Es verschlug mir den Atem. O mein Gott, dachte ich. Ist das die Möglichkeit?
Von wegen, die Sonne geht auf. So einfach, so leicht. Wieso war ich nicht von selbst darauf gekommen?
»Ihre Anteile am Towncrier ...«
»Ja«, sagte Hugh. »Die hatte mir mein Großvater vererbt. Ich meine, ich wußte nicht, daß ich sie hatte, bis ich einundzwanzig wurde.«
»Im August.«
»Ja. Richtig. Jedenfalls schien damit alles gelöst. Ich meine, es war doch die Lösung, oder? Maynard Allardeck sah den genauen Marktwert nach und alles und gab mir zwei, drei Formulare zum Unterschreiben. Ich unterschrieb, und dann sagte er, alles klar, wir seien restlos quitt, ich hätte keine Schulden mehr. Ich meine, das war so einfach. Und es waren nicht meine ganzen Anteile. Nicht mal die Hälfte.«
»Wieviel waren die Aktien wert, die Sie Allardeck gegeben haben?«
Er sagte, als ob solche Zahlen alltäglich wären: »Zwei-hundertundfünfzigtausend Pfund.«
Nach einer Pause sagte ich: »Hat Sie das nicht umgehauen ... so viel Geld?«
»Natürlich nicht. Es war ja nur auf dem Papier. Und Maynard Allardeck lachte und sagte, wenn ich jemals
wieder wettlustig wäre, dann hätte ich ja die entsprechenden Sicherheiten, und wir könnten jederzeit noch mal die gleiche Vereinbarung treffen, falls nötig. Ich bat ihn, meinem Vater nichts zu erzählen, und er sagte, er würde es nicht tun.«
»Aber Ihr Vater kam dahinter?«
»Ja, da war irgendwas mit Stimmrechtsaktien oder Vorzugsaktien oder Obligationen. Ich bin mir wirklich nicht sicher, ich wußte nicht, wovon die redeten, aber sie waren schwer damit beschäftigt, eine Übernahme abzuwehren. Die wehren ständig Übernahmen ab, aber in dem Fall hatten sie alle das Zittern, und irgendwo beim Towncrier entdeckten sie, daß die Hälfte meiner Aktien weg war, und Dad stellte mich zur Rede . und er war so sauer . so wütend hatte ich ihn noch nie erlebt ... noch nie .«
Hughs Stimme verklang, in seinen Augen stand die Erinnerung.
»Er hat mich hierher geschickt zu Saul Bradley und gesagt, wenn ich je noch mal auf irgend etwas wette, darf ich nie mehr nach Hause kommen ... Ich möchte, daß er ... wirklich ... daß er mir vergibt. Ich möchte wieder heim.«
Er schwieg. Die Intensität seiner Gefühle prallte in das Objektiv. Ich ließ die Kamera noch einige stumme Sekunden laufen, dann schaltete ich sie ab.
»Ich werde ihm den Film zeigen«, sagte ich.
»Glauben Sie denn ...?«:
»Daß er Ihnen mit der Zeit vergibt? Ja, das würde ich annehmen.«
»Ich könnte ja ab und zu mal in bar am Totalisator wetten.«
Sein Blick war abwägend, seine Haltung viel zu hoffnungsvoll. Die Sucht saß zu tief in ihm.
»Hugh«, sagte ich. »Hätten Sie was dagegen, wenn ich Ihnen einen Rat gebe?«
»Nein. Schießen Sie los.«
»Nehmen Sie mal praktischen Unterricht in Geldfragen. Gehen Sie ohne einen Penny weg, machen Sie die Erfahrung, daß es nicht nur Zahlen auf Papier sind, lernen Sie, daß es der Unterschied zwischen Essen und Hungern ist. Wetten Sie um Ihr Abendbrot, und wenn Sie verlieren, schauen Sie, ob sich das lohnt.«
Er antwortete ernst: »Ja, ich verstehe, was Sie meinen. Aber ich könnte gewinnen.« Und ich fragte mich zweifelnd, ob man jemals einen verantwortungslosen Spieler umkrempeln konnte, sei er reich, arm oder der Erbe des Towncrier.
Ich fuhr zurück nach London, übergab das Hugh-Vaughnley-Band wie die anderen der Obhut des Hotels und ging nach oben, um wieder einmal dumpf auf die Wände zu starren. Dann rief ich Holly an und bekam Bobby statt dessen.
»Wie läuft’s?« sagte ich.
