kannte. Aber bei Licht besehen war das wahrscheinlich auch nicht anders zu erwarten. Bobby, der den Betrieb seines Großvaters weiterführte, hielt den Lieferanten seines Großvaters die Treue, und offenbar hatten die beiden lebenslangen Feinde niemals den gleichen Schmied, den gleichen Tierarzt oder sonst irgend etwas Gleiches in Anspruch genommen. Beide hatten stets geglaubt, daß ihn der andere bei der geringsten Gelegenheit bespitzeln würde. Beide hatten recht gehabt.

Kein Futterhändler in Newmarket, wo es mehrere tausend Pferde im Umkreis gab, war befremdet, wenn man an seinem vorgesehenen Ruhetag bei ihm klingelte. Der Futterhändler, der mich in den aus Ziegelsteinen gemauerten Büroanbau seines Hauses winkte, war jung und elegant. Er erklärte mir forsch, es sei schlecht fürs Geschäft, allzu lange Zahlungsaufschub zu gewähren; er müsse an seinen eigenen Geldfluß denken, und Allardeck habe keinen Kredit mehr.

Ich gab ihm den Scheck von Jermyn Graves, den Bobby ordnungsgemäß auf der Rückseite bestätigt hatte.

»Aha«, meinte der Futterhändler strahlend. »Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?«

»Bobby hoffte, Sie würden vielleicht warten wie sonst auch.«

»Tut mir leid. Ausgeschlossen. Künftig wird bei Empfang bezahlt.«

»Der Scheck deckt mehr als Ihre Rechnung«, betonte ich.

»Richtig. Auch gut. Bobby wird beliefert, solange er reicht.«

»Vielen Dank«, sagte ich und fragte ihn, ob er gesehen hätte, wie sein Exemplar der Flag gebracht wurde.

»Nein. Wieso?«

Ich erklärte ihm, wieso. »Das war eine großangelegte und vorsätzliche Schikane. Da möchte man wissen, von wem.«

»Aha.«

Ich wartete. Er dachte nach.

»Sie muß schon ziemlich früh am Freitag morgen dagewesen sein«, sagte er schließlich. »Und sie wurde hier zum Büro gebracht, nicht zum Haus wie sonst die Zeitungen. Ich las sie zusammen mit der Post auf, als ich herkam. So gegen halb neun.«

»Und sie war auf der Klatschseite aufgeschlagen, mit einem roten Rand um den Artikel?«

»Ganz recht.«

»Haben Sie sich nicht gewundert, wer sie gebracht hat?«

»Nicht direkt ...« Er krauste die Stirn. »Ich dachte, jemand wollte mir einen Gefallen tun.«

»Mm«, sagte ich. »Beziehen Sie die Flag sonst auch?«

»Nein. Die Times und die Sporting Life.«

Ich dankte ihm und ging. Dann brachte ich Hollys Wettgewinn bei dem Klempner vorbei, der mich mit offenen Armen empfing und mir zum Teil die gleichen Antworten gab wie der Futterhändler. Die Flag hatte gegen sieben bei ihm auf der Fußmatte gelegen, und er hatte den Überbringer nicht gesehen. Mr. Allardeck sei ihm noch Geld für irgendwelche Rohrarbeiten im Sommer schuldig gewesen, und er könne ruhig zugeben, daß er ihn angerufen und ihm gedroht habe, vors Kreisgericht zu gehen, wenn er nicht sofort bezahle.

Erhielt der Klempner die Flag sonst auch?

Täglich. Am Freitag hatte er zwei gekriegt.

»Zusammen?« fragte ich. »Ich meine, lagen sie beide um sieben auf der Matte?«

»Ja. Beide.«

»Welche lag obenauf?«

Er zuckte die Achseln, dachte nach und sagte: »Soweit ich mich erinnere, war die rot markierte unten drunter. Fand ich komisch, daß der Junge zwei gebracht hatte. Dann sah ich den Artikel und dachte, ein Nachbar wollte mir einen Tip geben.«

Ich sagte, für Bobby sei das alles sehr hart.

