Kapitel 17

Er fand einigermaßen rasch die Fassung wieder. Lady Vaughnley schloß Hugh in die Arme und drückte ihn, und ihr Mann sah sich das ungehalten mit steinerner Miene an. Andere Gäste kamen gutgelaunt zurück in die Loge, und Hugh hatte insoweit recht, als sein Vater nicht bereit war, sich mit ihm in der Öffentlichkeit zu streiten.

Lord Vaughnley beschäftigte sich vielmehr intensiv mit mir, brachte Tee unter die Leute und stellte sicher, daß ich nicht weiter mit seinem Sohn sprach. Es schien ihm zu entgehen, daß seine erste Reaktion und sein jetziges Verhalten mir sehr viel mehr verrieten, als er wahrscheinlich wollte.

»Das hätten wir«, sagte er herzlich, als er eine Kellnerin anschleifte, die mir eine Tasse gab. »Milch? Zucker? Nein? Prinzessin Casilias Stute ist doch in Ordnung, ja? So traurig, wenn ein Pferd im Rennen zusammenbricht. Sandwich?«

Ich sagte, die Stute werde keine Rennen mehr laufen, und lehnte das Sandwich dankend ab.

»Hugh hat Sie mit seinen Problemen belästigt, wie?« sagte er.

»Nicht direkt.«

»Was hat er gesagt?«

Ich blickte in die grauen Augen, aus denen die Freundlichkeit durch Wachsamkeit verdrängt worden war.

»Er sagte, er habe sich mit Ihnen gezankt und wolle sich wieder vertragen.«

»Pfff.« Ein unversöhnlicher Laut aus zusammengepreßtem Mund. »Aber er ist Ihnen nicht lästig gefallen?«

»Nein.«

»Gut. Gut. Dann wollen Sie bestimmt mit Prinzessin Casilia sprechen, hm? Geben Sie mir ruhig Ihre Tasse. Nett, daß Sie heraufgekommen sind. Tja. Dann mal ab mit Ihnen. Man kann sie ja schlecht warten lassen.«

Ohne unverschämt zu sein, hätte ich nicht bleiben können, und mit Unverschämtheit war meiner Ansicht nach an diesem Punkt nichts zu erreichen. Gehorsam ging ich zur dichtbevölkerten Loge der Prinzessin hinüber, trank weiteren Tee, lenkte meinen Magen von einem weiteren Sandwich ab und bemühte mich, nicht allzuviel auf Danielle zu schauen.

»Sie sind zerstreut«, bemerkte die Prinzessin. »Sie sind gar nicht hier.«

»Ich dachte an Lord Vaughnley ... ich komme gerade von seiner Loge.«

»Solch ein netter Mann.«

»Mm.«

»Und was haben Sie mit Danielle für heute abend geplant?«

Ich sperrte die Gedanken an das, was ich gern wollte, aus. Wenn ich die Gedanken der Prinzessin lesen konnte, so konnte sie gelegentlich auch meine lesen.

»Ich nehme an, wir werden uns unterhalten, zusammen essen, und dann bringe ich sie nach Hause.«

Sie tätschelte mir den Arm. Sie zog mich ins Gespräch mit ihren Gästen, und ich arbeitete mich zu Danielle durch, indem ich Höflichkeit verstreute wie Konfetti.

»Hallo«, sagte sie. »Fahre ich mit Tante Casilia zurück oder was?«

»Du kommst mit mir, wenn du willst.«

»Einverstanden.«

Wir gingen mit allen anderen hinaus auf den Balkon, um uns das sechste Rennen anzuschauen, und danach sagten wir der Prinzessin korrekt auf Wiedersehen und verließen den Platz.

»Wohin gehen wir?« fragte Danielle.

»Spazieren, was trinken, was essen. Zuallererst gehen wir nach Ascot rein, wo ich den Wagen abgestellt habe, um nicht wieder auf dem Parkplatz tranchiert zu werden.«

»Du bist unglaublich«, sagte sie.

Ich holte meinen Koffer aus dem Umkleideraum, und wir gingen über die Billigplätze hinunter zum entlegensten Tor und von dort wieder sicher zu dem gemieteten Mercedes.

»Ich habe wohl überhaupt nicht daran gedacht, daß es noch mal passieren könnte«, sagte sie.

