Die Lieferwagen fegten in den Hof, als führten sie ein Rennen durch: ein roter, ein gelber. Beiden entstieg eher gemächlich ein Mann in dunkler Kleidung; der aus dem roten Wagen mit der Post vom Tage, der aus dem gelben mit einem Klemmbrett. Die Royal Mail und die British Telecom Seite an Seite.
Bobby ging zur Tür, nahm die Briefe in Empfang und brachte den Mann vom Fernmeldeamt mit in die Küche.
»Wanzenjagd«, meinte der Telecom-Mann herzlich, als das rote Fahrzeug draußen wieder losbrauste. »Termiten ham Se im Telefon, was? Ham’s in der Leitung knacken gehört? Hören unheimlich viele Leute. Falscher Alarm, wissen Sie.«
Er war dick, schnauzbärtig und zu voll von unnötiger Jovialität. Bobby nahm sich gehörig zusammen, bot Kaffee oder Tee an, und ich ging nach oben, um das nicht bloß eingebildete, am Schornstein gefundene Gerät zu holen.
Auf dem Rückweg konnte ich die Stimme des Fernmeldemannes längst hören, bevor ich ihn sah.
»Den MI5, den gibt’s natürlich, aber was so die durchschnittlichen linken Militanten sind, die rufen uns regelmäßig. Also in Cambridge, dauernd blinder Alarm.«
»Hier«, sagte Bobby zähneknirschend, »ist es kein blinder Alarm.«
»Wir haben das hier gefunden«, sagte ich beschwichtigend, legte die Werkzeugtasche auf den Tisch, rollte sie auseinander und holte zur Begutachtung den kleinen Metallwürfel mit dem Stab und der anhängenden Schnurrolle hervor.
»Sieh an«, erwachte das Interesse des Technikers, »na, was das ist, wissen Sie ja wohl?«
»Eine Wanze«, sagte ich.
»Also das da«, verbesserte er, »ist der Transformator beziehungsweise Sender und die Erdung. Wo ist der Rest?«
»Welcher Rest?«
Er sah uns mitleidig an. »Sie brauchen doch das Hörrohr. Woher haben Sie die Sächelchen hier?«
»Vom Schornsteinkasten, wo die Telefonleitung ans Haus kommt.«
»Na also.« Er schnaubte durch die Nase. »Dann sollten wir da mal nachsehen.«
Wir nahmen ihn mit ums Haus statt durch das Gesellschaftszimmer, gingen vom Hof aus den Pfad hinunter und durch das Tor. Die ausziehbare Aluminiumleiter lag noch auf dem Weg, doch als der Telefontechniker die Höhe des Schornsteins ins Auge faßte, entschied er sich gegen ihren schwachen Halt und ging zurück zu seinem Transporter, um weitaus robustere Sprossen zu holen. Er brachte auch einen gutbestückten Werkzeuggurt mit, den er um die breite Taille geschnallt trug.
Nachdem er seine zünftige Leiter ausgezogen und aufgestellt hatte, stiefelte er sie so locker hinauf, als ginge er spazieren. Jedem seine besonderen Fähigkeiten.
Oben stützte er den Bauch ab, griff dorthin, wo sich das Telefonkabel zu den beiden Anschlußklemmen gabelte, und verwandte einige Zeit darauf, mit den Werkzeugen aus seinem Gurt zu klemmen, zu stutzen und neu zu befestigen, bevor er gelassen auf die Erde zurückkehrte.
»Ein sauberes Stückchen Arbeit«, sagte er anerkennend. »Erstklassige Lauschanlage. Sieht aus, als ob sie so zwei oder drei Wochen dort war. Schmuddelig, aber nicht allzusehr, hm? Bloß eine Weile da oben in Ruß und Regen.«
Er hielt uns seine breite Hand hin, in der ein kleiner Zylinder mit zwei kurzen Drahtenden lag.
»Sehen Sie, das fängt die Impulse aus Ihrem Telefonkabel auf und leitet sie in den Trafo, den Sie gestern nacht runtergeholt haben. Denn Stimmfrequenzen bewegen sich irgendwo zwischen fünfzig Hertz und drei Kilohertz, aber das kann man nicht funken, es muß auf etwa dreitausend Megahertz hochgebracht werden. Sie brauchen einen Verstärker, der die Frequenz so moduliert, daß sie ein Mikrowellensender senden kann.« Er blickte auf unsere Gesichter. »Nicht gerade Elektronikexperten, was?«
»Nein«, sagten wir.
