Sauber gemacht«, sagte Pollgate zu Lord Vaughnley.
»Es hat gut geklappt«, erwiderte er, wobei sein großer Kopf nickte. Er stand immer noch breit vor der Tür, und Jay Erskine stand mit verschränkten Armen vor den anderen.
Da waren Stühle und Tische rings an den grünen Wänden, auf den weißen Tafeltüchern Schüsseln mit Nüssen und Aschenbecher voller Zigarettenkippen. Überall Sektgläser, manche noch mit perlendem Inhalt. Es würden Kellner kommen, dachte ich, um den Abfall wegzuräumen.
»Wir sind ungestört«, erklärte Pollgate Lord Vaughnley. »Die Kein-Zutritt-Schilder hängen an beiden Türen, und Mario sagt, wir haben den Raum für eine Stunde.«
»Der Lunch wird vorher sein«, sagte Lord Vaughnley. »Die Filme dauern höchstens eine halbe Stunde.«
»Er geht nicht zum Lunch«, sagte Pollgate und meinte mich.
»Ehm nein, vielleicht nicht. Aber ich sollte dabeisein.«
Ich dachte dumpf: Kriegt mich erst mal.
Es hatte fünf Tage erfordert ... und die Prinzessin.
»Wir bekommen von Ihnen«, sagte Pollgate direkt zu mir, »die Abhöranlage und das Eigentum meiner Journalisten. Und damit hat sich der Fall.«
Die Macht dieses Mannes war derart, daß die Worte an sich schon eine Drohung darstellten. Was passieren würde,
wenn ich mich nicht fügte, blieb unerwähnt. Mein Gehorsam wurde vorausgesetzt; keine Diskussion.
Er ging zu Jay Erskine hinüber, zog einen flachen Kasten aus der Tasche und nahm Erskines Posten an der Tür ein.
Jay Erskines Grinsen wurde breiter und schiefer. Mich störten ungemein die kalten Augen, der hängende Schnurrbart, seine herzlose Feder und sein gewalttätiges Wesen, und am meisten störte mich die Botschaft in seiner höhnischen Grimasse.
Pollgate öffnete den Kasten und hielt ihn Jay Erskine hin, der daraus etwas hervorholte, das aussah wie die Fernbedienung für einen Fernseher. Er legte es in seiner Hand zurecht und ging in meine Richtung. Er kam ohne die Vorsicht, die man hätte erwarten können, nachdem ich ihn schon einmal quer durch ein Zimmer geschleudert hatte, und er hielt das Fernbedienungsding glatt zwischen die offenen Revers meiner Jacke, auf mein Hemd.
Ich spürte etwas wie einen Schlag, und im nächsten Moment lag ich flach auf dem Rücken am Boden, völlig desorientiert, im unklaren darüber, wo ich mich befand oder was passiert war.
Jay Erskine und Lord Vaughnley bückten sich, nahmen meine Arme, halfen mir hoch und setzten mich auf einen Stuhl. Der Stuhl hatte Armlehnen. Ich hielt mich daran fest. Ich fühlte mich benommen und begriff nicht, warum.
Jay Erskine lächelte eklig und setzte den schwarzen Gegenstand wieder auf mein Hemd.
Der Schlag kam diesmal zugleich mit einem Brennen. Und so rasch. Keine Zeit zum Atemholen.
Ich wäre aus dem Stuhl geflogen, hätten sie mich nicht darauf festgehalten. Mein Verstand war sofort in alle Winde verstreut. Meine Muskeln arbeiteten nicht. Ich war mir nicht sicher, wer ich war und wo ich war, noch kümmerte es mich. Zeit verging. Zeit war relativ. Jedenfalls vergingen Minuten. Nicht gerade schnell.
Der Nebel in meinem Hirn lichtete sich allmählich so weit, daß ich wußte, ich saß auf einem Stuhl, und daß ich wußte, die Leute um mich herum waren Nestor Pollgate, Lord Vaughnley und Jay Erskine.
