Kapitel 16

Warum«, sagte ich, »hat Ihre gewisse Person Ihnen erlaubt, mir diese Briefe zu zeigen?«

»Ah.« Eric Olderjohn legte seine Finger zu einem Spitzgiebel zusammen und studierte sie eine Weile. »Warum glauben Sie wohl?«

»Er könnte es für möglich halten«, sagte ich, »daß ich ein paar stille Teiche aufrühre und ein paar halbklare Antworten bekomme, ohne daß er selbst eingreifen muß.«

Eric Olderjohn richtete sein Augenmerk von seinen Händen auf mein Gesicht. »So ungefähr«, sagte er. »Er hätte beispielsweise gern die Gewißheit, daß Maynard Allardeck nicht nur das Opfer einer Hetzkampagne ist. Er möchte ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen. Ihn vielleicht beim nächsten Durchlauf wieder auf die Liste setzen, für einen Ritterschlag im Sommer.«

»Er möchte Beweise?« fragte ich.

»Können Sie die liefern?«

»Ja, ich glaube.«

»Was gedenken Sie zu tun«, fragte er mit trockenem Humor, »wenn Sie das Rennreiten aufgeben müssen?«

»Mich ins Meer stürzen, wie es aussieht.«

Ich stand auf, und er ebenfalls. Ich dankte ihm herzlich für die Mühe, die er auf sich genommen hatte. Er sagte, ich würde hoffentlich beim nächsten Mal wieder auf seinem Pferd gewinnen. Tu’ mein Bestes, antwortete ich und

warf einen letzten anerkennenden Blick auf seine Wohnzimmerlaube, bevor ich zurück zum Hotel ging.

Lord Vaughnley, dachte ich.

Am 1. Oktober hatte er Maynard für die Adelsverleihung empfohlen. Gegen Ende Oktober oder Anfang November war Bobbys Telefonleitung angezapft worden.

Die Abhöranlage von Jay Erskine installiert, der zwei Wochen lang lauschte und dann die Artikel in der Flag schrieb.

Jay Erskine hatte früher für Lord Vaughnley gearbeitet, als Gerichtsreporter beim Towncrier.

Wenn Lord Vaughnley aber Jay Erskine auf Maynard Allardeck angesetzt hatte, warum war Nestor Pollgate dann so aggressiv?

Weil er kein Entschädigung zahlen oder nicht zugeben wollte, daß seine Zeitung unrecht getan hatte.

Nun ... vielleicht.

Ich bewegte mich im Kreis und kam immer wieder auf die zentrale und unerwartete Frage zurück: War es wirklich Lord Vaughnley, der die Angriffe veranlaßt hatte, und wenn ja, warum?

Von meinem Hotelzimmer aus rief ich Rose Quince privat an und erwischte sie wiederum kurz nachdem sie heimgekommen war.

»Bill?« sagte sie. »Staatsangestelltenhilfe? Oh, sicher, er ist Schirmherr von einer Menge Geschichten. Alles mögliche. So verliert er den Kontakt nicht, sagt er.«

»Mm«, sagte ich. »Als Sie den Artikel über Maynard schrieben - hat er das angeregt?«

»Wer? Bill? Ja, klar. Er legte mir die Ausschnitte aus der Flag auf den Tisch und meinte, das wär’ doch was für mich. Ich mag ihn zwar schon ewig kennen, aber er ist und bleibt der Boss. Wenn er etwas geschrieben haben will, wird es geschrieben. Martin, unser großer weißer Häuptling, gibt da immer seinen Segen.«

»Und, ehm, wie sind Sie auf das Handel-heute-Interview gekommen? Ich meine, haben Sie die Sendung gesehen, als sie ausgestrahlt wurde?«

»Du liebe Zeit. Selbstverständlich nicht.« Sie hielt inne. »Bill empfahl mir, mich an die Fernsehanstalt zu wenden und um eine private Vorführung zu bitten.«