Mit selbstzufriedener Überlegenheit ging er uns auf dem Rückweg zum Hof voran, wobei er mühelos seine schwere Leiter trug. In der Küche legte er den eben aufgelesenen Zylinder neben die Beute der vorigen Nacht und setzte seinen Vortrag fort.
»Die beiden Drähte aus dem Zylinder gehören in den Trafo, und der kleine Stab hier ist die Antenne.«
»Wofür ist die ganze Schnur?«
»Schnur?« Er lächelte breit. »Das ist keine Schnur, es ist Draht. Sehen Sie? Feiner Draht mit Isolierung. Das ist ein Erdleitungsdraht, um den Stromkreis zu schließen.«
Wir schauten ohne Zweifel verständnislos drein.
»Wenn Sie in den letzten Wochen das Mauerwerk unter Ihrem Schornstein mal näher untersucht hätten, dann hät-ten Sie gesehen, daß diese sogenannte Schnur daran entlanglief. Sogar durch Klammern lief. Vom Sender runter in die Erde führte.«
»Ja«, sagte Bobby. »Wir sind um diese Jahreszeit nicht viel da draußen.«
»Sauberes Stückchen Arbeit«, meinte der Techniker nochmals.
»Ist da schwer ranzukommen?« fragte ich. »An so eine Ausrüstung?«
»Kinderleicht«, sagte er mitleidig. »Das können Sie sich jederzeit aus Ihrem Elektroversandkatalog bestellen.«
»Und weiter?« fragte ich. »Wir haben den Anschluß und den Sender. Wo könnten wir den Empfänger finden?«
Der Telefontechniker sagte wohlüberlegt: »Das ist ein schwacher Sender. Muß er sein, ist ja so klein. Läuft mit Batterie, ja? Also brauchen Sie eine große Scheibenantenne, um die Signale aufzufangen. In Blickrichtung. Sagen wir, ’ne Viertelmeile entfernt? Und keine Gebäude, die alles verzerren. Dann müßten Sie, glaube ich, ganz gut klarkommen.«
»Eine große Scheibenantenne, eine Viertelmeile entfernt?« wiederholte ich. »Die würde doch jeder sehen.«
»Nicht im Inneren eines Lieferwagens, da nicht.« Er berührte nachdenklich den würfelförmigen Sender. »Hübschen hohen Kamin ham Se da. Meistens finden wir die Dingerchen auf den Masten an der Straße. Aber je höher man den Sender legt, um so weiter kriegt man eben guten Empfang.«
»Ja«, sagte ich, wenigstens das verstehend.
»Es handelt sich hier um eine inoffizielle Schnüffelei«, belehrte er uns freudig. »Dabei gibt es auch kein Knacken. Man merkt überhaupt nichts davon.« Er zog seinen Gurt zurecht. »Also dann, unterschreiben Sie grad meinen Schein, und weg bin ich. Und Sie sollten ab und zu mit dem Fernglas da rausgehen und ein Auge auf Ihren Kamin und auf den Mast an der Straße haben, und wenn Sie noch mal kleine unbekannte Wesen auf Ihren Drähten wachsen sehen, klingeln Sie mich an, dann bin ich gleich wieder da.«
Bobby unterschrieb ihm den Schein, dankte ihm und begleitete ihn raus zu seinem Lieferwagen; und ich betrachtete die stumme Wanze und fragte mich dunkel, wessen Telefon ich damit anzapfen könnte, wenn ich lernte, wie es ging.
Holly kam herein, als der gelbe Lieferwagen abfuhr. Sie wirkte blaß in Jeans und ausgeleiertem Pullover, ihr Haar war noch feucht vom Duschen.