»Gut«, sagte Pollgate. »Können Sie mich hören?«
Ich sagte nach einer Pause: »Ja.« Es klang nicht nach meiner Stimme. Mehr wie ein Krächzen.
»Sie geben uns die Lauschanlage«, sagte er. »Und die anderen Sachen.«
Irgendeine Art von Strom, dachte ich undeutlich. Die Schläge waren Stromstöße. Wie wenn man einen kalten Türknauf aus Metall anfaßt, nachdem man über einen Nylonteppich gegangen ist, aber ungeheuer verstärkt.
»Haben Sie verstanden?«
Ich antwortete nicht. Ich hatte verstanden, aber ich wußte nicht, ob ich ihm die Sachen geben würde.
»Wo sind sie?« sagte er.
Zum Teufel damit, dachte ich.
»Wo sind sie?«
Schweigen.
Ich sah noch nicht einmal, wie Jay Erskine zum dritten Mal die Hand gegen mich hob. Ich verspürte einen gewaltigen, brennenden Ruck und schoß ins All, trieb mehrere Jahrtausende in einem richtungslosen Zwischenreich, dem Alltagsbewußtsein enthoben, lebte wie im Traumzustand, willenlos schwebend. Ich konnte sie irgendwie sehen, aber ich wußte nicht, wer sie waren. Ich wußte gar nichts. Ich existierte. Ich hatte keine Form.
Was immer getan würde, ganz gleich, wohin sie mich bringen würden, welches abscheuliche Verbrechen sie mir auch anhängen mochten, ich konnte keinen Widerstand leisten.
Langsam kam das Denken zurück. Irgendwo waren Verbrennungen, schmerzhaft. Ich hörte die Stimme von Lord Vaughnley etwas sagen und Pollgate antworten: »Fünftausend Volt.«
»Er ist wach«, sagte Erskine.
Lord Vaughnley beugte sich über mich, sein Gesicht nah und besorgt. »Ist er auch bestimmt in Ordnung?«
»Ja«, sagte Pollgate. »Das gibt keine bleibenden Schäden.«
Schönen Dank dafür, dachte ich sarkastisch. Mir war schwindlig und übel. Schon gut, daß ich wegen der Aussicht auf den Lunch das Frühstück ausgelassen hatte.
Pollgate sah auf seine Armbanduhr und schüttelte den Kopf. »Er war zwölf Minuten weg. Ein 3-Sekunden-Schock ist zuviel. Die zwei Sekunden sind besser, aber es dauert zu lang. Schon zwanzig Minuten.« Er starrte böse auf mich herunter. »Mehr Zeit kann ich nicht verplempern. Sie geben mir jetzt sofort die Sachen.«
Jetzt war er es, der das elektrische Gerät hielt, nicht Erskine.
Ich dachte, ich könnte sprechen. Versuchte es. Irgend etwas kam auch: das gleiche Gekrächz. Ich sagte: »Das dauert ... Tage.«
Es war kein Heroismus. Ich dachte nebelhaft, wenn sie mir abkauften, daß es Tage dauerte, würden sie ihre Bemühungen an Ort und Stelle aufgeben. Mit meiner Logik war es in dem Moment nicht weit her.
Pollgate trat auf Reichweite an mich heran und ließ mich die 5000 Volt von nahem besehen.
»Betäubungsgerät«, sagte er.
Zwei flache Metallspitzen ragten fünf Zentimeter voneinander entfernt aus dem flachen Plastikgehäuse hervor. Er drückte auf irgendeine Taste, und zwischen den Spitzen zündete ein elektrischer Funke, lang wie ein Daumen, leuchtend blau, dick und knisternd.
Der Funke sprühte drei lange, schmerzverheißende Sekunden und verschwand so schnell, wie er gekommen war.
Ich blickte von der Betäubungswaffe zu Pollgates Gesicht, starrte direkt in die glitzernden Knopfaugen.
»Wochen«, sagte ich.
