Kapitel 7

Es war nicht Icicle, mit dem ich Ärger hatte.

Icicle sprang angemessen, aber ohne Inspiration und lief verbissen in gleichbleibendem Tempo die Gerade hinauf, so daß er mit mehr Glück als sonstwas schließlich Zweiter wurde.

»Guter alter Langweiler«, lobte ihn die Prinzessin stolz auf dem Absattelplatz und rieb ihm die Nase. »Was bist du doch für ein Ehrenmann.«

Es war der Hurdler danach, der verunglückte: ein erfahrener Renner, aber beschränkt. Das eine Pferd, das rechts von uns leicht vorn lag, erwischte die Kante der zweiten Hürde, als es in die Höhe stieg, und fiel beim Landen auf die Nase, und mein Pferd machte, wie um es nachzuahmen, prompt genau das gleiche.

Als Sturz war es nicht schlimm. Ich rollte wie ein Akrobat ab, als ich am Boden aufkam, ein Zirkuskunststück, das jeder Hindernisjockey lernt, und wartete zusammengekugelt darauf, daß die anderen Renner vorbeizogen. Mitten in einer donnernden Herde aufzustehen wäre der sicherste Weg, sich gefährlich zu verletzen. Man muß am Boden bleiben, wo einem die Pferde leichter ausweichen können, das ist nahezu die erste Lektion zum Überleben. Das Dumme beim Stürzen kurz nach dem Start eines Hürdenrennens ist jedoch, daß die Pferde schneller gehen als bei Jagdrennen und oft dicht zusammenliegen, so daß sie einen gestürzten Reiter erst sehen, wenn sie über ihm

sind, und ihre Füße nicht mehr woanders hinsetzen können.

Ich war an hufförmige blaue Flecken ziemlich gewöhnt. In der Stille, die nach den Püffen kam, erhob ich mich langsam und steif mit den Zutaten für eine neue Sammlung und stellte fest, daß der andere gestürzte Jockey das gleiche tat.

»Alles klar bei dir?« sagte ich.

»Klar. Bei dir auch?«

Ich nickte. Mein Kollege äußerte ein paar unanständige Sachen über sein ehemaliges Reittier, und ein Wagen kam, um uns einzuladen und zum Ambulanzraum zu bringen, wo der diensttuende Arzt einen Blick auf uns werfen sollte. In den alten Zeiten hatten es Jockeys ohne weiteres geschafft, mit Knochenbrüchen an den Start zu gehen, aber heutzutage haben sich die medizinischen Bestimmungen verschärft, nicht unbedingt im Interesse des Verletzten, sondern der Leute, die ihr Geld auf sie setzen. Die Zufriedenheit der Wetter hat Vorrang.

Prellungen zählen nicht. Deswegen halten Ärzte einen nie vom Reiten ab, und ganz frische Prellungen sind ohnehin nicht zu sehen. Ich bewies dem Mann vor Ort, daß alle Teile, die sich an mir bewegen sollten, sich bewegten und daß alle Teile, die es nicht tun sollten, es nicht taten, und galt ab sofort wieder als reitfähig.

Eine der beiden freiwilligen Schwestern ging zur Tür, als es klopfte, und kam leicht verwirrt wieder, um mir zu sagen, draußen wolle mich eine Frau sprechen, die behaupte, sie sei eine Prinzessin.

»Gut«, meinte ich, dankte dem Arzt und wandte mich zum Gehen.

»Ist sie eine?« fragte die Schwester zweifelnd.

»Eine Prinzessin? Ja. Gehen Sie oft zum Pferderennen?«

»Heute zum erstenmal.«

»Sie war dreimal führende Besitzerin in den letzten sechs Hindernissaisons, und sie ist ein wahrer Engel.«

Die junge Schwester grinste. »Zum Kotzen.«

Ich ging nach draußen, wo der wahre Engel bei meinem Wiederauftauchen erst besorgt und dann erleichtert dreinschaute.

Sie hatte keineswegs die Angewohnheit, vor Unfallstationstüren zu warten und sich nach meinem Befinden zu erkundigen, und natürlich ging es in diesem Moment nicht so sehr um meine Gesundheit als darum, ob ich genügend auf dem Damm war, um ihre Nichte zur Arbeit zu fahren.