»Na ja, anzunehmen.« Er schniefte. »Das ist längst nicht der einzige, der sein Geld zurückhält.« Er warf mir ein ansatzweise zynisches Lächeln zu. »Wenn ihnen die Rohre platzen, zahlen sie ziemlich schnell. Geht nichts über einen hübschen, starken Frost.«

Ich versuchte es bei drei weiteren Gläubigern auf der Liste. Da sie noch kein Geld gesehen hatten, gaben sie sich schroffer und weniger hilfsbereit, aber ein Grundmuster galt auch in ihrem Fall. Die markierten Zeitungen waren gebracht worden, bevor die Zeitungsjungen ihre Tour machten, und keiner hatte gesehen, wer sie ablieferte.

Ich fuhr zu der größten Zeitschriftenhandlung zurück und fragte, wann die Jungen frühestens aufbrachen.

»Die Zeitungen kommen hier um sechs mit dem Transporter an. Wir sortieren sie zum Austragen, und die Jungen radeln noch vor halb sieben los.«

»Schönen Dank«, sagte ich.

Ein Nicken. »Gern geschehen.«

Beunruhigt über die Heimlichkeit und Gründlichkeit des Unternehmens fuhr ich schließlich zu dem Haus meines Großvaters, in dem ich aufgewachsen war - ein großes Backsteingehöft mit Giebeln wie drollig verzogene Augenbrauen, die auf einen stachel drahtverstärkten Grundstückszaun herunterschauten.

Der Hof war verlassen, als ich ankam, alle Pferde in ihren Boxen, die oberen Türflügel wegen der Kälte geschlossen. Einen Tag nach dem Ablauf der Flachrennsaison ging niemand auf die Heide, um den Tieren ihren Galopp zu geben. Der Winterschlaf, den mein Großvater haßte, hatte schon eingesetzt.

Ich fand ihn in seinem Stallungsbüro, wo er voller Konzentration Briefe auf der Maschine tippte; vermutlich, weil ihm wieder eine geplagte Sekretärin davongelaufen war.

»Kit!« sagte er, kurz aufblickend. »Ich wußte nicht, daß du kommst. Setz dich. Trink was.« Er winkte mit der dürren Hand.

»Ich brauch nicht lange. Verdammte Sekretärin hat mich sitzenlassen. Grundlos, völlig grundlos.«

Ich setzte mich und sah zu, wie er doppelt so fest als nötig in die Tasten hämmerte, und empfand die gewohnte, etwas reizbare Zuneigung für ihn und die gleiche alte Bewunderung.

Er liebte Pferde mehr als alles andere. Großmutter hatte er am zweitmeisten geliebt, und in dem Winter, als sie starb, war er eine Zeitlang sehr schweigsam geworden, das Haus unheimlich still nach den Jahren, die sie damit verbracht hatten, sich gegenseitig anzuschnauzen. Innerhalb weniger Monate war er dazu übergegangen, ersatzweise Holly und mich anzuschreien, und später, als wir fort waren, die Sekretärinnen. Er wollte nicht unfreundlich sein. Als Perfektionist in einer unvollkommenen Welt regte er sich über kleine Fehler auf, das heißt, die meiste Zeit.

Seine Schreibarbeit war fertig. Er stand auf, ebenso groß wie ich, mit weißen Haaren, geradem Rücken; gepflegt in Hemd, Schlips und vorzüglich geschnittener Tweedjacke.

Nachlässig war mein Großvater in der Kleidung sowenig wie in seinen Gewohnheiten oder Manieren, und wenn er von Natur aus zwanghaft war, so war es wahrscheinlich gerade dieser Wesenszug, der ihm fast sechzig Jahre lang beachtlichen Erfolg eingetragen hatte.