Es machte ihn eindeutig ratlos. »Geben Sie uns die Lauschanlage«, sagte er, und er schien genau wie ich einen langen, ermüdenden Willenskampf vorauszusehen, von dem ich allerdings wohl die Hälfte verschlafen würde.
Lord Vaughnley sagte unbehaglich zu Pollgate: »Sie können das nicht fortführen.«
Eine gewisse Klarheit kehrte in meinen Verstand zurück. Der Willenskampf, dachte ich dankbar, mußte nicht sein.
»Er rückt die Sachen heraus«, sagte Pollgate stur. »Ich lasse mich von so einem Deppen nicht übervorteilen.« Stolz, Gesichtsverlust, all die tödlichen Unwägbarkeiten.
Lord Vaughnley sah nervös auf mich herunter.
»Ich gebe Ihnen etwas Besseres«, sagte ich zu ihm.
»Was?«
Meine Stimme war fester. Weniger heiser, weniger schleppend. Ich bewegte mich auf dem Sessel, Arme und Beine kamen wieder ins Gleichgewicht. Das alarmierte offenbar Jay Erskine, aber ich war immer noch weit davon entfernt, Judo zu spielen.
»Was wollen Sie uns geben?« fragte Lord Vaughnley.
Ich konzentrierte mich darauf, meine Kehle und Zunge zu steuern. »Es ist in Newmarket«, sagte ich. »Da müssen wir hin. Und zwar jetzt, heute nachmittag.«
Pollgate sagte gereizt: »Das ist doch lächerlich.«
»Ich gebe Ihnen«, sagte ich zu Vaughnley, »Maynard Allardeck.«
Ein kurzer Stromstoß hätte keine größere Wirkung haben können.
»Was meinen Sie damit?« sagte er; nicht verwirrt, sondern hoffnungsvoll.
»Auf dem Präsentierteller«, sagte ich. »In Ihre Gewalt. Wo Sie ihn haben wollen, oder nicht?«
Sie wollten ihn beide. Ich konnte es Pollgate genauso deutlich ansehen wie Lord Vaughnley. In gewisser Hinsicht hatte ich es wohl geahnt.
Jay Erskine sagte aggressiv: »Sind denn unsere Sachen in Newmarket?«
Ich antwortete mit Mühe: »Da haben Sie sie liegengelassen.«
»Also gut.«
Er schien zu glauben, daß der Zweck ihres Unternehmens erfüllt war, und ich belehrte ihn keines Besseren.
Nestor Pollgate sagte: »Jay, hol den Wagen zum Seiteneingang, ja?«, und der gräßliche Erskine zog ab.
Pollgate und Lord Vaughnley kamen überein, daß Mario, wer immer er war, den Sponsoren von Icefall ausrichten solle, ihre Gäste nähmen an dem Lunch nun doch nicht teil, da ich eine Gallenkolik bekommen hätte und Lord Vaughnley mir behilflich sei. »Das kann Mario ihnen aber erst sagen, wenn wir weg sind«, meinte Lord Vaughnley, »sonst haben Sie im Nu meine Frau und wahrscheinlich auch die Prinzessin hier draußen, um ihn zu bemuttern.«
Ich saß da und hörte teilnahmslos zu, bewegungsunfähig, ohne mich bewegen zu wollen, nicht mehr schwindlig, sondern klar im Kopf, ungemein friedlich und völlig ohne Energie.
Nach einer Weile kam Jay Erskine mit seinem aufreizenden Grinsen zurück.
»Können Sie gehen?« fragte mich Pollgate.
Ich sagte »Ja« und stand auf, und wir gingen zur Seitentür hinaus, durch einen kurzen Flur und irgendeine vergoldete, mit einem dicken Teppich belegte Hintertreppe hinunter, die zweifelsohne manchem Guineas-Besucher ein diskretes Kommen und Gehen unter Ausschluß der Öffentlichkeit im Foyer ermöglichte.
Ich zitterte die Treppe hinunter, hielt mich am Geländer fest.
»Geht’s Ihnen gut?« sagte Lord Vaughnley besorgt und schob stützend die Hand unter meinen Ellbogen.
