Kapitel 2

Die Prinzessin Casilia, Madame de Brescou (um sie bei ihrem vollen Titel zu nennen) hatte wie üblich für den Renntag einige Freunde zum Lunch geladen, und ihre Loge enthielt außer mir selbst und den Vaughnleys eine kleine Kollektion an Pelzen und Tweedsachen, alle mit Trägern, die ich bei ähnlichen Gelegenheiten schon getroffen hatte.

»Sie kennen doch alle, nicht wahr?« sagte die Prinzessin, und ich nickte bejahend, obwohl ich mich an die Hälfte der Namen nicht erinnern konnte.

»Tee?« fragte sie.

»Ja, danke.«

Die gleiche Kellnerin wie sonst gab mir auch schon lächelnd eine volle Tasse. Keine Milch, kein Zucker, eine Scheibe Zitrone, wie immer.

Die Prinzessin hatte ihre Logen auf den Rennbahnen von einem Innenarchitekten ausstatten lassen, und sie waren alle gleich: hell pfirsichfarbene Jute an den Wänden, kaffeebrauner Teppichboden und ein Eßtisch mit gläserner Platte, umgeben von bequemen Stühlen. Bis zum Spätnachmittag, meiner gewohnten Besuchszeit, war der Tisch auf die Seite geschoben und nicht zum Lunch gedeckt, sondern mit Sandwichplatten, Buttergebäck, verschiedenen Alkoholika und einer Kiste Zigarren dekoriert. Die Freunde der Prinzessin neigten dazu, noch lange nach den letzten Rennen zu bleiben.

Einer der weiblichen Gäste nahm eine Platte mit lecker aussehenden Törtchen auf und bot sie mir an.

»Nein, danke«, sagte ich höflich. »Im Augenblick nicht.«

»Überhaupt nicht«, erklärte die Prinzessin ihrer Freundin.

»So was darf er nicht essen. Und führen Sie ihn nicht in Versuchung. Er hat Hunger.«

Die Freundin schaute überrascht und verwirrt drein. »Ach herrje. Daran hätte ich nie gedacht. Und er ist so groß.«

»Ich esse eine Menge«, sagte ich. »Nur so was nicht.«

Die Prinzessin, die zumindest eine Ahnung davon hatte, wie sehr ich ständig darum kämpfte, mein Körpergewicht auf 63 Kilo zu halten, warf mit einen ungläubig funkelnden Blick durch ihre Wimpern zu.

Die Freundin war einfach neugierig. »Was essen Sie denn meistens«, fragte sie, »wenn keine Törtchen?«

»Hummer beispielsweise«, sagte ich.

»Du liebe Zeit.«

Ihr Begleiter richtete über einem dicken Schnurrbart und langen Vorderzähnen ein kritisches Auge auf mich.

»Sie kamen in dem großen Rennen ein bißchen spät raus, was?« sagte er.

»Leider ja.«

»Konnte mir nicht vorstellen, warum Sie da hinten so lange fackeln. Hätten’s beinah ganz verpfuscht, was? Der Prinzessin war das äußerst peinlich, kann ich Ihnen sagen, denn natürlich hatten wir alle auf Sie gesetzt.«

Die Prinzessin sagte: »North Face kann sehr ungehorsam sein, Jack. Ich habe es Ihnen doch erzählt. Er ist so eigenwillig. Manchmal kriegt man ihn kaum zum Reiten.«

»Es ist Sache des Jockeys, ihn zum Reiten zu bringen«, erklärte Jack mit einer Spur von Angriffslust. »Sind Sie nicht meiner Meinung, was?«

»Doch«, sagte ich. »Ich bin Ihrer Meinung.«

Jack schien ein wenig aus der Fassung gebracht, und die Mundwinkel der Prinzessin zuckten.

»Und dann haben Sie ihn in Flammen gesetzt«, bemerkte Lord Vaughnley, der das Gespräch mit anhörte. »Sie haben uns ein mitreißendes Finish geliefert. Etwas, wofür ein Sponsor betet, mein lieber Mann. Denkwürdig. Eine Sache, über die man reden wird, die haftenbleibt. Das Finish von North Face im Towncrier Trophy: erste Klasse. Hervorragend, finden Sie nicht?«

Jack fand das wohl, zog aber vor, nichts davon zu halten, und wanderte ab. Lord Vaughnleys graue Augen blickten jovial aus seinem großen, freundlichen Gesicht, und er klopfte mir mit gutgemeintem Beifall auf die Schulter.

