Kapitel 11

Ich nahm nicht an, daß eine in der Flag abgedruckte Entschuldigung das Registrierkassenherz von Bobbys Banker erweichen würde, und ich befürchtete, daß die Entschädigung der Flag, falls sie sie zahlten, nicht genügte oder nicht früh genug kommen würde, um noch viel zu ändern.

Mit einem Seufzer dachte ich an den Filialleiter meiner eigenen Bank, der mich in der Vergangenheit ohne Murren durch Durststrecken begleitet und später viel riskiert hatte, um mir Kapital für einen oder zwei Ausflüge ins Geschäftsleben zu borgen, und nie hatte er vorzeitig auf Rückzahlung gedrängt. Jetzt, wo es aussah, als ob ich für die absehbare Zukunft flüssig sein würde, benahm er sich genau wie immer, freundlich, hilfsbereit, ein großzügiger Ratgeber.

Der Abdruck der Entschuldigung wäre eher eine Geste als ein Schlußstrich unter Bobbys Sorgen, aber wenigstens müßte sie die Besitzer beruhigen und die Kaufleute in Newmarket festen Boden spüren lassen, wo sie Treibsand vermutet hatten. Wenn der Stall zu retten war, würde er ins Leben hinübergerettet, nicht in ein Koma.

Ich hatte von Sam Leggatt das stillschweigende Eingeständnis von der Schuld der Flag bekommen und die Gewißheit, daß er die Antworten auf meine Fragen kannte. Ich brauchte diese Antworten auf der Stelle und hatte keine Aussicht, ihm die Zunge zu lösen.

Mit einem Gefühl des Scheiterns und der Enttäuschung stieg ich für die Nacht in einem nahen Hotel ab, denn ich war müder, als ich mir eingestehen wollte, und hatte Angst, auf den siebzig dunklen Meilen bis nach Hause einzuschlafen. Ich bestellte beim Zimmerservice etwas zu essen und führte gähnend eine Menge Telefongespräche.

Zuerst mit Holly.

»Warst gut heute«, sagte sie.

»Was?«

»Dein Sieg natürlich.«

»Ach ja.« Das schien eine Ewigkeit her zu sein. »Danke.«

»Wo steckst du?« sagte sie. »Ich hab’s im Cottage versucht.«

»In London.« Ich nannte ihr das Hotel und meine Zimmernummer. »Wie sieht’s aus?«

»Furchtbar.«

Ich teilte ihr mit, daß die Flag versprochen hatte, die Entschuldigung abzudrucken, und das munterte sie ein wenig auf, aber nicht sehr.

»Bobby ist aus dem Haus. Er geht auf der Heide spazieren. Das alles ist gräßlich. Ich wünschte, er käme wieder.«

Die Angst war ungeschminkt in ihrer Stimme, und ich verbrachte einige Zeit damit, sie zu beruhigen, sagte ihr, Bobby käme bestimmt bald zurück, er würde wissen, wie sie sich sorgte; und insgeheim fragte ich mich, ob er nicht so tief in seine eigene Verzweiflung verstrickt war, daß er keinen Raum hatte, sich die von Holly vorzustellen.

»Hör zu«, sagte ich nach einer Weile. »Tu was für mich, hm?«

»Ja. Was denn?« »Schlag in den Rennberichten Maynards Pferd Metavane nach. Es hat vor acht Jahren die 2000 Guineas gewonnen, entsinnst du dich?«

»Dunkel.«

»Ich möchte wissen, wem es vor Maynard gehörte.«

»Ist das wichtig?« Sie klang uninteressiert und mutlos.

»Ja. Sieh mal, was du rausfinden kannst, und ruf mich zurück.«

»In Ordnung.«

»Und mach dir keine Sorgen.«

»Ich kann nicht anders.«

Niemand konnte anders, dachte ich beim Auflegen. Daß sie unglücklich war, lastete auf mir, als wäre ich es selbst.

Ich rief Rose Quince unter der Privatnummer an, die sie mir mitgegeben hatte, und sie nahm atemlos beim achten Läuten ab; sie sei gerade im Moment zur Tür hereingekommen.

»Man hat Sie also nicht in die Druckpresse geschmissen?« sagte sie.

»Nein. Aber ich fürchte, ich bin von der Panzerjacke abgeprallt.«

»Keine Überraschung.«

»Trotzdem, lesen Sie am Freitag die Intimen Details. Und kennen Sie übrigens einen Mann namens Tunny? Er gibt die Intimen Details heraus.«

»Tunny«, sagte sie, »Tug Tunny. Ein Gedächtnis wie eine Floppy Disk, sofortiges Erinnern auf Knopfdruck. Er war sein Leben lang im Klatschgeschäft. Als Kind hat er wahrscheinlich Schmetterlingen die Flügel ausgerissen, und sein Herz hüpft, wenn er irgendeinen armen Kerl in eine schmutzige Scheidung treiben kann.« »So sah er nicht aus«, meinte ich zweifelnd.