»Und beim nächsten Mal wäre keine rettende Prinzessin da.«

»Glaubst du ernstlich, die lauern dir auf?«

»Ich habe immer noch, was sie haben wollten.« Und außerdem hatte ich ihnen schwer auf den Schlips getreten. »Ich gehe einfach Wege, von denen sie nichts wissen, und hoffe das Beste.«

»Ja, aber«, sagte sie leise, »wie lange noch?«

»Ehm«, sagte ich, »sonntags arbeitet Joe wahrscheinlich nicht?«

»Nein. Erst wieder Montag, wie ich. An Wochenenden nicht. Was hat das mit der Frage zu tun, wie lange noch?« »Dienstag oder Mittwoch«, sagte ich.

»Du drückst dich nicht besonders klar aus.«

»Weil ich es nicht genau weiß.« Wir stiegen in das Auto, und ich ließ den Motor an. »Ich komme mir vor wie ein Jongleur. Ein halbes Dutzend Keulen in der Luft, und wahrscheinlich krachen sie alle auf einmal runter.«

»Und auf dich drauf?«

»Nicht«, sagte ich, »wenn ich es vermeiden kann.«

Ich fuhr nicht eben schnell nach Henley und hielt bei einer Telefonzelle, um mit Rose Quince zu sprechen, die aber außer Haus war. Ihr Anrufbeantworter bat mich, eine Nummer zu hinterlassen, die sie zurückrufen könne. Ich versuche es später noch mal, sagte ich.

Henley-on-Thames war belebt von Lichtern und von späten Samstagnachmittagseinkäufern. Danielle und ich ließen den Wagen auf einem Parkplatz stehen und wander-ten langsam durchs Gewühl.

»Wohin gehen wir?« fragte sie.

»Ein Geschenk für dich kaufen.«

»Was für ein Geschenk?«

»Alles, was du willst.«

Sie blieb stehen. »Bist du verrückt?«

»Nein.« Wir waren vor einem Geschäft, das Sportartikel anbot. »Tennisschläger?«

»Ich spiele kein Tennis.«

Ich winkte zum nächsten Laden. »Klavier?«

»Ich kann kein Klavier.«

»Da drüben«, ich deutete auf ein Blumengeschäft. »Orchideen?«

»Wo sie wachsen, aber nicht, um sie mir anzustecken.«

»Und da vorne, ein antiker Sessel?«

Sie lachte, an ihren Augen erschienen Fältchen. »Sag mir auch, was du magst und was nicht.«

»Einverstanden.«

Wir gingen die Schaufenster entlang, schauten und sagten es uns. Sie mochte Blau- und Rosatöne, aber kein Gelb, sie mochte Sachen mit Blumen und Vögeln drauf, nicht geometrische Muster, sie mochte Körbe und Tintenkulis, Aquamarine und kernlose Trauben und Bücher über Leonardo da Vinci. Sie würde für mich, sagte sie, etwas Einfaches aussuchen. Wenn ich ihr ein Geschenk machen wollte, müßte ich auch eins bekommen.

»Okay«, sagte ich. »Zwanzig Minuten. Wir treffen uns am Auto. Hier ist der Schlüssel, falls du zuerst wieder da bist.«

»Und nicht zu teuer«, sagte sie. »Sonst spiele ich nicht mit.«

»In Ordnung.«

Als ich mit meinem Päckchen wiederkam, saß sie schon im Auto und lächelte.

»Du warst eine halbe Stunde weg«, sagte sie. »Du bist disqualifiziert.«

»So ein Pech.«

Ich stieg neben ihr ein, und wir saßen da und schauten jeder das Päckchen des anderen an, meines für sie in Packpapier, ihres für mich, flacher, in einer Tragetüte.

»Rate mal«, sagte sie.

Ich versuchte es, aber nichts kam. Bedauernd sagte ich: »Ich weiß es nicht.«

Sie musterte das braun eingeschlagene Paket in meinen Händen. »Drei Bücher? Drei Pfund Schokolade? Ein Springteufel?«

»Alles verkehrt.«

Wir tauschten die Geschenke und begannen sie auszupacken.