»Morgendliches Erbrechen ist die Hölle«, sagte sie. »Habt ihr Tee gekocht?«
»In der Kanne ist Kaffee.«
»Bekäme ich nicht runter.« Sie setzte den Kessel auf. »Was war letzte Nacht da draußen zwischen dir und Bobby? Er sagte, du würdest es ihm nie verzeihen, aber er wollte nicht sagen, was. Ich glaube, er hat überhaupt nicht geschlafen. Um fünf lief er schon im Haus rum. Also, was ist passiert?«
»Wir haben keinen Ärger miteinander«, sagte ich. »Das kann ich dir versichern.«
Sie schluckte. »Es wäre einfach alles aus, wenn du und Bobby euch zanken würdet.«
»Haben wir nicht getan.«
Sie war immer noch skeptisch, sagte aber nichts mehr. Sie tat ein paar Scheiben Brot in den Toaster, als Bobby wiederkam, und alle drei setzten wir uns an den Tisch, reichten die Marmelade herum und hingen unseren eigenen Gedanken nach. Bei mir war das ein Durcheinander von Journalisten, Bobbys Bankfilialleiter und der Frage, wie sollte ich vor dem ersten Rennen meine Muskeln aufwärmen und lockern?
Bobby begann ängstlich die Post vom Tage zu öffnen, doch seine Befürchtungen waren unbegründet. Es gab keinen Todesstoß von der Bank und keine mit Drohungen gewürzten Zahlungsaufforderungen. Drei von den Umschlägen enthielten Schecks.
»Ich fasse es nicht«, sagte er verblüfft. »Die Besitzer zahlen.«
»Das ging ja schnell«, meinte ich. »Sie können die Briefe erst gestern bekommen haben. Die hatten wohl schon längst Gewissensbisse.«
»Seb hat bezahlt«, sagte Bobby. Er rechnete die drei Beträge im Kopf zusammen und schob dann die Schecks zu mir herüber.
»Sie gehören dir.«
Ich zögerte.
»Nimm schon«, sagte er. »Du hast Montag unsere Rechnungen bezahlt. Wären die Schecks hier am Montag gekommen, hättest du das nicht gebraucht.«
Holly nickte.
»Was ist mit den Pflegerlöhnen diesen Freitag?« sagte ich.
Bobby zuckte frustriert die Achseln. »Wer weiß.«
»Was hat denn euer Banker eigentlich gesagt?« fragte ich.
»Der sadistische Hund«, meinte Bobby. »Saß da mit einem Grinsen auf seinem geleckten Gesicht und erzählte mir, ich solle freiwillig in Liquidation treten. Freiwillig!
Er sagte, wenn ich es nicht täte, bliebe der Bank keine andere Wahl, als das Konkursverfahren zu eröffnen. Keine Wahl! Natürlich haben sie die Wahl. Wieso haben die mir überhaupt das Geld für die Jährlinge geliehen, wenn sie sich fünf Minuten später so aufführen?«
Die Antwort darauf war vermutlich: Weil Bobby Maynards Sohn war. Maynards Millionen mochten als ausreichende Sicherheit erschienen sein, bevor die Flag ihre Breitseite abfeuerte.
»Gibt es nicht einen Trainer in Newmarket, der dir die Jährlinge abkaufen würde?« sagte ich.
»Nichts drin. Die meisten sitzen im selben Boot. Sie können ihre eigenen nicht losschlagen.«
Ich überlegte. »Hat der Filialleiter was von Gerichtsvollziehern gesagt?«
»Nein«, antwortete Bobby, und Holly wurde wenn möglich noch blasser.
Eine Woche, dachte ich, könnten wir noch haben. Mit Liquidation und Konkurs kannte ich mich nicht besonders aus; ich wußte nicht, wie schnell das ging. Vielleicht hatten wir überhaupt keine Zeit. Niemand konnte aber erwarten, daß Bobby in der Lage wäre, seinen Besitz über Nacht zu verkaufen.
»Ich nehme die Schecks«, sagte ich, »und löse sie ein. Wir bezahlen eure Pfleger diese Woche davon und heben den Rest für Eventualitäten auf. Erzählt das aber nicht dem Filialleiter, der ist nämlich bestimmt der Ansicht, das Geld gehört der Bank.«
»Sie haben es uns schnell genug geliehen«, meinte Holly bitter. »Kein Mensch hat sie genötigt.«
Nicht nur Maynard, dachte ich, konnte mit einem Lächeln aushelfen und mit Gewalt einfordern.