»Lassen Sie sich von dem pfaffenhaften Anschein nicht beirren. Lesen Sie seine Rubrik. Das ist er.«

»Ja. Danke. Und wie steht’s mit Owen Watts und Jay Erskine?«

»Die Leute, die ihre Sachen im Garten Ihrer Schwester liegengelassen haben?«

»Ganz recht.«

»Von Owen Watts hab’ ich bis heute noch nie gehört«, sagte Rose. »Jay Erskine . wenn das derselbe Jay Erskine ist, dann hat er früher beim Towncrier als Gerichtsreporter gearbeitet.«

In ihrer Stimme waren Vorbehalte, und ich sagte überredend: »Erzählen Sie mir von ihm.«

»Hm.« Sie schwieg, dann schien sie sich zu entschließen. »Er kam vor einiger Zeit ins Gefängnis«, sagte sie. »Er war von Berufs wegen soviel mit Kriminellen zusammen, daß er anfing, sie zu mögen, wie Polizisten manchmal. Er wurde wegen Behinderung der Justiz verurteilt. Jedenfalls, wenn es derselbe Jay Erskine ist, der war knallhart, aber ein toller Schreiber. Wenn die Texte über Ihren Schwager von ihm stammen, hat er sich kaufen lassen.«

»Er muß sich ernähren«, sagte ich.

»Nur kein Mitleid«, tadelte Rose. »Jay Erskine hätte auch keins.«

»Nein«, sagte ich. »Danke. Waren Sie schon mal im Flag-Gebäude?«

»Nicht, seit sie’s renoviert haben. Es soll grausam sein. Als Pollgate es übernahm, hat er einen Innenarchitekten darauf losgelassen, dem orange Küchenplastik in die Wiege gelegt worden war. Wie ist es denn?«

»Grausam«, sagte ich, »ist eine Untertreibung. Wie ist denn Pollgate selber?«

»Nestor Pollgate, seit einem Jahr Inhaber der Flag«, sagte sie, »soll ein ziemlich junger, hochstrebender Scheißkerl ersten Ranges sein. Ich habe ihn noch nicht kennengelernt. Es heißt, ein angreifendes Nashorn sei ungefährlicher.«

»Hat er die redaktionelle Kontrolle?« fragte ich. »Druckt Sam Leggatt auf Pollgates Bestellung?«

»In der guten alten Zeit haben die Verleger sich nie eingemischt«, sagte sie wehmütig. »Heute tun es einige, die anderen immer noch nicht. Bill Vaughnley gibt allgemeine Ratschläge. Der alte Lord gab in den Anfangsjahren den Towncrier noch selbst heraus, aber das war etwas anderes. Pollgate hat die Flag über etliche geschundene Leichen hinweg gekauft, und in Fleet-Street-Bars sieht man FlagBerichterstatter von der alten Garde in ihr Bierglas weinen wegen der hohlen Hetze, die sie verzapfen müssen. Der Chefredakteur vor Sam Leggatt warf das Handtuch und stieg aus. Pollgate hat zweifellos die Flag zu neuen Höhen der Verworfenheit geführt, aber ob er mit der Peitsche über Leggatt steht, weiß ich nicht.«

»Heute abend war er, glaub ich, nicht da«, sagte ich.

»Er verbringt seine Zeit damit, sich in der Londoner Geschäftswelt breitzumachen, soviel ich gehört habe. Übrigens, im Vergleich zu Pollgate ist Ihr Maynard ein Waisenkind mit seinen kleinen Übernahmen und seiner frommen Fassade. Man sagt, Pollgate schert sich einen Dreck darum, was die Leute von ihm denken, und seine finanziellen Schikanen fangen da an, wo Maynard aufhört.«

»Ein richtiges Goldstück.«

»Sam Leggatt verstehe ich«, sagte sie. »Pollgate nicht. Wenn ich Sie wäre, würde ich die Flag lieber nicht noch weiter piesacken.«

»Mag sein.«

»Bedenken Sie, was die mit Ihrem Schwager gemacht haben«, sagte sie, »und lassen Sie sich das zur Warnung dienen.«

»Ja«, antwortete ich nüchtern. »Vielen Dank.«

»Keine Ursache.«

Sie sagte fröhlich auf Wiedersehn, und ich saß da, trank ein Glas Wein und dachte an Sam Leggatt und den furchterregenden Drahtzieher hinter ihm. Fragte mich, ob die Kampagne gegen Maynard von ganz oben ausgegangen war oder von Leggatt oder von Tunny, oder von Watts und Erskine oder aber von völlig außerhalb der Flag oder von einem aus dem Kometenschweif der Opfer Maynards.