»Das dritte Mal nacheinander«, sagte er. »Sie haben uns eine große Ehre erwiesen. Möchten Sie mal dabeisein, wenn die Zeitung samstags abends zu Bett gebracht wird?«

»Ja«, sagte ich überrascht, »sehr gern.«

»Vielleicht drucken wir ein Bild von Ihnen, wie Sie zusehen, wie ein Bild von Ihnen aus der Rotation kommt.«

Mehr als Jovialität, dachte ich, hinter den grauen Augen - ein Zeitungsmensch mit Leib und Seele.

Er war um die Fünfzig und hatte den Towncrier geerbt als Sohn eines Zeitungsbarons alten Stils, der sich in den dreißiger Jahren nach oben boxte und Millionen Frühstücksrunden mit grellem neuem Leben erfüllte. Vaughn-ley senior hatte eine schwindsüchtige Provinzwochenzeitung gekauft und sie in ein kraftvolles, landesweit gelesenes Medium verwandelt. Er hatte sie in die Fleet Street gebracht, den jähen Anstieg ihrer Auflage erlebt und zu gegebener Zeit eine tägliche Ausgabe gestartet, die sich immer noch erfolgreich hielt, obwohl es an bissigen Angriffen von neueren Rivalen nicht fehlte.

Der alte Herr war ein schillernder, freibeuterischer Unternehmer gewesen. Der Sohn war ruhiger, im Grunde seines Wesens ein Manager, ein Werbefachmann. Der Town-crier, einst ein reißerisches Nachrichtenblatt, hatte in den letzten zehn Jahren den Weg zum Establishment gefunden, und das war ein sprechendes Zeugnis für den Wechsel von der älteren Persönlichkeit zu der jüngeren.

Ich dachte an Hugh Vaughnley, den Sohn und Nachfolger, den kraftlos sanften jungen Mann, der gegenwärtig offenbar mit seinen Eltern im Streit lag. In seinen Händen würde der Towncrier, wenn er überhaupt bestehen blieb, auf Flausen, Plattheiten und Schmus herunterkommen.

Die Daily Flag, noch in ihrer dreistesten Phase und eine der heftigsten Gegnerinnen des Towncrier, war kürzlich nach bitteren Ränkespielen von einem aufstrebenden Finanzier gekauft worden, einem Mann, der angeblich nach Macht und Adel dürstete und beides auf bewährten Wegen zu erlangen suchte. Die Flag war rührig, rabiat, trat mit Vorliebe auf unantastbare Zehen und rühmte sich täglich neuer Leser.

Da ich Lord Vaughnley schon bei mehreren Rennsportfeierlichkeiten getroffen hatte, wo den Erfolgreichen (wie etwa Champion-Jockeys, führende Trainer, Besitzer-desJahres und so weiter) begehrte Auszeichnungen verliehen wurden, und da Hollys Kummer mich nicht losließ, fragte ich ihn, ob er wisse, wer für die >Intimen Details< in der Flag verantwortlich sei.

»Verantwortlich?« wiederholte er mit einem Anflug von selbstgerechtem Abscheu. »Unverantwortlich wohl eher.«

»Dann also unverantwortlich.«

»Warum denn?« fragte er.

»Das Blatt hat grundlos und ohne erkennbaren Sinn meinen Schwager angegriffen.«

»Hm«, sagte Lord Vaughnley. »Zu dumm. Aber, mein Lieber, sinnlose Angriffe liest die Öffentlichkeit gern. Destruktive Kritik erhöht die Auflagen, Lob und Anerkennung nicht. Mein Vater pflegte das zu sagen, und er lag selten falsch.«

»Und zum Teufel mit der Gerechtigkeit«, sagte ich.

»Wir leben in einer herzlosen Welt. So war es immer, so wird es immer sein. Christen, den Löwen zum Fraß -kommt, kauft euch die besten Plätze im Schatten! Ein blutiges Schauspiel ist euch gewiß! Die Leute kaufen Zeitungen, mein Lieber, um zu sehen, wie die Opfer in Stücke gerissen werden. Seien Sie dankbar, daß es körperlich unblutig ist; soweit sind wir immerhin gekommen.« Er lächelte, als spräche er mit einem Kind. »Intime Details, müssen Sie wissen, sind eine Gemeinschaftsanstrengung. Ein ganzer Haufen von Journalisten gräbt die Goldklumpen aus, und daneben gibt es ein Netz von Informanten in Krankenhäusern, Leichenhallen, Nachtclubs, Polizeiwachen und weniger ehrbaren Orten aller Art, die den Klatsch telefonisch durchgeben und dafür Lohn einstreichen. Beim Towncrier halten wir es auch so. Das tut jede Zeitung. Klatschspalten, mein Lieber, kämen sonst nicht zustande.«

»Ich wüßte gern, wo der Artikel über meinen Schwager herkommt. Wer da wem geflüstert hat, wenn Sie verstehen, was ich meine. Und warum.«