»Es ist Käse da«, sagte er, »zum Lunch. Bleibst du über Nacht?«

»Ich, ehm, ich bin bei Holly.«

Er preßte den Mund zusammen. »Dein Platz ist hier.«

»Ich wünschte, du würdest dich mit ihr vertragen.«

»Ich rede jetzt mit ihr«, sagte er, »und das ist mehr, als zwischen diesem arroganten Maynard und seiner Ratte von Sohn stattfindet. Sie kommt manchmal nachmittags her. Bringt mir Eintopf und andere Sachen. Aber ihn dulde ich hier nicht, und ich geh’ da nicht hin, also verlang es nicht.« Er tätschelte mir den Arm, größtes Zeichen seiner Anerkennung. »Du und ich, wir verstehen uns doch, hm? Das genügt.«

Er führte mich ins Eßzimmer, wo zwei Tabletts auf dem Tisch standen, jedes mit einem Tuch bedeckt. Er nahm das eine Tuch weg, und ein sorgsam arrangierter Lunch für eine Person kam zum Vorschein: Käse, Kekse unter Folie, Butterwürfel, eine Schale Chutney, eine Banane und ein Apfel, dazu ein silbernes Obstmesser. Das andere Tablett war fürs Abendbrot.

»Neue Haushälterin«, sagte er knapp. »Sehr gut.«

Möge sie lange erhalten bleiben, dachte ich. Ich entfernte die Folie, holte ein zweites Gedeck, und auch ohne höfliche Zurückhaltung hätte es für uns beide gereicht, da er wegen des Alters und ich aus Notwendigkeit nur wenig aß.

Ich erzählte ihm von dem Artikel in der Flag und erkannte sofort erleichtert, daß er nichts damit zu tun hatte.

»Gemein«, sagte er. »Wohlgemerkt, mein alter Vater hätte so etwas fertiggebracht, wenn er darauf gekommen wäre. Ich selber vielleicht auch«, kicherte er, »früher mal. Bei Allardeck.«

Allardeck, das war für Großvater der Großvater von Bobby, Maynards Vater, der unliebsame Verstorbene. Großvater hatte ihn meines Wissens immer nur schlicht Allardeck genannt.

»Nicht bei Holly«, sagte mein Großvater. »Holly könnte ich das nicht antun. Es wäre nicht fair.«

»Nein.«

Er sah mich forschend an. »Dachte sie, ich würde dahinterstecken?«

»Sie sagte, das könnte nicht sein, und sie hoffte sehr, daß du’s nicht warst.«

Er nickte befriedigt und ohne gekränkt zu sein. »Ganz richtig. Die kleine Holly. Ich ahne nicht, was in sie gefahren ist, daß sie diese kleine Ratte geheiratet hat.«

»Er ist nicht so übel«, sagte ich.

»Er ist wie Allardeck. Ganz genau so. Hat übers ganze Gesicht gegrinst, als sein Pferd vor zwei Wochen in Kempton meines schlug.«

»Aber du hast keinen Protest eingelegt, fiel mir auf.«

»Konnte ich nicht. Keine Gründe. Nicht gerempelt, nicht behindert, nicht abgedrängt. Sein Pferd siegte mit drei Längen.« Er war angewidert. »Warst du da? Ich hab dich nicht gesehen.«

»Ich las es in der Zeitung.«

»Hm.« Er wählte die Banane. Ich nahm den Apfel. »Gestern hab ich am Bildschirm verfolgt, wie du den Town-crier gewonnen hast. Elender Gaul, voller Haß. Man konnte es sehen.«

»Mm.«

»Es gibt auch Menschen, die so sind«, bemerkte er. »Randvoll mit Fähigkeiten und zu verdreht, um irgendwas zu bringen.«

»Er hat gesiegt«, hob ich hervor.

»Grad so. Dein Verdienst. Und widersprich mir jetzt nicht, denn es ist mir ein Vergnügen, dich reiten zu sehen. Es gab noch nie einen Allardeck, der dir das Wasser reichen konnte.«

»Und das hast du wohl auch Allardeck gesagt?«

»Ja, natürlich. Hat ihn schwer gefuchst.« Großvater seufzte.