Das Telefon klingelte, und als ich abnahm, hörte ich Hollys Stimme, die ohne Vorrede sagte: »Maynard bekam Metavane als noch nicht gelaufenen Zweijährigen, und die vorherigen Besitzer waren in den Rennberichten nicht zu finden. Aber Bobby ist jetzt wiedergekommen, und er meint, sie hießen Perryside. Er ist sicher, daß sein Großvater früher für sie trainiert hat, aber sie scheinen ganz aus dem Rennsport verschwunden zu sein.«

»Hm«, sagte ich. »Habt ihr noch so alte Bände vom Racing Who ’s Who? Da waren Seiten mit Besitzern drin, einschließlich Adressen. Ich hab sie, aber die sind im Cottage, und das nützt mir heute abend wenig.«

»Ich glaube nicht, daß wir welche von vor zehn Jahren haben«, meinte sie zweifelnd, und ich hörte, wie sie Bobby fragte. »Nein, sagt er.«

»Dann rufe ich Großvater an und frage ihn. Ich weiß, daß er sie alle aufgehoben hat, von Anfang an.«

»Bobby möchte wissen, was nach all den Jahren an Metavane so wichtig ist.« »Frag ihn, ob Maynard immer noch Anteile an Metavane besitzt.«

Das Gemurmel ging weiter, und die Antwort kam: »Er glaubt, Maynard gehört noch ein Anteil. Die restlichen hat er für Millionen an ein Syndikat gegeben.«

Ich sagte: »Ich weiß nicht, ob Metavane von Bedeutung ist. Morgen werde ich es wissen. Haltet den Kopf hoch, ja?«

»Bobby läßt bestellen, daß der Drache die Einfahrt heraufkreucht.«

Lächelnd legte ich den Hörer auf. Wenn Bobby scherzen konnte, war er gestärkt von der Heide zurückgekommen.

Großvater nörgelte, er sei schon halb im Bett, erklärte sich aber bereit, in seinem Schlafanzug nach unten zu gehen. »Perryside«, las er ab, »Major Clement Perryside, In den Fichten, St. Albans, Hertfordshire, Rufnummer anbei.« Abscheu erfüllte die alte Stimme. »Wußtest du, daß der Kamerad seine Pferde bei Allardeck hatte?«

»Tut mir leid, ja.«

»Dann zum Teufel mit ihm. Sonst noch was? Nein? Gute Nacht.«

Ich rief die Nummer der Perrysides an, die er mir gegeben hatte, und eine Stimme am anderen Ende sagte, ja, In den Fichten sei schon richtig, aber die Perrysides wohnten dort seit etwa sieben Jahren nicht mehr. Die Stimme hatte das Haus von Major Perryside und Frau gekauft, und wenn ich wartete, könnte man vielleicht die neue Anschrift und Telefonnummer finden.

Ich wartete. Man fand. Ich bedankte mich und wünschte gute Nacht.

Unter der neuen Nummer sagte eine andere Stimme, nein, Major Perryside und Frau wohnten hier nicht mehr.

Die Stimme hatte den Bungalow vor mehreren Monaten von ihnen gekauft. Sie glaubte, die Perrysides seien in einen Wohnpark in Hitchin gezogen. Welchen Wohnpark? Sie konnte es nicht sagen, aber es sei bestimmt in Hitchin. Oder direkt außerhalb. Glaubte sie.

Schönen Dank, sagte ich seufzend und legte auf.

Major Perryside und Frau, die älter und vielleicht ärmer geworden waren, die wissen mußten, daß Maynard mit ihrem Pferd Millionen gemacht hatte - konnten sie derart von einem Groll besessen sein, daß sie ihn zu diesem späten Zeitpunkt noch aufs Korn nahmen? Aber selbst wenn sie es nicht getan hatten, glaubte ich, es würde sich lohnen, mit ihnen zu reden.

Wenn ich sie finden könnte; in Hitchin oder außerhalb.

Ich klingelte meinen Anrufbeantworter im Cottage an und rief meine Nachrichten ab: vier von verschiedenen Trainern, die eine von Holly und zum Schluß ein unbekannter Mann, der mich bat, ihn unter der genannten Nummer zurückzurufen.

Ich meldete mich zuerst bei Wykeham Harlowe, da er wie mein Großvater zeitig zu Bett ging, und auch er sagte, er sei im Schlafanzug.