»Hm.« Die grauen Augen blickten nachdenklich. »Der Chefredakteur der Flag ist Sam Leggatt. Selbstverständlich könnten Sie ihn fragen, aber auch wenn er es von seinem Stab erfährt, wird er es Ihnen nicht sagen. Da rennen Sie gegen eine Wand, mein Lieber.«

»Und Sie finden es richtig«, deutete ich seinen Tonfall. »Dichthalten, niemals Quellen preisgeben und was sonst dazugehört.«

»Wenn Ihr Schwager wirklich nachweisbar Schaden erlitten hat«, nickte er freundlich, »dann sollte er Sam Leg-gatt durch seinen Anwalt mitteilen lassen, daß ihm eine Anzeige wegen Verleumdung bevorsteht, wenn nicht sofort ein Widerruf und eine Entschuldigung veröffentlicht werden. Das zieht manchmal. Andernfalls könnte Ihr Schwager einen kleinen außergerichtlichen Vergleich erwirken. Aber raten Sie ihm davon ab, mein Lieber, sich auf eine richtiggehende Verleumdungsklage einzulassen. Die Flag hält sich Spitzenanwälte, und die kennen da nichts. Sie würden die harmlosesten Geheimnisse Ihres Schwagers ausbuddeln und bis zur Unkenntlichkeit verdrehen. Er würde sich wünschen, er hätte nie damit angefangen. Ein Rat unter Freunden, mein Lieber, glauben Sie mir.«

Ich erzählte ihm, daß der Beitrag, mit einem roten Rand versehen, durch Boten bei Geschäftsleuten abgeliefert worden war.

Lord Vaughnley krauste die Stirn. »Sagen Sie ihm, er soll den Informanten in seiner Umgebung suchen«, meinte er. »Klatschmeldungen entspringen oft nachbarlicher Bosheit. Ähnlich wie Gerüchte über Pfarrer und ihre Liebhaberinnen.« Er lächelte flüchtig. »Gute alte Bosheit. Was sollte die Zeitungsindustrie bloß ohne sie anfangen!«

»Welch ein Bekenntnis!« sagte ich frotzelnd.

»Wir schreien nach Frieden, Ehrlichkeit, Harmonie, Gemeinsinn und nach gleichem Recht für alle«, erwiderte er. »Ich versichere Ihnen, daß wir das tun, mein Lieber.«

»Ja«, sagte ich. »Ich weiß.«

Die Prinzessin berührte Lord Vaughnley am Arm und lud ihn ein, hinaus auf den Balkon zu gehen, um sich das letzte Rennen anzusehen. Er fand es jedoch an der Zeit, zu den Gästen des Towncrier zurückzukehren, die er vorübergehend in einem Sponsorensaal allein gelassen hatte, und zusammen mit seiner Frau verabschiedete er sich.

»Nun, Kit«, sagte die Prinzessin, »da jetzt alle draußen sind und sich das Rennen ansehen, erzählen Sie mir mal von North Face.«

Wir setzten uns wie so oft in zwei Sessel, und ich berichtete vorbehaltlos, was zwischen ihrem Pferd und mir abgelaufen war.

»Ich wünschte«, sagte sie nachdenklich am Schluß, »ich hätte Ihr Gefühl dafür, was Pferde denken. Ich habe es sogar schon damit versucht, daß ich meinen Kopf an ihren hielt«, sie lächelte beinah verlegen, »aber nichts tut sich. Zu mir dringt überhaupt nichts durch. Also, wie stellen Sie das an?«

»Ich weiß es nicht«, erwiderte ich. »Jedenfalls glaube ich nicht, daß es von Kopf zu Kopf geht. Anscheinend wird es mir bewußt, wenn ich sie reite. Es kommt nicht in Worten, überhaupt nicht. Es ist einfach da. Es kommt von allein. Das geht vielen Reitern so. Pferde sind telepathische Wesen.«

Sie legte den Kopf schräg und sah mich an. »Aber Sie, Kit, Sie lesen die Gedanken von Menschen genau wie die von Pferden. Schon oft haben Sie auf eine Frage geantwortet, die ich Ihnen gerade in dem Moment stellen wollte. Ziemlich beunruhigend. Wie machen Sie das?«

Ich war verblüfft. »Ich weiß nicht, wie.«

»Aber Sie wissen, daß Sie’s tun?«

»Na ja ... früher wohl. Meine Zwillingsschwester Holly und ich hatten eine Zeit, wo wir untereinander telepathisch waren. Fast wie eine besondere Form des Redens. Aber in den letzten Jahren sind wir da herausgewachsen.«

»Schade«, sagte sie. »So eine interessante Begabung.«

»Logisch betrachtet, kann es sie nicht geben.«

»Es gibt sie aber.« Sie tätschelte meine Hand. »Schönen Dank für heute, auch wenn mir wegen Ihnen und North Face bald das Herz stehengeblieben wäre.«

Sie erhob sich ohne Hast, seit früher Zeit geübt darin, ein Gespräch taktvoll zu beenden, wann sie es wollte, und ich stand ebenfalls auf und dankte ihr höflich für den Tee. Sie lächelte durch ihre Wimpern, wie sie es oft in Gesellschaft tat; nicht aus Koketterie, sondern, wie mir schien, um ihre Gefühle für sich zu behalten.