»Es ist nicht mehr dasselbe, seit er fort ist. Ich dachte, ich wäre froh, aber mein Leben hat doch etwas an Witz verloren. Er guckte immer so schön sauer, wenn ich ihn ausgestochen hatte. Einmal hab ich erreicht, daß sein Pferd nicht im Saint Leger starten durfte, weil ich von meinen Spionen wußte, daß es grindig war. Hab ich dir das mal erzählt? An dem Tag hätte er mich umgebracht, wenn er gekonnt hätte. Aber er hatte mir eine leichtgläubige Besitzerin abgelistet - ihr weisgemacht, ich gäbe ihre Pferde niemals dahin, wo sie siegen könnten. Unter ihm gewannen sie dann auch nicht, was ich ihn nie vergessen ließ.« Er schnitt die geschälte Banane in feine Scheiben und saß da und schaute sie an. »Maynard nun«, sagte er, »Maynard haßt mich auch wie die Pest, aber er ist den Boden nicht wert, auf dem Allardeck gestanden hat. Ein machthungriger Ichmensch ist er trotzdem, aber er ist auch ein Radfahrer, was sein Vater, bei allen Fehlern, nie gewesen ist.«

»Was heißt Radfahrer?«

»Ein Tyrann gegenüber den Schwachen, ein Kriecher gegenüber den Starken. Maynard ist eine Leiter nach der anderen hochgekrochen und hat alle Leute, an denen er vorbeikam, zertrampelt. Er war ein abscheuliches Kind. Schleimig. Einmal besaß er die Stirn und kam auf der Heide zu mir, um zu verkünden, wenn er groß wäre, würde er ein Lord, weil ich mich dann vor ihm verbeugen müßte und alle anderen auch.«

»Tatsächlich?«

»Er war noch recht klein. Acht oder neun. Ich sagte ihm, er sei widerwärtig, und haute ihm eine runter. Natürlich petzte er bei seinem Vater, und Allardeck schrieb mir einen scharfen Beschwerdebrief. Lang, lang ist’s her.« Er aß ohne Begeisterung eine Bananenscheibe. »Aber diesen Wunsch, daß sich Leute vor ihm verbeugen, den hat er immer noch, würde ich meinen. Warum übernimmt er sonst die ganzen Firmen?«

»Um zu gewinnen«, sagte ich. »Wie du und ich gewinnen wollen, wenn wir können.«

»Wir trampeln dabei nicht auf Leuten herum. Wir wollen nicht, daß man sich vor uns verbeugt.« Er grinste. »Ausgenommen die Allardecks, versteht sich.«

Wir gossen Kaffee auf, und während wir ihn tranken, rief ich einige von Großvaters althergebrachten Lieferanten sowie seinen Tierarzt, Hufschmied und Klempner an. Alle waren erstaunt über meine Frage, und keiner von ihnen hatte ein gekennzeichnetes Exemplar der Flag erhalten.

»Die kleine Ratte hat einen Verräter im eigenen Lager«, sagte Großvater ohne feststellbares Bedauern. »Wer ist seine Sekretärin?«

»Niemand. Er macht alles selbst.«

»So? Allardeck hatte eine Sekretärin.«

»Du hast mir an die fünfzig Mal erzählt, daß Allardeck nur eine Sekretärin hatte, weil du eine hattest. Du hast dich in seiner Hörweite gebrüstet, du brauchtest eine Sekretärin, weil du so viele Pferde zu trainieren hattest, deshalb hat er sich auch eine besorgt.«

»Er konnte es nie ertragen, wenn ich mehr hatte als er.«

»Und wenn ich mich recht erinnere«, sagte ich, »bist du im Dreieck gesprungen, als er sich Übungsstartboxen anschaffte, und hast nicht eher geruht, bis du selbst welche hattest.«

»Niemand ist vollkommen.« Er zuckte wegwerfend die Achseln. »Wenn die kleine Ratte keine Sekretärin hat -wer kennt denn sonst sein Leben in- und auswendig?«

»Das«, meinte ich, »ist eben die Frage.«

»Maynard«, sagte Großvater bestimmt. »Der ist es. Maynard hat noch lange nach seiner Heirat in dem Haus gelebt, wie du dich erinnern wirst. Er heiratete mit achtzehn ... dumm fand ich das, aber Bobby war unterwegs. Und danach war er mit Unterbrechungen noch fünfzehn Jahre dort. Angeblich als Allardecks Assistent, aber zwischendurch schlich er immer nach London, um all diese Geschäfte abzuwickeln. Kakao! Hat man je gehört, daß einer ein Vermögen mit Kakao verdient? Das war Maynard. Allardeck hat darüber wochenlang gegrient, unaufhörlich davon gefaselt, wie schlau sein Sohn wäre. Tja, mein Sohn war tot, was ich ihm eines Tages klipp und klar in Erinnerung rief, und danach hielt er den Schnabel.«

»Maynard würde Bobbys Laufbahn nicht zerstören«, sagte ich.

