Ich sah Joe, dem dunkelhäutigen Redakteur, zu, wie er sich mit flinken Fingern durch eine Menge ungesichte-ter, lärmender Filmmeter wühlte, dabei in einer Art privatem Kommentar mit der Zunge schnalzte und die ausgewählten Abschnitte markierte, die er aneinanderreihte, um die grellstmögliche Wirkung zu erzielen. Kaleidoskopische Ankunft von Devil-Boy, früheres Eintreffen geladener Prominenz, zapplige Uraufführung des neuen, unverständlichen Songs.
»Dreißig Sekunden«, sagte er, als er die fertige Sequenz durchlaufen ließ. »Vielleicht nehmen sie alles, vielleicht auch nicht.«
»Ich finde es gut.«
»Dreißig Sekunden sind ein langer Nachrichtenspot.« Er holte das zurückgespulte Band aus dem Gerät, steckte es in eine schon beschriftete Kassette und gab es dem hageren Übertragungsmann, der darauf wartete, es mitzunehmen. »Danielle sagt, Sie wollen schneiden lernen, also was möchten Sie wissen?«
»Ehm ... was diese Geräte können, zunächst mal.«
»Ziemlich viel.« Er ließ seine dunklen Finger über die Tastaturen flattern, die er kaum berührte. »Sie spielen jedes Bandformat, jedes Fabrikat und überspielen auf jedes andere. Man kann damit den Ton verstärken, rausnehmen, versetzen, jeden beliebigen Sound unterlegen. Sie können die Tonspur eines Bandes auf die Bilder eines anderen
bringen, Sie können zwei Bänder so zusammenschneiden, daß es aussieht, als ob die Leute miteinander reden, obwohl sie Stunden und Meilen entfernt aufgenommen wurden, Sie können damit lügen, lügen und nochmals lügen und die Wahrheit als Blendwerk erscheinen lassen.«
»Sonst noch was?«
»Das wär’s so ungefähr.«
Er zeigte mir, wie einige seiner Effekte zu erzielen waren, doch sein Tempo verwirrte mich.
»Haben Sie ein bestimmtes Band, das Sie bearbeiten wollen?« fragte er schließlich.
»Ja, aber das möchte ich erst noch erweitern, wenn ich kann.«
Er sah mich abschätzend an, ein selbstbewußter Schwarzer, vielleicht so alt wie ich, mit einem Anflug von Humor in den Augen, aber selten lächelndem Mund. Ich kam mir unordentlich vor in meinem Anorak neben seinem gepflegten Anzug und cremefarbenen Hemd; außerdem zerschlagen, verschwitzt und begriffsstutzig. Es war ein zu langer Tag gewesen, dachte ich kläglich.
»Danielle meint, Sie sind okay«, sagte er überraschend. »Ich sehe keinen Grund, warum Sie den Boss nicht bitten könnten, daß er Ihnen den Raum hier mal einen Abend überläßt, wenn wir nichts zu tun haben. Sie sagen mir, was Sie möchten, und ich schneide Ihnen Ihre Bänder, wenn Sie wollen.«
»Joe ist ein netter Kerl«, sagte Danielle, träge neben mir ausgestreckt, auf der Heimfahrt in dem gemieteten Mercedes. »Ganz klar, wenn er gesagt hat, er bearbeitet Ihr Band, dann meint er das auch. Er langweilt sich. Heute nacht hat er drei Stunden auf die Devil-Boy-Schote gewartet. Er schneidet schrecklich gern. Eine Leidenschaft von ihm. Er möchte beim Film arbeiten. Er wird sich Ihr Band mit Freuden vornehmen.«
Der befragte Büroleiter hatte sich als ebenso großzügig erwiesen. »Wenn Joe die Geräte benutzt, steht Ihnen nichts im Weg.«
Er hatte zu Danielle hinübergeschaut, die gesenkten Blickes Beiträge in den Morgenzeitungen ankreuzte. »Heute abend noch hat mir New York am Telefon zu unserem jüngsten Leistungsanstieg gratuliert. Das ist ihr Werk. Sie sagt, Sie sind okay, also sind Sie okay.«
Auch für Danielle war es ein langer Tag gewesen.
»Towcester«, sagte sie gähnend, »scheint Lichtjahre her zu sein.«
»Mm«, meinte ich. »Was hat denn Prinzessin Casilia gesagt, nachdem Sie am Eaton Square ins Haus gegangen waren?«
Danielle sah mich belustigt an. »In der Halle sagte sie mir, daß gute Manieren ein Zeichen von Stärke seien, und im Wohnzimmer fragte sie, ob ich der Meinung wäre, daß Sie wirklich in Ascot starten könnten.«
»Was haben Sie geantwortet?« fragte ich etwas bestürzt.