»Was Sie getan haben.«

»Ja, natürlich. Hören Sie«, fuhr sie auf, »was soll denn das? Bill schlägt mir oft Themen vor. Da ist nichts dabei.«

»Nein«, sagte ich. »Schlafen Sie schön, Rose.«

»Ihnen auch eine gute Nacht.«

Ich schlief lang und tief, und früh am Morgen nahm ich die Videokamera und fuhr über das flache Land unmittelbar nördlich der Themsemündung nach Purfleet. Der Regen vom Vortag hatte sich verzogen, den Himmel fahl und leer zurückgelassen, und Möwen kreisten hoch über dem Niedrigwasser.

Ich fragte an etwa zwanzig Stellen, im Postamt und in Läden, bevor ich irgend jemand fand, der von Purfleet Electronics gehört hatte, wurde endlich aber zu jemand geschickt, der dort angestellt gewesen war.

»Sie brauchen George Tarker ... dem hat es gehört«, sagte er.

Nach einigen weiteren Hinweisen von hilfsbereiten Einwohnern hielt ich schließlich an einem heruntergekommenen alten Bootsschuppen, den ein optimistisches Schild schmückte mit der Aufschrift: »George Tarker flickt alles.«

Wenn man ausstieg und über den langen Vorhof ging, konnte man sehen, daß das Schild früher eine untere Hälfte gehabt hatte, die gegen die Wand gestellt war und lautete: »an Boot und Schiff«.

Mit dem lausigen Gefühl, völlig verkehrt gelandet zu sein, drückte ich die klapprige Tür auf und trat geradewegs in das unordentlichste Büro der Welt, einen Raum, wo jede Ablage und jedes Bord mit nicht identifizierbaren Haufen von Schiffszubehör fortgeschrittenen Alters bedeckt war und wo jedes Fleckchen Wand von bejahrten Kalendern, Plakaten, Rechnungen und Bedienungsanleitungen vereinnahmt wurde, die nicht mit Reißzwecken, sondern mit Nägeln befestigt waren.

In einem durchgesackten alten Sessel saß, unbeeindruckt von dem Durcheinander, ein älterer, graubärtiger Mann mit den Füßen auf einem Schreibtisch, las Zeitung und trank aus einer Tasse.

»Mr. Tarker?« sagte ich.

»Der bin ich.« Er ließ die Zeitung sinken und betrachtete mich kritisch über seine Schuhspitzen hinweg.

»Was möchten Sie repariert haben?« Er blickte zu der Tasche in meiner Hand, die die Kamera enthielt. »Ein Bootsteil?«

»Ich fürchte, ich bin hier falsch«, sagte ich. »Ich suche Mr. George Tarker, den früheren Inhaber von Purfleet Electronics.«

Behutsam setzte er seine Tasse auf den Schreibtisch und seine Füße auf den Boden. Ich erkannte, daß er ebensosehr durch eine innere Müdigkeit alt war wie durch die Jahre; es deutete sich in der schlaffen Schulterhaltung und in den tiefliegenden Augen an, und es schrie aus der ganzen Unordnung um ihn herum.

»Dieser George Tarker war mein Sohn«, sagte er.

War.

»Es tut mir leid«, sagte ich.

»Möchten Sie etwas repariert haben oder nicht?«

»Nein«, sagte ich. »Ich möchte mich über Maynard Allardeck unterhalten.«

Die Wangen sanken in tiefe Schatten ein, und die Augen schienen dunkel in ihre Höhlen zurückzutreten. Er hatte schütteres graues Haar, ungekämmt, und unter dem kurzen Bart, an dem dünnen Hals im aufgeknöpften, schlipslosen Hemd, strafften sich die Sehnen und fingen an zu zittern.