»Es ist aussichtslos«, sagte Bobby. »Ich muß wohl die Besitzer bitten, ihre Pferde abzuholen. Die Pfleger entlassen.« Abrupt hielt er inne. Auch Holly hatte Tränen in den Augen. »Es ist so ein Schlamassel«, sagte Bobby.
»Klar ... aber haltet noch ein paar Tage aus«, sagte ich.
»Wozu?«
»Wir könnten versuchen, ein bißchen Kapital zu beschaffen.«
»Was meinst du damit?«
Ich wußte nur ungefähr, was ich damit meinte, und mir lag nichts daran, es mit Bobby zu erörtern. Statt dessen sagte ich: »Löst den Stall nicht auf, bevor der Drache mitten im Hof Feuer speit.«
»Sankt Georg könnte des Wegs kommen«, sagte Holly.
»Wie bitte?« Bobby sah verständnislos drein.
»Aus der Sage«, erklärte Holly. »Kennst du doch. Kit und ich hatten so ein Stehaufbilderbuch, in dem Sankt Georg daherkam und den Drachen tötete. Wir haben das immer mit ’ner Taschenlampe unter der Bettdecke gelesen und uns dabei über die Schatten erschreckt.«
»Aha.« Er blickte von einem von uns zum anderen, sah ein dunkelhaariges Zwillingspaar mit einer eigenen gemeinsamen Vorgeschichte. Vielleicht fühlte er sich wieder schmerzlich ausgeschlossen, denn er unterdrückte eine Reaktion, indem er fest den Mund schloß. Erst nach einer Weile gab er mit einem Hauch von Sarkasmus und wie um alle Hoffnung, die ich geweckt haben mochte, zu erstik-ken, eine ins Bild passende Antwort: »In Ordnung, Sankt Georg. Steig auf dein Pferd.«
Ich fuhr nach Newbury und löste das Muskel starreproblem, indem ich die Sauna eines am Ort wohnenden
Flachjockeys benutzte, der dort jeden Sommer seine Figur zurechtschwitzte und dankbar für den Winter herausgekommen war. Ich hielt zwar nichts vom Entwässern in einer Sauna als Form der täglichen Gewichtskontrolle (von harntreibenden Mitteln noch weniger), aber nach zwanzig Minuten ihrer heißen Umarmung an diesem kalten Morgen fühlte ich mich erheblich besser in Schuß.
Meine ersten beiden Pferde kamen von dem Stall in Lambourn, für den ich öfters ritt, und wie immer, wenn die Gliedmaßen ihres Jockeys reibungslos funktionierten, gingen sie glatt über die Hindernisse, ohne sich mit Schande oder mit Ruhm zu bedecken. Hinterher konnte man den hoffnungsvollen Besitzern versichern, daß ihre Pferde eines Tages siegen würden; und zuzutrauen war es ihnen, wenn die Gewichte günstig waren und der Boden stimmte und einige der besseren Gegner stürzten. Ich hatte schon Blindgänger geritten, die ich nicht aus dem Stall geholt haben würde, und sie als Erste durchs Ziel gebracht.
Mein letztes Pferd an diesem Tag gehörte der Prinzessin, die wie gewohnt allein im Führring auf mich wartete. Ich merkte, daß ich etwas enttäuscht war, weil Danielle nicht bei ihr war, obwohl ich sie gar nicht erwartet hatte: ausgesprochen unlogisch. Die Prinzessin, in schwingendem Zobelpelzmantel, trug einen hellgelben Seidenschal um den Hals und goldene Ohrringe mit Zitrinen, und obgleich ich sie damit schon oft gesehen hatte, fand ich, daß sie blendend und ungewöhnlich lebhaft aussah. Ich machte die kleine Verbeugung, schüttelte ihr die Hand. Sie lächelte.
»Was meinen Sie, wie wir heute abschneiden?« sagte sie.
»Ich denke, wir werden siegen.«
Ihre Augen weiteten sich. »Gewöhnlich sind Sie nicht so überzeugt.« »Ihr Pferd ist groß in Form. Und ...« Ich brach ab.