»Ich sagte, ja, Sie könnten.«
Ich entspannte mich. »Dann ist es gut.«
»Daß Sie verrückt seien«, sagte Danielle mild, »habe ich nicht gesagt; nur, daß Sie anscheinend nicht merken, wenn Sie verletzt sind. Tante Casilia meinte, das sei wohl ziemlich typisch für Hindernisjockeys.«
»Ich merke es schon«, sagte ich.
»Aber?«
»Tja ... wenn ich nicht reite, verdiene ich nichts. Oder schlimmer noch, wenn ich ein Rennen auf einem Pferd auslasse und es gewinnt, stellt der glückliche Besitzer vielleicht beim nächsten Mal den erstplazierten Jockey auf, so daß ich nicht nur das eine Honorar, sondern womöglich alle künftigen Ritte auf diesem Pferd einbüße.«
Sie wirkte beinahe enttäuscht. »Dann ist es die wirtschaftliche Seite, die Sie davon abhält, zerschnittene Rippen zur Kenntnis zu nehmen?«
»Wenigstens halb.«
»Und im übrigen?«
»Das, was Sie für Ihren Job empfinden. Was Joe für seinen fühlt. Ganz ähnlich.«
Sie nickte und sagte nach einer Pause: »Tante Casilia würde das aber nicht tun. Einen anderen Jockey behalten, wenn Sie wieder fit wären.«
»Nein, sie hat es nie getan. Aber Ihre Tante ist etwas Besonderes.«
»Sie meinte«, sagte Danielle nachdenklich, »ich solle von Ihnen nicht als Jockey denken.«
»Ich bin doch einer.«
»Sie sagte das heute morgen, auf dem Weg nach Towcester.«
»Hat sie erklärt, was sie damit meint?«
»Nein. Ich fragte sie. Sie sagte irgend etwas Dunkles über Grundeigenschaften.« Danielle gähnte. »Jedenfalls, heute abend hat sie Onkel Roland ausführlich von diesen, wie sie es nannte, Scheusalen mit den Messern erzählt, und obwohl er schockiert war und meinte, sie solle sich aus so unerquicklichen Raufereien heraushalten, machte sie einen recht heiteren und gelassenen Eindruck. Sie mag aussehen wie Porzellan, aber sie ist ganz schön zäh. Um ehrlich zu sein, je näher ich sie kennenlerne, desto mehr bewundere ich sie.«
Die Straße von Chiswick zum Eaton Square, tagsüber trotz Ampeln verstopft, war um 2 Uhr 15 morgens bedauerlich leer. Rote Ampeln sprangen auf Grün, wenn wir näher kamen, und selbst das strikte Einhalten der vorgeschriebenen Geschwindigkeit schien die Reise nicht sonderlich zu verlängern. Viel zu früh hielten wir sacht vor dem Haus der Prinzessin an.
Weder sie noch ich traf Anstalten, gleich aus dem Wagen zu springen. Wir blieben noch einen Augenblick sitzen und ließen den Abend ruhig zu Ende gehen.
Ich sagte: »Wir sehen uns dann Samstag.«
»Ja«, seufzte sie aus keinem ersichtlichen Grund. »Wahrscheinlich.«
»Sie müssen ja nicht«, sagte ich.
»Aber nein.« Sie lachte halb. »Ich meinte eher ... Samstag ist ziemlich weit weg.«
Ich nahm ihre Hand. Sie ließ sie passiv, abwartend in meiner.
»Wir könnten noch viele Samstage haben«, sagte ich.
»Ja, könnten wir.«
Ich lehnte mich hinüber und küßte sie auf den Mund, schmeckte ihren rosa Lippenstift, fühlte ihren Atem auf meiner Wange, spürte das Zittern irgendwo in ihrem Körper. Sie wich nicht zurück, schmiegte sich nicht an, sondern küßte, wie ich geküßt hatte, als Sympathieerklärung, als Versprechen vielleicht, als Einladung.
Ich rückte von ihr weg und lächelte in ihre Augen, dann stieg ich aus und ging um den Wagen, um ihr die Tür zu öffnen.
Wir standen kurz zusammen auf dem Gehsteig. »Wo schläfst du?« sagte sie. »Es ist so spät.«
»In einem Hotel.« »Hier in der Nähe?«
»Kaum eine Meile.«
»Gut ... dann mußt du nicht weit fahren.«
»Keine Entfernung.«
»Gute Nacht also«, sagte sie.
»Gute Nacht.«
Wir küßten uns wieder, wie vorhin. Dann drehte sie sich lachend um, ging über den Gehsteig und schloß die von Säulen eingerahmte Haustür der Prinzessin auf. Ich dachte im Wegfahren, wenn die Prinzessin es mißbilligt hätte, daß ihr Jockey Annäherungsversuche bei ihrer Nichte machte, dann hätte sie es uns inzwischen beide wissen lassen.