Die Nichte war auch da und ebenso erleichtert und sah ebenfalls auf die Uhr. Ich sagte, ich würde mir Straßenkleidung anziehen und bald fertig sein, und die Prinzessin gab der Nichte einen Kuß, tätschelte meinen Arm und sagte, als sie fortging, sie würde mich am nächsten Tag dann in Newbury sehen.

Ich zog mich um, fand die Nichte wartend vor dem Waageraum und brachte sie zu meinem Auto. Sie war ziemlich nervös in ihrer Ungeduld, die etwas nachließ, als sie feststellte, daß das Auto ein Mercedes war, aber in offene Besorgnis umschlug, als sie sah, wie ich beim Einsteigen zusammenzuckte.

»Sind Sie in Ordnung? Sie werden doch nicht umkippen oder so was?« sagte sie.

»Glaube ich nicht.«

Ich ließ den Wagen an und bugsierte uns aus den dichtstehenden Reihen heraus. Einige andere Wagen fuhren auch gerade los, aber nicht genug, um die Ausfahrt oder die Straße draußen zu verstopfen. Wir würden freie Fahrt haben, falls es keine Unfälle gab.

»Ich dachte schon, Sie wären tot«, sagte die Nichte ohne Gemütsbewegung. »Wie überlebt man es denn, wenn eine Stampede so über einen wegtrampelt?«

»Glücksache«, sagte ich knapp.

»Meine Tante war wirklich erleichtert, als Sie aufgestanden sind.«

Ich brummte zustimmend. »War ich auch.«

»Warum tun Sie das?« sagte sie.

»Rennen reiten?«

»M-hm.«

»Es gefällt mir.«

»Wenn Sie niedergetrampelt werden?«

»Nein«, sagte ich. »Das passiert ja nicht so oft.«

Wir stießen vom Moor bergab und eilten ungehindert über Straßen, auf denen es im Sommer von Urlaubsverkehrskrisen wimmelte. Keine schwankenden, überladenen Wohnwagen an diesem Tag, keine Kinder, die sich am Straßenrand übergaben, keine kochenden oder geplatzten Kühlerschläuche mit trübselig auf Hilfe wartenden Leuten ringsum. Die Straßen von Devon waren im November leer und schnell und führten geradewegs zu den Autobahnen, die uns problemlos nach Chiswick bringen würden.

»Mal ehrlich«, sagte sie, »warum tun Sie das?«

Ich sah ihr ins Gesicht und entdeckte darin ein Interesse, wie es zu einem Nachrichtensammler paßte. Sie hatte außerdem große graue Augen, eine schmale Nase und einen entschlossenen Mund. Gutaussehend auf sehr gepflegte Art, dachte ich.

Ich hatte die gleiche Frage schon viele Male von anderen

Journalisten gestellt bekommen, und ich gab die Standardantwort.

»Ich mache das, weil ich dazu geboren bin. Ich bin in einem Rennstall aufgewachsen und reite schon, solange ich mich erinnere. Ich kann mich nicht erinnern, daß ich mal nicht Rennen hätte reiten wollen.«

Sie hörte mit zur Seite geneigtem Kopf zu, ihren Blick auf meinem Gesicht.

»Ich glaube, ich habe bis jetzt noch nie einen Jockey kennengelernt«, sagte sie nachdenklich. »Und wir haben nicht viele Hindernisrennen in Amerika.«

»Nein«, stimmte ich zu. »In England gibt es wahrscheinlich mehr Hindernisrennen als Flachrennen. Jedenfalls genausoviel.«

»Also, warum tun Sie’s?«

»Hab ich doch schon gesagt.«

»Ja, klar.«

Sie wandte den Kopf ab und sah auf die vorbeiziehenden Felder.

Ich ritt Rennen, dachte ich verträumt, wie man vielleicht Geige spielt, seine eigene Musik aus harmonischer Bewegung und geistiger Eingebung entwickelt. Ich ritt Rennen, weil die Partnerschaft mit Pferden mein Bewußtsein mit vollkommenen Kadenzen, rhythmischer Erregung und starken Gemeinschaftsgefühlen erfüllte; und solchen hochtrabenden Blödsinn konnte ich wohl nicht gut aussprechen.