Wir unterhielten uns eine Weile über die Renner dieses Tages und diejenigen für den nächsten Tag und den Rest der Woche; normale, mehr oder weniger allabendliche Erörterungen. Und wie heutzutage üblich sagte er, er komme morgen nicht nach Towcester, es sei zu weit. Ascot, sagte er, am Freitag und Samstag. Nach Ascot fahre er; vielleicht nur für einen Tag, aber er werde dort sein.

»Großartig«, meinte ich.

»Sie wissen, wie es ist, Paul«, sagte er. »Alte Knochen, morsche Knochen.« »Ja«, sagte ich. »Ich weiß. Hier ist Kit.«

»Kit? Natürlich sind Sie Kit. Wer sollten Sie sonst sein?«

»Niemand«, sagte ich. »Ich rufe Sie morgen abend an.«

»Gut, schön. Geben Sie auf diese Anfänger acht. Also gute Nacht, Paul.«

»Gute Nacht«, sagte ich.

Anschließend sprach ich mit den drei anderen Trainern, wobei es jeweils um die Pferde ging, die ich in dieser und der folgenden Woche für sie reiten würde, und dann schließlich, nach zehn Uhr und unter krampfhaftem Gähnen, meldete ich mich bei der letzten, unbekannten Nummer.

»Hier ist Kit Fielding«, sagte ich.

»Ah.« Es folgte eine Pause, dann ein leises, aber wahrnehmbares Klicken.

»Ich biete Ihnen«, sagte die kultivierte Stimme, »eine günstige Gelegenheit.«

Er hielt inne. Ich sagte nichts. Ganz ruhig redete er weiter: »Dreitausend vorher, zehntausend danach.«

»Nein«, sagte ich.

»Sie haben die Einzelheiten noch nicht gehört.«

Ich hatte schon genug gehört. Ich legte auf, ohne noch ein Wort zu sagen, saß da und starrte ein Weilchen auf Wände, die ich nicht sah.

Man hatte mich schon vorher zu kaufen versucht, aber nicht ganz auf diese Art. Nie mit einem derart hohen Betrag. Die Vorher-Nachher-Kaufleute suchten dauernd Jok-keys, die auf Bestellung verloren, aber an mich war seit Jahren keiner ernsthaft herangetreten. Nicht seit sie meine Körbe leid geworden waren.

Die Stimme von heute abend war mir fremd, oder ich hatte sie nicht oft genug gehört, um sie wiederzuerkennen. Hohe Tonlage. Entsprechende Bildung. Ein Prickeln kroch mir den Rücken hinauf. Die Stimme, die Methode, die Summe, der Zeitpunkt, das alles weckte scheußliche kleine Vorstellungen von einer zuschnappenden Falle.

Ich schaute auf die Telefonnummer, die ich bekommen hatte.

Eine Londoner Nummer. Zone 722. Ich wählte die Frau in der Zentrale und fragte, wo der Bereich 722 zu finden sei, allgemeine Information, die in jedem Londoner Telefonbuch abgedruckt war. Einen Moment, sagte sie und gab es mir fast sofort durch: 722 sei Chalk Farm Strich Hampstead.

Ich dankte ihr. Chalk Farm Strich Hampstead sagte mir überhaupt nichts, außer daß es keine Ecke war, die sich dem Rennsport verschrieben hatte. Ganz im Gegenteil, wie mir schien. Das Leben in Hampstead war eher intellektuell nach innen gekehrt als lärmend unter freiem Himmel.

Warum Hampstead ...

Ich schlief im Sessel ein.

Nach einer zumindest halb im Bett verbrachten Nacht trank ich am Morgen etwas Kaffee und fuhr zum Einkaufen in die Tottenham Court Road, wo ich in zugigen Eingängen darauf wartete, daß die Elektronikzauberer ihre Stahlnetzpforten öffneten.

Ich fand einen Laden, der Roses Dreiviertel-ZollProfiband von Maynard auf ein gängiges Format überspielte, passend für meinen eigenen Apparat, ohne nach Urheberrechten zu fragen. Der wissende, entgegenkommende junge Mann, der das übernahm, schien angewidert und verblüfft, daß die Aufzeichnung nicht pornographischen Inhalts war, aber ich munterte ihn etwas auf, indem ich eine leichte Videokamera, einen Satz Batterien dafür und eine Anzahl neuer Bänder kaufte. Er zeigte mir ausführlich, wie das alles ging, und ermutigte mich, im Laden zu üben. Er könne mir einen hilfsbereiten kleinen Junggesellenclub empfehlen, sagte er, wenn ich Therapie brauche.