Ich schlief fünf Stunden lang wie tot, wälzte mich danach steif aus dem Bett, blinzelte trüb auf den starken, kalten Regen, der den Tag verdarb, und lenkte den Mercedes nach Bletchley. Im Goldenen Löwen war es warm, die Luft erfüllt von Frühlingsdüften, und ich aß dort, während der Empfang meine Rechnung bearbeitete. Dann telefonierte ich mit der A.A., um nach meinem Wagen zu hören (Montag fertig), und mit Holly, um festzustellen, ob die markierten Exemplare der Flag wie versprochen abgeliefert worden waren (offensichtlich ja: der Futterhändler hatte angerufen), und danach lud ich mein ganzes Zeug ins Auto und fuhr schnurstracks zu dem Hotel zurück, wo ich geschlafen hatte.
Kein Problem, sagten sie hilfsbereit in der Rezeption; ich könne mein jetziges Zimmer behalten, solange ich wollte, und selbstverständlich würde man Sachen für mich im Tresor aufbewahren.
Auf meinem Zimmer steckte ich Jay Erskines Presseclubausweis und Owens Watts’ Kreditkarte in einen Umschlag und schrieb: »EILT! SOFORT BEI MR. LEGGATT ABZUGEBEN!« in großen Buchstaben darauf. Dann packte ich die Videoaufnahmen und alle anderen Habseligkeiten der Journalisten, außer ihren Jacken, in einen Wäschesack des Hotels und rollte ihn zu einem ordentlichen Bündel, das im Erdgeschoß mit einem Etikett versehen und mit Klebeband verschlossen wurde, bevor es im Tresorraum verschwand.
Anschließend fuhr ich zur Fleet Street, parkte unstatthaft, lief durch den Regen, um den Umschlag für Sam Leggatt in der Anmeldung der Flag abzugeben, schnappte den Wagen einem Polizisten vor der Nase weg und fuhr leichten Herzens nach Ascot.
Es war in vieler Hinsicht ein miserabler Nachmittag. Schneeregen fiel fast ununterbrochen, nadelspitz, eiskalt und schräg, durchnäßte jeden Jockey vor dem Start bis auf die Haut und entpuppte sich dann als gefährlich sichtraubend. Schutzbrillen waren nutzlos, schnell zugepappt von fliegendem Schlamm, Handschuhe rutschten naß auf den Zügeln, Rennstiefel klebten feucht an Füßen. Ein Tag, an dem man die Zähne zusammenbiß und auf Sicherheit ritt, an dem man jedes Hindernis exakt sprang oder aber beim Aufsetzen auf der Nase weiterschlitterte. Rauher November von seiner schlimmsten Seite.
Das Publikum war spärlich, abgehalten von dem niederprasselnden Guß und den vorhergesagten Schauern, und die wenigen Leute, die im Freien standen, waren in triefende Mäntel zusammengekauert und sahen wie Pilze aus mit ihren Schirmen.
Holly und Bobby mochten nicht bleiben. Sie waren gekommen, nachdem ich mit mehr Glück als Inspiration das erste Rennen gewonnen hatte, und fuhren schon wieder vor dem zweiten. Sie nahmen das Geld aus dem Geldgurt, den ich meinem Jockeydiener dankend zurückgab.
Holly umarmte mich. »Nachdem ich mit dir gesprochen hatte, riefen drei Leute an, weil sie sich über die Entschuldigung freuten«, sagte sie. »Sie wollen uns wieder Kredit geben. Das hat die Sache vollkommen geändert.«
»Gebt acht, wie weit ihr Rechnungen auflaufen laßt«, sagte ich.
»Natürlich. Der Banker sitzt uns doch im Nacken.«
Ich sagte zu Bobby: »Von dem Geld da habe ich mir einiges geborgt. Ich zahle es nächste Woche zurück.«
»Eigentlich gehört dir das doch alles.« Er sprach ruhig, freundschaftlich, aber die Lebenskraft war wieder auf dem Tiefpunkt. Kein Schwung. Zuviel Apathie. Nicht das Nötige.
Holly sah verfroren aus und zitterte. »Halt das Baby warm«, sagte ich. »Geht doch in die Trainerbar.«
»Wir fahren nach Hause.« Sie küßte mich mit kalten Lippen.
»Wir würden ja bleiben, um dich zu sehen, aber mir ist nicht gut. Mir ist fast immer schlecht. Es ist die Hölle.«
Bobby legte schützend den Arm um sie und ging unter einem großen Schirm mit ihr davon, beide mit gesenktem Kopf gegen den eisigen Wind gelehnt, und ich war ihretwegen bedrückt und dachte auch an die Gefahren, die noch zu bestehen waren, ehe sie in Sicherheit sein würden.