Ich warf ihm einen Blick zu. Wie er denken konnte, es ginge mir gut, war mir ein Rätsel. Vielleicht erinnerte er sich, daß ich an Wunden, Stürze, Hirnerschütterungen gewöhnt war; aber Prellungen und Brüche waren etwas anderes als das kleine Feuerwerk von heute.
»Mir geht’s gut«, sagte ich trotzdem, denn soweit es darauf ankam, stimmte es, und wir gelangten ohne Zwischenfall nach unten. Dort hielt ich an. Die Ausgangstür lag offen vor uns, rechts erstreckte sich ein Gang ins Hausinnere.
»Weiter.« Pollgate deutete auf die Tür. »Wenn wir gehen wollen, sollten wir gehen.«
»Mein Anorak«, sagte ich, »ist in der Garderobe.« Ich zog die Marke aus meiner Tasche. »Anorak«, sagte ich.
»Ich hole ihn.« Lord Vaughnley nahm die Marke an sich. »Und ich spreche mit Mario. Warten Sie im Wagen auf mich.«
Es war ein großer Wagen. Jay Erskine übernahm das Steuer. Nestor Pollgate saß wachsam neben mir im Fond, und Lord Vaughnley setzte sich, als er zurückkam, nach vorn.
»Ihr Anorak«, sagte er, hielt ihn mir hin, und ich bedankte mich und legte ihn zu meinen Füßen auf den Boden.
»Die Filme von den Rennen sind gerade rum, sagt Mario«, berichtete er Pollgate. »Er saust gleich rein und entschuldigt uns. Es ist alles geregelt. Auf geht’s.«
Wir brauchten eine Ewigkeit, um aus London herauszukommen, teils wegen des dichten Verkehrs, hauptsächlich aber, weil Jay Erskine vor lauter Ungeduld ein miserabler Fahrer war und ständig die Bremsen schindete. Anderthalb Stunden bis Newmarket bei diesem Tempo - und bis dahin mußte es mir bessergehen.
Keiner redete viel. Jay Erskine verschloß zentral die Türen, und Nestor Pollgate packte den Kasten mit dem Betäubungsgerät in seine rechte Jackentasche, versteckt, aber erreichbar. Ich saß mit gemischten Gefühlen neben ihm, halb Gefangener, halb Zirkusdirektor; fuhr bereitwillig und doch unter Drohungen mit, wartete darauf, daß meine körperlichen, geistigen, seelischen Kräfte wiederkehrten.
Betäubungswaffen, dachte ich. Ich hatte schon von ihnen gehört, noch nie zuvor eine gesehen. Ursprünglich von der amerikanischen Polizei verwendet, um gefährliche Gewaltverbrecher auszuschalten, ohne auf sie zu schießen. Sofort wirksam. Zuverlässig. Sieh einer an.
Ich wußte aus längst vergangenen Physikstunden, daß man Funken erzeugen konnte, indem man piezoelektrische Kristalle zusammenpreßte, wie bei einfachen Gasanzündern. Vielleicht waren diese Betäubungswaffen ähnlich, nur wesentlich stärker. Oder auch nicht. Vielleicht würde ich jemand fragen. Oder auch nicht. Fünftausend Volt ...
Ich schaute nachdenklich auf Lord Vaughnleys Hinterkopf, fragte mich, was in ihm vorging. Er war mit Eifer dabei, das stand fest. Sie hatten sich zu der Fahrt bereit erklärt wie Dürstende in einer großen Dürre. Sie fuhren mit, ohne genau zu wissen, warum, ohne Auskunft zu verlangen. Alles, was Maynard Allardeck schaden konnte, mußte in ihren Augen wert sein, getan zu werden. Deshalb hatte Lord Vaughnley mich offenbar zu Anfang auch so gern mit Rose Quince bekannt gemacht, mich auf die Akten losgelassen. Vielleicht hatte er sich gedacht, die Zerstörung von Maynards Glaubwürdigkeit könnte durch ein paar Nadelstiche von meiner Seite nur gefördert werden.