»Ziemlich unverändert. Holly hat sich hingelegt, willst du mit ihr reden?«
»Es geht auch mit dir.«
»Ich habe noch einige Schecks von den Besitzern bekommen. Jetzt haben fast alle bezahlt.«
»Ist ja toll.«
»Sie sind ein Tropfen auf den heißen Stein.« Seine Stimme klang müde. »Löst dein Jockeydiener sie wieder ein?«
»Sicher.«
»Trotzdem«, sagte er. »Wir sind schlicht am Ende.« »Von der Flag«, sagte ich, »habt ihr wohl nichts mehr gehört? Kein Brief? Kein Geld?«
»Nicht die Bohne.«
Ich seufzte innerlich und sagte: »Bobby, ich möchte mit deinem Vater reden.«
»Das bringt doch nichts. Du weißt, wie er neulich war. Er ist starrsinnig und gemein, und er haßt uns.«
»Er haßt mich«, sagte ich, »und Holly. Dich nicht.«
»Wer hätte das gedacht«, meinte er bitter.
»Ich habe am Dienstag keine Ritte«, sagte ich. »Überrede ihn, daß er Dienstag nachmittag zu euch kommt. Ich trainiere morgens bei Wykeham.«
»Das ist ausgeschlossen. Er kommt nicht her.«
»Vielleicht doch«, wandte ich ein, »wenn du ihm sagst, daß er die ganze Zeit recht gehabt hat, daß jeder Fielding dein Feind ist und daß du seine Hilfe möchtest, um mich loszuwerden, mich aus deinem Leben zu vertreiben.«
»Kit!« Er war empört. »Das kann ich doch nicht. Es ist das letzte, was ich möchte.«
»Und wenn du es über dich bringst, sag ihm, daß du langsam auch von Holly genug hast.«
»Nein. Wie könnte ich? Ich liebe sie doch ... Das bekäme ich nicht überzeugend hin.«
»Bobby, mit weniger läßt er sich nicht locken. Fällt dir was anderes ein? Ich überlege seit Stunden. Wenn du ihn sonst irgendwie herbeischaffen kannst, tun wir es auf deine Weise.«
Nach einer Pause sagte er: »Er käme aus Haß. Ist das nicht furchtbar? Er ist mein Vater .«
»Ja. Es tut mir leid.«
»Was willst du denn mit ihm bereden?« »Ein Angebot. Hilfe für euch, als Gegenleistung für etwas, das er wird haben wollen. Aber erzähl ihm das nicht. Sag ihm nicht, daß ich komme. Schaff ihn nur herbei, wenn du kannst.«
Er sagte zweifelnd: »Der hilft uns im Leben nicht. Niemals.«
»Nun, wir werden sehen. Versuch’s wenigstens.«
»Ja, ist gut, aber um Himmels willen, Kit ...«
»Was denn?«
»Ich sag das furchtbar ungern, aber was dich anbelangt ... halte ich ihn für gefährlich.«
»Ich passe auf.«
»Das reicht so weit zurück ... Als ich klein war, hat er mir beigebracht, auf Gegenstände einzuschlagen . mit den Fäusten, mit einem Knüppel, und er sagte, ich solle dabei denken, ich schlüge Kit Fielding.«
Ich sog die Luft ein. »Wie in deinem Garten?«
»Mensch, Kit ... das hat mir so leid getan.«
»Weiß ich. Im Ernst. Es ist in Ordnung.«
»Ich habe über dich nachgedacht, und mir ist so vieles eingefallen. Vergessene Sachen wie zum Beispiel, daß er mir sagte, die Fieldings würden mich fressen, wenn ich ungezogen wäre ... ich muß drei oder vier gewesen sein. Ich hatte eine Heidenangst.«
»Als du vier warst, war ich zwei.«
»Die mich gefressen hätten, waren dein Vater und dein Großvater. Als du dann größer wurdest, hat er gesagt, verhau Kit Fielding, und mir gezeigt, wie. Er sagte, eines Tages würden du und ich uns gegenüberstehen, wir würden kämpfen müssen. Ich hatte das alles vergessen ... aber jetzt erinnere ich mich.«
»Mein Großvater«, seufzte ich, »hat mir einen Sandsack geschenkt und mir vorgemacht, wie man boxt. Das ist Bobby Allardeck, hat er gesagt. Auf ihn.«
»Ist das dein Ernst?«
»Frag Holly. Sie weiß es.«
»So ein Pack.«
»Das ist jetzt vorbei«, sagte ich.
Wir legten auf, und ich rief Danielle an und fragte sie, wie es mit Lunch und Tee und Dinner wäre.
»Hast du die alle vorgesehen?« fragte sie zurück.
»Alle oder eine Auswahl.«
»Dann alle.«
»Ich komme gleich vorbei.«
Sie öffnete die Haustür am Eaton Square, als ich anhielt, und kam mit federnden Schritten über den Gehsteig, eine Beschwörung des Sommers im Blumenmuster ihrer Jacke, der cremefarbenen Hose, dem Chintzband, das ihr weiches Haar zurückhielt.