Die Prinzessin hatte diejenigen ihrer Bekannten in ihre Loge eingeladen, an denen mir am wenigsten lag, ein Viergespann von Adligen aus ihrer alten Heimat, und wie immer, wenn die sie begleiteten, sah ich sie kaum. Mit zwei von ihnen kam sie in roten Ölhäuten vor dem Start des ersten ihrer beiden Renner zum Führring hinunter, lächelte vergnügt durch den klirrenden Regen und fragte mich, wie ich ihre Chancen einschätzte, und mit den zwei anderen zusammen fragte sie eineinhalb Stunden später das gleiche noch mal.
In beiden Fällen sagte ich: »Einigermaßen.« Der erste Renner wurde Vierter, der zweite Zweiter. Sie kam hinterher weder zum Absattelplatz, was man ihr nicht verdenken konnte, noch ging ich hinauf in ihre Loge; zum Teil, weil das oberflächliche Klamotte war, wenn diese Bekannten dort waren, hauptsächlich aber, weil ich im letzten Rennen auf der Gegengerade zu Boden krachte. Bis ich rüberkam und mich umgezogen hatte, würde sie fort sein.
Nun ja, dachte ich dumpf, als ich mich aufrappelte; sechs Ritte, ein Sieg, ein zweiter Platz, ein vierter, zwei ferner liefen, ein Sturz. Du kannst nicht jeden Tag vier Siege haben, alter Junge. Und nichts war gebrochen. Sogar die Nähte hatten es überstanden, ohne aufzugehen. Ich wartete in dem treibenden Schneeregen, daß mich der Wagen abholte, und nahm meine Kappe ab, um das Wasser durch mein Haar rinnen zu lassen, umarmte sozusagen den stürmischen Tag, fühlte mich wohl. Winter und Pferde, die alte Melodie im Blut.
In der Jockeystube war kein Teekuchen mehr.
»Gierhälse«, sagte ich.
»Aber Sie essen doch nie Kuchen«, sagte mein Jockeydiener, während er mir die durchnäßten Stiefel auszog.
»Ab und zu mal«, sagte ich, »zum Beispiel an eiskalten, nassen Freitagen, nach einem Sturz im letzten Rennen.«
»Etwas Tee ist noch da. Er ist heiß.«
Ich trank den Tee, spürte, wie die Wärme hinunterglitt, mich von innen aufheizte. Es gab immer Tee und Teekuchen in den Umkleideräumen; Sofortenergie, sofortige Wohltat. Jeder aß dann und wann Kuchen.
Ein Offizieller steckte den Kopf durch die Tür: Sie werden verlangt, sagte er.
Ich zog Hemd und Schuhe über und ging an die Tür vom Waageraum zur Außenwelt. Den ganzen Tag war niemand mit einem Wechsel von Pollgate aufgetaucht, und so ging ich wohl mit einem ungläubigen Funken Hoffnung da hinaus. Die Hoffnung erlosch sehr bald. Es war nur Dusty, zusammengekauert im Eingang des Waageraums, blau im Gesicht, die Augen wäßrig vor Kälte.
»Ist das Pferd in Ordnung?« fragte ich. »Ich hörte, ihr habt ihn eingefangen.«
»Ja. Unnützes Viech. Was ist mit Ihnen?«
»Nichts passiert. Der Arzt hat mich freigegeben. Ich reite morgen.«
»Gut. Sag ich dem Chef. Wir sind dann weg. Tschüs.«
»Tschüs.«
Er hastete fort in die bleierne, frühe Dämmerung, ein kleiner, engagierter Mann, der sich, wenn ich gestürzt war, gern mit eigenen Augen überzeugte, daß meine Verfassung noch hinreichte, um seinen Schützlingen beim nächsten Mal gerecht zu werden. Es kam vor, daß er Wykeham riet, mich nicht aufzustellen. Es kam vor, daß Wykeham seinen Rat befolgte. An Dusty war manchmal schwerer vorbeizukommen als an den Medizinern.
Ich duschte, zog mich an, verließ die Rennbahn über den Sattelplatz und ging von dort in die dunkel werdende Stadt, wo ich am Morgen den gemieteten Mercedes auf einem Parkplatz abgestellt hatte. Vielleicht war es ja unwahrscheinlich, daß lange nach dem Schlußrennen ein neuer Hinterhalt auf dem fast verlassenen JockeyParkplatz inszeniert würde, aber ich hatte nichts riskieren wollen. Unbehelligt stieg ich in den Mercedes und fuhr ohne Zwischenfall nach London.
Dort, in meinem komfortablen Schlupfwinkel, erhöhte ich meine sowieso schon astronomische Telefonrechnung, indem ich als erstes mit meiner gefälligen Nachbarin vereinbarte, sie solle am Morgen in mein Cottage gehen und mir einen Anzug, ein paar Hemden und andere Dinge in einen Koffer packen.