Ich wies das Angebot zurück, lud alles ins Auto und fuhr nordwärts nach Hitchin, was zwar nicht gerade der direkte Weg nach Towcester war, aber zumindest lag es nicht in diametral entgegengesetzter Richtung.

Die Perrysides waren leicht zu finden, als ich dort ankam - sie standen im Telefonbuch. Major C. Perryside, 14 Conway Retreat, Ingle Barton. Hilfsbereite Einheimische dirigierten mich nach dem Dorf Ingle Barton, drei Meilen außerhalb der Stadt, und dort erklärten andere mir, wie ich Nr. 14 in der Altensiedlung fände.

Die Häuser selbst waren mehrere langgezogene Terrassen aus kleinen einstöckigen Wohneinheiten, jede mit einer eigenen, farbig gestrichenen Haustür und einem schmalen Blumenbeet. Nur Fußpfade führten zu den Häusern. Man mußte sein Auto auf einem asphaltierten Platz parken und zwischen winzigen Grasparzellen auf säuberlich gepflasterten Wegen gehen. Möbelpacker, sinnierte ich, würden die Anlage rundweg verfluchen, aber sie schuf zweifellos eine Atmosphäre ungewöhnlicher Ruhe, selbst an einem feuchtkalten Novembermorgen.

Ich nahm die Videokamera in ihrer Tragetasche mit und ging zu Nr. 14. Drückte auf den Klingelknopf. Wartete.

Überall war Stille, und niemand kam an die Tür. Nach zwei oder drei weiteren erfolglosen Klopf- und Klingelversuchen ging ich zur Tür des Nachbarn auf der rechten Seite und versuchte es dort.

Eine alte Dame öffnete, rundlich, interessiert, mit strahlenden Kinderaugen.

»Die sind rüber zum Laden gegangen«, sagte sie.

»Haben Sie eine Ahnung, wie lange das dauert?«

»Sie lassen sich Zeit.«

»Wie würde ich sie erkennen?« fragte ich.

»Der Major hat weiße Haare und geht am Stock. Lucy wird einen Anglerhut aufhaben, nehme ich an. Und wenn Sie vorhaben, ihnen die Lebensmittel heimzutragen, junger Mann, sind Sie bestimmt willkommen. Versuchen Sie aber nicht, ihnen Lexika oder eine Lebensversicherung aufzuschwatzen, da vergeuden Sie Ihre Zeit.«

»Ich verkaufe nichts«, versicherte ich ihr.

»Das Geschäft ist hinterm Parkplatz und den Weg hinunter, auf der linken Seite.« Sie deutete ein Nicken an und zog sich hinter ihre lavendelfarbene Tür zurück, und ich ging, wohin sie mich gewiesen hatte.

Ich fand die mühelos erkennbaren Perrysides, als sie eben aus dem winzigen Dorfladen herauskamen, beide trugen einen Korb und bewegten sich ungemein langsam. Ich trat ohne Eile auf sie zu und fragte, ob ich vielleicht behilflich sein könne.

»Nett von Ihnen«, sagte der Major barsch und hielt mir seinen Korb hin.

»Was wollen Sie verkaufen?« fragte Lucy Perryside mißtrauisch, als sie mir ihren überließ. »Was immer es ist, wir kaufen’s nicht.«

Die Körbe waren leicht, ihr Inhalt sah mager aus.

»Ich will nichts verkaufen«, sagte ich und schloß mich ihnen und ihrem Schneckentempo an, das offenbar von den wackligen Beinen des Majors diktiert wurde. »Sagt Ihnen der Name Fielding etwas?«

Sie schüttelten die Köpfe.

Lucy hatte unter ihrem zerbeulten Anglerhut aus Tweed ein herrschaftliches Gesicht, stark gerunzelt vom Alter, um den Mund aber straff. Sie sprach mit der klaren Diktion der höheren Klassen und hielt den Rücken stockgerade wie zum Trotz gegen die Angriffe der Zeit. Lucy Perryside hatte in wechselnder Gestalt und in wechselnden Jahrhunderten Stolz gegen grausames Unglück aufgeboten und war ungebeugt hindurchgekommen.

»Mein Name ist Kit Fielding«, sagte ich. »Mein Großvater trainiert Pferde in Newmarket.«

Der Major blieb gänzlich stehen. »Fielding. Ja. Ich erinnere mich. Wir reden nicht gern vom Rennsport. Lassen Sie das Thema lieber, seien Sie so gut.«

Ich nickte leicht, und wir zogen weiter den kalten kleinen Weg entlang, wo die kahlen Bäume verschattet waren von in der Luft liegendem Nieselregen; nach einer Weile sagte Lucy: »Deswegen ist er gekommen, Clement - um über Rennsport zu sprechen.«

»Stimmt das?« fragte der Major beunruhigt.