»Wieso denn das? Er redet nicht mehr mit ihm, seit er und Holly zusammen sind. Holly sagte mir, wenn Maynard Bobby etwas mitteilen möchte, dann läßt er es von seinem zahmen Anwalt schreiben. Und bisher haben alle Briefe sich darum gedreht, daß Bobby das Geld zurückzahlen soll, von dem Maynard ihm nach seinem Schulabschluß ein Auto finanziert hat. Holly sagt, Bobby war damals so angetan, daß er sich brieflich bei seinem Vater bedankte und versprach, es ihm eines Tages wiederzugeben, und jetzt nagelt Maynard ihn darauf fest.«

»Nicht zu fassen.«

»Die reine Wahrheit.«

»Was für ein Bastard.«

»Maynard ist wirklich alles mögliche«, sagte Großvater trocken, »aber kein Bastard. Er kommt voll und ganz nach Allardeck. Dieselbe höhnische Visage. Dasselbe hochnäsige Grinsen. Glatte Haare. Kein Kinn. Die kleine Ratte ist im übrigen genauso.«

Bobby, die kleine Ratte, war, wenn man ihn nicht mit den Augen eines Fielding sah, ein Mann mit völlig normalem Kinn und recht angenehmem Lächeln, aber ich ließ das hingehen. Die Sünden und Fehler der Allardecks, einst und jetzt, konnten in einem Fieldinghaushalt niemals objektiv beurteilt werden.

Ich blieb den ganzen Nachmittag bei Großvater und ging zur Stallkontrolle um halb fünf mit ihm den Hof ab, als der kurze Wintertag schon dunkelte und die Lichter in den Boxen gelb strahlten.

Die Burschen hatten wie immer viel zu tun, misteten aus, holten Heu und Wasser, brachten die Boxen in Ordnung. Der langjährige Futtermeister (den Großvater nie anschrie) begleitete uns, und die beiden erörterten in knappen Worten jedes der etwa fünfzig Pferde. Ihre Stimmen waren leise, gedankenvoll, ernst - und in gewisser Hinsicht auch bedauernd, denn die Erwartungen und Erfolge des Jahres waren gelaufen, die Aufregung vorbei.

Ich fürchtete den Tag, an dem es mit diesen Aufregungen endgültig vorbei sein würde, an dem Großvater erkrankte oder starb. Er würde sich nicht zurückziehen, ehe es sein mußte, da die Arbeit sein ganzes Leben war, doch dann, in nicht allzu ferner Zeit, sollte ich in dieses Haus zurückkehren und die Lizenz übernehmen. Großvater erwartete es, die Besitzer waren darauf vorbereitet, die Rennwelt generell hielt es für eine ausgemachte Sache; und ich wußte, daß ich noch längst nicht soweit war. Ich wollte noch vier, fünf Jahre weitermachen in dem Sport, dem meine Leidenschaft galt, wollte Rennen reiten, solange mein Körper fit und unversehrt war und irgend jemand mich bezahlte. Hindernisjockeys bleiben nie so lange aktiv wie Flachrennreiter, denn dreißigmal und mehr im Jahr mit fünfzig Stundenkilometern auf den Boden zu krachen ist ein Sport für junge Leute. Aber ich hatte mir immer vorgestellt, daß fünfunddreißig so ungefähr das Alter wäre, um den Beruf an den Nagel zu hängen.

Bis ich fünfunddreißig war, würde Großvater siebenundachtzig sein, und selbst für ihn ... Ich fröstelte in der kalten Luft und schob den Gedanken weg. Der Zukunft würde ich mich stellen müssen, aber noch war sie nicht da.