»Ich möchte Sie nicht beunruhigen«, sagte ich; aber ich hatte es getan. »Ich drehe einen Film über die Schäden, die Maynard Allardeck im Leben vieler Leute angerichtet hat. Ich hoffte, daß ... Ich hoffte, Ihr Sohn ... könnte mir dabei behilflich sein.«

Ich machte eine unbestimmte Geste mit der Hand. »Mir ist klar, daß es Sie so oder so nicht beeinflussen würde, aber ich biete ein Honorar an.«

Schweigend starrte er mir ins Gesicht, sah jedoch, wie mir schien, etwas völlig anderes - blickte zurück in die Erinnerung und fand sie nahezu unerträglich. Die Anspannung in seinem Gesicht verstärkte sich in einem Maße, daß ich wirklich bedauerte, gekommen zu sein.

»Wird Ihr Film ihn vernichten?« sagte er heiser.

»In mancher Hinsicht, ja.«

»Er verdient Hölle und Verdammnis.«

Ich holte die Videokamera aus der Tragtasche und führte sie ihm vor, erklärte ihm, daß er direkt in das Objektiv sprechen solle.

»Erzählen Sie mir, was Ihrem Sohn passiert ist?« fragte ich.

»Ja.«

Ich balancierte die Kamera auf einem Haufen Schrott und setzte sie in Gang; und mit nur wenigen direkten Zwischenfragen von mir wiederholte er im wesentlichen die bekannte Geschichte. Maynard war in einer vorübergehenden Finanzkrise, verursacht durch die rasche Expansion des Unternehmens, lächelnd zu Hilfe gekommen. Er hatte zu niedrigen Zinsen Geld geliehen, im letzten und ungünstigsten Augenblick aber die Rückzahlung verlangt; hatte die Firma übernommen und George Tarker hinausgeworfen, nach einiger Zeit dann alles, was von Wert war, abgestoßen, die Eigentumsrechte verkauft und die Belegschaft auf die Straße gesetzt.

»Charmant«, sagte George Tarker. »Charmant war er. Wie ein Betrüger, bis zum Schluß. Vernünftig. Freundlich. Dann verschwand er, und alles andere mit ihm. Die Firma meines Sohnes, weg. Er hat sie gegründet, als er gerade achtzehn war, und geschuftet noch und noch . und nach dreiundzwanzig Jahren wuchs sie zu schnell.«

Das hagere Gesicht starrte voll ins Objektiv, und Wasser stand in den Winkeln beider Augen.

»Mein Sohn George ... mein einziges Kind ... er gab sich selbst die Schuld an allem ... die Schuld daran, daß seine Arbeiter ihre Stellung verloren. Er fing an zu trinken. Er verstand soviel von Elektrizität.« Die Tränen traten über die unteren Augenlider und rollten an den faltigen Wangen hinab, um sich im Bart zu verlieren. »Mein Sohn hat sich an Drähte angeschlossen ... und sich unter Strom gesetzt .«

Seine Stimme brach ab wie mit dem Schlag, der das Herz seines Sohnes zum Stehen gebracht hatte. Ich fand es unerträglich. In tiefem Mitleid wünschte ich, ich wäre nicht gekommen. Ich schaltete die Kamera ab und stand schweigend da, wußte nicht, wie mich für eine solche Einmischung entschuldigen.

Er wischte die Tränen mit dem Handrücken fort. »Vor etwas mehr als zwei Jahren«, sagte er. »Er war ein guter Mensch, wissen Sie, mein Sohn George. Dieser Allardeck ... hat ihn einfach vernichtet.«

Ich bot ihm die gleiche Summe an, die ich den Perrysides gegeben hatte, legte sie vor ihn auf den Schreibtisch. Er starrte eine Weile auf das flache Bündel Banknoten und schob es dann zu mir hin.

»Ich habe es Ihnen nicht für Geld erzählt«, sagte er. »Behalten Sie’s. Ich habe es Ihnen für George erzählt.«

Ich zögerte.

»Nehmen Sie es«, sagte er. »Ich möchte es nicht. Kommt mir nicht richtig vor. Sie können mich bezahlen, wenn Sie mal ein Boot zu reparieren haben.«

»In Ordnung«, sagte ich.