»Leider ja.«

Diesmal ging er jedoch weiter, resigniert, wie mir schien; und ich meinte die Enttäuschungen und bergab führenden Anpassungen zu spüren, die er mitgemacht hatte, indem er seinen Schmerz herunterschluckte und würdevoll auftrat, höflich im Angesicht von Katastrophen.

»Sind Sie Journalist?« fragte Lucy.

»Nein ... Jockey.«

Sie musterte mich mit einem Blick von Kopf bis Fuß. »Sie sind zu groß für einen Jockey.«

»Jagdrennen«, sagte ich.

»Oh.« Sie nickte. »Wir hatten keine Hindernispferde.«

»Ich drehe einen Film«, sagte ich. »Eine Dokumentation über Pech im Rennsport. Und da habe ich mich gefragt, ob Sie mir bei einer Episode behilflich sein würden. Gegen Bezahlung natürlich.«

Sie warfen sich einen Blick zu, erkundeten jeder die Reaktion des anderen und beschlossen offenbar in ihrer Privatsprache, das Angebot nicht abzulehnen, ohne es erst zu hören.

»Was müßten wir tun?« fragte Lucy nüchtern.

»Einfach reden. In meine Kamera sprechen.« Ich deutete auf die Tasche, die ich zusammen mit den Körben trug. »Es wäre nicht schwierig.«

»Thema?« fragte der Major, und bevor ich es ihm mitteilen konnte, seufzte er und sagte: »Metavane?«

»Ja«, erwiderte ich.

Sie stellten sich darauf ein wie auf ein Exekutionskommando, und Lucy sagte schließlich: »Gegen Bezahlung. Nun gut.«

Ich nannte einen Betrag. Dazu äußerten sie sich nicht, aber aus ihrem zustimmenden Nicken ging hervor, daß es genügte, daß es eine Erleichterung war, daß sie das Geld dringend brauchten.

Wir setzten unseren Weg fort, über den Parkplatz, dann den Pfad hinunter und durch ihre blaue Haustür, und auf ihre einladende Geste hin holte ich die Kamera heraus und legte eine Kassette ein.

Sie ließen sich zwanglos Seite an Seite auf dem Sofa nieder, dessen Chintzbezug hier und da mit verschiedenen Stoffen geflickt war. Sie saßen in einem unerwartet geräumigen Zimmer, gegenüber großen Schiebefenstern, die auf einen winzigen, abgeschiedenen, gepflasterten Bereich gingen, wo sie im Sommer in der Sonne sitzen konnten. Es gab ein Schlafzimmer, sagte Lucy, eine Küche und ein Bad, und wie ich sehen konnte, hatten sie es gemütlich.

Ich sah auch, daß ihre Möbel zwar spärlich, aber antik waren und daß, davon abgesehen, anscheinend alles Verkaufbare verkauft worden war.

Ich stellte die Kamera so ein, wie ich es gezeigt bekommen hatte, balancierte sie mit einem Stapel Bücher auf einem Tisch und kniete mich dahinter, um durch den Sucher zu schauen.

»Okay«, sagte ich. »Ich stelle Ihnen Fragen. Würden Sie bitte in das Kameraobjektiv sehen, während Sie sprechen?«

Beide nickten. Sie nahm seine Hand: eher, um Mut zu machen, dachte ich, als welchen zu bekommen.

Ich schaltete die Kamera ein, so daß sie lautlos aufzunehmen begann, und sagte: »Major, würden Sie mir erzählen, wie Sie dazu kamen, Metavane zu kaufen?«

Der Major schluckte und kniff halb die Augen zusammen, sah würdevoll, aber unglücklich drein.

»Major«, wiederholte ich überredend, »erzählen Sie mir bitte, wie Sie Metavane gekauft haben?«

Er räusperte sich. »Ich ehm ... wir ... hatten immer mal wieder ein Pferd. Jeweils eins. Mehr konnten wir uns nicht leisten, nicht wahr? Hatten sie aber sehr gern.« Er hielt in-ne. »Wir baten unseren Trainer ... der hieß Allardeck ... uns bei den Auktionen ein Pferd zu kaufen. Nicht zu teuer, versteht sich. Nicht über zehntausend. Das war immer die Grenze. Aber für den Preis hatten wir eine Menge Spaß, eine Menge Vergnügen. Ein paar Tausend für ein Pferd alle vier, fünf Jahre, und die Trainingskosten. Recht gut gestellt, wie Sie sehen.«

»Fahren Sie fort, Major«, sagte ich warm, als er schwieg. »Sie machen das ganz vorzüglich.«