»Ich fühle mich lebendig«, sagte ich, »auf einem Pferd.«

Sie sah mich leise lächelnd wieder an. »Meine Tante sagt, Sie lesen die Gedanken der Tiere.«

»Das tut jeder, der Pferden nahesteht.«

»Aber manche mehr als andere?« »Ich weiß nicht recht.«

Sie nickte. »Leuchtet ein. Meine Tante sagt, Sie lesen auch die Gedanken von Menschen.«

Ich warf ihr einen kurzen Blick zu. »Ihre Tante scheint eine Menge erzählt zu haben.«

»Meine Tante«, sagte sie neutral, »wollte mir wohl zu verstehen geben, daß ich, wenn ich mit Ihnen fahre, nicht belästigt werde.«

»Guter Gott.«

»Sie hatte recht, wie ich sehe.«

»Mm.«

Danielle de Brescou zu belästigen, dachte ich, wäre für mich der schnellste Weg zur Arbeitslosigkeit. Nicht, daß ich es unter anderen Umständen und mit ihrer bereitwilligen Mitwirkung undenkbar gefunden hätte. Danielle de Brescou bewegte sich mit unterkühlter langbeiniger Grazie und betrachtete die Welt aus klaren Augen, und wenn ich den Schimmer und Duft ihres Haares und ihrer Haut frisch und angenehm fand, so verwandelte das lediglich die Anstrengung der Fahrt in ein Vergnügen.

Zwischen Exeter und Bristol, während die Abenddämmerung den Tag verdunkelte, erzählte sie mir, daß sie seit drei Wochen in England war und bei ihrem Onkel und ihrer Tante wohnte, bis sie eine Wohnung fand. Sie war gekommen, weil die Fernsehanstalt, für die sie arbeitete, sie nach London beordert hatte. Sie war die Koordinatorin des Studios, und da es dort erst ihre zweite Woche war, durfte sie sich möglichst nicht verspäten.

»Sie kommen nicht zu spät«, versicherte ich ihr.

»Nein ... Fahren Sie immer mit achtzig Meilen in der Stunde?«

»Nicht, wenn ich es wirklich eilig habe.«

»Sehr lustig.«

Sie erzählte mir, daß Roland de Brescou, der Mann der Prinzessin, der älteste Bruder ihres Vaters war. Ihr Vater war in jungen Jahren von Frankreich nach Kalifornien ausgewandert und hatte eine Amerikanerin geheiratet; Danielle war ihr einziges Kind.

»Ich glaube, es gab einen Familienkrach, als Papa von zu Hause wegging, aber die Einzelheiten hat er mir nie erzählt. In letzter Zeit schickt er allerdings Grußkarten, wahrscheinlich aus Sehnsucht nach seinen Wurzeln. Jedenfalls teilte er Onkel Roland mit, daß ich nach London kommen würde, und die Prinzessin schrieb mir, ich solle sie besuchen. Ich hatte sie beide noch nie gesehen. Es ist meine erste Reise nach Europa.«

»Wie gefällt es Ihnen?«

Sie lächelte. »Wie würde es Ihnen gefallen, wenn man Sie in einer Art Herrensitz am Eaton Square mit Koch, Zimmermädchen und Butler verwöhnte? Und mit einem Chauffeur. Die ganze vorige Woche hat der Chauffeur mich zur Arbeit gefahren und hinterher abgeholt. Gestern auch wieder. Tante Casilia sagt, mit der U-Bahn ist es hier nach Mitternacht nicht sicher, genau wie in New York. Sie macht mehr Theater als meine eigene Mutter. Aber allzu lange kann ich nicht bei ihnen wohnen. Sie sind beide lieb zu mir. Ich mag sie sehr, und wir verstehen uns glänzend. Aber ich brauche eine eigene Wohnung, nicht weit vom Büro. Und ich werde mir einen Wagen anschaffen. Das muß ich wohl.«

»Wie lange bleiben Sie denn in England?« frage ich.

»Weiß nicht. Drei Jahre vielleicht. Vielleicht weniger. Die Firma kann einen versetzen.«

Sie sagte, über mich brauchte ich ihr nicht viel zu erzählen, da sie von ihrer Tante informiert worden sei.

Sie sagte, sie wüßte, daß ich in Lambourn lebte und aus einer alten Rennsportfamilie stammte, und ich hätte eine Zwillingsschwester, die sei mit einem Pferdetrainer in Newmarket verheiratet. Sie sagte, sie wüßte, daß ich nicht verheiratet sei. Die letzte Bemerkung ließ sie in der Luft hängen wie ein Fragezeichen, deshalb ging ich auf die ungestellte Frage ein.