Ich dämmerte, wachte erschrocken auf, fand Pollgates Gesicht mir zugewandt, seine Augen auf mich geheftet. Sie waren ausdruckslos, allenfalls verwirrt.
In meinem Stoffpuppenzustand fiel mir nichts Sinnvolles zu sagen ein, darum schwieg ich, und während er dann den Kopf abwandte und aus dem Fenster sah, war ich mir durchaus noch seiner Stärke und seiner Rücksichtslosigkeit bewußt. Er konnte mein Leben ruinieren, wenn ich die nächsten Stunden falsch anging.
Ich dachte daran, wie sie ihre Falle im Guineas aufgezogen hatten.
Icefalls Sponsoren auf meinem Anrufbeantworter, mit der Einladung zum Lunch. Die Sponsoren hatten nicht gesagt, wo, aber sie hatten gesagt, morgen, Dienstag: heute. Die Nachricht mußte belauscht, an Pollgate übermittelt und von ihm Lord Vaughnley weitergeleitet worden sein, der dann wohl sagte: Kinderleicht, mein Lieber, ich tue mich mit den Sponsoren zusammen, das können die kaum ablehnen, und Kit Fielding erscheint ganz bestimmt, der Prinzessin zuliebe würde er alles tun ...
Pollgate hatte das Guineas gekannt. Mario gekannt. Gewußt, daß er für eine Stunde einen gesonderten Raum bekommen konnte. Solche Möglichkeiten kannte er mit Sicherheit.
Vielleicht hatte Lord Vaughnley den Sponsoren das Guineas vorgeschlagen. Vielleicht war das auch nicht nötig gewesen. Es gab oft Rennsportfeierlichkeiten im Guineas. Die Sponsoren konnten es ohne weiteres von sich aus gewählt haben, weil sie wußten, daß man dort die Filme zeigen konnte.
Nutzlose Gedanken. Wie immer es geplant worden war, es hatte geklappt.
Ich dachte auch über die Allianz zwischen Lord Vaughn-ley und Nestor Pollgate nach, Verleger zweier rivalisierender Zeitungen. Im Druck fuhren sie einander ständig an die Kehle, und privat handelten sie gemeinsam.
Verbündete, keine Freunde. Sie gingen nicht unbefangen miteinander um, wie es Freunde taten.
Am 1. Oktober hatte Lord Vaughnley den Brief der wohltätigen Organisation unterzeichnet, die Maynard für die Adelsverleihung vorschlug - ihn vielleicht beiläufig unterzeichnet, ohne den Mann gut zu kennen.
Später im Oktober hatte sein Sohn Hugh dann den Handel mit Maynard eingestanden, und Lord Vaughnley hatte empört versucht, Maynards Adelung zu hintertreiben, indem er Pollgate und seine Flag auf Zerstörungskurs brachte, denn das war eine Spezialität der Flag ... und Jay Erskine, der einmal für Lord Vaughnley gearbeitet hatte, saß in der Flag-Redaktion und war bekanntlich dem einen oder anderen illegalen Einsatz nicht abgeneigt.
Ich wußte nicht, wieso Lord Vaughnley sich an Pollgate gewandt, von ihm Hilfe erwartet hatte. Irgendwo zwischen ihnen gab es einen Grund. Ich glaubte nicht, daß ich eine Antwort bekommen würde, wenn ich fragte.
Lord Vaughnley, dachte ich, hätte der Stiftung sagen können, er wolle seine Empfehlung für Maynards Adelung zurücknehmen, doch dann hätten sie womöglich entgegnet: Tut uns sehr leid, Ihr Sohn war ein Narr, aber Maynard hat ihm geholfen. Als Zeitungsmann mochten Lord Vaughnley ein paar vernichtende Artikel sicherer erschienen sein - und außerdem befriedigender für den Rachedurst.