Er schluckte. »Allardeck kaufte uns einen Junghengst, den wir sehr mochten. Nicht überragend im Aussehen, eher klein, aber gute Blutlinien. Unser Pferd. Wir waren begeistert. Er wurde den Winter über zugeritten, und im Frühling begann er schnell zu werden. Allardeck sagte, wir sollten ihn aber erst im Herbst rennen lassen, und natürlich nahmen wir seinen Rat an.« Er hielt inne. »Während des Sommers entwickelte er sich glänzend, und Allardeck sagte uns, er habe sehr viel Speed und wenn alles gutginge, hätten wir da wirklich einen Trumpf in der Hand.«

Die alte Erinnerung an diese berauschenden Zeiten entfachte eine schwache Glut in seinen Augen, und ich sah den Major, wie er damals gewesen sein mußte - voll jungenhafter Begeisterung, unaufdringlich stolz.

»Und dann, Major, was geschah dann?«

Die Glut verblaßte und verschwand. Er zuckte die Achseln. Er sagte: »Hatten ein bißchen Pech, nicht wahr.«

Er schien unschlüssig, wieviel er erzählen sollte, aber Lucy kannte, nachdem sie sich des Geldes wegen verpflichtet hatte, weniger Hemmungen.

»Clement war Mitglied bei Lloyd’s«, sagte sie. »Er war bei einem dieser Konsortien, die zusammengebrochen sind ... da waren viele Rennsportleute, erinnern Sie sich? Natürlich wurde er aufgefordert, seinen Teil an den Verlusten zu ersetzen.«

»Ich verstehe«, sagte ich und verstand in der Tat. Versicherungen zu übernehmen war großartig, solange man nicht wirklich zur Kasse gebeten wurde.

»Einhundertunddreiundneunzigtausend Pfund«, sagte der Major mit schwerer Stimme, als wäre der Schock noch völlig frisch, »zusätzlich zu meiner Lloyd’s-Einlage, und das waren noch mal fünfundzwanzigtausend. Die kassierte

Lloyd’s natürlich sofort. Und es waren schlechte Zeiten, um Aktien zu verkaufen. Die Marktpreise fielen. Wir überlegten hin und her, nicht wahr, was wir unternehmen könnten.« Er schwieg düster, fuhr dann fort: »Unser Haus war bereits mit Hypotheken belastet. Die Finanzberater, verstehen Sie, hatten uns immer gesagt, es sei am besten, auf sein Haus Hypotheken aufzunehmen und das Geld anzulegen. Aber die Anlagen waren stark gefallen ... manche von ihnen erholten sich nie.«

Die Haut seines alten Gesichtes erschlaffte bei der Erinnerung an die Fehlschläge. Lucy sah ihn besorgt an, streichelte schützend mit einem Finger seine Hand.

»Es hat keinen Sinn, sich lange damit aufzuhalten«, meinte sie unbehaglich. »Ich werde Ihnen sagen, was passiert ist. Allardeck erfuhr von unseren Schwierigkeiten und meinte, sein Sohn könne uns helfen, er verstünde was von Finanzen. Wir hatten Maynard ein- oder zweimal getroffen, und er war charmant gewesen. Er kam also zu uns und sagte, da wir so alte Kunden seines Vaters seien, würde er uns, wenn es uns recht wäre, Geld leihen, soviel wir brauchten. Die Bank hatte sich bereit erklärt, uns fünfzigtausend gegen die Sicherheit unserer Aktien zu leihen, aber damit blieben ja noch hundertundvierzig. Langweile ich Sie?«

»Ganz und gar nicht«, sagte ich mit Nachdruck. »Bitte sprechen Sie weiter.«

Sie seufzte. »Metavane sollte in etwa sechs Wochen starten, und wir klammerten uns wohl an Strohhalme - wir hofften, er würde gewinnen. Wir waren so dringend darauf angewiesen. Wir wollten ihn um keinen Preis verkaufen müssen, bevor er überhaupt gelaufen war. Wenn er siegte, würde er erheblich mehr wert sein. Daher waren wir überwältigt von Maynards Angebot. Es löste alle unsere Probleme. Wir nahmen es an. Wir waren überglücklich.

Wir lösten seinen Scheck ein, und Clement beglich seine Schulden bei Lloyd’s.«

Zynische Bitterkeit zerrte an ihren Mundwinkeln, aber den Kopf hielt sie immer noch hochgereckt.

»Hat Maynard Zinsen von Ihnen verlangt?« fragte ich.