Sie stieg neben mir ein und küßte mich wie aus alter Gewohnheit.
»Tante Casilia läßt dich grüßen und hofft, wir haben einen schönen Tag.«
»Und sind bis Mitternacht zurück?«
»Ich meine ja, meinst du nein?«
»Kriegt sie das mit?«
»Aber sicher. Ich komme an ihren Zimmern vorbei, wenn ich in meins gehe - sie und Onkel Roland schlafen getrennt -, und die Fußböden knarren. Sie rief mich herein, um zu fragen, ob ich mich amüsiert hätte. Sie saß lesend im Bett und sah wie üblich toll aus. Ich sagte ihr, was wir gemacht haben, und zeigte ihr die Truhe ... wir haben uns ziemlich lange unterhalten.«
Ich musterte ihr Gesicht. Sie erwiderte meinen Blick ernst.
»Was hat sie gesagt?« fragte ich.
»Dir ist wichtig, was sie denkt, nicht wahr?«
»Ja.«
»Ich glaube, das würde sie freuen.«
»Dann erzähl mal.«
»Noch nicht.« Sie lächelte flüchtig, beinah verstohlen. »Wie war das mit diesem Lunch?«
Wir gingen in ein Restaurant auf einem Turm und aßen mit Aussicht über halb London. »Consomme und Erdbeeren ... du tust was für meine Figur.«
»Nimm dir Zucker und Sahne.«
»Nicht, wenn du keine nimmst.«
»Du bist dünn genug«, sagte ich.
»Bekommst du das nicht manchmal satt?«
»So wenig zu essen? Und ob.«
»Aber du wirst nie schwach?«
»Ein Pfund Mehrgewicht im Sattel«, sagte ich bitter, »kann eine Länge Unterschied am Ziel bedeuten.«
»Ende der Diskussion.«
Beim Kaffee fragte ich, ob sie gern irgendwohin wollte, fügte aber entschuldigend hinzu, daß London sonntags ziemlich dichtzumachen schien, besonders im November.
»Ich würde gern sehen, wo du wohnst«, sagte sie. »Ich würd gern Lambourn sehen.«
»Gut«, sagte ich und fuhr mit ihr hin; siebzig Meilen westwärts die Autobahn M4 hinunter in Richtung Devon, wobei ich mich ausnahmsweise brav an das Tempolimit hielt. Schließlich bogen wir ab in das große Dorf, die kleine Stadt, wo die Kirche an der Hauptkreuzung stand und tausend Vollblüter in Boxen lebten.
»Es ist ruhig«, sagte sie.
»Es ist Sonntag.«
»Wo ist dein Cottage?«
»Wir fahren da vorbei«, sagte ich, »aber wir gehen nicht rein.«
Sie war verwirrt und anscheinend enttäuscht und schaute sehr lange zu mir herüber. »Warum nicht?«
Ich erklärte ihr, daß eingebrochen worden war und daß die Polizei sagte, die Wohnung sei durchsucht worden. »Die Eindringlinge haben nichts gefunden, worauf sie aus waren, und sie haben auch nichts gestohlen. Ich würde aber wetten, sie haben etwas zurückgelassen.«
»Was meinst du damit?«
»Langohriges Ungeziefer.«
»Wanzen?«
»Mm«, sagte ich. »Da drüben ist es.«
Wir fuhren langsam vorbei. Es gab kein Lebenszeichen. Keinen Hinweis darauf, daß schwere Jungs mit scharfen Messern im Gebüsch lauerten, was nach drei Tagen auch kaum anzunehmen war. Zu langweilig, zu kalt. Sie würden aber irgendwo lauschen; wenn nicht diese beiden, dann andere.
Das Cottage war aus Backsteinen gebaut, ziemlich schlicht, und hätte vielleicht im Juni viel besser ausgesehen, wenn Rosen da waren.
»Innen ist es ganz nett«, sagte ich.
»Aha.« Sie klang niedergeschlagen. »Okay. Das wäre erledigt.«
Ich fuhr um die Ecke und auf einen Hügel und brachte sie statt dessen zu dem neuen Haus.
»Wem gehört das denn?« sagte sie. »Das ist ja gut.«
»Es gehört mir.« Ich stieg aus und kramte nach den Schlüsseln. »Es steht leer. Komm, sieh es dir an.«
Der strahlende Tag ging zu Ende; aber noch fiel genügend direktes Sonnenlicht horizontal durch die Fenster ein, um die großen leeren Zimmer zu erhellen, und die Luft im Haus war zwar kalt, aber kein Problem für die Zentralheizung, die, als ich sie einschaltete, mit einem leisen Gluk-kern in Aktion trat. Es gab ein paar Glühbirnen, aber keine Lampenschirme. Keine Vorhänge. Keine Teppiche. Parkettboden überall, gefegt, aber nicht gebohnert. Spuren von Handwerkern in der ganzen Wohnung.