»Spannender als Weihnachten«, sagte sie. »Oh, wie seltsam. Ich hatte vergessen, daß dein Name daher kommt.« Sie hielt ganz kurz inne, um nachzudenken, und sagte es umgekehrt: »Christmas ist spannender.«

Auf amerikanisch klang es nicht übel. Ich öffnete die Papiertüte, die sie mir gegeben hatte, und sah, daß unser Bummel durch die Straße ihr auch eine ganze Menge über mich verraten hatte. Ich zog ein Etui aus weichem braunem Leder mit rundumgehendem Reißverschluß hervor, das aussah, als enthielte es einen Schreibblock und ein paar Briefumschläge, doch oben war in Gold das Wort KIT, Werkzeugtasche, aufgeprägt.

»Nur zu, mach es auf«, sagte sie. »Ich konnte dem nicht widerstehen. Und du magst hübsche kleine Sachen, genau wie ich.«

Ich öffnete den Reißverschluß des Etuis, klappte es auf und lächelte vor reiner Freude. Es enthielt auf der einen Seite einen Satz Werkzeuge und auf der anderen Schreibstifte, einen Taschenrechner und einen Notizblock, alles in Laschen, alles in bester Qualität, solide ausgeführt.

»Es gefällt dir«, stellte sie befriedigt fest. »Dachte ich mir doch. Stand buchstäblich dein Name drauf.«

Sie wickelte das Packpapier auseinander und zeigte mir, daß ich sie ebenfalls erfreut hatte und wie sehr. Ich hatte ihr eine antike Miniaturkommode geschenkt, die entfernt nach Politur roch, kleine Messinggriffe hatte und seidenweich aufgleitende Schubladen. Hübsch, klein, gut verarbeitet, nützlich, ordentlich, zweckmäßig - wie das Etui.

Sie schaute lange auf die Geschenke mit ihrer stillschweigenden Aussage und dann in mein Gesicht.

»Wirklich erstaunlich«, sagte sie langsam, »daß wir beide das Richtige getroffen haben.«

»Ja.«

»Und du hast gegen die Regeln verstoßen. Die Truhe ist nicht billig.«

»Gleichfalls. Das Etui auch nicht.«

»Gott segne die Kreditkarten.«

Ich küßte sie auf die gleiche Art wie zuvor, die Geschenke lagen noch auf unseren Schößen. »Vielen Dank für meins.«

»Vielen Dank für meins.«

»Tja«, sagte ich und langte hinter mich, um die Werkzeugtasche auf den Rücksitz zu legen. »Bis wir hinkommen, hat das Pub vielleicht schon geöffnet.«

»Welches Pub?«

»Wo wir hinfahren.«

»Aus dir was rauszukriegen, was du nicht erzählen willst«, sagte sie, »ist eine verdammt harte Nuß.«

Ich fuhr zufrieden zum French Horn in Sonning, wo das Essen legendär war und in Flutlicht getauchte Weiden sich über die Themse neigten. Wir gingen hinein und setzten uns auf ein Sofa, schauten zu, wie Enten über offenem Feuer am Spieß gebraten wurden, und tranken Sekt. Ich rekelte mich, atmete tief durch, spürte die Anspannung der langen Woche von mir abfallen - und ich mußte Rose Quince anrufen.

Ich ging und wählte ihre Nummer. Wieder der Anrufbeantworter. Ich sagte: »Rose, Rose, ich liebe dich. Rose, ich brauche dich. Wenn Sie vor elf nach Hause kommen, rufen Sie mich bitte, ich beschwöre Sie, im French Hotel an, die Nummer ist 0734-692204; sagen Sie, ich bin im Restaurant beim Essen.«

Ich telefonierte mit Wykeham. »Sind die Kopfschmerzen besser?« sagte ich.

»Was?«

»Schon gut. Wie geht’s der Stute?«

Die Stute sei krank, aber sie fresse, das Pferd von Mr. Davis sei erschöpft, Inchcape sehe man das Rennen kaum an.

»Icefall« sagte ich.