»Nicht verheiratet. Momentan keine Freundin. Früher die eine oder andere.«

Ich konnte ihr Lächeln spüren.

»Und Sie?« erkundigte ich mich.

»Das gleiche.«

Wir fuhren eine ganze Weile schweigend mit diesem Gedanken, und ich fragte mich ziemlich nachdenklich, was die Prinzessin sagen oder denken würde, wenn ich ihre Nichte zum Abendessen einlud. Die enge, aber doch auf angemessenen Abstand bedachte Beziehung, die ich seit so vielen Jahren zu ihr hatte, würde sich auf feine Weise ändern, wenn ich es tat, und vielleicht nicht zum Besseren.

Zwischen Bristol und Chiswick, während wir mit eingeschalteten Scheinwerfern die Schnellstraße M4 hinaufrasten, erzählte mir Danielle von ihrem Job, der, wie sie sagte, weitgehend eine Frage der Logistik war: Sie schickte die Kamerateams und Interviewer jeweils dahin, wo es Neuigkeiten gab.

»Die halbe Zeit studiere ich Zugfahrpläne und Straßenkarten, um die schnellste Route zu finden, und ausgehend von der Zeit, wann wir losgefahren sind, und von der Straße, auf der wir uns gerade befinden, nahm ich an, wir würden uns verspäten.« Sie warf einen Blick auf den Tacho. »An 90 hätte ich nicht im Traum gedacht.«

Ich ging sachte auf 88 runter. Ein Wagen überholte uns mühelos. Danielle schüttelte den Kopf. »Daran muß ich mich erst noch gewöhnen«, sagte sie. »Wieviel Strafzettel kriegen Sie denn so wegen Geschwindigkeitsübertretung?«

»Bisher drei in zehn Jahren.«

»Und Sie fahren jeden Tag so?«

»Mehr oder weniger.«

Sie seufzte. »In den guten alten USA halten wir 70 für verworfen. Waren Sie schon drüben?«

»In Amerika?« Ich nickte. »Zweimal. Einmal bin ich dort im Maryland Hunt Cup geritten.«

»Das ist ein Amateurrennen«, sagte sie ohne Betonung, offenbar darauf bedacht, keine Zweifel an meinen Worten zu äußern.

»Ja. Ich habe als Amateur angefangen. Es schien mir am besten, erst mal herauszufinden, ob ich was kann, bevor ich mich für die Zukunft festlege.«

»Und wenn es nicht geklappt hätte?«

»Ich hatte einen Collegeplatz.«

»Und den haben Sie nicht genommen?« sagte sie ungläubig.

»Nein. Ich fing an zu siegen, und das war das, was ich am meisten wollte. Für den Studienplatz hatte ich mich nur beworben, falls ich als Jockey nicht landen konnte. Als eine Art Versicherung.«

»Was für ein Fach?«

»Veterinärmedizin.«

Sie war geschockt. »Heißt das, Sie haben darauf verzichtet, Tierarzt zu werden, um Jockey zu sein?«

»Stimmt«, sagte ich. »Warum nicht?«

»Aber ... aber ...«

»Jaja«, sagte ich. »Alle Athleten ... Sportler ... was auch immer . sehen sich, wenn sie erst mal fünfunddreißig sind, mit dem vorzeitigen Alter konfrontiert. Fünf Jahre könnten mir noch bleiben.«

»Und dann?«

»Trainieren wahrscheinlich. Pferde trainieren, die andere reiten.« Ich zuckte die Achseln. »Das ist noch lange hin.«

»Heute nachmittag kam es nahe dran«, meinte Danielle.

»Im Grunde nicht.«

»Tante Casilia sagt, das Skeletonrennen auf dem Cresta-Run ist möglicherweise gefährlicher als das Leben eines Hindernisjockeys. Möglicherweise. Sie war sich nicht sicher.«

»Der Cresta-Run ist eine Goldmedaille oder ein Schreck fürs Leben, aber keine Laufbahn.«