»Sie fangen gerade erst an zu streichen«, sagte ich und öffnete die Doppeltür vom Flur zum Wohnzimmer. »Wenn sie sich nicht sputen, werde ich ihnen bald Gesellschaft leisten.«
Im Wohnzimmer waren Gerüste für die Arbeit an der Decke aufgebaut, ein Heer von Farbkübeln stand herum, und der ganze Boden war mit Staubdecken verhüllt, um Spritzer zu vermeiden.
»Es ist riesig«, sagte sie. »Unglaublich.«
»Es hat eine große Küche. Ein Büro. Alles mögliche.« Ich erzählte ihr von dem bankrotten Bauunternehmer. »Er hatte es für sich entworfen.«
Wir gingen überall herum, überall durch und endeten in dem großen Raum direkt neben dem Wohnzimmer, dem Raum, in dem ich schlafen würde. Offenbar hatten die Tapezierer dort angefangen: Er war sauber, leer und fertig, das Bad gestrichen und gekachelt, das Parkett schwach schimmernd von der ersten Politur. Hier und da sprenkelte die Abendsonne die weißen Wände.
Danielle stand am Fenster und sah hinaus auf den schlammigen Platz, der im Sommer eine Terrasse mit Geranientöpfen sein würde. Die rechte Person . am rechten Ort . zur rechten Zeit.
»Legst du dich in mein Schlafzimmer?« sagte ich.
Sie drehte sich um, eingerahmt von der Sonne, ihr Haar wie ein Heiligenschein, ihr Gesicht im Schatten, schwer zu erkennen. Anscheinend horchte sie noch meinen Worten nach, wie um sicherzugehen, daß sie recht gehört und mich nicht falsch verstanden hatte.
»Auf den nackten Fußboden?« Ihre Stimme war ruhig, abwartend, freundlich und sanft.
»Wir könnten, ehm, vielleicht ein paar Staubdecken nehmen.«
Sie dachte darüber nach.
»Okay«, sagte sie.
Wir holten einige Staubdecken aus dem Wohnzimmer und ordneten sie ungefähr zu einem Rechteck, mit Kopfkissen.
»Ich habe schon bessere Ehebetten gesehen«, sagte sie.
Wir zogen ohne Eile unsere Kleider aus, legten sie auf den Boden. Keine wirklichen Überraschungen. Sie war, wie ich gedacht hatte, schlank und gerundet, ihre Haut glühte jetzt in der Sonne. Sie streckte die Finger aus und berührte leicht die Stichwunden, die verblassenden Prellungen, die bekannten Stellen.
Sie sagte: »Hast du, als du mich gestern auf dem Rennplatz bei der Siegerehrung angesehen hast, an das hier gedacht?«
»An etwas Ähnliches. War es so offensichtlich?«
»Unübersehbar.«
»Ich hatte es befürchtet.«
Danach redeten wir nicht mehr viel. Wir blieben noch eine Weile stehen, dann legten wir uns hin und lernten auf der harten Baumwollunterlage die letzten Dinge voneinander, gaben und empfingen Freude, strebten in Wellen zueinander hin und voneinander weg, mit leisem Murmeln und mit Heftigkeit und atemloser, elementarer Energie.
Das Sonnenlicht verschwand allmählich. Der Abendschein, der noch am Himmel war, spiegelte sich in ihren Augen und auf ihren Zähnen, vertiefte die Dunkelheit in Mulden und in ihrem Haar.
Am Ende der langen Ruhe danach sagte sie nüchtern: »Heißes Wasser gibt es wohl noch nicht?«
»Bestimmt sogar«, sagte ich träge. »Es ist an die Heizung angeschlossen. Licht- und Rohrleitungen, alles funktioniert.«
Wir standen auf und gingen ins Bad und drehten die Hähne auf, aber kein Licht an. Da drinnen war es dunkler, und wir bewegten uns wie Schemen, mehr Substanz als Form.
Ich stellte die Dusche warm ein. Danielle stieg mit mir drunter, und in dem Sprühregen liebten wir uns noch einmal zärtlich, mit Leidenschaft und Innigkeit, ihre Arme um meinen Hals, ihr Bauch flach an meinem, vereint, wie ich es noch nie im Leben gewesen war.
Schließlich drehte ich den Hahn zu.
»Es sind keine Handtücher da«, sagte ich.
»Aber immer noch die Staubdecken.«
Wir nahmen unser Bett auseinander und trockneten uns ab, küßten uns nochmals, gemäßigter, fühlten uns sauber. In beinah völliger Dunkelheit deponierten wir die Staubdecken im Wohnzimmer, schalteten die Heizung aus und verließen das Haus, das wir hinter uns absperrten.