»Sehr wenig«, erwiderte der Major. »Fünf Prozent. Verdammt nett von ihm, dachten wir.« Die Abwärtskurve seines Mundes entsprach derjenigen seiner Frau. »Wir wußten, es würde ein Kampf, aber wir waren sicher, wir würden irgendwie wieder auf die Beine kommen. Sparen, nicht wahr. Sachen verkaufen. Ihm nach und nach alles zurückzahlen. Metavane verkaufen, wenn er gesiegt hatte.«

»Ja«, sagte ich. »Wie ging es weiter?«

»Etwa fünf Wochen lang geschah nichts Besonderes«, antwortete Lucy. »Dann kam Maynard wieder zu uns, völlig aus dem Häuschen, und sagte, er habe zwei sehr schlechte Neuigkeiten für uns. Er müsse einen Teil des Geldes, das er uns gerade geliehen habe, zurückfordern, da er selbst in Schwierigkeiten sei. Und fast schlimmer noch, sein Vater habe ihn gebeten, uns mitzuteilen, Metavane sei beim Bewegen so gravierend lahm geworden, daß der Tierarzt meinte, vor Ablauf der Saison würde er nicht renntauglich sein. Damals war es Ende September. Wir hatten uns darauf verlassen, daß er im Oktober laufen würde. Wir waren einfach restlos am Boden, denn natürlich konnten wir uns nicht leisten, noch ein halbes Jahr die Trainingskosten zu bezahlen, bis im März die Rennen wieder losgingen, und noch schlimmer war, daß ein lahmer Zweijähriger zu Saisonende nicht gerade viel wert ist. Wir würden ihn noch nicht einmal für das verkaufen können, was wir für ihn bezahlt hatten.«

Sie schwieg, blickte starr auf den Herzenskummer zurück.

»Bitte weiter«, sagte ich.

Sie seufzte. »Maynard erbot sich, uns Metavane abzunehmen.«

»Hat er das so formuliert?«

»Ja. Genau. Uns Metavane abnehmen, hat er gesagt. Er sagte außerdem, er erlasse uns zehntausend Pfund von unseren Schulden, gerade als ob der Hengst immer noch soviel wert wäre. Aber, setzte er hinzu, er brauche unbedingt einiges Bargeld, ob wir denn nicht sofort hunderttausend für ihn flüssig machen könnten.« Sie sah mich kalt an. »Das konnten wir einfach nicht. Wir gingen alles mit ihm durch, erklärten es ihm. Er sah ein, daß wir ihn nicht bezahlen konnten, ohne gegen gewaltige Zinsen einen Kredit bei einem Geldverleiher aufzunehmen, und er sagte, das lasse er auf keinen Fall zu. Er war verständnisvoll und charmant und wirkte so bedrückt, daß wir ihn schließlich noch in seinem Kummer trösteten und ihm versicherten, wir würden alles Menschenmögliche tun, um ihn sobald es ging zu bezahlen.«

»Und dann?«

»Dann sagte er, wir sollten das Ganze am besten legal machen, also übertrugen wir durch Unterschrift die Besitzrechte an Metavane auf ihn. Er änderte den Betrag, den wir ihm schuldeten, von hundertvierzig- auf hundertdreißigtausend, und wir unterschrieben einen Zahlungsauftrag über regelmäßige monatliche Raten. Wir waren alle unglücklich, aber es schien das beste zu sein, was zu machen war.«

»Sie haben ihm Metavane ohne Bedingungen überlassen?« fragte ich. »Sie haben keine zusätzlichen Schuldnachlässe gefordert, falls sich das Pferd als gut erwies?«

Lucy schüttelte müde den Kopf. »Über Bedingungen haben wir nicht nachgedacht. Wer denkt schon an Bedingungen für ein lahmes Pferd?«

»Maynard sagte, er müsse unsere Zinszahlungen auf zehn Prozent erhöhen«, warf der Major ein. »Er entschuldigte sich immer wieder dafür, meinte, es sei ihm peinlich.«

»Vielleicht war es das«, sagte ich.

Lucy nickte. »Peinlich berührt von seiner eigenen Gemeinheit. Er ging und ließ uns zutiefst unglücklich zurück, aber das war nichts dagegen, wie wir uns zwei Wochen später fühlten. Metavane lief in einem Zweijährigenrennen in Newmarket und siegte mit drei Längen Vorsprung. Wir konnten es nicht fassen. Wir sahen das Ergebnis in der Zeitung. Auf der Stelle riefen wir Allardeck an. Und Sie können sich wohl denken, was er gesagt hat?«

Ich nickte halb.

»Er sagte, es sei ihm unbegreiflich, wie wir darauf kämen, daß Metavane lahm sei. Er sei es nicht. Er sei es nie gewesen. Er habe in letzter Zeit glänzend auf der Heide gearbeitet.«

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