Er nickte und sah zu wie ich die Scheine an mich nahm.

»Machen Sie einen guten Film«, sagte er. »Tun Sie’s für George.«

»Ja«, sagte ich; und er saß immer noch da und starrte gequält in die Vergangenheit, als ich ging.

Ich fuhr mit den gleichen Sicherheitsvorkehrungen nach Ascot wie zuvor, ließ den Mercedes unten in der Stadt und betrat die Rennbahn aus der dem offiziellen Parkplatz der Jockeys entgegengesetzten Richtung. Soweit ich sehen konnte, nahm keiner von meiner Ankunft Notiz außer den Männern an der Kasse mit ihrem gewohnten »guten Morgen«.

Ich startete in den ersten fünf der sechs Rennen; zwei Ritte für die Prinzessin, noch zwei andere für Wykeham, einer für den Trainer aus Lambourn. Dusty teilte mir mit, daß Wykeham wegen einer scheußlichen Migräne ans

Haus und an den Bildschirm gebunden sei. Icefall, sagte Dusty, müsse ganz klar Erster werden, und sämtliche Pfleger hätten ihre Löhne auf ihn gesetzt. Dustys Verhalten mir gegenüber war wie üblich eine Mischung aus Respekt und Gehässigkeit, eine zwiespältige Haltung, die ich vor langem schon in ihre Bestandteile zerlegt hatte: Ich mochte zwar für den Stall siegen, aber die Kondition der Pferde war das Werk ihrer Pfleger, und das durfte ich nicht vergessen. Dusty und ich arbeiteten seit zehn Jahren in einer Art Waffenstillstand zusammen, weil wir aufeinander angewiesen waren; aktive Freundschaft wurde weder angestrebt, noch war sie notwendig. Er sagte, der Chef bitte mich, der Prinzessin und den anderen Besitzern sein Bedauern wegen seiner Kopfschmerzen auszurichten. Ich werde es bestellen, sagte ich.

Ich ritt eines von Wykehams Pferden im ersten Rennen ohne nennenswerten Erfolg und wurde im zweiten Lauf Dritter für den Trainer aus Lambourn. Das dritte Rennen war Icefall für die Prinzessin, und sie und Danielle warteten nach dem Lunch mit strahlenden Augen im Führring, als ich dorthin kam.

»Wykeham läßt sich entschuldigen«, sagte ich.

»Der arme Mann.« Die Prinzessin glaubte ebensowenig an die Migräneanfälle wie ich, aber sie war bereit, so zu tun als ob.

»Schenken wir ihm einen Sieg, um ihn zu trösten?«

»Ich fürchte, das erwartet er.«

Wir sahen Icefall herumgehen, grau und muskulös unter seiner Wappendecke, kompakter als sein leiblicher Bruder Icicle.

»Ich habe ihn vorige Woche trainiert«, sagte ich. »Wykeham meint, er hat sich seitdem mächtig gesteigert. Es besteht also Hoffnung.«

»Hoffnung?« sagte Danielle. »Er ist heißer Favorit.«

»Haushoch«, nickte die Prinzessin. »So richtig freuen kann man sich darüber nie.«

Sie und ich tauschten Blicke aus in dem Bewußtsein des zusätzlichen Drucks, der durch zu hochgespannte Erwartungen entstand, und als ich zum Aufsitzen ging, sagte sie nur: »Kommen Sie heil über die Runden, dann ist es gut.«

Icefall war mit sechs Jahren auf der Höhe seiner Hürdenkondition. Er konnte auf eine Serie von Erfolgen zurückblicken, und sein Rennen an diesem Tag war ein vielbeachteter, mit viel Geld geförderter 2-Meilen-Wettbewerb, der sich, wie das bei hochdotierten Rennen schon mal vorkam, auf ganze sechs Teilnehmer beschränkte. Icefall an der oberen Grenze des Handicaps, die anderen fünf an der unteren; der Mittelblock hatte beschlossen, auf weniger heikle Konkurrenzen auszuweichen.