Sie hatte einen Mann, zu dem sie täglich nach Hause fuhr: Monsieur Roland de Brescou, ein Franzose von adliger Herkunft, immensem Reichtum und fortgeschrittenem Alter. Ich kannte ihn von zwei Begegnungen als eine weißhaarige Gestalt im Rollstuhl mit autokratischer Nase und geringem Mitteilungsbedürfnis. Hin und wieder erkundigte ich mich nach seinem Befinden; die Prinzessin antwortete stets, es gehe ihm gut. Aus ihrem Tonfall oder ihrem Verhalten ließ sich unmöglich entnehmen, was sie für ihn empfand: Liebe, Sorge, Enttäuschung, Ungeduld, Freude . nichts kam zum Vorschein.

»Wir starten in Devon und Exeter, nicht wahr?« sagte sie.

»Ja, Prinzessin. Bernina und Icicle.«

»Gut. Dann sehen wir uns dort am Dienstag.«

Ich gab ihr die Hand. Manchmal, nach einem Sieg wie dem heutigen, hatte ich mit dem Gedanken gespielt, einen

Abschiedskuß auf ihre Porzellanwange zu drücken. Ich mochte sie sehr. Sie würde das vielleicht aber als eine ganz empörende Grenzüberschreitung ansehen und mich entlassen, darum deutete ich ihrer beherrschten Art entsprechend nur eine Verbeugung an und ging.

»Du hast verdammt lang gebraucht«, beklagte sich Holly. »Die Frau behandelt dich wie einen Schoßhund. Es ist ekelhaft.«

»Klar ... na ja ... hier bin ich.«

Sie hatte stehend vor dem Waageraum im kalten Wind auf mich gewartet, nicht gemütlich auf einem Stuhl in der Bar. Der dreifache Gin war ohnehin ein Scherz gewesen, da sie selten Alkohol trank, aber daß sie sich noch nicht einmal hinsetzen konnte, verriet den Grad ihrer Unruhe.

Das letzte Rennen war vorbei, die Massen strömten den Parkplätzen zu. Jockeys und Trainer, Offizielle, Begleiter und Presseleute wünschten sich rings um uns her gute Nacht, obwohl es kaum halb vier am Nachmittag war und noch nicht dämmerte. Zeit, das Büro zu verlassen. Arbeit war Arbeit, auch wenn das Endprodukt Unterhaltung hieß. Die Freizeit gilt als wachsender Industriezweig.

»Fährst du mit zu uns?« fragte Holly.

Ich hatte seit einer Stunde gewußt, daß sie das wünschen würde.

»Ja«, sagte ich.

Ihr fiel ein Stein vom Herzen, doch sie versuchte es mit einem Hüsteln, einem Scherz und einem verkrampften Lachen zu überspielen. »In deinem Auto oder meinem?«

Ich hatte das schon ausgeknobelt. »Wir fahren beide erst zum Cottage. Von dort fahre ich uns mit deinem Wagen.«

»Okay.« Sie schluckte. »Und Kit ...«

»Geschenkt.«

Sie nickte. Wir hatten einen alten Pakt: Niemals laut danke sagen. Gedankt wurde in Form von sofortiger und großzügiger Hilfe, wenn sie nötig war. Der Pakt war mit ihrer Heirat zeitweilig außer Kraft getreten, bestand meinem Gefühl nach aber immer noch - und auch für sie, sonst wäre sie nicht gekommen.

Holly und ich sahen uns ähnlicher als die meisten zweieiigen Zwillinge, aber doch nicht zum Verwechseln ähnlich wie Viola und Sebastian bei Shakespeare. Der lag hier ausnahmsweise falsch. Wir hatten beide dunkles, gelocktes Haar. Beide ziemlich hellbraune Augen. Anliegende Ohren, hohe Stirn, langen Hals, leicht bräunende Haut. Wir hatten unterschiedliche Nasen und einen unterschiedlichen Mund, wenn auch die gleiche Schräge in der Brauenpartie. Wir hatten beim Anblick des anderen nie den Eindruck gehabt, in einen Spiegel zu schauen, obwohl uns das Gesicht des anderen vertrauter war als das eigene.