»Klar tu ich das, mein lieber Kit, aber ich dachte, wo Sie in Ascot geritten sind, kämen Sie heute abend doch bestimmt mal wieder her.«
»Wohne bei Freunden«, sagte ich. »Ich will sehen, daß morgen früh jemand den Koffer bei Ihnen abholt und mit nach Ascot nimmt. Läßt sich das machen?«
»Natürlich, mein Lieber.«
Ich überredete einen anderen Jockey, der in Lambourn wohnte, den Koffer zu holen und mitzubringen, und er sagte, das ginge schon klar, wenn er dran dächte.
Ich rief Wykeham an, als er nach meiner Schätzung von der abendlichen Stallkontrolle zurück im Haus sein mußte, und sagte ihm, daß sein Sieger gewohnt stark gewesen sei, die zwei von der Prinzessin so gut, wie man hätte erwarten dürfen, und einer von den Ferner-Liefen enttäuschend.
»Und Dusty sagt, im letzten Durchlauf haben Sie die Hürde unten am Swinley Bottom total vermurkst.«
»Jaja«, sagte ich. »Wenn Dusty es fertigbringt, eine halbe Meile weit bei schlechtem Licht durch treibenden Schneeregen deutlich zu sehen, dann hat er bessere Augen, als ich dachte.«
»Ehm ...«:, sagte Wykeham. »Was ist passiert?«
»Der vor mir ist gestürzt. Meiner fiel über ihn. Gesiegt hätte er nicht, wenn Sie das tröstet. Er wurde schon langsam müde, und ihm stank das Wetter.«
Wykeham grunzte zustimmend. »Er ist ein Sonnenfreund, durch und durch. Kit, morgen steht Inchcape für die Prinzessin im großen Rennen, und er ist in Hochform, fährt aus der Haut, hat sich um Klassen gesteigert, seit Sie ihn letzte Woche sahen.«
»Inchcape«, sagte ich resigniert, »ist tot.«
»Was? Hab ich Inchcape gesagt? Nein, nicht Inchcape. Wie heißt das Pferd der Prinzessin?«
»Icefall.«
»Icicles leiblicher Bruder«, sagte er, nicht ausdrücklich als Frage.
»Ja.«
»Klar doch.« Er räusperte sich. »Icefall. Natürlich. Im Ernst, Kit, er müßte gewinnen.«
»Kommen Sie hin?« fragte ich. »Ich hatte Sie fast heute schon erwartet.«
»Bei dem Wetter?« Er klang überrascht. »Nein, nein, Dusty, Sie und die Prinzessin, ihr schafft das schon.«
»Aber Sie hatten einen ganzen Trupp von Siegern diese Woche, und Sie haben nicht einen davon gesehen.«
»Ich seh sie hier im Hof. Ich seh sie auf Video. Sagen Sie Inchcape, er ist der Größte, und er überspringt noch den Ben Nevis.«
»In Ordnung«, sagte ich. Icefall, Inchcape, was lag daran?
»Gut. Großartig. Gute Nacht, Kit.«
»Gute Nacht, Wykeham«, sagte ich.
Ich klingelte meinen Anrufbeantworter an und rief die Nachrichten ab, darunter eine von Eric Olderjohn, dem Staatsbeamten und Besitzer des Pferdes, auf dem ich für den Lambourner Trainer in Towcester gesiegt hatte.
Ich rief ihn unverzüglich unter der angegebenen Londoner Nummer an und erwischte ihn offenbar, als er eben im Begriff stand auszugehen.
»Oh, Kit, ja. Hören Sie, Sie sind wahrscheinlich in Lam-bourn?«
»Nein, momentan nicht. In London.«
»So? Das trifft sich ausgezeichnet. Ich hab etwas, das Sie vielleicht gern sehen würden, aber ich kann es nicht aus der Hand geben.« Er machte eine Denkpause. »Hätten Sie heute abend nach neun Uhr Zeit?«
»Ja«, sagte ich.
»Gut. Kommen Sie zu mir, bis dahin bin ich wieder hier.« Er erklärte mir den Weg zu einer Straße südlich des Sloane Square, höchstens eine Meile von dort, wo ich mich aufhielt. »Kaffee und Brandy, ja? Muß rennen. Tschüs.«
Er hängte abrupt ein, und ich legte meinen Hörer etwas langsamer auf und sagte im stillen »Mann!« zu mir. Ich hatte nicht viel Einsatz von Eric Olderjohn, dem Regierungsbeamten, erwartet, und keinesfalls in diesem Tempo.