»Und was?«
»Und ehm ... Sie dachten auch selbst, daß wir siegen.«
Ohne Überraschung sagte sie: »Ja, stimmt.« Sie drehte sich nach ihrem vorbeigehenden Pferd um. »Was dachte ich noch?«
»Daß . nun, daß Sie glücklich sind.«
»Ja.« Sie hielt inne. »Glauben Sie, die irische Stute schlägt uns? Etliche Leute haben auf sie getippt.«
»Sie schleppt eine Menge Gewicht.«
»Lord Vaughnley glaubt, daß sie gewinnt.«
»Lord Vaughnley?« wiederholte ich mit erwachendem Interesse. »Ist er hier?«
»Ja«, sagte sie. »Er aß in einer Loge nicht weit von meiner zu Mittag. Ich bin gerade mit ihm die Treppe runtergekommen.«
Ich fragte sie, ob sie sich erinnere, welche Loge, aber sie wußte es nicht. Ich sagte ihr, daß ich ihn gern sprechen würde.
»Wird ihn freuen«, meinte sie nickend. »Er ist immer noch begeistert von dem Towncrier Trophy. Er sagt, buchstäblich Hunderte von Leuten haben ihn zu dem diesjährigen Rennen beglückwünscht.«
»Gut«, sagte ich. »Wenn ich ihn um einen Gefallen bitte, tut er ihn mir vielleicht.«
»Sie könnten alles verlangen.«
»So viel auch wieder nicht.«
Das Signal zum Aufsitzen der Jockeys kam, und ich stieg auf ihr Pferd, um zu sehen, was wir gegen die irische Stute ausrichten konnten. Wir legten nicht nur ein schnelles Tempo vor, sondern behielten es gleichmäßig bei, so daß die Stute jedes zusätzliche Pfund, das sie trug, auf jedem Schritt des Weges zu spüren bekam, und schließlich wehrten wir ihren entschlossenen letzten Angriff höchst zufriedenstellend mit anderthalb Längen ab.
»Großartig«, rief die Prinzessin strahlend im Ab sattelring aus. »Wunderschön.« Sie tätschelte ihren aufgedrehten Steepler. »Kommen Sie rauf zur Loge, Kit, wenn Sie sich umgekleidet haben.« Sie sah mein kaum merkliches Zögern und wußte es zu deuten. »Ich habe Lord Vaughn-ley oben wiedergetroffen. Er ist auch in meine Loge eingeladen.«
»Sie sind furchtbar nett.«
»Ich bin furchtbar angetan von Siegen wie diesem.«
Ich zog mir Straßenkleidung an und ging hinauf zu ihrer vertrauten Loge, hoch über dem Ziel. Diesmal war sie allein dort, nicht umgeben von Gästen, und sie erwähnte, daß sie auf dem Rückweg von Devon war; ihr Chauffeur habe sie am Morgen hergebracht.
»Meine Nichte rief gestern abend aus ihrem Büro an, um mir mitzuteilen, daß sie rechtzeitig angekommen sei«, sagte die Prinzessin. »Sie war überaus dankbar.«
Ich sagte, ich hätte sehr gern geholfen. Die Prinzessin bot mir Tee an, den sie selbst ausschenkte, und wir saßen wie so oft auf zwei benachbarten Stühlen, während ich ihr fast Hindernis für Hindernis das letzte Rennen beschrieb.
»Ich konnte es sehen«, sagte sie zufrieden. »Sie lagen die ganze Zeit vor der Stute. Wenn sie beschleunigte, beschleunigten auch Sie; als die Stute am anderen Ende verschnaufte, taten Sie es ebenfalls. Und dann konnte ich sehen, wie Sie mein Pferd bloß eben aufrüttelten, als ihr Jockey zur Peitsche griff ... da wußte ich, wir würden siegen. Ich war die ganze Runde hindurch sicher. Es war herrlich.«
Mit einem so gewaltigen Vertrauen konnte man am letzten Hindernis noch auf die Nase fallen, aber das wußte sie so gut wie ich. Es war schon vorgekommen. Um so besser, wenn es glattging.
Sie sagte: »Wykeham sagt, wir lassen Kinley morgen in Towcester zum erstenmal über die Hürden gehen. Sein erstes Rennen überhaupt.«
»Ja«, nickte ich. »Und Dhaulagiri bekommt seinen ersten Start in einem Sieglosen-Jagdrennen. Ich habe sie beide vorige Woche bei Wykeham im Training geritten, sagte ich Ihnen das? Beide sprangen ausgezeichnet. Ehm ... werden Sie dort sein?«
»Ich möchte es mir nicht entgehen lassen.« Sie hielt inne. »Meine Nichte sagt, sie kommt auch mit.«
Ich hob den Kopf. »So?«
»Sie hat es gesagt.«
Die Prinzessin betrachtete mich ruhig, und ich erwiderte den Blick, aber wenn es auch nützlich gewesen wäre, ihre Gedanken konnte ich nicht lesen.