»Bitte? Ich wünschte, Sie würden ihn nicht so weit vorneweg reiten.«

»Ihm gefiel das. Und es hat geklappt.«

»Ich sah’s im Fernsehen. Können Sie Dienstag zum Trainieren kommen? An dem Tag haben wir keine Renner, ich schicke keinen nach Southwell.«

»Ja, in Ordnung.«

»Sie waren gut heute«, sagte er aufrichtig. »Ganz ausgezeichnet.«

»Danke.«

»Ja. Ehm. Dann gute Nacht, Paul.«

»Gute Nacht, Wykeham«, sagte ich.

Ich ging zurück zu Danielle, und wir unterhielten uns den ganzen Abend und aßen später im Restaurant, wo Kerzenlicht auf den Tischen funkelte und ein grüner Weinstock über die Decke wuchs; und in letzter Minute rief Rose Quince mich zurück.

»Ist schon nach elf«, sagte sie, »aber ich hab’s mal drauf ankommen lassen.«

»Sie sind ein Schatz.«

»Und ob. Was gibt es so Dringendes, Sportsfreund?«

»Hm«, sagte ich. »Können Sie mit dem Namen Saul Bradfield oder Saul Bradley ... so in der Art ... etwas anfangen?« »Saul Bradley? Klar kann ich. Was ist denn so dringend mit ihm?«

»Wer ist er?«

»Er war leitender Sportredakteur beim Towncrier. Letztes Jahr ist er zurückgetreten ... Jedermanns Vaterfigur, ein alter Freund von Bill.«

»Wissen Sie, wo er wohnt?«

»Du lieber Himmel. Lassen Sie mich überlegen. Warum suchen Sie ihn?«

»Im größeren Zusammenhang mit der Vernichtung unseres Freundes von den Bändern.«

»Oh. Na ja, mal sehen. Er ist umgezogen. Er sagte, er wolle mit seiner Frau am Meer leben. Ich hätte ja angenommen, daß er da aushakt, aber die Geschmäcker sind verschieden. Worthing oder so was in der Richtung. Nein. Selsey.« Ihre Stimme wurde fester. »Ich erinnere mich -Selsey in Sussex.«

»Phantastisch«, sagte ich. »Und Lord Vaughnley? Wo wohnt der?«

»Vorwiegend am Regent’s Park, in einer von den Nash-Terrassen. Sie haben auch ein Haus in Kent, bei Seven-oaks.«

»Könnten Sie mir das genau sagen?« fragte ich. »Ich meine ... ich würde ihm gern schreiben, um mich für die Towncrier-Trophäe zu bedanken und überhaupt für seine Unterstützung.«

»Klar«, sagte sie leichthin und gab mir seine beiden Adressen einschließlich der Postleitzahlen, sogar die Telefonnummern fügte sie noch hinzu. »Die brauchen Sie vielleicht, sie sind nicht verzeichnet.«

»Ich stehe wieder in Ihrer Schuld«, sagte ich, als ich das alles aufschrieb.

»Tief, tief, Sportsfreund.«

Ich legte im reulosen Bewußtsein meiner Hinterlist den Hörer auf und holte Danielle, um sie nach Hause zu fahren. Es war mehr oder weniger Mitternacht, als ich am Eaton Square anhielt, und ich hätte sie zwar lieber woanders hingebracht, aber so war es am besten.

»Danke«, sagte sie, »für einen tollen Tag.«

»Was ist mit morgen?«

»Okay.«

»Ich weiß nicht, um welche Zeit«, sagte ich. »Ich muß erst noch was erledigen.«

»Ruf mich an.«

»Ja.«

Wir saßen im Auto und schauten einander an, als hätten wir das nicht schon seit Stunden getan. Ich kenne sie seit Dienstag, dachte ich. In fünf Tagen hatte sie Wurzeln in meinem Leben gefaßt. Ich küßte sie mit viel mehr Hunger als vorher, was sie nicht zu beunruhigen schien, und ich dachte, nicht mehr lange, nicht mehr lange ... aber noch nicht. Wenn es richtig war, nicht vorher.

Wir sagten uns wieder auf dem Gehsteig gute Nacht, und ich sah zu, wie sie mit ihrem Geschenk ins Haus ging und winkte, als sie die Tür schloß. Prinzessin Casilia, dachte ich, Sie sind ein schwerer Hemmschuh, aber ich habe versprochen, Ihre Nichte heimzubringen, und da ist sie; und ich weiß noch nicht einmal, was Danielle möchte, ich kann ihre Gedanken nicht lesen, und in Worten hat sie’s mir nicht gesagt, und morgen ... morgen frage ich vielleicht.