»Sind Sie mal runtergefahren?«

»Selbstverständlich nicht. Das ist gefährlich.«

Sie lachte. »Sind alle Jockeys wie Sie?«

»Nein. Alle verschieden. Wie Prinzessinnen auch.«

Sie holte tief Atem, als schöpfte sie Meeresluft. Ich zog meine Aufmerksamkeit von der Straße ab, um einen Augenblick ihr Gesicht zu mustern, denn was immer ihre Tante von meinen Fähigkeiten im Gedankenlesen halten mochte, bei einer jungen Frau schien mir das nie zu gelingen, außer bei Holly ... Ich wußte auch, daß ich dazu in der Lage sein wollte, daß jede Liebe sonst unvollständig wäre. Ich konnte mir denken, daß ich, hätte ich Holly nicht gehabt, vielleicht eines von den beiden Mädchen geheiratet hätte, die mir am sympathischsten gewesen waren. Wie die Dinge lagen, hatte ich mit keiner von beiden auch nur das Stadium des Zusammenlebens erreicht.

Ich hatte Holly weder heiraten noch mit ihr schlafen wollen, aber ich hatte sie tiefer geliebt. Es schien, daß Sex und Telepathie bei mir nicht zusammengingen, aber bis das geschah oder solange es nicht geschah, würde ich wahrscheinlich ledig bleiben.

»Woran denken Sie?« fragte Danielle.

Ich lächelte schief. »Daß ich nicht weiß, was Sie denken.«

Nach einer Pause sagte sie: »Ich dachte, wenn Tante Casilia sagt, Sie seien außergewöhnlich, dann kann ich verstehen, was sie damit meint.«

»Sie sagt was?«

»Außergewöhnlich. Ich fragte sie, in welcher Hinsicht, aber sie lächelte nur reizend und wechselte das Thema.«

»Ehm . wann war das?«

»Auf unserer Fahrt nach Devon heute morgen. Sie wollte schon seit ich gekommen bin, daß ich sie mal zum Pferderennen begleite, also bin ich heute mit, weil sie die Rückfahrt für mich arrangiert hatte. Sie selber bleibt wegen so einer riesigen Party über Nacht bei den Inscombes. Sie hoffte, glaub ich, daß mir die Rennen ebensosehr gefallen wie ihr. Denken Sie manchmal, sie ist einsam, wenn sie so viele Meilen nur mit ihrem Chauffeur zu den Meetings fährt?«

»Ich glaube nicht, daß sie sich einsam fühlte, bevor Sie kamen.«

»Oh!«

Sie verfiel eine Zeitlang in Schweigen, und schließlich sagte ich nüchtern: »Wir werden in drei Minuten in Chiswick sein.«

»Ja?« Sie klang beinahe enttäuscht. »Ich meine, gut. Aber die Fahrt hat mir Spaß gemacht.«

»Mir auch.«

Mein inneres Auge war plötzlich sehr stark von der Gegenwart Hollys erfüllt, und ich hatte einen lebhaften Eindruck von ihrem in tiefer Verzweiflung verzerrten Gesicht.

Ich sagte unvermittelt zu Danielle: »Gibt es einen Münzfernsprecher in der Nähe Ihres Büros?«

»Ja, ich denke.« Sie schien etwas verwirrt über den dringenden Ton, den auch ich in meiner Stimme hörte. »Klar ... nehmen Sie den Apparat auf meinem Schreibtisch. Ist Ihnen was Wichtiges eingefallen?«

»Nein ... ehm, ich ...« Ich kapitulierte vor der Unmöglichkeit einer vernünftigen Erklärung. »Ich habe das Gefühl«, sagte ich lahm, »daß ich meine Schwester anrufen sollte.«

»Das Gefühl?« fragte sie neugierig. »Sie sahen aus, als hätten Sie mindestens einen Termin beim Präsidenten verschwitzt.«

Ich schüttelte den Kopf. »Hier ist Chiswick. Wie fahren wir jetzt?«

Sie wies mir den Weg, und wir hielten auf einem Parkplatz »nur für Betriebsangehörige« vor einem lagerhausähnlichen Gebäude in einer Nebenstraße. Zwanzig nach sechs auf der Uhr; noch zehn Minuten gut.