Ich dachte eine Weile an das Videoband von Maynard und an die zum Schluß darin aufgezählten Firmen, die unter Maynards Menschenfreundlichkeit gelitten hatten. Bis ich eine Gelegenheit fand, das Band noch einmal abzuspielen, mußte ich mich auf mein Gedächtnis verlassen, und der einzige Name, an den ich mich genau erinnern konnte, war Purfleet Electronics; hauptsächlich deshalb, weil ich dort vor langer Zeit mit einem Schulfreund mal in den Sommerferien gesegelt war.
Purfleet Electronics, teilte mir die Auskunft mit, war nicht verzeichnet. Ich kaute ein wenig auf meiner Unterlippe und sagte mir, die einzige Möglichkeit, was zu finden, sei die, es am richtigen Ort zu suchen. Wie zuvor nach Hitchin, so würde ich morgen früh nach Purfleet fahren.
Ich füllte den Abend mit essen und weiteren Telefonaten aus, und bis neun war ich die Sloane Street hinuntergegangen und hatte das Haus von Eric Olderjohn gefunden. Es war schmal, zweistöckig, eins aus einer langen Reihe ähnlicher Gebäude, die für schlecht verdienende Frühvik-torianer erbaut worden waren, jetzt aber den Wohlhabenden als Stadtwohnung dienten. Das jedenfalls erklärte Eric Olderjohn mir leutselig, als er seine dunkelgrüne Haustür öffnete und mich hereinwinkte.
Von der Straße trat man direkt ins Wohnzimmer, das sich von einer Seite des Hauses bis zur anderen erstreckte; ganze vier Meter. Aber welch ein Glühen, welche Wärme in diesem ungewöhnlich kleinen Raum. Rosa- und helle Grüntöne, gitterartige Streifen in der Tapete, Satinvorhänge mit Girlandenmuster, runde Tische mit Decken, die glockig auf den Boden fielen, Porzellanvögel, silberne Fotorahmen, dicke, mit Knöpfen versehene Armsessel, cremefarbene Chinabrücken. Lampen spendeten ein sanftes Licht, und das Gittermuster der Tapete, die auch die Dek-ke überspannte, gab dem gedrängten Inneren das Flair einer sommerlichen Grotte.
Mein Gastgeber betrachtete mein anerkennendes Lächeln, als hätte er eine andere Reaktion gar nicht erwartet.
»Das ist großartig«, sagte ich.
»Meine Tochter hat es eingerichtet.«
»Dieselbe, die Sie vor der Flag schützen würden?«
»Meine einzige Tochter, ja. Nehmen Sie Platz. Hat es aufgehört zu regnen? Sie mögen doch sicher einen Brandy?« Er tat den erforderlichen einen Schritt zu dem silbernen Flaschentablett auf einem der Tische und schenkte Cognac in zwei mittelgroße Ballongläser. »Ich habe
Kaffee bereitgestellt. Den hole ich eben. Nehmen Sie doch Platz.« Er verschwand durch eine rückwärtige Tapetentür, und ich betrachtete die Fotos in den Rahmen, sah eine gepflegte junge Frau, die vielleicht seine Tochter war, sah das Pferd, das er besaß, mit mir selbst auf dem Rücken.
Er kam mit einem kleinen Tablett wieder, das er neben das andere stellte.
»Meine Tochter«, sagte er nickend, als er sah, daß ich ihr Foto angeschaut hatte. »Sie wohnt zeitweise hier, zeitweise bei ihrer Mutter.« Er zuckte die Achseln. »Kann man nichts machen.«
»Tut mir leid.«
»Ja. Nun, so was passiert. Kaffee?« Er schenkte zwei kleine Tassen voll und gab mir eine. »Zucker? Nein, sicher nicht. Nehmen Sie Platz. Hier ist der Brandy.«
Er war tadellos in seinen Bewegungen wie in der Kleidung, und ich ertappte mich dabei, daß ich dachte »adrett«; aber da war Entschlußkraft unter der Oberfläche, die angelernte Fähigkeit, Dinge zu erledigen. Ich setzte mich in einen der Armsessel, Kaffee und Brandy neben mir, und er setzte sich ebenfalls, nahm einen Schluck und sah mich über seine Tasse hinweg an.
»Sie hatten Glück«, sagte er schließlich. »Ich habe heute morgen ein paar Fühler ausgestreckt und erfahren, daß eine gewisse Person eventuell in ihrem Club lunchen würde.« Er hielt inne.