Icefall war ein leicht zu reitendes Pferd, so bereitwillig wie sein Bruder und von Natur aus mutig, und die einzige vorhersehbare Schwierigkeit bestand darin, daß er gut zehn Kilo mehr als die anderen trug. Wykeham sah seine Pferde nie gern als Frontläufer und hatte manchmal versucht, mich davon abzuhalten, Icefall auf diese Art zu reiten, aber das Pferd war eindeutig dafür und ließ mich das bei jedem Start wissen. Sosehr die Gewichte gegen uns sprachen, auch jetzt waren wir, als die Bänder hochschnellten, da, wo wir sein wollten, und gaben das Tempo an.

Ich hatte in meinen Teenagerjahren von einem amerikanischen Galopprennreiter gelernt, eine Uhr in meinem Kopf einzuschalten, das Tempo jedes Rennabschnitts nach dieser Uhr zu messen und abzuschätzen, wie schnell ich jeden Abschnitt gehen konnte, um die Bestzeit des Pferdes über die Distanz einzustellen oder an sie heranzukommen.

Icefalls Bestzeit über zwei Meilen in Ascot, mit fast dem gleichen Gewicht auf ähnlich nassem Boden, war drei Minuten achtundvierzig Sekunden, und ich nahm mir vor, ihn in genau dieser Zeit an die Ziellinie zu bringen, bei mehr oder weniger gleichbleibendem Tempo über die ganze Strecke.

Die Zuschauer auf den Rängen hatten, wie ich hinterher erfuhr, den Eindruck, daß ich es zu schnell angegangen war, daß einige der Leichtgewichte mich garantiert einholen würden; aber ich hatte auch deren Zeiten nachgeschlagen, und keines von ihnen war die zwei Meilen je so schnell gelaufen, wie ich es beabsichtigte.

Icefall brauchte lediglich perfekt zu springen, und das tat er und teilte mir seine Freude mitten in der Luft bei jeder Hürde mit. Die Leichtgewichter kamen nie an uns heran, und wir gingen ohne nachzulassen mit acht Längen Vorsprung ins Ziel, ein Abstand, der für Icefalls Handicap beim nächsten Start überhaupt nicht günstig war.

Vielleicht, dachte ich, als ich anhielt und ausgiebig den grauen Hals tätschelte, wäre es für die Zukunft besser gewesen, nicht so klar zu siegen, aber was zählte, war die Gegenwart, und bei solchen Gewichten durfte man nichts riskieren.

Die Prinzessin glühte und lachte vor Entzücken und erhöhte wie gewohnt meine eigene Freude am Erfolg. Siege für mürrische und brummige Besitzer waren nie so angenehm.

»Meine Freunde halten es für einen Frevel«, sagte sie, »wenn ein Topgewicht derart abzieht und nach einem Wolkenbruch wie gestern das ganze Rennen allein zu machen versucht. Sie haben mich oben in der Loge bemitleidet und mir gesagt, Sie seien wahnsinnig.«

Ich lächelte sie an, schnallte meinen Sattel los. »Wenn er so springt wie heute, kann er diese Bahn sogar auf nassem Boden in drei Minuten achtundvierzig gehen. Das hat er mehr oder weniger getan.«

Ihre Augen weiteten sich. »Sie hatten es geplant! Das haben Sie mir nicht gesagt. Ich war nicht darauf gefaßt, daß Sie so losrasen, auch wenn er gern an der Spitze ist.«

»Wenn er eine von den Hürden verpatzt hätte, dann hätte ich wie ein Idiot ausgesehen.« Ich tätschelte den grauen Hals wieder und wieder. »Er weiß, was rennen heißt«, sagte ich. »Er ist ein wundervolles Pferd. Sehr großzügig. Der Sport gefällt ihm.«

»Mir klingt das, als ob Pferde Menschen wären«, sagte Danielle, die hinter ihrer Tante stand und zuhörte.