»Kommen Sie mit rein«, sagte Danielle. »Daß ich Sie telefonieren lasse, ist das wenigste, was ich tun kann.«

Ich kletterte steifbeinig aus dem Wagen, und sie meinte zerknirscht: »Ich hätte Sie wohl nicht die ganze Strecke fahren lassen sollen.«

»Es ist kein großer Umweg.«

»Sie lügen wie gedruckt. Wir haben die Ausfahrt nach Lambourn fünfzig Meilen hinter uns gelassen.«

»Ein Klacks.«

Sie beobachtete, wie ich die Wagentür abschloß. »Ernsthaft, sind Sie okay?«

»Es ist nichts, was ein heißes Bad nicht in Ordnung bringt.«

Sie nickte und drehte sich um, um in das Gebäude voranzugehen. Das Foyer hinter der gläsernen Eingangstür war mit Sesseln, Topfpflanzen und einem uniformierten Wachmann am Empfangsschalter versehen. Sie und er trugen mich in ein Buch ein, gaben mir einen Paß zum Anstecken und komplimentierten mich durch eine massive Tür, die sich auf einen elektronischen Summton öffnete.

»Entschuldigen Sie das Festungssyndrom«, sagte Danielle.

»Die Gesellschaft fürchtet sich zur Zeit vor Bomben.«

Wir gingen einen kurzen Gang hinunter in ein geräumiges offenes Büro mit sechs oder sieben Schreibtischen und Leuten dahinter, von denen die meisten aussahen, als schickten sie sich an, nach Hause zu gehen. Da war außerdem ein Meer aus grünem Teppichboden, ein rundes Dutzend Computer und an einer Längswand eine Reihe von Bildschirmen über Kopfhöhe, die allesamt verschiedene Programme zeigten, aber keinen Ton von sich gaben.

Danielle und die anderen vom Stab tauschten ein paar Hallos und Grüß-Dich aus, und niemand stellte Fragen wegen meiner Anwesenheit. Sie führte mich durch den Raum zu ihrer eigenen Domäne, einem Bereich mit zwei im rechten Winkel zueinander stehenden Schreibtischen und einem komfortablen Drehsessel, der für beide diente. Auf den Tischen mehrere Karteikästen, ein Computer, eine Schreibmaschine, ein Stapel Zeitungen und ein Telefon. An der Wand hinter dem Sessel befand sich eine große Tafel, auf die man Stichworte mit Filzstift schreiben und leicht wieder löschen konnte. Es war eine Tabelle mit den Überschriften SLUG, TEAM, ORT, ZEIT, FORMAT.

»Setzen Sie sich«, sagte Danielle, auf den Sessel deutend. Sie nahm den Hörer ab und drückte auf eine Leuchttaste am Telefon. »Okay. Sie können sprechen.« Sie drehte sich um und schaute auf die Tafel. »Mal sehen, was auf der Welt passiert ist, seit ich sie verlassen hab.« Sie überflog die Rubriken. Unter SLUG hatte jemand in großen schwarzen Lettern »Botschaft« geschrieben. Danielle rief durch den Raum: »Hank, was ist das für eine Botschaftsstory?« Und eine Stimme antwortete: »Irgendwer hat >Yanks Go Home< in Rot auf die Stufen der US-Botschaft gepinselt, und es gibt Stunk mit der Bewachung.«

»Ach du Schreck.«

»Da mußt du für Nightline nachhaken.«

»Gut ... hat jemand den Botschafter interviewt?«

»Wir konnten ihn noch nicht erreichen.«

»Dann probier ich’s wohl noch mal.«

»Klar. Das ist dein Baby, Baby. Ganz allein.«

Danielle lächelte vergnügt zu mir herunter, und ich erkannte mit einiger Überraschung, daß sie eine weit höhere Stellung einnahm, als ich vermutet hatte, und daß auch sie auflebte, wenn sie arbeitete.

»Sprechen Sie«, sagte sie nochmals.

»Ja.«

Ich drückte die Tasten, und beim ersten Läuten nahm Holly den Hörer ab.

»Kit«, sagte sie sofort, voller Anspannung.

»Ja«, antwortete ich.

Hollys Stimme war berstend durch die Leitung gekommen, laut genug, um auch von Danielle gehört zu werden.

»Woher wußte sie das?« fragte Danielle. Dann weiteten sich ihre Augen. »Sie hat darauf gewartet ... Sie wußten es.«

Ich nickte halb. »Kit«, sagte Holly gerade. »Wo bist du? Geht’s dir gut? Dein Pferd ist gestürzt ...«

»Mir fehlt nichts. Ich bin in London. Was ist los?«

»Alles ist schlimmer geworden. Ganz furchtbar. Wir werden verlieren ... den Hof verlieren ... alles ... Bobby läuft irgendwo draußen rum .«

»Holly, denk an das Telefon«, sagte ich.