»Ich war genügend an Ihrem Problem interessiert, um in die Wege zu leiten, daß ein Bekannter von mir sich mit dieser ihm gut bekannten Person trifft und sie aushorcht, und man könnte sagen, ihre Unterhaltung war fruchtbar. Die Folge war, daß ich heute nachmittag selbst das Büro einer gewissen Person aufgesucht habe, und das Ergebnis dieser Zusammenkunft waren einige Informationen, die ich Ihnen gleich zeigen werde.«
Seine Vorsicht bei der Wortwahl schien mir typisch zu sein für die Sphäre des Staatsdienstes, die Spezialisten im Andeuten, Offenlassen und Jeinsagen. Ich fand die genaue Identität der gewissen Person nie heraus, zweifellos, weil das als eine Sache galt, die ich nicht unbedingt zu wissen brauchte, und in Anbetracht dessen, was er mir zu sehen gestattete, konnte ich mich kaum beklagen.
»Ich habe einige Briefe«, sagte Eric Olderjohn. »Genauer gesagt, Fotokopien von Briefen. Sie dürfen sie lesen, aber ich habe die ausdrückliche Anweisung, Ihnen nicht zu erlauben, sie mitzunehmen. Ich muß sie Montag zurückgeben. Ist das, ehm ... soweit klar?«
»Ja«, sagte ich.
»Gut.«
Ohne Eile trank er seinen Kaffee aus und setzte die Tasse ab. Dann hob er die Decke des Tisches an, auf dem die Tabletts standen, und holte einen braunen Lederaktenkoffer hervor, den er auf die Knie nahm. Er ließ die Schlösser aufschnappen, klappte den Deckel hoch und zögerte erneut.
»Die sind interessant«, sagte er stirnrunzelnd.
Ich wartete.
Als treffe er eine Entscheidung, die er bis zu diesem Augenblick offengelassen hatte, zog er einen einzelnen Bogen Papier aus dem Koffer und reichte ihn herüber.
Der Brief war an die Premierministerin adressiert und im September von einer Firma geschickt worden, die fernes Porzellan für den Export herstellte. Der Vorstandsvorsitzende, der den Brief verfaßt hatte, erklärte dann, er und der übrige Vorstand seien sich einig, daß Mr. Maynard Al-lardeck als Anerkennung für seine großen und patriotischen Dienste an der Industrie eine ganz besondere Auszeichnung zukomme.
Mr. Allardeck habe der historischen Firma großzügig Hilfe geleistet, und allein dank seiner Bemühungen seien die Arbeitsplätze von zweihundertundfünfzig Menschen erhalten worden. Das Können vieler dieser Leute sei unschätzbar und schließe die Fähigkeit der Porzellanbemalung und -vergoldung nach höchsten internationalen Ansprüchen ein. Das Unternehmen exportiere jetzt mehr als zuvor und sehe einer glänzenden Zukunft entgegen.
Der Vorstand erlaube sich, Mr. Allardeck für die Adelsverleihung vorzuschlagen.
Ich las zu Ende und sah zu Eric Olderjohn hinüber.
»Ist diese Art von Brief normal?« fragte ich.
»Durchaus.« Er nickte. »Die meisten Auszeichnungen sind das Ergebnis von Empfehlungen an das Büro des Premierministers. Jeder kann jeden für alles vorschlagen. Wenn die Sache gerecht erscheint, wird eine Auszeichnung verliehen. Die Sachbearbeiter stellen eine Liste von Auszeichnungen auf, die sie für angemessen halten, und die Liste wird dem Premierminister zur Billigung vorgelegt.«
Ich sagte: »Dann sind die ganzen Träger von Ehrenzeichen - Brandbekämpfer, Musiklehrer, Postboten und andere -, die werden geehrt, weil ihre Kameraden das brieflich vorgeschlagen haben?«
»Ehm, ja. Häufiger ihre Arbeitgeber, manchmal aber auch ihre Kollegen.«
Er holte einen zweiten Brief aus seinem Koffer und gab ihn mir. Auch dieser stammte von einem Exportunternehmen und hob Maynards unschätzbare Beiträge zum Fortbestand wertvoller Industrie hervor, insbesondere die Erhaltung zahlreicher Arbeitsplätze in einem Gebiet mit hoher Arbeitslosigkeit.
Es sei unmöglich, Mr. Allardecks Verdienste um die Wirtschaft seines Landes zu überschätzen, und die Firma spreche sich uneingeschränkt dafür aus, ihn in den Adelsstand zu erheben.
»Selbstverständlich«, sagte ich, »haben die Zuständigen überprüft, ob das alles auch stimmt?«
»Selbstverständlich«, sagte Eric Olderjohn.