Früh am nächsten Tag fuhr ich nach Selsey an der Südküste und schlug Saul Bradley im örtlichen Telefonbuch nach, wo er mitsamt Adresse angegeben war, 15 Sea View Lane.

Sein Haus hatte zwei Stockwerke und sah eher nach Vorstadt als nach Küste aus mit seinen imitierten Tudor-balken an den cremefarben verputzten Giebeln. Die imitierte Tudortür wurde, als ich klingelte, von einer grauhaarigen, bebrillten, mütterlichen Frau in einem geblümten Overall geöffnet, und ich konnte gebratenen Speck riechen.

»Hugh?« sagte sie als Antwort auf meine Frage. »Ja, der ist noch hier, aber er ist noch im Bett. Sie wissen, wie Jungs sind.«

»Ich werde warten«, sagte ich.

Sie sah unsicher drein.

»Ich möchte ihn wirklich gern sprechen«, sagte ich.

»Kommen Sie besser rein«, sagte sie. »Ich frage mal meinen Mann. Ich glaube, der rasiert sich gerade, aber er wird bald runterkommen.«

Sie führte mich durch den Hausflur in eine ziemlich kleine Küche ganz aus gelben und weißen Kacheln, mit einfallendem Sonnenlicht.

»Ein Bekannter von Hugh?« sagte sie.

»Ja ... Ich habe mich gestern mit ihm unterhalten.«

Sie schüttelte bekümmert den Kopf. »Es ist alles so verfahren. Er hätte nicht zum Pferderennen gehen sollen. Er war unglücklicher denn je, als er wiederkam.«

»Ich werde mein Bestes tun«, sagte ich, »um das zu ändern.«

Sie widmete sich dem Frühstück, das sie in der Pfanne briet, wendete den Speck mit einem Holzlöffel. »Sagten Sie, Sie heißen Fielding?« Sie drehte sich vom Herd herum, den Löffel in der Luft, die Bewegung erstarrt. »Kit Fielding? Der Jockey?«

»Ja.«

Sie wußte nicht recht weiter, was nur verständlich war. Sie sagte unsicher: »Ich gieße einen Tee auf«, und ich sagte, ich würde warten, bis ich ihren Mann und Hugh gesprochen hätte.

Ihr Mann kam neugierig in die Küche, als er meine Stimme hörte, und erkannte mich auf einen Blick. Bei einem Sportredakteur lag das nahe. Bunty Irelands früherer Chef war wohlbeleibt, mit einer Glatze, klugen Augen und einer wie vom Bier sonor gewordenen Stimme.

Meine Anwesenheit verblüffte ihn ebenso wie seine Frau.

»Sie möchten Hugh helfen? Das geht sicher in Ordnung. Bill Vaughnley hat vor einigen Tagen lobend von Ihnen gesprochen. Ich hole Hugh mal aus den Federn. Morgens ist nichts los mit ihm. Möchten Sie frühstücken?«

Ich zögerte.

»Das alte Lied, ja?« Er kicherte. »Ihr kommt um vor Hunger und wagt doch kein Gramm zuzunehmen.«

Er ging nach oben und kam bald darauf wieder, und etwas später folgte ihm Hugh mit zerzausten Haaren, in Jeans und T-Shirt, die Augen verquollen vom Schlaf.

»Hallo«, sagte er verdutzt. »Wie haben Sie mich gefunden?«

»Sie sagten mir doch, wo Sie wohnen.«

»So? Ja, wahrscheinlich. Ehm ... tut mir leid und alles, aber was wollen Sie?«

Ich wollte, sagte ich, mit ihm rausfahren, um einiges zu besprechen und zu sehen, wie ihm geholfen werden könne, und ohne weiteres Zureden kam er mit.

Er schien sich nicht darüber klar zu sein, wie sein Vater am Vortag dafür gesorgt hatte, daß er nicht weiter mit mir sprach. Es war zu raffiniert gemacht, als daß er es, besonders in seiner Angst, hätte merken können.