Als wir zwei Jahre alt waren, ließen unsere jungen, übersprudelnden Eltern uns bei unseren Großeltern, fuhren zu einem Winterurlaub in die Alpen und gerieten beim Skifahren in eine Lawine. Die erschütterten Eltern unseres Vaters behielten uns, zogen uns groß und hätten in vieler Hinsicht gar nicht besser sein können, aber Holly und ich wandten uns innerlich doch mehr einander zu, als es vielleicht in einer normalen Familie geschehen wäre. Wir erfanden und gebrauchten unsere eigene Privatsprache, wie es viele solcher Kinder tun, und gelangten von dort weiter zu einem sprachlosen gedanklichen Verständnis. Unsere Telepathie hatte eher darin bestanden, daß wir wußten, was der andere dachte, als daß wir einander vorsätzlich Gedanken eingegeben hätten. Mehr Empfang als Übertragung, könnte man sagen; und es lief ab, ohne daß wir uns darüber klar waren. So kam es, wenn wir für kurze Zeit getrennt waren, immer wieder vor, daß wir zur selben Stunde an unsere Tante in Australien schrieben, das gleiche Buch aus der Bibliothek liehen oder auf eine spontane Regung hin die gleichen Sachen kauften. Einmal waren wir zum Beispiel beide mit Rollschuhen als Geburtstagsüberraschung für den anderen nach Hause gekommen und hatten sie unabhängig voneinander im Kleiderschrank unserer Großmutter versteckt. Großmutter wunderte sich damals gar nicht mehr darüber, da wir ähnliches schon zu oft gemacht hatten. Sie sagte, seit wir sprechen konnten, hätten wir, wenn sie fragte: »Kit, wo ist Holly?« oder: »Holly, wo ist Kit?«, immer die Antwort gewußt, auch wenn wir sie logischerweise nicht wissen konnten.

Die Telepathie zwischen uns hatte die Spannungen und Umwälzungen der Pubertät und des Jugendalters nicht nur überlebt, sondern war sogar noch stärker geworden. Gleichzeitig wurde sie uns auch bewußter; wir wandten sie absichtlich an, wenn wir es wollten, und erweiterten im jungen Erwachsenenalter unsere Freundschaft um eine neue Dimension. Natürlich zogen wir nach außen eine Schau aus neckischem Geschäker, bissigem Spott und Geschwisterrivalität ab, doch darunter waren wir uns einig und ließen auf unsere innere Gewißheit nichts kommen.

Als ich das Haus unserer Großeltern verlassen hatte, um mir von meinem Einkommen eine eigene Bleibe zu kaufen, hatte Holly von Zeit zu Zeit bei mir gewohnt. Sie arbeitete meistens in London, konnte aber kommen, wann immer sie wollte, denn wir sahen es beide als selbstverständlich an, daß mein Cottage auch ihr Zuhause war.

An dieser Situation hatte sich wenig geändert, bis sie sich in Bobby Allardeck verliebte und ihn heiratete.

Schon vor der Hochzeit war die Telepathie schwächer geworden, und bald darauf hatte sie mehr oder minder aufgehört. Eine Zeitlang fragte ich mich, ob sie bewußt dichtgemacht hatte, und dann wurde mir klar, daß es auch meine Entscheidung gewesen war: Sie hatte ein neues Leben begonnen, und es wäre nicht gut gewesen, mich an sie zu klammern oder mich einzumischen.

Vier Jahre später war die alte Gewohnheit so weitgehend verschwunden, daß ich nicht einen Funken von ihrer momentanen Verzweiflung gespürt hatte; früher dagegen hätte ich es irgendwie im Kopf gehabt und sie angerufen, um zu erfahren, ob mit ihr alles in Ordnung sei.

Auf unserem Weg zum Parkplatz fragte ich sie, wieviel sie mit North Face gewonnen habe.

»Mein Gott«, sagte sie, »da hast du ziemlich lange zurückgehangen, nicht wahr?«

»Mm.«

»Egal, ich bin zum Totalisator, um mein Geld zu setzen, aber da waren solche Schlangen an den Kassen, daß ich’s aufgegeben hab und runter zum Rasen bin, um mir das Rennen anzusehen. Als du dann so weit zurückfielst, war ich froh, daß ich nicht auf dich gesetzt hatte. Dann schrien die Buchmacher an den Rails auf einmal fünf zu eins für North Face. Fünf zu eins! Dabei warst du unter pari gestartet. Es gab ein paar Buhrufe, als du an der Tribüne vorbeikamst, und das hat mich geärgert. Du gibst immer dein Bestes, die brauchten nicht zu buhen. Da bin ich rüber und hab einem Buchmacher mein ganzes Geld in die Hand gedrückt. Jetzt ja grade - so ungefähr. Ich hab’ hundertfünfundzwanzig Pfund gewonnen, und damit wird unser Klempner bezahlt, also schönen Dank.«

»Hat der Klempner auch >Intime Details< bekommen?«

»Ja, hat er.«

»Irgend jemand kennt euer Leben ziemlich gut«, sagte ich.