Davor allerdings war er es vermutlich auch gewesen, der zu den Produzenten von Handel heute gegangen war, der gesagt hatte, grabt aus, was ihr könnt, über Allardeck, ich bezahle es euch: Und der Regisseur selbst hatte ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht, da er Rose Quince zufolge Geld dafür nahm, daß er seinen Opfern aus der Klemme half.
Die Handel-heute-Sendung über Maynard war als reine Sympathiewerbung ausgestrahlt worden, ganz entgegen dem Plan. Erst danach, dachte ich, hatte Lord Vaughnley sich an Pollgate gewandt.
Ich schloß die Augen und ließ mich treiben. Der Wagen summte. Sie hatten die Heizung an. Ich dachte an Pferde; ehrlicher als Menschen. Morgen sollte ich in Haydock an den Start. Gott sei Dank war der Rennbahnarzt nicht im Guineas gewesen.
Übernahmen, dachte ich unzusammenhängend. Ständig wehrt man Übernahmen ab.
Pollgate würde mir ein Grab schaufeln, wenn ich versagte.
Gegen Ende der Fahrt kehrten die geistigen und körperlichen Kräfte allmählich zurück, wie auflaufende Flut, und das war ein außerordentliches Gefühl. Ich hatte nicht geahnt, wieviel Kraft ich besaß, bis ich sie verloren hatte und ihre Wiederkehr erlebte. Ähnlich wie man die Schwere einer Krankheit erst erfaßte, wenn man wieder gesund war.
Ich streckte mich dankbar mit der neu geschöpften Energie in den Muskeln, atmete tief und sammelte mich. Auf irgendeine Weise spürte Pollgate, für den das Bewußtsein von Stärke normal sein mußte, das Aufladen meiner inneren Batterien und setzte sich gerader.
Erskine fuhr um fünf Minuten nach drei in Bobbys Stallhof ein, und obwohl das genau die Zeit für eine Ruhepause im Leben der Pferde war, schien alles voller Leute und Bewegung zu sein. Mit dem gewohnten Ruck brachte Erskine das Auto zum Stehen. Wir stiegen aus.
Holly sah gerade zerstreut in unsere Richtung, und neben drei oder vier Wagen stand da ein Pferdehänger mit heruntergelassener Rampe, und Pfleger zogen mit Halftern herum.
Da war außerdem, zu meiner ungläubigen Überraschung, Jermyn Graves.
Holly kam zu mir herübergelaufen und sagte: »Tu was, das ist ein Verrückter, und Bobby ist mit Maynard im Haus. Der kam schon früher, und sie haben sich angebrüllt, da mag ich nicht reingehen, und Gott sei Dank, daß du hier bist, Mensch, so ein Affentheater.«
Jermyn Graves sah mich und kam Holly hinterher. Seine Blicke schweiften über Pollgate, Jay Erskine und Lord Vaughnley, und er sagte streitlustig: »Wen haben wir denn da Schönes? Hören Sie gut zu, Fielding, mir langt’s mit Ihren Mätzchen, ich bin gekommen, um meine Pferde zu holen.«
Ich legte den Arm um Holly. »Ist sein Scheck durch?« fragte ich sie.
»Verdammt noch mal, ja«, sagte Graves.
Holly nickte. »Der Futterhändler gab uns Bescheid. Der Scheck ist gestern eingelöst worden. Er hat sein Geld.« »Um was geht es hier eigentlich?« sagte Pollgate mit schwerer Stimme.
»Halten Sie sich da raus«, sagte Graves barsch. »Ich rede mit Ihnen, Fielding. Geben Sie mir meine verdammten Pferde, sonst schicke ich Ihnen die Polizei auf den Hals.«
»Beruhigen Sie sich, Mr. Graves«, sagte ich. »Sie sollen Ihre Pferde bekommen.«
»Sie sind nicht in ihren Boxen.« Aus seinen Augen funkelte der ganze alte Zorn; und mir kam der Gedanke, daß seine völlige Gleichgültigkeit gegenüber Pollgate grandios war. Vielleicht mußte man wissen, vor wem man Angst haben sollte, bevor man sie hatte.