Danielle schaute sich um, bevor sie ins Auto stieg. »Was jetzt wohl das Haus denkt?« sagte sie.
»Es denkt, mein lieber Schwan.«
»Das denke ich allerdings auch.«
Wir fuhren über die alte Strecke zurück nach London, nicht über die Autobahn; schlängelten uns durch die leeren Sonntagabendstraßen einer Reihe von Städten, warteten an Ampeln, zogen die Fahrt in die Länge. Schließlich parkte ich den Wagen im Londoner Zentrum, und wir gingen eine Weile zu Fuß, hielten an, um Menüs zu studieren, und aßen dann in einem belebten französischen Bistro mit rotkarierten Tischtüchern und einem androgynen Gitarristen; saßen händchenhaltend in einer Ecke, lasen die mit Kreide auf eine Tafel geschriebene Speisekarte.
»Tante Casilia«, sagte Danielle etwas später beim Kaffee, »meinte gestern abend unter anderem, daß Anstand zwar sein müsse, Enthaltsamkeit aber nicht.«
Ich lachte erstaunt und küßte sie und fuhr sie nach einiger Zeit mit Anstand zurück zum Eaton Square.
Ich startete am nächsten Tag in Windsor, wo ich den Wagen am Bahnhof stehen ließ und ein Taxi direkt bis zum Eingangstor der Jockeys nahe dem Waageraum nahm.
Die Prinzessin hatte keine Starter und wurde nicht erwartet; ich ritt je zwei Pferde für Wykeham und den Trainer aus Lambourn und brachte sie alle auf den ersten oder zweiten Platz, was die Besitzer freute und den Stallburschen ein Grinsen aufs Gesicht zauberte. Bunty Ireland sagte mir strahlend, ich hätte die größte Gewinnsträhne aller Zeiten, während ich es für wahrscheinlich hielt, bis spätestens Donnerstag wieder eine Bruchlandung zu bauen, aber ich hoffte trotzdem, daß er recht hatte.
Mein Jockeydiener sagte, klar würde er mich in seinem Lieferwagen zum Bahnhof mitnehmen - kein allzu ungewöhnlicher Dienst. Er las laut und mißbilligend aus der Flag vor: »Die Realität ist Achsel schweiß, schmutziger Sex und tote Junkies in öffentlichen Toiletten, steht hier.«
Er schmiß die Zeitung auf die Bank. »Realität ist die Gasrechnung, daß man an den Geburtstag seiner Frau denkt, daß man mit seinen Kumpels ein Bier trinkt, eher in der Richtung. Steigen Sie schon in den Transporter, Kit, er steht direkt vorm Waageraum, ich bin hier so gut wie fertig.«
Realität, dachte ich im Hinausgehen, ist Speed an den Hindernissen, ein Benimmspiel, Liebe unter der Dusche; jedem das Seine.
Ich kam ohne Zwischenfall zurück zum Hotel und telefonierte pünktlich mit Wykeham.
»Wo stecken Sie?« sagte er. »Dauernd fragen Leute nach Ihnen.«
»Wer denn?«
»Das sagen sie nicht. Mindestens vier Kerle. Den ganzen Tag schon. Wo sind Sie?«
»Wohne bei Freunden.«
»Aha.« Er fragte nicht weiter. Ihm selbst war es egal. Wir sprachen über seinen Sieger und seinen Zweitplazierten und erörterten die Pferde, die ich am Morgen trainieren sollte.
»Einer von den Burschen, die anriefen, wollte Sie zu so einer Lunchparty in London einladen«, sagte er, als erinnere er sich plötzlich daran. »Mich haben sie auch eingeladen. Die Sponsoren von Inchcapes Rennen am letzten Samstag. Die Prinzessin kommt, und uns wollten sie auch dabeihaben. Sie meinten, es wäre eine tolle Gelegenheit, da sie aus dem Rennkalender ersehen könnten, daß wir morgen keine Starter haben.«
»Gehen Sie hin?«
»Nein, nein. Ich sagte, ich könnte nicht. Aber es wäre vielleicht besser, wenn Sie früher herkämen und das Training zeitig erledigten.«
Ich stimmte ihm zu und wünschte gute Nacht.
»Gute Nacht, Kit«, sagte er.
Ich rief meinen Anrufbeantworter ab, und dort unter den Nachrichten waren auch die Sponsoren von Icefalls Rennen mit ihrer Einladung zum Lunch am nächsten Tag. Sie würden sich freuen, wenn es mir möglich wäre, mit ihnen und der Prinzessin zusammen unseren Sieg in ihrem Rennen zu feiern; könnte ich bitte unter der gegebenen Nummer zurückrufen?