»Es war mir ein Vergnügen, sie zu fahren«, sagte ich.
»Sie fand, daß es sehr schnell ging.«
»Ja.«
Die Prinzessin tätschelte unverbindlich meinen Arm, und Lord und Lady Vaughnley erschienen in der Tür, schauten mit fragenden Gesichtern herein und grüßten. Die Prinzessin hieß sie willkommen, reichte ihnen Gläser mit Portwein, den sie an kalten Tagen offenbar besonders schätzten, und zog Lady Vaughnley mit sich fort, um etwas draußen auf dem Balkon zu bewundern. So blieb Lord Vaughnley mit mir allein zurück.
Er sagte mir, daß er sich über die allgemeine Reaktion auf das Rennen vom vergangenen Samstag herzlich gefreut habe, und ich fragte ihn, ob er mir eventuell einen Gefallen tun könne.
»Aber, mein Lieber. Schießen Sie los. Alles, was in meinen Kräften steht.«
Ich erklärte nochmals die Sache mit Bobby und den Angriffen in der Flag, über die er inzwischen selbst genau Bescheid wußte.
»Guter Gott, ja. Haben Sie den Kommentar in unserem Blatt heute morgen gesehen? Unsere Frau da, Rose Quince, hat ein Mundwerk wie eine Klapperschlange, aber wenn sie schreibt, hat’s Hand und Fuß. Was kann ich für Sie tun?«
»Ich habe mich gefragt«, sagte ich, »ob der Towncrier wohl eine Akte mit Zeitungsausschnitten über Maynard Allardeck führt. Und wenn ja, ob Sie gestatten würden, daß ich mir die mal ansehe.«
»Guter Gott«, antwortete er. »Haben Sie auch einen Grund dafür?«
Ich sagte, wir seien zu dem Schluß gekommen, daß Bobby das Opfer einer Kampagne geworden war, die hauptsächlich auf seinen Vater zielte. »Und es wäre nützlich zu wissen, wer Maynard so böse sein könnte, daß er seine Erhebung in den Adelsstand von vornherein verhindern möchte.«
Lord Vaughnley lächelte gütig. »Wie beispielsweise jemand, der um seine Firma gebracht worden ist?«
»Beispielsweise«, stimmte ich zu. »Ja.«
»Sie unterstellen, daß sich die Flag dazu zwingen läßt, eine Hetzkampagne zu reiten?« Er schürzte nachdenklich die Lippen.
»Ich glaube nicht, daß das viel Zwang erfordert«, sagte ich.
»Das ganze Blatt ist eine Hetzkampagne.«
»Aber, aber«, meinte er mit gespielter Mißbilligung. »Nun gut. Ich verstehe zwar nicht, wie das direkt Ihrem Schwager helfen soll, aber ich will dafür sorgen, daß Sie Zugang zu unserem Archiv bekommen.«
»Das ist wunderbar«, sagte ich aufrichtig. »Haben Sie vielen Dank.«
»Wann würde es Ihnen passen?«
»Sobald wie möglich.«
Er sah auf seine Armbanduhr. »Um sechs?«
Ich unterdrückte einen Ausruf des Erstaunens. Er sagte: »Ich muß heute abend zu einem Dinner in London sein. Vorher schaue ich noch beim Towncrier vorbei. Fragen Sie am Empfangsschalter nach mir.«
Ich erkundigte mich pünktlich an seinem Empfangsschalter in der Fleet Street und wurde in die Redaktionsräume im dritten Stock dirigiert, wo gerade Hochbetrieb war, da offenbar die Frühausgaben der Zeitung des nächsten Tages in Druck gehen sollten.