»Ja, das sind sie«, sagte ich. »Keine Menschen, aber Individuen, jedes verschieden.«

Ich brachte den Sattel herein und stieg auf die Waage, wechselte die Farben und ließ mich für das nächste Rennen wiegen. Dann zog ich die Farben der Prinzessin wieder über die anderen und ging ohne Kopfbedeckung hinaus zur Preisverleihung der Sponsoren.

Lord Vaughnley befand sich in der Menge um den Siegerehrungstisch, und er kam geradewegs zu mir herüber, als ich eintraf.

»Mein lieber Mann, was für ein Rennen! Ich dachte, Sie wären übergeschnappt, muß ich gestehen. Sie kommen doch in unsere Loge, nicht? Wie abgesprochen?«

Er war ein Rätsel. Seine grauen Augen lächelten mild in dem großen Gesicht, voller Freundlichkeit, ohne Falsch.

»Ja«, sagte ich. »Vielen Dank. Nach dem fünften Rennen, wenn ich fertig bin für heute; ist Ihnen das recht?«

Lady Vaughnley erschien an seinem Ellbogen und bekräftigte die Einladung: »Daß Sie ja kommen. Wir freuen uns schon.«

Die Prinzessin, die das aufschnappte, sagte: »Kommen Sie dann anschließend zu mir«, wobei sie mein Einverständnis voraussetzte und keine Antwort erwartete. »Wissen Sie«, fragte sie belustigt, »welche Zeit Icefall gebraucht hat?«

»Nein, noch nicht.«

»Drei Minuten neunundvierzig.«

»Wir waren eine Sekunde zu spät.«

»Ja, in der Tat. Machen Sie nächstes Mal schneller.«

Lady Vaughnley schaute sie verblüfft an. »Wie können Sie das sagen?« protestierte sie und begriff dann, daß es nur ein Scherz war. »Ach so. Ich dachte schon ...«

Die Prinzessin tätschelte ihr gutmütig den Arm, und ich beobachtete Danielle, wie sie am anderen Ende des mit grünem Boi überzogenen, pokalbeladenen Tisches mit den Sponsoren sprach, als wäre sie das Siegen von Geburt an gewohnt. Sie drehte den Kopf und sah mich direkt an, und ich spürte den Kitzel dieses Augenkontaktes unmittelbar über meinen Rücken laufen. Sie ist schön, dachte ich. Ich möchte mit ihr ins Bett.

Anscheinend hatte sie sich mitten in dem, was sie gerade sagte, unterbrochen. Der Sponsor richtete eine Frage an sie. Sie schaute ihn verständnislos an, dann schien sie mit einem weiteren Blick auf mich ihre Gedanken zu klären und auf das, was er gefragt hatte, zu antworten.

Ich sah auf die Trophäen nieder, da ich befürchtete, meine Gefühle lägen offen zutage. Ich hatte noch zwei Rennen und eine Menge Logenkonversation durchzustehen, bevor wir richtig zusammensein konnten, und die Erinnerung an ihre Küsse waren keine Hilfe.

Die Preise wurden überreicht, die Prinzessin und die anderen zerstreuten sich, und ich streifte die Farben der Prinzessin ab und erritt einen weiteren Sieg für Wykeham. Besser gesagt ich schindete eine Kopflänge heraus und rettete dieselbe ohne Eleganz ins Ziel, indem ich das Pferd praktisch vor sich selber hertrieb, ihm zusetzte, Druck machte, mehr aus ihm herausholte, als es in sich zu haben meinte.