»Ihr Vater hat Sie wieder hergeschickt«, sagte ich, als wir die Sea View Lane entlangfuhren. »Wollte er Sie nicht nach Hause lassen?«

»Es ist so ungerecht.« In seiner Stimme lag Selbstmitleid, aber auch Billigung. Das Exil war verdient, dachte ich, und Hugh wußte es.

»Erzählen Sie mal«, sagte ich.

»Na ja, Sie kennen ihn. Es ist Ihr Schwiegervater. Ich meine, Quatsch, es ist der Schwiegervater Ihrer Schwester.«

Ich holte tief Luft. »Maynard Allardeck.«

»Ja. Durch ihn ist das alles gekommen. Ich würde ihn umbringen, wenn ich könnte.«

Ich warf einen Blick auf das gutaussehende, unreife Gesicht, auf die Grübchen. Schon das Wort »umbringen« klang merkwürdig aus diesem Mund.

»Ich meine«, sagte er bedrückt, »er ist Mitglied vom Jockey-Club. Angesehen. Ich dachte, er sei in Ordnung. Ich meine, er und Dad sind Schirmherren der gleichen Stiftung. Wie konnte ich das ahnen? Wie konnte ich?«

»Sie konnten nicht«, sagte ich. »Was ist passiert?«

»Er hat mich mit seinem Buchmacher bekannt gemacht.«

Was auch immer ich zu hören erwartet hatte, das war es nicht. Ich ließ den Wagen auf einen Parkplatz rollen, der um diese Zeit, an einem Sonntagmorgen im November, verlassen war. Von fern waren Kieselstrand und kümmerliches Gras vor einem in der frühen Sonne glitzernden Meeresstreif zu sehen, und in der Nähe knapp viertausend Quadratmeter Asphalt, gesäumt von einer niedrigen Backsteinmauer, und eine verrammelte sommerliche Eisbude.

»Ich habe eine Videokamera«, sagte ich. »Wenn Sie Lust haben, da hineinzusprechen, zeige ich das Band Ihrem Vater, damit er mal Ihre Seite der Angelegenheit hört, und versuche, ob ich ihn dazu bringen kann, daß er Sie nach Hause läßt.«

»Das würden Sie tun?« sagte er hoffnungsvoll.

»Ja.«

Ich langte hinter meinen Sitz und nahm die Tasche mit der Kamera. »Setzen wir uns auf die Mauer«, sagte ich. »Es ist vielleicht ein bißchen kühl, aber da kriegen wir ein besseres Bild als im Auto.«

Er erhob keine Einwände, sondern kam mit und setzte sich auf die Mauer. Ich stützte die Kamera auf mein hochgestelltes Knie, fing sein Gesicht im Sucher ein und bat ihn, direkt ins Objektiv zu sprechen.

»Sagen Sie das noch mal«, soufflierte ich, »von dem Buchmacher.«

»Ich war eines Tages mit meinen Eltern beim Pferderennen und wollte wetten, und ein Buchmacher fing an zu zetern, ich sei nicht alt genug. Und Maynard Allardeck war da und meinte, das ginge schon klar, er werde mich mit seinem eigenen Buchmacher bekannt machen.«

»Was heißt, er war da?«

Hugh legte die Stirn in Falten. »Er stand da halt. Ich meine, ich wußte nicht, wer er war, aber er erklärte, er sei ein Freund von meinem Vater.«

»Und wie alt waren Sie, und wann ist das passiert?«

»Das ist ja der Hammer dabei. Ich war zwanzig. Ich meine, man kann ab seinem achtzehnten Geburtstag wetten. Seh ich aus wie siebzehn?«

»Nein«, sagte ich wahrheitsgemäß, »Sie sehen aus wie zwanzig.«

»Im August bin ich sogar einundzwanzig geworden. Maynard Allardeck lernte ich im April kennen.«

»Seitdem haben Sie dann bei Maynard Allardecks Buchmacher gewettet ... als Stammkunde?«

»Na ja«, sagte Hugh unglücklich. »Er hat es mir so leicht gemacht, war immer so freundlich und anscheinend nie besorgt, wenn ich seine Rechnungen nicht zahlte.«

»Der Buchmacher muß erst noch geboren werden, der nicht hinter seinem Geld her ist.«