»Ja. Aber wer? Daran haben wir die halbe Nacht herumgerätselt.« Ihre Stimme war kläglich. »Wer könnte uns derart hassen?«

»Ihr habt nicht gerade irgendwelche unzufriedenen Arbeiter entlassen?«

»Nein. Wir haben gute Pfleger dieses Jahr. Besser als sonst.«

Wir kamen zu ihrem Wagen, und sie fuhr mich dorthin, wo meiner stand.

»Ist dein neues Haus schon fertig?« fragte sie.

»Es wird.«

»Du bist exzentrisch.«

Ich lächelte. Holly war mehr für das Sichere, Geregelte und Vorausgeplante. Sie fand es verrückt, daß ich einem bankrotten Bauunternehmer spontan das dachlose Gerippe eines eingeschossigen Hauses abgekauft hatte. Es war eines Abends in der Pinte am Ort gewesen, hatte mürrisch an der Theke gelehnt und seine Sorgen in Bier ertränkt, als ich hereinschaute, um ein Steak zu essen. Er habe das Haus für sich selbst bauen wollen, sagte er, aber das Geld sei ihm ausgegangen. Die Arbeiten seien eingestellt worden.

Ich hatte in seinen besseren Tagen Pferde für ihn geritten und kannte ihn seit mehreren Jahren; so war ich am nächsten Morgen mit ihm zu dem Haus gefahren, um es mir anzusehen. Es schien gute Möglichkeiten zu bergen. Ich hatte es vom Fleck weg gekauft und ihn beauftragt, es für mich fertigzustellen, wofür ich ihn wöchentlich bezahlte. Es würde eine großartige Wohnung sein, und ob sie fertig wurde oder nicht, ich würde sie lange vor Weihnachten beziehen, da der Verkauf meines alten Cottage schon vertraglich festgelegt war und ich dort wohl oder übel raus mußte.

»Ich fahre zum Cottage hinter dir her«, sagte Holly. »Ras aber nicht, als ob du den Towncrier gewonnen hättest.«

Als friedliche Zweierkolonne begaben wir uns zum Trainingszentrum Lambourn in den Berkshire Downs, wo ich mein Auto in die Garage stellte, und fuhren dann gemeinsam die gut hundert Meilen bis zu dem Suffolkstädtchen Newmarket, der Hochburg des Rennsportgewerbes.

Ich lobte mir die Ungezwungenheit des kleinen Lam-bourn. Holly und Bobby schwammen mühelos in dem größeren Teich. Jedenfalls bis ein Hecht gekommen war, um sie zu jagen.

Ich teilte ihr die Empfehlung Lord Vaughnleys mit, vom Chefredakteur der Flag einen Widerruf zu verlangen, aber nicht vor Gericht zu gehen, und sie meinte, das solle ich Bobby ans Herz legen. Sie wirkte viel ruhiger, jetzt wo ich tatsächlich mit ihr auf dem Weg war, und ich dachte bei mir, daß sie mehr Vertrauen in meine Fähigkeit, Dinge zu regeln, hatte als ich selbst. Das hier war doch etwas ganz anderes, als einen Jungen zu vermöbeln, der sie in der Schule zweimal in den Po gekniffen hatte. Ein bißchen verwickelter, als einem Verkäufer den miserablen Wagen wiederzubringen, den er ihr angedreht hatte.

Sie schlief den größten Teil der Strecke nach Newmarket, und ich hatte nicht den Schimmer einer Ahnung, worauf ich mich einließ.

Wir fuhren gegen acht in den Allardeckschen Stallhof ein und fanden ihn von Licht und Bewegung erfüllt, wo er doch still im Dunkeln hätte liegen sollen. Ein großer Pferdetransporter parkte in der Mitte; alle seine Türen waren geöffnet, die Laderampe heruntergelassen. Daneben stand ein älterer Mann und sah einem Stallburschen zu, der ein

Pferd an die Rampe heranführte. Die Tür der Box, in der das Pferd für die Nacht gedöst hatte, leuchtete als gelb klaffendes Rechteck hinter ihm.

Einige Schritte entfernt von dem Transporter, angestrahlt wie auf einer Bühne, stritten sich zwei Männer mit erhobenen Fäusten, fuchtelnden Armen und sichtlichem Stimmaufwand.

Einer von ihnen war mein Schwager Bobby. Der andere .?

»O mein Gott«, sagte Holly. »Das ist einer unserer Besitzer. Holt seine Pferde ab. Und er schuldet uns ein Vermögen.«

Sie kletterte aus dem Wagen, fast bevor ich ihn zum Stehen gebracht hatte, und lief zu den beiden Männern hin. Ihre Ankunft trug, soweit ich erkennen konnte, nichts dazu bei, die erhitzten Gemüter zu beruhigen; sie ignorierten sie einfach.