Zu Großvaters großer Empörung verließ ich ihn nach der Stallkontrolle und kehrte zum Feindeshaus zurück, wo ich die Endphase des gleichen abendlichen Rituals noch mitbekam. Graves’ Pferde waren noch im Stutenhof, und Bobby fühlte sich jetzt sicherer: Nigel hatte ihm gesagt, daß Graves mindestens zweimal seine Pferde mit anderen verwechselt habe, als er sonntags morgens vorbeigekommen sei, um sie sich anzusehen. Ich schaute Bobby bei den Pferden zu, als er ihre Beine nach Hitze und strapazierten Sehnen abtastete, leichte Hautausschläge, die hervorgebrochen waren, untersuchte und ihnen einen freundlichen Klaps auf die Kruppe gab. Er war ein geborener Pferdefreund, ganz ohne Zweifel, und die Tiere reagierten auf ihn in der undefinierbaren Art, die anzeigt, daß sie sich bei jemandem wohl fühlen.

Ich hielt ihn zuweilen vielleicht für ein wenig unentschlossen und auch für keinen Schnelldenker, doch er war tatsächlich ein ganz guter Kerl, und ich konnte nachvollziehen, daß Holly ihn liebte. Er hatte sie außerdem selbst so sehr geliebt, daß er seinen Vorfahren den Rücken kehrte und sich von seinem einflußreichen Vater abwandte, und mir schien, dazu hatte auch Stärke gehört.

Er erhob sich, nachdem er ein Bein befühlt hatte, und sah, daß ich ihn beobachtete. Mit einer instinktiven Bewegung, die geradewegs aus dem Unterbewußtsein kam, richtete er sich zu voller Höhe auf und warf mir einen stechenden, von Feindschaft erfüllten Blick zu.

»Fielding«, sagte er nur, als wäre das Wort selbst schon ein Vorwurf und ein Fluch; ein Kampfruf im weitergehenden Krieg.

»Allardeck«, erwiderte ich im gleichen Ton. Ich grinste ein wenig. »Um die Wahrheit zu sagen, ich dachte gerade, daß ich dich mag.«

»Oh!« Er entspannte sich so schnell, wie er sich verkrampft hatte, und sah verwirrt drein. »Ich weiß nicht ... im ersten Moment ... empfand ich .«

»Schon klar«, sagte ich nickend. »Haß.«

»Deine Augen waren im Dunkeln. Du sahst ... vermummt aus.«

Es war eine annehmbare Erklärung und eine Art Entschuldigung, und ich dachte bei mir, wie vernunftwidrig es war, daß die Tiefenkonditionierung so rasch an die Oberfläche durchdrang. Sie tat es hin und wieder auch bei mir, mochte ich mich noch so sehr dagegen wehren.

Er sah sich schweigend die übrigen Pferde an, und wir gingen zurück zum Haus.

»Es tut mir leid«, sagte er dann mit einem Anflug von

Verlegenheit. »Da drüben ...« Er winkte mit der Hand. »Ich hab’s nicht so gemeint.«

Ich fragte neugierig: »Kommt dir Holly auch manchmal so vor? Als eine Fielding? Wenn ihre Augen im Dunkeln sind, fühlst du dich dann bedroht?«

»Nein, natürlich nicht. Sie ist anders.«

»Inwiefern ist sie anders?«

Er blickte mir ins Gesicht und gelangte offenbar zu dem Schluß, daß er ruhig antworten könne. »Du«, sagte er, »bist stark. Ich meine geistig, nicht nur an Körperkraft. Das kann keinem, der sich näher mit dir unterhalten hat, entgehen. Es macht dich ... ich weiß nicht ... irgendwie merken es die Leute, wenn du da bist, sei es im Waageraum oder sonstwo. Die Leute wissen, ob du an einem bestimmten Renntag teilgenommen hast oder an einer Party, auch wenn du es nicht darauf anlegst. Wahrscheinlich drücke ich mich nicht klar aus. Es ist aber das, was dich zum Champion-Jockey gemacht hat, glaube ich, und es ist voll und ganz Fielding. Nun, Holly ist nicht so. Sie ist sanft und ruhig, und sie hat keinen Funken Aggressivität oder Ehrgeiz; sie will nicht losgehen und die Welt zu Pferd besiegen, also ist sie im Innersten eigentlich keine Fielding.«