»Der hier war’s nicht«, sagte Hugh abwehrend. »Ich habe mich immer entschuldigt. Laß nur, meinte er, ich weiß doch, daß du mich eines Tages bezahlst, wenn du kannst, und gewitzelt hat er ... und mich wieder wetten lassen.«

»Er hat Sie wetten lassen, bis Sie stark verschuldet waren?«

»Ja. Mich ermutigt. Ich meine, wahrscheinlich hätte ich es wissen müssen, aber er war so freundlich, Sie verstehen. Den ganzen Sommer lang ... Flachrennen, jeden Tag ... per Telefon.«

»Und bevor das alles passierte«, sagte ich, »hatten Sie da oft gewettet?«

»Ich habe schon immer gern gewettet. Die Formen studiert. Die guten Sachen rausgepickt, so nach Gefühl. Viel gebracht hat es nie, aber wahrscheinlich ist alles Geld, das ich je hatte, auf Pferde gegangen. Hab andere am Totalisator für mich setzen lassen, als ich zehn war, und so weiter. Schon immer. Ich meine, natürlich hab ich auch oft gewonnen. Supergewinne, ziemlich oft.«

»Mm.«

»Auf dem Rennplatz wettet jeder«, sagte er. »Wofür geht man sonst hin? Ich meine, gegen ein Spielchen ist doch nichts einzuwenden, das tun sie alle. Es macht Spaß.«

»Mm«, sagte ich wieder. »Aber Sie haben jeden Tag gewettet, mehrere Wetten pro Tag, obwohl Sie nicht hingegangen sind.« »Irgendwie, ja.«

»Und dann, eines Tages«, sagte ich, »hörte der Spaß auf?«

»Beim Hove Stakes in Brighton«, sagte er. »Im September.«

»Was war damit?«

»Drei Renner. Slateroof absolut unschlagbar. Maynard Allardeck sagte mir das. Bedien dich, sagte er. Mach deine Verluste wett.«

»Wann hat er es Ihnen gesagt?«

»Wenige Tage vorher. Bei den Rennen in Ascot. Ich hatte meine Eltern begleitet, und er war zufällig auch da.«

»Und sind Sie nach Brighton gefahren?«

»Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Rief den Buchmacher an. Er sagte, einen günstigen Preis kann er mir nicht geben, Slateroof sei der Tip, das wüßte jeder. Fünf zu eins dafür. Wenn ich zwanzig setzte, könnte ich vier gewinnen.«

»Sie haben also zwanzig Pfund gewettet?«

»Nein.« Hugh sah überrascht drein. »Zwanzigtausend.«

»Zwanzig ... tausend.« Ich wahrte einen ruhigen Ton, nüchtern. »War das, ehm, zu der Zeit ein hoher Einsatz für Sie?«

»Ziemlich hoch. Ich meine, mit Fünfern kann man ja nicht viel gewinnen, oder?«

Man konnte aber auch nicht viel verlieren, dachte ich. »Was war normal?«

»Zwischen tausend und Zwanzigtausend. Ich meine, da kam ich so nach und nach hin. Ich gewöhnte mich dran. Maynard Allardeck sagte, man muß im großen denken. Ich hab mir nie überlegt, wieviel das eigentlich war. Es waren bloß Zahlen.« Er schwieg unglücklich. »Ich weiß, es hört sich blöd an, wenn ich das jetzt sage, aber mir kam das alles nicht real vor. Ich meine, ich mußte ja nie was berappen. Lief alles über Papier. Wenn ich gewann, fühlte ich mich riesig. Wenn ich verlor, hat es mich eigentlich nicht gekümmert. Sie werden das wohl nicht verstehen. Dad verstand es auch nicht. Es war ihm unbegreiflich, wie ich so dumm gewesen sein konnte. Aber mir kam es einfach wie ein Spiel vor ... und alle lächelten ...«

»Slateroof wurde also besiegt?«

»Er ist nicht mal gestartet. Er blieb plattfüßig in den Boxen stehen.«

»Ach ja«, sagte ich. »Ich erinnere mich. Davon habe ich gelesen. Es gab eine Untersuchung, und der Jockey erhielt eine Geldstrafe.«

»Ja, aber die Wetten standen natürlich.«

»Wie ging es dann weiter?« sagte ich.