»Verdammt noch eins«, sagte sein Besitzer im Absattelring. »Verdammt noch eins, Sie möcht ich nicht auf meinem Buckel haben.« Er schien trotz alledem erfreut zu sein, ein Farmer aus Sussex, groß und direkt, umgeben von schwatzenden Freunden. »Sie sind ein Satansbraten, Junge, aber wirklich. Hart wie Stahl. Der weiß jetzt, daß er ein Rennen hinter sich hat, glauben Sie mir.«

»Na ja, Mr. Davis, er kann’s vertragen, er ist zäh, für Samthandschuhe wäre der Ihnen nicht dankbar. Wie der Herr, so’s Gescherr, meinen Sie nicht, Mr. Davis?«

Er brach in schallendes Gelächter aus und haute mir gewaltig auf die Schulter, und ich ging zum Zurückwiegen und schlüpfte für das fünfte Rennen wieder in die Farben der Prinzessin.

Der Starter der Prinzessin, Allegheny, war die zweite von ihren lediglich zwei Stuten (Bernina die andere), denn die Prinzessin hatte, vielleicht weil sie selbst eine Frau war, eine eindeutige Vorliebe für männliche Pferde. Allegheny war nicht so temperamentvoll wie Bernina, sondern eine freundliche alte Schaukel, die immer einigermaßen gut, aber ohne Feuer lief. Ich hatte Wykeham nahegelegt, er solle die Prinzessin überreden, sie zu verkaufen, aber das lehnte er ab: Prinzessin Casilia, sagte er, weiß, was sie will.

Alleghenys zweite, dritte, vierte, fünfte und Statistenplätze schienen sie nie zu enttäuschen. Es komme ihr nicht darauf an, sagte er, daß alle ihre Kinder Stars seien.

Allegheny und ich starteten in Güte, aber wie üblich fanden meine Versuche, ihr Spaß an der Sache einzuhauchen, wenig Anklang. Wir lagen an vierter Stelle, als wir zum ersten Mal auf die Gerade bogen, gingen locker einen einfachen Sprung an, trafen genau den Punkt, hoben ab, landeten, beschleunigten .

In einem ihrer Hinterbeine riß der Fesselträger, und Allegheny lahmte in drei Schritten, verlor jeden Rhythmus; wie wenn beim Autofahren plötzlich ein Reifen platzt. Ich hielt sie an, sprang von ihrem Rücken herunter und führte sie ein paar Schritte, um sicherzugehen, daß sie keinen Knochen gebrochen hatte.

Nur die Sehne, dachte ich erleichtert. Schlimm genug, aber kein Todesurteil. Ein Pferd an den Schußbolzen eines Gerätes zum schmerzlosen Töten zu verlieren, das warf jeden tagelang aus dem Gleichgewicht. Wykeham hatte schon um tote Pferde geweint, ich ebenso und auch die Prinzessin. Manchmal konnte man nicht anders.

Der Tierarzt kam mit seinem Wagen herbeigeeilt, sah sie sich an und erklärte sie für gehfähig, also führte ich sie über die Bahn zurück, wobei ihr Kopf jedesmal nickte, wenn sie den verletzten Fuß auf den Boden setzte. Die Prinzessin und Danielle kamen besorgt hinunter zum Absattelplatz, und Dusty versicherte ihnen, der Chef werde das Tier sobald wie möglich behandeln lassen.

»Was halten Sie davon?« fragte mich die Prinzessin deprimiert, als Dusty und Alleghenys Pfleger die nickende Stute davonführten.

»Ich weiß nicht.«

»Doch. Sagen Sie’s mir.«

Die Augen der Prinzessin waren tiefblau. Ich sagte: »Sie wird mindestens ein Jahr vom Rennplatz sein.«

Sie seufzte. »Ja, wahrscheinlich.«

»Sie könnten sie zusammenflicken«, sagte ich, »und sie als Zuchtstute verkaufen. Sie hat gute Blutlinien. Im Frühling könnte sie schon tragen.«

»Oh!« Die Prinzessin wirkte erfreut. »Ich hänge an ihr, wissen Sie.«

»Ja, ich weiß.«

»So langsam verstehe ich«, sagte Danielle, »um was es beim Rennsport eigentlich geht.«

Da meine Nachbarin und der Jockeykollege aus Lambourn sich in der Frage des Koffers mit den Kleidern als zuverlässig erwiesen hatten, ging ich in einem salonfähigeren Aufzug hinauf in Lord Vaughnley s Loge. Offenbar hatte ich mir aber die windstille Pausenzeit ausgesucht, wo alle noch unten waren, um sich die Pferde für den letzten Lauf anzusehen oder zu wetten.