»Mr. Graves«, sagte ich im Plauderton zu den beiden Verlegern und dem Journalisten, »zieht wegen dem, was er in den Intimen Details gelesen hat, seine Pferde ab. Sie sehen hier die Macht der Presse in Aktion.«
»Halten Sie’s Maul, und geben Sie meine Pferde raus«, sagte Graves.
»Ja, ist gut. Ihre Pfleger laufen in die verkehrte Richtung.«
»Jasper«, brüllte Graves, »komm her.«
Der glücklose Neffe näherte sich und schaute mich argwöhnisch an.
»Komm«, ich zeigte mit dem Kopf. »Sie sind hinten.«
Jay Erskine hätte mich zurückgehalten, aber Pollgate trat dazwischen. Ich ging mit Jasper auf den anderen Hof und zeigte ihm die Boxen, in denen Graves’ Pferde waren. »Tut mir furchtbar leid«, sagte Jasper.
»Keine Ursache«, sagte ich, und ich dachte bei mir, daß wir ohne ihn und seinen Onkel die Glocke nicht angebracht hätten und ohne die Glocke nicht Jay Erskine auf der Leiter ertappt hätten, und im großen und ganzen war ich der Familie Graves ziemlich dankbar.
Ich ging mit Jasper, der das erste Pferd hinter mir herführte, zurück, und da standen sie noch alle fast an den gleichen Stellen, während Jermyn Graves immer noch maulte, er habe eben kein Vertrauen, wenn der Trainer seine Rechnungen nicht zahlen könne.
»Bobby ist ohne Sie besser dran, Mr. Graves«, sagte ich. »Laden Sie Ihre Pferde ein, und verschwinden Sie.«
Ihn rührte fast der Schlag. Er klappte einige Male den Mund auf und zu und ging schließlich zu dem Hänger hinüber, um sein Mütchen an dem glücklosen Jasper zu kühlen.
»Gott sei es gedankt«, sagte Holly. »Ich kann ihn nicht ausstehen. Was bin ich froh, daß du hier bist. War es schön bei deinem Lunch?«
»Elektrisierend«, sagte ich.
Sie hörten es alle und blickten mich scharf an.
Lord Vaughnley sagte verblüfft: »Wie können Sie noch Witze machen .«
»Zum Teufel«, sagte ich. »Ich bin hier. Ich lebe noch.«
Holly blickte von einem zum anderen, spürte irgend etwas Starkes, verstand es nicht genau. »Ist was passiert?« fragte sie, mein Gesicht absuchend.
Ich nickte ganz kurz. »Ich bin in Ordnung.«
Sie sagte zu Lord Vaughnley: »Er setzt an den meisten Tagen der Woche sein Leben aufs Spiel. Sie können ihm nicht viel Angst einjagen.«
Zu meiner Belustigung schauten sie sich alle sprachlos an.
Ich sagte zu ihr: »Weißt du, mit wem du sprichst?«, und sie schüttelte leicht den Kopf, erinnerte sich halb, jedoch nicht genau.
»Das ist Lord Vaughnley, dem der Towncrier gehört. Das ist Nestor Pollgate, dem die Flag gehört. Das ist Jay Erskine, der die Artikel in den Intimen Details geschrieben und euer Telefon angezapft hat.« Ich schwieg, und zu ihnen sagte ich: »Meine Schwester, Bobbys Frau.«
Sie kam erschrocken näher zu mir.
»Warum sind sie hier? Hast du sie hergebracht?«
»Wir haben uns quasi gegenseitig hergebracht«, sagte ich. »Wo sind Maynard und Bobby?«
»Im Gesellschaftszimmer, glaube ich.«
Jasper stiefelte mit dem zweiten Pferd über den Hof, während Jermyn unvermindert laut auf ihn einschrie. Der andere Pfleger, der mit ihnen gekommen war, huschte mal rein und mal raus aus dem Pferdehänger, bemüht, sich unsichtbar zu machen.