Meine friedfertige Schwester verstand sich überhaupt nicht darauf, in irgendeine Situation einzugreifen und sich durchzusetzen. Insgeheim fand sie es ziemlich angenehm, zu kochen und zu wirtschaften und eine sanfte, altmodische Frau zu sein, aber andererseits gehörte sie zu einer Generation, die sich für diese Lebensweise frei entscheiden konnte, statt sie notgedrungen auf sich nehmen zu müssen.

Ich stieg aus und ging hinüber, um zu sehen, was sich machen ließe. Holly kam mir entgegengelaufen.

»Kannst du ihn aufhalten?« fragte sie drängend. »Wenn er die Pferde mitnimmt, kriegen wir im Leben nicht sein Geld.«

Ich nickte.

Der Bursche, der das Pferd führte, hatte die Rampe erreicht, doch das Pferd sträubte sich, an Bord zu klettern.

Ich ging ohne Zögern zu dem Burschen rüber, stellte mich ihm in den Weg und forderte ihn auf, das Pferd dorthin zurückzubringen, wo er es hergeholt hatte.

»Was?« sagte er. Er war jung, klein und offenbar erstaunt, daß plötzlich jemand aus der Dunkelheit auftauchte.

»Bring es wieder in die Box, dreh das Licht aus, sperr die Tür zu. Auf der Stelle.«

»Aber Mr. Graves wollte .«

»Sei so gut«, sagte ich.

Er blickte unschlüssig zu den beiden brüllenden Männern hinüber.

»Arbeitest du hier?« sagte ich. »Oder bist du mit dem Transporter gekommen?«

»Mit dem Transporter.« Er blickte zu dem älteren Mann, der dort stand und bisher nichts gesagt oder getan hatte. »Was soll ich machen, Jim?«

»Wer sind Sie?« fragte ich den Mann.

»Der Fahrer«, sagte er ohne Umschweife. »Halten Sie mich da raus.«

»Gut«, sagte ich zu dem Burschen. »Das Pferd wird nicht mitgenommen. Bring es zurück.«

»Sind Sie Kit Fielding?« fragte er zweifelnd.

»Ganz recht. Der Bruder von Mrs. Allardeck. Nun geh.«

»Aber Mr. Graves .«

»Ich erledige das mit Mr. Graves«, sagte ich. »Sein Pferd wird heute abend nicht abgeholt.«

»Pferde«, berichtigte mich der Junge. »Das andere hab ich schon verladen.«

»Okay«, sagte ich. »Sie bleiben beide hier. Wenn du das da zurückgebracht hast, lädst du das erste wieder aus.«

Der Junge warf mir einen unsicheren Blick zu, dann drehte er das Pferd herum und begann es zu seinem rechtmäßigen Quartier zurückzuschleifen.

Der Richtungswechsel beendigte die Schimpferei sofort. Der Mann, der nicht Bobby war, riß sich los und brüllte dem Burschen über den Hof zu: »He da, bist du noch zu retten? Lad das Pferd auf, aber ein bißchen plötzlich.«

Der Junge hielt an. Ich ging schnell zu ihm, ergriff das Halfter des Pferdes und führte den verwirrten Vierbeiner in sein angestammtes Heim. Der Bursche unternahm nichts, um mich aufzuhalten. Ich kam heraus. Knipste das Licht aus. Schloß die Tür und schob den Riegel vor.

Mr. Graves (wenn ich nicht irrte) näherte sich rasch, mit rudernden Armen und äußerst angriffslustigem Gesichtsausdruck.

»Wofür halten Sie sich, Scheiße noch mal?« brüllte er. »Das ist mein Pferd. Holen Sie es sofort wieder raus!«

Ich stellte mich vor die verriegelte Tür, lehnte mich dagegen, schlug ein Fußgelenk über das andere und verschränkte die Arme. Mr. Graves blieb abrupt und ungläubig stehen.

»Scheren Sie sich da weg«, polterte er und durchbohrte mit dem Zeigefinger die Abendluft. »Das ist mein Pferd. Ich nehme es mit, und Sie können mich nicht daran hindern.«

Sein dickes Gesicht war vor Eigensinn erstarrt. Vom er-kahlenden Scheitel bis zu den blankgeputzten Schuhspitzen maß er einen Meter fünfundsechzig. Er war vielleicht fünfzig, korpulent und bereits außer Atem. Es war völlig ausgeschlossen, daß er meine einsachtundsiebzig mit Gewalt hinwegbewegen würde.