Ich wählte die Nummer, geriet an einen Anrufbeantworter, der mich weiterverwies, und erreichte schließlich den Chef der Sponsoren selbst.
»Glänzend, glänzend, Sie können kommen?« sagte er. »Zwölf Uhr dreißig im Guineas Restaurant in der Curzon Street. Wir sehen uns dort. Das ist ausgezeichnet.«
Sponsoren bekamen Reklame durch Pferderennen und pumpten dafür reichlich Geld in den Sport. Es gab eine stillschweigende Übereinkunft unter Rennsportleuten, daß Sponsoren zu begrüßen waren und daß Jockeys, wenn sie eingeladen wurden, nach Möglichkeit erscheinen sollten. Es gehörte zum Job. Und ich wollte auch hin, um mich mit der Prinzessin zu unterhalten.
Ich beantwortete meine anderen Nachrichten, von denen keine wichtig war, und rief dann Holly an.
»Bobby hat mit seinem Vater gesprochen«, sagte sie. »Der Widerling meinte, er käme nur, wenn du auch hier wärst. Bobby gefiel das nicht.«
»Hat Bobby gesagt, daß ich sowieso da wäre?«
»Nein, er hat erst mal abgewartet. Er will von dir hören, was er sagen soll. Er ruft seinen Vater noch mal an.«
Aus und vorbei, dachte ich, mit dem Überraschungsvorteil. »In Ordnung«, sagte ich. »Bobby soll ihm sagen, daß ich komme. Gegen vier Uhr, denke ich. Ich gehe zu einer Sponsorenlunchparty in London.«
»Kit ... was immer du vorhast, tu’s nicht.«
»Muß sein.«
»Ich hab’ so ein Gefühl .«
»Unterdrück es. Wie geht’s dem Baby?«
»Schaff dir nie eins an«, sagte sie. »Es ist das letzte.«
Ich holte alle vier bespielten Videobänder aus dem Tresorraum des Hotels und nahm sie sowie sechs andere, unbespielte, mit nach Chiswick, wo ich Danielle vorsichtig an ihrem Schreibtisch küßte.
»Hallo«, sagte sie, tief aus den Augen lächelnd.
»Selber hallo.«
»Wie lief es heute?«
»Zwei Siege, zweimal Zweiter.«
»Und keine Blessuren?«
»Keine Blessuren.«
Sie schien sich zu entspannen. »Ich bin froh, daß es dir gutgeht.«
Joe tauchte aus dem Gang zu den Schneideräumen auf und sagte, er kaue vor Untätigkeit schon an den Nägeln; ob ich zufällig meine Kassetten mitgebracht hätte. Ich nahm die vier bespielten Bänder von Danielles Schreibtisch, und er stürzte sich darauf und trug sie davon.
Ich folgte ihm mit den Leerkassetten in einen Schneideraum und saß neben ihm, während er mit Empörung auf dem dunklen Gesicht nacheinander die Interviews abspielte.
»Können Sie sie zusammenfügen?« fragte ich, als er fertig war.
»Und ob ich das kann«, sagte er düster. »Was wir brauchen, ist ein verbindender Kommentar. Haben Sie sonst noch was? Aufnahmen von den Schauplätzen, so in der Richtung?«
Ich schüttelte den Kopf. »Daran hab ich nicht gedacht.«
»Es hat keinen Zweck, einen Kommentar auf dem leeren Schirm zu bringen. Man braucht Bilder, um das Interesse wachzuhalten. Wir haben bestimmt etwas in der Bibliothek, was wir nehmen können.«
Danielle erschien mit fragendem Blick an der Tür.
»Wie läuft’s?« sagte sie.
»Ich nehme an, du weißt, was auf den Bändern ist?« sagte Joe.
»Nein. Kit hat es mir nicht gesagt.«
»Gut«, meinte Joe. »Wenn ich fertig bin, testen wir’s an dir. Holen uns eine Reaktion.«
»Okay«, sagte sie. »Gott sei Dank ist es eine ruhige Nacht, was die Nachrichten anbelangt.«
Sie ging fort, und Joe hielt mir ein Mikrofon hin. In wenigen Worten erklärte ich, wer die Perrysides waren, wies George Tarker einen Ort zu und führte Hugh Vaughnley ein. Ich wollte sie in dieser Reihenfolge, sagte ich.
»Geht klar«, erwiderte er. »Unterhalten Sie sich jetzt ein bißchen mit Danielle, und überlassen Sie die Sache mir, und wenn Ihnen das Ergebnis nicht gefällt, macht das gar nichts, wir können es jederzeit ändern.«
»Ich habe Leerkassetten mitgebracht«, sagte ich und gab sie ihm. »Könnten wir, wenn die endgültige Version im Kasten ist, Kopien machen?«
Er nahm eins von den neuen Bändern, schälte die Zellophanhülle herunter und steckte es in einen Apparat. »Ein Klacks«, sagte er.