Pollgate sagte schroff: »Wir schauen uns das hier nicht mehr lange an.«
»Ich lasse Holly nicht mit diesem Mann allein«, entgeg-nete ich. »Er ist ein Ekel. Daß er hier ist, liegt an Ihnen, also warten wir.«
Pollgate bewegte sich unruhig, aber wo hätte er hingehen sollen? Wir warteten mit unterschiedlichen Graden von Ungeduld, während Jasper und der Pfleger die Rampe hochklappten und zusperrten und während Jermyn Graves mehrere Schritte in unsere Richtung zurückmarschiert kam, mir mit der Faust und ausgestrecktem, vorstoßendem Zeigefinger drohte und sagte, niemand könne ihm ungestraft ins Handwerk pfuschen. Er werde dafür sorgen, daß ich es noch bereute. Ich würde bezahlen für das, was ich getan hatte.
»Kit«, sagte Holly verzweifelt.
Ich legte den Arm um ihre Schultern und antwortete Graves nicht, und nach einer Weile drehte er sich abrupt auf dem Absatz um, ging zu seinem Wagen hinüber, stieg ein, schlug die Tür zu und strapazierte sein Getriebe, indem er mit einem Ruck losfuhr, der die Pferde im Anhänger von den Hufen gerissen haben mußte.
»Er ist ein Schwein«, sagte Holly. »Was wird er tun?«
»Er droht mehr, als er wahrmacht.«
»Für mich«, sagte Pollgate, »gilt das nicht.«
Ich schaute ihn an, erwiderte seinen Blick.
»Das weiß ich«, sagte ich.
Die Zeit, dachte ich, war unentrinnbar gekommen.
Kraft, wenn ich sie brauchte. Bitte Kraft, dachte ich.
Ich ließ Holly los und beugte mich in den Wagen, mit dem wir gekommen waren, um meinen Anorak vom Boden aufzuheben.
Ich sagte zu Holly: »Bringst du die drei Herren ins Wohnzimmer? Ich hole Bobby ... und seinen Vater.«
Sie sagte mit ängstlich geweiteten Augen: »Kit, sei bitte vorsichtig.«
»Ich verspreche es.«
Sie warf mir einen Blick zu, in dem noch Zweifel lag, ging aber mit mir auf das Haus zu. Wir traten aus langer Gewohnheit durch die Küche ein; ich glaube nicht, daß es einem von uns in den Sinn kam, die eigentliche Haustür zu benutzen.
Pollgate, Lord Vaughnley und Jay Erskine folgten, und vom Flur aus schleuste Holly sie ins Wohnzimmer, wo sie und Bobby manchmal abends fernsahen. Das größere Gesellschaftszimmer lag geradeaus, und von dort ertönten Stimmen, oder vielmehr eine Stimme, nämlich die von Maynard, der unaufhörlich redete.
Ich raffte alle inneren Reserven zusammen, um durch diese Tür zu gehen, und es war ein großer, entsetzlicher
Fehler. Bobby erklärte mir hinterher, daß er mich auf die gleiche Weise sah wie im Stall und im Garten; als den Vermummten, den Feind, den uralten Widersacher, eine ungeheure, finstere Bedrohung.
Maynard sagte gerade monoton, als hätte er es bereits immer wieder gesagt: ». und wenn du ihn loswerden willst, dann tust du’s, und du tust es heute ...«
Maynard hielt eine Waffe. Eine Schußwaffe. Klein und schwarz.
Er hörte auf zu reden, sobald ich dort hineinkam. Seine Augen weiteten sich. Er sah vermutlich, was Bobby sah: Fielding, den Satanischen.
Er gab Bobby die Pistole, drückte sie ihm in die Hand.
»Tu’s«, sagte er heftig. »Tu’s jetzt.«
Die Augen seines Sohnes waren verschleiert, wie im Garten.
Er würde es nicht tun. Er konnte nicht ...
»Bobby«, stieß ich beschwörend hervor - und er hob die Waffe und richtete sie direkt auf meine Brust.