»Ich bekam die fürchterliche Rechnung von dem Buchmacher. Er habe alles zusammengezählt, sagte er, und es scheine ein bißchen auszuufern und er hätte gern sein Geld. Ich meine, das Ding war seitenlang.«

»Eine Aufstellung von sämtlichen Wetten, die Sie bei ihm abgeschlossen hatten?«

»Ja, richtig. Gewinner und Verlierer. Viel mehr Verlierer. Ich meine, da waren einige Verlierer, auf die gesetzt zu haben ich mich gar nicht erinnern konnte, obwohl er schwor, ich hätte. Er sagte, er würde es mir anhand seiner Unterlagen nachweisen, aber er fände das ein kleinliches Ansinnen von mir, wo er doch so entgegenkommend und geduldig gewesen sei.« Hugh schluckte. »Ich weiß nicht, ob er mich beschummelt hat, ich weiß es einfach nicht. Ich meine, ich hab wirklich häufiger im gleichen Rennen auf zwei Pferde gesetzt, das stimmt, aber mir war nicht klar, daß ich es so oft getan hatte.«

»Und Sie selbst hatten nicht darüber Buch geführt, wieviel Sie gesetzt hatten und auf was?«

»Hab ich nicht dran gedacht. Ich meine, das konnte ich mir doch merken. Also ich dachte, ich könnte es.«

»Mm. Tja, was dann?«

»Maynard Allardeck rief mich zu Hause an und sagte, er hätte von unserem gemeinsamen Buchmacher gehört, ich sei in Schwierigkeiten. Ob er nicht helfen könne. Er fühle sich irgendwie verantwortlich, weil er mich sozusagen da eingeführt habe. Er sagte, wir könnten uns irgendwo treffen, und vielleicht könne er die eine oder andere Lösung vorschlagen. Also traf ich ihn zum Lunch in einem Restaurant in London, und wir besprachen alles. Er meinte, ich solle meinem Vater beichten und meine Schulden von ihm bezahlen lassen, aber ich sagte, das könnte ich nicht, er würde sich viel zu sehr ärgern. Dad hatte ja keine Ahnung, daß ich soviel spielte, er hielt mir immer Vorträge über den sorgsamen Umgang mit Geld. Und ich wollte nicht, daß er sich aufregt. Also, es klingt vielleicht albern, aber der Grund war nicht eigentlich Angst, sondern, na ja, so was wie Liebe eigentlich, nur ist das schwer zu erklären.«

»Ja«, sagte ich. »Erzählen Sie.«

»Maynard Allardeck meinte, kein Grund zur Beunruhigung, er könne verstehen, warum ich meinem Vater nichts sagen wollte, es werfe ein gutes Licht auf mich, sagte er, und er werde mir das Geld selber leihen, ich könnte es ihm dann langsam zurückzahlen, und er werde nur ein bißchen draufschlagen, wenn ich damit einverstanden sei. Und natürlich war ich einverstanden. Ich war so unheimlich erleichtert. Ich hab ihm tausendmal gedankt.«

»Und Maynard Allardeck hat den Buchmacher bezahlt?«

»Ja«, nickte Hugh. »Ich bekam eine Schlußabrechnung von ihm, wo drunterstand >Betrag dankend erhaltene, und einen Brief, in dem er schrieb, ich solle das Wetten am besten erst mal bleibenlassen, aber wenn ich ihn in Zukunft noch mal brauchte, stünde er mir wieder zur Verfügung. Na, ich fand das sehr nett und anständig, oder meinen Sie nicht?«

»Mm«, sagte ich trocken. »Und nach einer Weile hat Ihnen Maynard Allardeck dann erzählt, er sei selber in Geldnot und müsse den Kredit einfordern?«

»Ja«, sagte Hugh erstaunt. »Woher wissen Sie das? Er war so verlegen und voller Entschuldigungen, daß er mir fast leid tat, obwohl er mich schrecklich in die Klemme brachte. Schrecklich. Und dann schlug er einen Ausweg vor, der war so leicht . so einfach . wie wenn die Sonne aufgeht. Ich ahnte nicht, warum ich nicht von selbst darauf gekommen war.«

»Hugh«, fragte ich langsam, »was hatten Sie, das er haben wollte?«

»Meine Anteile am Towncrier«, sagte er.

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