Er verwandte zwei oder drei Stunden darauf, kam einige Male pfeifend heraus, um zu sehen, ob der Stationsleiter noch zufrieden war (es hatte den Anschein), sagte mir, Spielberg könne es auch nicht besser, trank Kaffee aus dem Automaten und ging vergnügt wieder ans Werk.
Danielle arbeitete zwischendurch an einer Story über die Polizeijagd nach einem Vergewaltiger, der an Bushaltestellen lauerte und gerade festgenommen worden war. Sie meinte, das würde drüben zwar nicht in die Netznachrichten kommen, gäbe hier aber wenigstens allen zu tun. Keine Devil-Boys, keine Ölbrände an diesem Abend.
Tante Casilia, sagte Danielle, freue sich auf die morgige Lunchparty und hoffe mich dort zu sehen.
»Kommst du auch?« fragte ich.
»Nee, Tante Casilia hätte mir eine Einladung besorgt, aber eine Collegefreundin ist auf der Durchreise in London. Wir essen zusammen. Eine alte Verabredung, kann ich nicht abblasen.«
»Schade.«
»Gehst du hin? Soll ich es ihr sagen?«
Ich nickte. »Morgen früh trainiere ich ein paar von ihren Pferden, und danach fahre ich vorbei.«
Joe kam schließlich wieder zum Vorschein, reckte sein Kreuz und ließ seine Finger knacken.
»Dann mal los«, sagte er. »Seht es euch an.«
Wir gingen alle, auch der Stationsleiter, und setzten uns auf Stühle, die wir aus den benachbarten Räumen holten. Joe warf sein Gerät an, und sofort lief die ungekürzte Fassung des Fernsehinterviews mit Maynard und seinem Folterer, ergänzt durch die Liste der Firmen, die Maynard erworben hatte. Anschließend kehrte das Band zu den Bemerkungen des Interviewers über die Geschichte Metavanes zurück, und dann kam meine Stimme, die zu einer Bildfolge von galoppierenden Pferden auf Newmarket
Heath erklärte, wer Major und Mrs. Perryside waren und wo sie jetzt lebten.
Die Perrysides erschienen in voller Länge, tapfer und ergreifend, und am Ende kam erneut der Fernseh-Inter-viewer ins Bild, der die Liste der Übernahmen wiederholte. Diesmal brach sie mit der Erwähnung von Purfleet Electronics ab, und während dann die Schlammzone der Themsemündung zu sehen war, führte meine Stimme George Tarker ein. Auch dieses Interview wurde ganz gezeigt, und als er weinend erzählte, daß sein Sohn sich unter Strom gesetzt hatte, füllten sich Danielles Augen mit Tränen.
Joe ließ das Bild von George Tarkers gramzerfurchtem Gesicht so lange laufen, wie ich es aufgezeichnet hatte, und dann kam wieder meine Stimme, die jetzt über einer auf Hochtouren laufenden Rotationspresse erklärte, daß als nächstes der Sohn von Lord Vaughnley erscheine, dem Inhaber des Daily und Sunday Towncrier.
Das Band von Hugh, ungekürzt, endete mit seiner inständigen Bitte, wieder nach Hause zu dürfen. Danach kam eine lange Aufnahme aus der bearbeiteten Fernsehfassung von Handel heute auf den Schirm, die Maynard lächelnd und mit edler Miene zeigte. Die dazugehörige Tonspur war gelöscht, so daß man ihn stumm sah. Dann wurde der Bildschirm für etwa zehn Sekunden massiv schwarz, bevor sich Schnee und Hintergrundrauschen einstellten.
Obwohl ich drei der Hauptsequenzen selbst aufgezeichnet hatte, war der Gesamteindruck überwältigend. Als Ganzes war es ein Schlag ins Gehirn, emotional, ein vernichtendes Urteil gegen die Niedertracht.
Der Stationsleiter sagte: »Himmel«, und Danielle schneuzte sich die Nase.
»Es läuft eine Stunde, dreizehn Minuten«, sagte mir Joe, »falls es Sie interessiert.«
»Ich kann Ihnen gar nicht genug danken.«
»Ich hoffe, daß das Schwein büßen muß«, sagte er.
Am Morgen fuhr ich zu Wykehams Stall südlich von London und verbrachte dort auf den Downs zwei lohnende Stunden damit, seine absoluten Anfänger im Springen zu unterweisen und das Gedächtnis von anderen aufzufrischen. Wir ließen auch das Pferd, das in Ascot gestürzt war, kurz springen, um ihm zu helfen, sein Selbstvertrauen nach der Schlappe wiederzuerlangen, und sprachen die Starter der laufenden Woche durch.