Lord Vaughnley, in Tweedsakko, nicht dazu passenden Smokinghosen, gestreiftem Hemd und weißer Krawatte, stand an der Seite eines Mannes, der in Hemdsärmeln an einem zentralen Tisch saß, und beide waren in die vor ihnen liegende Zeitung vertieft. Um sie herum, in vielen Abteilungen, die durch schulterhohe Trennwände halb separat waren, standen Gruppen von drei bis vier Schreibtischen. Jede Abteilung war besetzt mit Telefonen, Schreibmaschinen, Topfpflanzen und Leuten in einem Zustand leichter, aber anhaltender Nervosität.
»Was wollen Sie?« fragte mich jemand barsch, während ich dort herumlungerte, und als ich sagte, Lord Vaughnley, deutete er nur eben mit dem Finger. Also ging ich hinüber ins Zentrum der Aktivität und sagte neutral zu Lord Vaughnley: »Entschuldigen Sie ...«
Er hob die Augen, aber nicht den Kopf. »Ach ja, mein Lieber, einen Moment noch«, sagte er und senkte den Blick wieder, um konzentriert das zu überprüfen, was ich als die frisch gedruckte Titelseite von morgen erkannte.
Ich wartete interessiert, während er fertig las, betrachtete die zweckbetonte Kulisse ringsum, an der sich vermutlich seit den Tagen jenes wilden Giganten, des ersten Lord Vaughnley, nicht viel geändert hatte. Tische und Ausstattung waren zweifellos gekommen und gegangen, aber vom braunen Fußboden bis zu den vergilbenden Pastellwänden war der Gesamteindruck der einer praktischen, etwas altmodischen Beständigkeit.
Der jetzige Lord Vaughnley las zu Ende, reckte sich in die Höhe und klopfte auf die hemdsärmelige Schulter des sitzenden Mannes, bei dem es sich, wie ich später herausfand, um den großen weißen Häuptling, den Chefredakteur, handelte.
»Starker Tobak, Marty. Ausgezeichnet.«
Der sitzende Mann nickte und las weiter. Lord Vaughnley sagte zu mir: »Rose Quince ist hier. Sie möchten sie vielleicht gern kennenlernen.«
»Ja«, erwiderte ich. »Gern.«
»Da drüben.« Er strebte zu einer der Abteilungen hin, offensichtlich dem Lager der Dame mit der Klapperschlangenzunge, die dennoch Vernünftiges zu Papier brachte und die den heutigen Meinungsartikel über Maynard verfaßt hatte.
»Rose«, sagte der Inhaber der Zeitung, »kümmern Sie sich um Kit Fielding, ja?«, und die respekteinflößende Rose Quince versicherte ihm, das werde sie tun.
»Akten«, sagte Lord Vaughnley. »Was immer er sehen möchte, zeigen Sie es ihm.«
»Klar.«
Zu mir sagte er: »Wir haben eine Loge in Ascot. Der Towncrier, meine ich. Ich höre von der Prinzessin, daß Sie kommenden Freitag und Samstag dort reiten. Vermutlich sinnlos, mein Lieber, Sie für Samstag - den Tag, an dem ich da bin - zu mir zum Lunch einzuladen, aber kommen Sie auf einen Drink rauf, wenn Sie fertig sind. Sie werden stets willkommen sein.«
Ich sagte, ich käme gern.
»Schön. Schön. Meine Frau wird sich freuen. Jetzt sind Sie bei Rose in guten Händen. Sie wurde genauso in Fleet Street geboren wie ich, ihr Vater war Conn Quince, der den alten Chronicle herausgab; sie weiß besser, was läuft, als die Street selber. Sie weiht sie in alles ein, nicht wahr, Rose?«
Rose, die mir voller Vorbehalte zu sein schien, bejahte nochmals, daß sie das tun würde, und Lord Vaughnley nickte wie ein Mann, der weiß, er kann mit sich zufrieden sein, ging und überließ mich ihrer reptilhaften Obhut.
Zwar wuchsen ihr keine Medusenschlangen aus dem Kopf, aber wer immer ihr den Namen Rose gegeben hatte, konnte wohl nicht vorausgesehen haben, wie unpassend das wirkte.