»Mr. Graves«, sagte ich ruhig. »Sie können Ihre Pferde abholen, wenn Sie Ihre Rechnung bezahlt haben.«

Sein Mund öffnete sich sprachlos. Er machte einen Schritt nach vorn und starrte mir ins Gesicht, das wahrscheinlich im Dunkeln lag.

»Ganz recht«, sagte ich. »Kit Fielding. Hollys Bruder.«

Der offene Mund klappte zu. »Und was, verdammte Hacke, hat das alles mit Ihnen zu tun? Gehen Sie mir aus dem Weg.«

»Einen Scheck«, sagte ich. »Haben Sie Ihr Scheckbuch dabei?«

Sein Blick wurde berechnend. Ich ließ ihm wenig Zeit für Ausflüchte.

Ich sagte: »Die Daily Flag hat immer Appetit auf Lek-kerbissen für ihre >Intimen Details<. Besitzer, die versuchen, mitten in der Nacht ihre Pferde zu stibitzen, ohne ihre Rechnung zu bezahlen, wären doch ein lohnendes Thema, meinen Sie nicht?«

»Das ist eine Drohung!« sagte er wütend.

»Richtig.«

»Das würden Sie nicht tun.«

»O doch, bestimmt. Ich würde vielleicht sogar zu bedenken geben, daß Sie, wenn Sie diese eine Rechnung nicht bezahlen können, eventuell auch andere nicht bezahlen können. Dann hätten Sie im Nu Ihre sämtlichen Gläubiger wie die Geier auf dem Hals.«

»Aber das ist ... das ist .«

»Genau das ist gerade mit Bobby passiert, ja. Und falls Bobby in Geldnot ist, und ich sage nur falls, dann liegt das zum Teil auch an Leuten wie Ihnen, die nicht zahlen, wenn es an der Zeit ist.«

»So können Sie mit mir nicht reden«, sagte er wütend.

»Ich wüßte nicht, warum.«

»Ich werde Sie beim Jockey-Club anzeigen.«

»Ja, tun Sie das.«

Er blies sich nur auf, es war nur eine leere Drohung. Ich blickte über seine Schulter zu Bobby und Holly, die nahe genug gewesen waren, um den ganzen Wortwechsel zu hören.

»Bobby«, sagte ich, »geh und hol Mr. Graves’ Abrechnung. Vergewissere dich, daß jeder einzelne Posten, den er dir schuldet, draufsteht, denn die Chance kommt vielleicht nicht noch mal.«

Bobby ging fast im Laufschritt, und etwas langsamer folgte ihm Holly. Der Bursche, der zu dem Transporter gehörte, zog sich mit dem Fahrer in die Dunkelheit zurück. Mr. Graves und ich standen wie in einem trauten Gruppenbild zu zweit allein und warteten.

Solange ein Pferd im Hof eines Trainers blieb, hatte der Trainer gute Aussichten, zu seinem Recht zu kommen, weil das Gesetz ihn unmißverständlich befugte, das Pferd zu verkaufen und die geschuldete Summe vom Erlös einzubehalten. War das Pferd erst mal weg, stand ein Gerichtsverfahren und eine sehr lange Wartezeit in Aussicht, und wenn der Besitzer bankrott ging, gab es keinen roten Heller.

Graves’ Pferde waren schlicht und einfach Bobbys Sicherheit.

Bobby kam schließlich allein mit einer ellenlangen Rechnung wieder, die drei Seiten umfaßte.

»Kontrollieren Sie«, sagte ich zu Graves, als er Bobby die Blätter aus der Hand riß.

Zornig las er die Rechnung von vorn bis hinten durch und fand nichts, was ihn noch weiter hätte ärgern können, bis er zum letzten aufgeführten Posten kam. Er stieß den Finger aufs Papier und hob erneut die Stimme.

»Zinsen? Ja Scheiße, was für Zinsen denn?«

»Ehm«, sagte Bobby, »für den Kredit, den ich aufnehmen mußte, weil Sie mich nicht bezahlt hatten.«

Ein plötzliches Schweigen entstand. Respektvoll, was mich anging. Ich hätte nicht gedacht, daß mein Schwager das Zeug dazu hatte.

Graves beherrschte auf einmal seinen Zorn, schürzte die Lippen, kniff die Augen zusammen und kramte in einer Innentasche nach seinem Scheckbuch. Sorgfältig, ohne jedes Anzeichen von Wut oder Hast, schrieb er einen Scheck, riß ihn heraus und gab ihn Bobby.

»Also«, sagte er zu mir. »Aus dem Weg.«

»Alles klar damit?« fragte ich Bobby.

»Ja«, sagte er, als wäre er überrascht. »Vollkommen.«

»Gut«, sagte ich. »Dann hol jetzt das andere Pferd von Mr. Graves aus dem Transporter.«

Загрузка...