»Danke, daß Sie gekommen sind«, sagte er. »Nett von Ihnen.«
»Ein Vergnügen.«
»Wiedersehen, P ... ehm ... Kit.«
»Wiedersehen, Wykeham«, sagte ich.
Ich fuhr zurück nach London, duschte und zog einen grauen Anzug mit weißem Hemd und ruhiger Krawatte an, um den Sponsoren ein gepflegtes Äußeres zu präsentieren.
Ich steckte eine der sechs Kopien, die Joe von der Allar-deck-Produktion angefertigt hatte, in einen großen Umschlag und packte eine zweite in die weite Innentasche meines blauen Anoraks. Die anderen vier brachte ich nach unten und ließ sie in den Hotelsafe sperren; dann fuhr ich mit dem Umschlag und dem Anorak per Taxi zu Eric Ol-derjohns Reihenhaus hinter dem Sloane Square.
Das Taxi wartete, während ich an der grünen Tür klingelte, und es überraschte mich nicht sonderlich, daß niemand daheim war. Ich schrieb auf den Umschlag: »Mr. Olderjohn, bitte geben Sie dies einer gewissen Per-son, nur für deren Gebrauch. Grüße, Kit Fielding«, und schob ihn durch den Briefschlitz.
»Gut«, sagte ich dem Taxifahrer. »Zum Guineas Restaurant, Curzon Street.«
Das Guineas, wo ich schon mehrmals gewesen war, war im Prinzip eine Ansammlung von privaten Speisesälen unterschiedlicher Größe, hauptsächlich benutzt für geschlossene Gesellschaften wie die, zu der ich wollte. Luxuriös und diskret, beeindruckte es durch dunkelgrüne Velourstapete, vergoldete Putten und Kellner mit Handschuhen. Jedesmal wenn ich dort war, hatte man Lammnuß serviert.
Ich ließ meinen Anorak unten in der Garderobe und steckte die Marke ein, stieg die breite Treppe hinauf zum ersten Stock, wandte mich rechts, ging einen Korridor entlang und kam, wie man mir gesagt hatte, zu der Sponso-renparty im One Thousand Room.
Die Sponsoren begrüßten mich überschwenglich. »Kommen Sie, kommen Sie. Trinken Sie Champagner.« Sie gaben mir ein Glas.
Die Prinzessin war dort, in einem cremefarbenen Seidenkostüm mit Gold und Zitrinen, das dunkle Haar hochgesteckt, lächelnd.
»Es freut mich ja so, daß Sie gekommen sind«, sagte sie und drückte mir die Hand.
»Ich mochte mir das nicht entgehen lassen.«
»Was machen die Pferde? Wie geht’s Icefall? Wie geht’s meiner armen Allegheny? Haben Sie gewußt, daß Lord Vaughnley hier ist?«
»Tatsächlich?«
Ich schaute mich um. Etwa dreißig Leute waren anwesend, mehr, als ich erwartet hatte. Vom anderen Ende des Saales her sah mich Lady Vaughnley und winkte.
»Der Towncrier hat sich mit den Icefall-Leuten zusammengetan«, sagte die Prinzessin. »Jetzt ist es eine Doppelparty.«
Die Icefall-Sponsoren kamen, um sie zu begrüßen. »Kommen Sie doch mit ... darf ich vorstellen .«
Lord Vaughnley nahte und sah freundlicher als freundlich drein.
»Meine Herrschaften«, sagte einer der Sponsoren laut, »wir gehen jetzt alle in einen anderen Raum, denn es gibt Filme von unseren zwei Rennen zu sehen, die beide unser hochverehrter Gast, Prinzessin Casilia, gewonnen hat.«
Es gab leichten Applaus, und alles bewegte sich zur Tür hin. Lord Vaughnley stand direkt neben mir. Die Prinzessin blickte sich um.
»Kommen Sie, Kit?«
»Gleich«, sagte Lord Vaughnley. »Möchte ihn nur etwas fragen.«
Die Prinzessin lächelte, nickte und ging weiter. Lord Vaughnley bugsierte alle hinaus, und als der Saal leer war, schloß er die Tür und stellte sich mit dem Rücken davor.
»Ich wollte mich mit Ihnen in Verbindung setzen«, sagte ich, aber ich glaube nicht, daß er es hörte. Er blickte zu einer zweiten Tür, in einer Seitenwand.
Die Tür ging auf, und zwei Leute kamen herein.
Nestor Pollgate.
Jay Erskine.
Pollgate sah befriedigt aus, und Jay Erskine grinste.