»Mm.« Es war mehr ein trockener Laut aus der Kehle als ein Wort. Bobby warf mir erneut einen raschen Blick zu. »Geht in Ordnung«, sagte ich. »Ich bekenne mich meines Erbes schuldig, und ich spreche sie auch davon frei. Aber Ehrgeiz hat sie.«

»Nein.« Er schüttelte entschieden den Kopf.

»Sie hat dich«, sagte ich. »Sie möchte, daß du bleibenden Erfolg hast. Daß ihr beide ihn habt. Als Beweis, daß es richtig von euch war zu heiraten.«

Er blieb mit der Hand am Knauf der Tür stehen, die vom Hof in die Küche führte. »Du warst dagegen, wie alle anderen auch.«

»Ja, aus verschiedenen Gründen. Aber jetzt nicht mehr.«

»Auch nicht am Tag der Trauung«, lenkte er ein. »Du warst der einzige, der erschien.«

»Sie konnte ja nicht gut allein zum Altar gehen, oder? Irgend jemand mußte sie begleiten.«

Er lächelte so instinktiv, wie er vorhin seinen Haß geäußert hatte.

»Ein Fielding überläßt einem Allardeck eine Fielding«, sagte er. »Ich habe damals auf ein Erdbeben gewartet.«

Er öffnete die Tür, und wir gingen hinein. Holly, die uns miteinander verband, hatte das Kaminfeuer im Wohnzimmer angezündet und gab sich bewußt fröhlich.

Wir setzten uns in Sessel, und ich berichtete ihnen von meinen Vormittagsausflügen und versicherte ihnen auch, daß Großvater nicht in die Geschichte verwickelt war.

»Die gekennzeichneten Exemplare der Flag lagen spätestens um sechs bei den Leuten auf der Matte«, sagte ich, »und sie kamen von außerhalb, nicht aus Newmarket. Ich weiß nicht, wann die Zeitungen in Cambridge in die Läden kommen, aber wesentlich früher als um fünf wohl kaum. Da hätte einer nicht viel Zeit gehabt, in Cambridge rund zwanzig Zeitungen zu kaufen und sie zwanzig Meilen weiter, gefaltet und markiert, an Adressen in ganz Newmarket zu verteilen, bevor die Zeitungsjungen rundfuhren.«

»London?« sagte Holly. »Glaubst du, jemand hat sie direkt hergebracht?«

»Anzunehmen.« Ich nickte. »Das schließt natürlich nicht aus, daß es jemand von hier war, der es in die Wege geleitet oder auch selbst getan hat, also sind wir noch nicht viel weiter.«

»Es ist alles so sinnlos«, sagte Holly.

»Niemand scheint gegen sechs aus dem Fenster geschaut zu haben«, fuhr ich fort. »Sollte man in dieser Stadt doch meinen. Aber keiner, den ich fragte, hat um die Zeit jemanden mit einer Zeitung daherkommen sehen. Natürlich war’s stockdunkel. Sie sagten, im Winter sehen sie auch die Zeitungsjungen nur selten.«

Das Telefon klingelte auf dem Schreibtisch neben Bobbys Sessel, und Bobby streckte mit einem beunruhigten Blick die Hand aus, um den Hörer abzunehmen.

»Oh ... hallo, Seb«, sagte er. In seiner Stimme schwang Erleichterung, aber nicht viel.