»Was? Ach, die Wanzen? Das kümmert mich einfach nicht mehr. Die Fernmeldeleute kommen morgen früh nach Wanzen suchen, sie haben’s versprochen. Aber was liegt daran? Wir sind fertig ... Es ist aus.« Sie klang erschöpft. »Kannst du kommen? Bobby möchte dich hierhaben. Wir brauchen dich. Du hältst uns zusammen.«

»Was ist denn passiert?« fragte ich.

»Es dreht sich um die Bank. Den neuen Filialleiter. Wir waren heute bei ihm, und er sagt, wir können noch nicht mal das Geld für die Löhne am Freitag bekommen; sie wollen uns zum Verkauf zwingen ... Er sagt, wir haben nicht genügend Deckung für alles, was wir ihnen schulden ... und wir rutschen nur noch tiefer in die roten Zahlen, weil wir nicht genug verdienen, um die Zinsen auf das Darlehen für die Jährlinge zu zahlen; und weißt du, wieviel der uns dafür jetzt abnimmt? Sieben Prozent über der Norm. Sieben. Das macht rund siebzehn im Moment. Und da schlägt er wieder Zinsen drauf, wir zahlen also jetzt Zinseszinsen ... es ist wie ein Schneeball ... gräßlich ... es ist verdammt unfair.«

Glatter Mord, dachte ich. Wohltätigkeitsvereine waren Banken noch nie.

»Er gab zu, daß es wegen der Zeitungsartikel ist«, sagte Holly kläglich. »Er fand es bedauerlich ... bedauerlich! ... daß Bobbys Vater uns nicht helfen will, mit keinem Penny ... Ich habe Bobby in diese ganzen Schwierigkeiten gebracht ... es ist meinetwegen .« »Holly, bitte« sagte ich. »Das ist Unsinn. Bleib ruhig, und ich komme vorbei. Ich bin in Chiswick. Es wird anderthalb Stunden dauern.«

»Der Filialleiter sagt, wir müssen die Besitzer auffordern, ihre Pferde abzuholen. Er sagt, wir wären nicht die einzigen Trainer, die jemals zum Verkauf gezwungen waren. Das käme eben vor, meint er, sogar ziemlich oft ... der ist so hartherzig, ich könnte ihn kaltmachen.«

»Mm«, sagte ich. »Nun, unternimm erst mal nichts. Trink was. Koch mir ein bißchen Spinat oder so, ich bin am Verhungern. Ich setz mich ins Auto ... Bis bald.«

Seufzend legte ich den Hörer auf. Ich hatte eigentlich keine Lust, mit hinderlichen Prellungen und widerhallend leerem Magen noch weiter nach Newmarket zu fahren, und ich hatte eigentlich keine Lust, mir die ganzen Allar-deckschen Sorgen wieder aufzubürden, aber ein Pakt war ein Pakt, und damit hatte sich’s. Mein Zwilling, meine Fessel und all das.

»Schwierigkeiten?« sagte Danielle, mich beobachtend.

Ich nickte. Ich erzählte ihr kurz von den Angriffen der Flag und den tödlichen finanziellen Konsequenzen, und sie kam rasch zu der gleichen Schlußfolgerung wie ich selbst.

»Bobbys Vater ist extrem.«

»Extrem«, sagte ich anerkennend, »trifft den Nagel auf den Kopf.«

Ich erhob mich langsam aus ihrem Sessel und dankte ihr für das Telefongespräch.

»Sie sind nicht in der Verfassung für das alles«, stellte sie fest.

»Machen Sie sich keine Gedanken.« Ich beugte mich vor und küßte sie auf die duftende Wange. »Besuchen Sie wieder mal ein Rennen mit Ihrer Tante?«

Sie schaute mir ins Gesicht. »Wahrscheinlich«, sagte sie.

»Gut.«

Bobby und Holly saßen schweigend in der Küche, starrten ins Leere und drehten apathisch die Köpfe nach mir, als ich hereinkam.

Ich klopfte Bobby auf die Schulter, gab Holly einen Kuß und sagte: »Kommt jetzt, wo ist der Wein? Ich krepiere an etlichen Krankheiten, und als erstes brauche ich mal was zu trinken.«

Meine Stimme klang laut in ihren Trübsinn hinein. Holly stand schwerfällig auf und ging zu dem Schrank hinüber, in dem sie ihre Gläser hatten. Sie streckte die Hand danach aus und ließ sie gleich wieder sinken. Sie wandte sich mir zu.