»Und natürlich stimmt es?«
»So wird mir versichert. Die gewisse Person, mit der ich heute nachmittag sprach, sagte mir, daß sie gelegentlich, wenn sie sechs oder sieben ähnlich lautende Briefe erhalten, die alle jemand vorschlagen, der der breiten Öffentlichkeit unbekannt ist, der leise Verdacht beschleicht, daß sich da jemand selber vorschlägt, indem er seine Freunde zur Feder ruft. Die Verfasser der beiden Briefe, die ich Ihnen gezeigt habe und die sich ja nun sehr ähneln, wurden ausdrücklich gefragt, ob Maynard ihnen nahegelegt habe zu schreiben. Beide bestritten dies energisch.«
»Mm«, sagte ich. »Nun, dazu hätten sie wohl Grund genug, wenn sie von Maynard für seine Adelsverleihung was bekämen.«
»Das ist aber eine sehr forsche Bemerkung.«
»Stimmt«, sagte ich fröhlich. »Und Ihre gewisse Person, hat die Maynard für seinen >Sir< aufgeschrieben?«
»Vorläufig. Als Möglichkeit. Dann erhielten sie einen dritten Brief, der die große Menschenliebe hervorhob, über die sie bereits informiert waren, und das Fragezeichen wurde ausradiert. Maynard Allardeck war definitiv angehender Ritter. Der Brief, der ihm den Titel antrug, wurde aufgesetzt und wäre heute in etwa zehn Tagen losgeschickt worden, zur üblichen Zeit für die Neujahrsliste.« »Wäre worden?« sagte ich.
»Wäre worden.« Er lächelte schief. »Man hält das jetzt nicht mehr für angebracht, nach den Geschichten in der Flag und der Meinungsseite im Towncrier.«
»Rose Quince«, sagte ich.
Er sah verständnislos drein.
»Von ihr stammt der Beitrag im Towncrier«, sagte ich.
»Oh ... ja.«
»Achtet Ihre, ehm, gewisse Person«, fragte ich, »wirklich auf solche Zeitungstexte?«
»Oh, absolut. Zumal ihm die Artikel jeweils eigens ins Büro geliefert wurden, und zwar rot umrandet.«
»Das gibt’s doch nicht!«
Eric Olderjohn hob seine Augenbraue. »Sagt Ihnen das etwas?« fragte er.
Ich berichtete ihm von den Kaufleuten und den Besitzern, die ähnlich gekennzeichnete Exemplare erhalten hatten.
»Na, sehen Sie. Ein regelrechter Vernichtungsfeldzug. Nichts dem Zufall überlassen.«
»Sie erwähnten einen dritten Brief«, sagte ich. »Den entscheidenden.«
Er lugte vorsichtig in seinen Koffer und zog ihn hervor. »Der wird Sie vielleicht überraschen«, sagte er.
Der dritte Brief kam nicht von einem Geschäftsunternehmen, sondern von einer wohltätigen Einrichtung mit einer Liste von Förderern, die sich über die halbe linke Seite des Blattes erstreckte. Empfänger der Wohltätigkeit waren offenbar die notleidenden Angehörigen von toten oder invaliden Staatsangestellten. Witwen, Kinder, die Alten und die Kranken.
»Was verstehen Sie unter Staatsangestellten?« fragte ich.
»Den ganzen öffentlichen Dienst.«
Maynard Allardeck, berichtete der Brief, habe mehrere Jahre hindurch unermüdlich daran gearbeitet, die Lebensumstände derer zu verbessern, die ohne eigenes Verschulden in bittere Not geraten waren. Freigebig habe er Hilfe aus seinem Vermögen gespendet, darüber hinaus seine Zeit geopfert und bedürftigen Familien ein hohes Maß an fortdauernder, barmherziger Fürsorge zuteil werden lassen. Die wohltätige Einrichtung schrieb, sie würde sich selbst geehrt fühlen, wenn man eine ihrer stabilsten Säulen in den Adelsstand erhebe: den Mann, den sie einstimmig zu ihrem nächsten Vorsitzenden gewählt hatten, mit Amtsantritt am 2. Dezember des Jahres.
Der Brief war von nicht weniger als vier Vorstandsmitgliedern der Stiftung unterzeichnet: dem scheidenden Vorsitzenden, dem geschäftsführenden Direktor und zwei der obersten Schirmherren. Es war die vierte von diesen Unterschriften, die mich erstaunt den Kopf heben ließ.
»Nun?« fragte Eric Olderjohn, mich beobachtend.
»Das ist komisch«, sagte ich verblüfft.
»Ja, seltsam, finde ich auch.«
Er streckte die Hand nach den Briefen, nahm sie mir ab, verschloß sie wieder sicher in seinem Koffer. Ich saß da, während meine Gedanken sich überschlugen und unbe-zweifelte Annahmen zerrannen wie Wachs.
Traf es zu, hatte ich wissen wollen, daß Maynard Allardeck für die Adelsverleihung in Betracht gezogen wurde, und wenn ja, wer wußte davon?
Die Leute, die ihn vorgeschlagen hatten - sie wußten es.
Der Brief von der Stiftung, datiert vom 1. Oktober, war unterzeichnet von Lord Vaughnley.