»Ein Freund«, sagte Holly mir. »Hat ein Pferd bei uns.«

»Du hast es gesehen, ja?« Bobby verzog das Gesicht. »Jemand hat dir ein Exemplar geschickt .« Er hörte zu, sagte dann: »Nein, natürlich weiß ich nicht, wer. Es ist reine Bosheit. Nein, natürlich stimmt es nicht. Ich bin und bleibe im Geschäft, und sei unbesorgt, deiner Stute geht es glänzend, ich habe gerade ihre Sehne gefühlt. Sie ist kühl und fest und macht sich gut. Was? Vater? Der bürgt für keinen Penny, hat er gesagt. Ja, da magst du recht haben, daß er ein rücksichtsloses Schwein ist ... Nein, darauf besteht keine Hoffnung. Vielmehr versucht er mir jetzt Geld abzupressen, das er mir vor rund vierzehn Jahren für den Kauf eines Wagens geliehen hat. Na ja . wahrscheinlich ist er so auf die Tour reich geworden. Was? Nein, kein Vermögen. Es war ein gebrauchter alter Klapperkasten, aber mein erster. Irgendwann muß ich ihm das Geld wohl geben, bloß um mir seine Anwälte vom Hals zu schaffen. Ja, wie gesagt, es ist alles in Ordnung. Gib nichts auf die Flag. Natürlich, Seb, keine Ursache. Tschüs.«

Er legte den Hörer auf, und seine Miene war nicht annähernd so zuversichtlich wie seine Stimme am Telefon.

»Wieder ein Besitzer, dem nichts Gutes schwant. Rattenbrut. Die Hälfte von ihnen will weg, ohne abzuwarten, ob das Schiff sinkt. Und die Hälfte von ihnen hat die Rechnung vom letzten Monat noch nicht bezahlt.«

»Seb denn?« fragte Holly.

Bobby schüttelte den Kopf.

»Dann ist er ganz schön frech.«

»Dieser verdammte Artikel hat ihn gestern mit der Post erreicht. Nur die >Intimen Detailsc. Ein Ausschnitt, sagt er, nicht die ganze Zeitung. In einem normalen braunen Umschlag, maschinengeschrieben. Aus London, wie die anderen.«

»Haben alle Besitzer einen Ausschnitt bekommen?« fragte ich.

»Es sieht so aus. Die meisten waren schon am Telefon. Ich hab mich bei dem Rest nicht erkundigt.«

Wir saßen eine Weile herum, und ich benutzte das Telefon, um meinen Anrufbeantworter im Cottage abzurufen. Dann rief ich zwei Trainer zurück, die mir Starts für die kommende Woche angeboten hatten, und telefonierte mit einigen Jockeys aus Newmarket wegen einer Mitfahrgelegenheit nach Plumpton in Sussex, zu den Rennen am nächsten Tag. Zwei von ihnen fuhren schon gemeinsam, sagten sie, und würden mich mitnehmen.

»Kommst du dann wieder her?« fragte Holly, als alles geregelt war.

Ich sah die Unruhe in ihrem Gesicht und keinen Widerspruch in dem von Bobby. Ich hätte nicht erwartet, daß er mich überhaupt dahaben wollte, doch anscheinend irrte ich mich.

»Bleib«, sagte er kurz, aber einladend, nicht widerwillig.

»Ich bin keine große Hilfe gewesen.«

»Uns ist wohler«, sagte Holly, »wenn du hier bist.«

Ich mochte aus praktischen Erwägungen nicht allzugern bleiben. Ich sollte am Dienstag in Devon starten, und ein Grund, warum ich lieber in Lambourn als in Newmarket wohnte, war der, daß man von Lambourn aus zu jeder Rennbahn in England fahren und am gleichen Tag nach Hause kommen konnte. Lambourn lag zentral.

Ich sagte entschuldigend: »Ich muß von Plumpton aus mit jemand nach Lambourn zurückfahren, denn um am Dienstag nach Devon zu kommen, brauche ich meinen Wagen. Wenn ich Dienstag abend dann wieder in Lambourn bin, sehen wir mal, wie die Dinge hier stehen.«

Holly meinte entmutigt: »Ist gut« und versuchte nicht, mich umzustimmen.

Ich sah in ihr niedergeschlagenes Gesicht, das, wie so oft, im Kummer schöner war als in der Freude. Ein Gedanke kam mir unvermutet in den Kopf, und ich sagte ohne Überlegung: »Holly, bist du schwanger?«

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