»Ich habe meine Testergebnisse bekommen, nachdem du angerufen hast«, sagte sie ausdruckslos. »Ich bin einwandfrei schwanger. Heute sollte der glücklichste Abend unseres Lebens sein.« Sie legte die Arme um meinen Hals und begann leise zu weinen. Ich schlang meine Arme um sie und hielt sie fest, während Bobby sitzen blieb, offenbar zu niedergeschlagen, um eifersüchtig zu sein.

»In Ordnung«, sagte ich. »Trinken wir auf das Baby. Los, meine Lieben; Geschäfte kommen und gehen, und eures ist noch nicht hinüber, aber Babys sind für immer, Gott gnade ihren lieben kleinen Seelen.«

Ich löste mich von ihr und holte die Gläser heraus, während sie sich schweigend die Augen am Ärmel ihres Pullovers abwischte.

Bobby sagte dumpf: »Du verstehst nicht«, aber ich verstand sehr gut. Er war kampfmüde. Er war fertig, weil die Erniedrigung für ihn zu bitter war, und schmerzliche

Enttäuschungen hatte auch ich schon hin und wieder erlebt. Es konnte eine große Willensanstrengung erfordern, nicht herumzusitzen und zu schmollen.

Ich sagte zu Holly: »Leg Musik auf, ganz laut.«

»Nein«, widersprach Bobby.

»Doch, Bobby. Doch«, sagte ich. »Steh auf und schrei. Zeig dem Schicksal deine Faust. Wirf was kaputt. Fluch dir die Seele aus dem Leib.«

»Ich brech dir den Hals«, sagte er mit aufflackernder Wildheit.

»Versuch’s mal.«

Er hob den Kopf, starrte mich an und sprang dann abrupt auf die Füße, als wieder Kraft in seine Muskeln strömte und gereizte Energie in sein Gesicht.

»Also gut«, brüllte er, »ich brech dir den verfluchten Fieldinghals.«

»Schon besser«, sagte ich. »Und gib mir was zu futtern.«

Statt dessen ging er zu Holly hinüber, umarmte sie, und beide standen sie da, eng umschlungen, halb weinend, halb lachend. Sie waren wieder unter den Lebenden. Ich kramte resigniert etwas Schnelles und Kalorienarmes aus dem Kühlschrank hervor, tat es in die Mikrowelle und goß mir ein Glas Rotwein ein, das ich auf einen Zug trank. Beim Essen bekannte Bobby, daß er am Abend für die Stallkontrolle zu deprimiert gewesen war, und so gingen er und ich nach dem Kaffee zu einer letzten Überprüfung auf den Hof hinaus. Die Nacht war windig und kalt und mondhell hinter huschenden Wolken. Alles wirkte ruhig und normal, alle Pferde dösten hinter geschlossenen Türen, bewegten sich kaum, wenn wir einen Blick zu ihnen hineinwarfen.

Die Boxen, die Jermyn Graves’ Pferde beherbergt hatten, waren immer noch leer, und die Schnur, die zu der

Glocke führte, war von der Tür entfernt worden; sie hing lose vom letzten Krampen herunter. Bobby sah zu, wie ich sie wieder an der Tür befestigte.

»Hältst du das immer noch für nötig?« fragte er zweifelnd.

»Ja«, sagte ich entschieden. »Der Futterhändler wird den Scheck von Graves zur Bank gebracht haben, aber gebucht ist er noch nicht. Ich würde Graves nicht unbesehen trauen, und ich wäre dafür, daß wir so viele Schnüre an die Glocke binden, wie wir nur können.«

»Er wird nicht noch mal kommen«, meinte Bobby kopfschüttelnd.

»Willst du’s darauf ankommen lassen?«

Er starrte mich eine Weile an und sagte dann: »Nein.«

Wir legten drei weitere Schnüre als Stolperdraht über die Wege und vergewisserten uns, daß die Glocke herunterfiel, wenn an einer von ihnen geruckt wurde. Es war vielleicht nicht das allerraffinierteste System, aber es hatte sich zweimal bewährt.

Um ein Uhr früh bewährte es sich zum dritten Mal.

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