Oben stand nur eine einzige Person nervös neben dem zum Tee gedeckten Tisch, trat von einem Fuß auf den anderen, und ich erkannte überrascht, daß es Hugh Vaughnley war, Lord Vaughnleys Sohn.

»Tag«, sagte ich. »Noch keiner hier ... ich komme wieder.«

»Gehen Sie nicht.«

Seine Stimme war drängend. Ich schaute ihn neugierig an, dachte an den Familienkrach, der am vorigen Samstag so offensichtlich im Gange gewesen war, sah nichts als Sorge in dem normalerweise fröhlichen Gesicht. Er war viel dünner als sein Vater, mehr nach seiner Mutter in der Statur, hatte klare, ebenmäßige Züge, zwei entwaffnende Grübchen und noch etwas Kindhaftes in der Unentschlossenheit seines Mundes. Etwa neunzehn, dachte ich. Vielleicht zwanzig. Älter nicht.

»Ich ... ehm ...«, sagte er. »Bleiben Sie. Um ehrlich zu sein, ich möchte, daß jemand hier ist, wenn sie wiederkommen.«

»So?«

»Ehm ...«, sagte er. »Die wissen nicht, daß ich hier bin. Ich meine, Dad könnte wütend sein, und das kann er ja nicht vor fremden Leuten, nicht wahr? Deswegen bin ich zum Pferderennen gekommen. Also, ich weiß, daß Sie kein Fremder sind, aber Sie wissen schon, was ich meine.«

»Ihre Mutter freut sich doch bestimmt, Sie zu sehen.«

Er schluckte. »Ich hasse Zank mit ihnen. Ich verkrafte das nicht. Um ehrlich zu sein, Dad hat mich vor beinah einem Monat rausgeworfen. Er läßt mich bei Saul Bradley wohnen, und das halte ich nicht mehr lange aus, ich will nach Hause.«

»Er hat Sie rausgeworfen?« Ich muß mich so überrascht angehört haben, wie ich war. »Sie schienen immer so eine stabile Familie zu sein. Findet er, daß Sie auf eigenen Füßen stehen sollten? Irgend so etwas?«

»Nein. Ich wünschte, das wär’s. Ich habe was gemacht ... ich wußte nicht, daß er darüber so unheimlich böse sein würde ... wirklich nicht .«

Ich wollte nicht hören, was es war, ich hatte schon soviel anderes im Kopf.

»Drogen?« fragte ich teilnahmslos.

»Was?«

»Haben Sie Drogen genommen?«

An seinem Gesicht sah ich, daß es das nicht war. Die Vermutung verblüffte ihn einfach.

»Ich meine«, sagte er traurig, »er hielt doch so viel von ihm. Das sagte er. Also, ich dachte, er fände ihn in Ordnung.« »Wen?« sagte ich.

Er schaute mir jedoch über die Schulter und antwortete nicht, und eine neue Welle nervöser Angst löschte alles andere aus.

Ich drehte mich um. Lord und Lady Vaughnley waren vom Gang her durch die Tür gekommen und näherten sich uns. Ich sah ihre Mienen ganz deutlich, als sie ihren Sohn erblickten. Lady Vaughnleys Gesicht erhellte sich in einem spontanen, unkomplizierten Lächeln.

Lord Vaughnley blickte von seinem Sohn zu mir, und seine Reaktion war nicht Vergebung. Gleichgültigkeit, Gereiztheit oder etwa Zorn.

Es war Bestürzung. Es war Entsetzen.

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