Eine Rose war sie nicht. Eher eine Tigerlilie. Sie war hochaufgeschossen, sehr dünn und fünfzehn oder zwanzig Jahre älter als ich. Ihr kunstvoll gezaustes, üppiges Haar war brünett, aber auf eine Weise blond gesträhnt, die den Kontrast der beiden Farben betonte und kein einheitliches Schildpatt ergab. Das geschickt angemalte, bläßliche Gesicht konnte niemals hübsch gewesen sein, war jedoch ausdrucksvoll, die Nase maskulin, die Augen auffallend hellblau; und auf mehrere Schritte roch man ihr süßes, schweres Parfüm.
Eine ganze Anzahl von Armreifen, Ringen und Halsketten schmückte die hochmodische Gesamtsilhouette, ergänzt durch einen schweren, nieten- und schnallenstarrenden Gürtel um ihre Hüfte, und ich fragte mich, ob die allgemeine Übertreibung eine Art Barrikade war, um das Vordringen der nächsten Generation von Schreibern abzuwehren, Festungszinnen gegen die Zeit.
Wenn ja, dann wußte ich, was sie empfand. Jeder Hindernisreiter über dreißig fühlte sich von den aufstrebenden Neunzehnjährigen bedroht, die ihn früher oder später ersetzen würden. Jeder Jockey, jeder Champion mußte Rennen für Rennen beweisen, daß er so gut war wie eh und je, und an der Spitze war es hart nur wegen derer, die danach trachteten, einem den Sattel abzunehmen. Ich brauchte keine Armringe, aber ich zupfte mir die grauen Haare aus, wenn sie erschienen.
Rose Quince musterte mich kritisch und sagte: »Groß für einen Jockey, hm?«, was nicht eben originell war, da die meisten Leute, die ich kennenlernte, dasselbe sagten.
»Groß genug.«
Ihre Stimme hatte eher eine Kante als einen Akzent und war so prägnant wie ihr Äußeres.
»Und Ihre Schwester ist mit Maynard Allardecks Sohn verheiratet.«
»Ja, das stimmt.«
»Der Dorn in Daddys Auge.«
»Ja.«
»Was ist mit ihr? War sie eine Nutte?«
»Nein, eine Capulet.«
Rose brauchte knapp drei Sekunden, um zu verstehen, dann schüttelte sie mit Abscheu den Kopf über sich selbst.
»Der Aspekt war mir entgangen«, sagte sie.
»Macht ja nichts.«
Sie kniff die Augen zusammen und betrachtete mich mit zur Seite geneigtem Kopf.
»Ich hab das Towncrier Trophy am Samstag im Fernsehen gesehen«, sagte sie. »Das nicht zu tun wäre mehr oder weniger Verrat gewesen.« Sie ließ den Blick um meine Schultern schweifen. »Sie sind ein bißchen spät raus, wie?«
»Wahrscheinlich.«
Sie sah mir wieder ins Gesicht. »Keine Entschuldigungen?«
»Wir haben gesiegt.«
»Ja, verdammt, nachdem Sie jedermann zum Herzstillstand verholfen hatten. War Ihnen klar, daß die Hälfte der Leute in diesem Haus ihre Lohntüten auf Sie gesetzt hatten?«
»Nein.«
»Der Sportchef sagte uns, Sie könnten nicht verlieren.«
»Bunty Ireland?«
»Genau, Bunty Ireland. Der denkt, Ihnen scheint die Sonne aus dem Hintern.« Sie schwenkte einen Armvoll Flitter, um den Unwert von Buntys Meinungen zu unterstreichen. »So schlau ist kein Jockey.«
»Mm«, sagte ich. »Können wir von Maynard reden?«
Sie hob die dunklen Augenbrauen. »Man nennt sich beim Vornamen, ja?«
»Maynard Allardeck.«
»Ein Oberarschloch.« »Olympiareif.«
Sie lächelte, ließ gut gepflegte Zähne sehen. »Was Sie in der Zeitung gelesen haben, war noch gar nichts, Sportsfreund. Möchten Sie das Band sehen?«
»Welches Band?«
»Die Bandaufzeichnung von Handel heute. Sie ist noch hier, im Erdgeschoß. Wenn Sie sie sehen wollen, ist jetzt die Gelegenheit.«
»Ja«, sagte ich.
»Gut. Kommen Sie mit. Ich hab die unzensierte Fassung da, aus der sie die Sendung zurechtgeschnitten haben. Sind Sie auf Hämmer gefaßt? Das ist Zündstoff.«