9

Als er erwachte, lag sein Kopf an Angelikas Schulter. Das Motorengeräusch war zu einem kaum hörbaren, monotonen Rauschen herabgesunken, in das sich dann und wann Gesprächsfetzen oder ein halblautes Lachen mischten. Lohmann war nach vorne geklettert und unterhielt sich mit dem Fahrer. Manchmal erschütterte ein leichter Stoß den Wagen, wenn sie durch ein Schlagloch oder über eine unsauber ausgebesserte Stelle fuhren. Die Autobahn schien sich in keinem besonders guten Zustand zu befinden. Aber das war es nicht, was ihn geweckt hatte. Es war Angelika. Sie summte eine Melodie, die ihm zugleich fremd wie auf sonderbare Weise vertraut vorkam, zugleich melodisch wie atonal. Es war etwas ungemein Verwirrendes an diesem Lied, und das war es, was in seinen Traum gedrungen war und ihn schließlich geweckt hatte. Erst nachdem er einige Sekunden lang auf ihr Summen gelauscht und über diese sonderbare Melodie nachgedacht hatte, fiel ihm auf, daß er noch immer an ihrer Schulter lehnte. Mit einer fast erschrockenen Bewegung fuhr er hoch. Lohmann unterbrach für eine Sekunde sein Gespräch mit dem Fahrer und sah zu ihm zurück. Angelika lächelte; auf eine Weise, die es überflüssig machte, sich für die unerlaubte Vertrautheit der Berührung zu entschuldigen.

»Habe ich ... lange geschlafen?« fragte er. Aus einem Grund, den er selbst nicht genau kannte, war es ihm fast peinlich.

»Eine Viertelstunde«, antwortete Angelika. »Vielleicht zwanzig Minuten.« Sie richtete sich auf und rutschte ein Stück von ihm weg, aber es war nichts Abweisendes an dieser Bewegung. Sie saß so einfach nur bequemer. »Warum schläfst du nicht weiter?«

»So müde bin ich nicht«, antwortete er. Es war glatt gelogen. Er mußte aufpassen, daß ihm nicht die Augen zufielen. »Dieses Lied, das du gerade gesungen hast... Was war das? Es war sehr schön.«

»Das war es nicht«, antwortete sie. »Ich kann nicht singen. Ich weiß nicht, was es ist. Irgendeine Melodie. Sie geht mir schon eine Weile nicht aus dem Kopf.« Sie nahm eine Schachtel Zigaretten vom Tisch und ließ ihr Feuerzeug aufschnappen. Es dauerte nur eine Sekunde, bis Warstein auffiel, was an dem Anblick nicht stimmte.

»Ich dachte, du hast keine mehr?« fragte er.

»Hatte ich auch nicht.« Angelika nahm einen tiefen Zug, und nun war es Warstein, der ein Stück von ihr wegrückte. Er hatte Zigarettenrauch noch nie vertragen. Ihm wurde übel davon.

Angelika deutete auf den Fahrer. »Sie sind von ihm. Er ist ein richtiger Menschenfreund, nicht?«

Sie hatte sehr leise gesprochen, aber mit einer Betonung, die Warstein aufhorchen ließ. »Das klingt, als ob dich etwas daran stört«, sagte er, ebenso leise wie sie und mit einem raschen, verstohlenen Blick auf den Fahrer. Er redete weiter mit Lohmann und schien von ihrer Unterhaltung nichts mitbekommen zu haben.

»Ich weiß nicht«, sagte Angelika mit einem Achselzucken. »Vielleicht bin ich ja allmählich auch schon paranoid. Aber irgendwie...« Sie hob die Schultern. »Schau mal.«

Warsteins Blick folgte der Richtung, die die rotglühende Spitze ihrer Zigarette bedeutete. Er sah gleich, was sie meinte: am Armaturenbrett des Wagens hing ein flaches Kästchen mit einer Tastatur und einem grünleuchtenden Display. »Ein Autotelefon«, sagte er. »Und?«

»Vorhin an der Tankstelle«, erinnerte Angelika. »Er hat gesagt, daß er noch einmal kurz telefonieren war. Ich frage mich, wieso, wenn er ein Telefon im Wagen hat. Außerdem hat er Lohmann und mir Zigaretten angeboten. Dir nicht.«

»Wozu auch?« antwortete Warstein. »Ich rauche nicht.«

»Und woher weiß er das?«

Warstein war einige Sekunden lang sehr still. Angelika hatte natürlich recht - sie liefen Gefahr, sich selbst in eine ausgewachsene Paranoia hineinzusteigern. Andererseits : es konnte Zufall sein. Aber es mußte nicht.

Dann fiel ihm noch etwas auf: sie fuhren sehr langsam, nicht einmal achtzig. In Anbetracht der Strecke, die noch vor ihnen lag, eigentlich seltsam.

Das Telefon summte. Der Fahrer hob ab und lauschte einige Sekunden, ohne sich gemeldet zu haben. Er sagte kein Wort, sondern hängte nach kaum einer Minute wieder ein. Lohmann blickte fragend, aber natürlich sagte er nichts. Es ging ihn nichts an. Wenigstens hoffte Warstein das. Er tauschte einen kurzen Blick mit Angelika, dann drehte er sich herum und sah so unauffällig wie möglich aus dem hinteren Fenster. Eine Anzahl Wagen folgte ihnen, aber keiner davon benahm sich irgendwie auffällig. Sobald es der Verkehr auf der Überholspur zuließ, beschleunigten sie und scherten aus. Aber das bedeutete rein gar nichts. Im Zeitalter der Elektronik war es kaum mehr nötig, einen Wagen direkt zu beschatten.

Als er sich herumdrehte, begegnete er dem Blick des Fahrers im Innenspiegel. Er lächelte nicht mehr, sondern sah im Gegenteil ein bißchen erschrocken aus. Der Wagen wurde langsamer, und am Fahrbahnrand tauchten Hinweisschilder auf einen Parkplatz auf.

»Schon müde?« fragte Warstein.

»Nein«, antwortete der Mann. »Ich ... verspüre ein dringendes menschliches Bedürfnis.« Er grinste verlegen. »Eigentlich sagt man die schwache Blase ja nur jungen Mädchen nach. Ich hab wohl zuviel Kaffee getrunken.« Er setzte den Blinker, lenkte den Wagen auf die Standspur und trat behutsam auf die Bremse, während sie auf den Parkplatz hinausrollten. Er war leer. Warstein sah wieder nach hinten. Keiner der anderen Wagen scherte aus, um ihnen zu folgen.

»Ich bin gleich wieder da.« Der Fahrer zog den Schlüssel ab und öffnete die Tür. »Ich schlage mich nur rasch in die Büsche. Bin sofort zurück.«

Warstein blickte ihm wortlos nach, während er mit schnellen Schritten um den Wagen herumging und in der Dunkelheit verschwand.

Aber er war kaum außer Sichtweite, da stand er auf, ging nach vorne und klappte das Handschuhfach auf.

»Sind Sie verrückt geworden?« fragte Lohmann. »Was tun Sie da?«

»Paß auf, ob er zurückkommt«, sagte Warstein zu Angelika gewandt. Er begann mit schnellen Bewegungen das Handschuhfach zu durchsuchen. Es enthielt den üblichen Krimskrams: ein paar Karten, den Mitgliedsausweis eines Automobilclubs, einige Münzen ... nichts.

»Was zum Teufel soll das?« fragte Lohmann. Es klang regelrecht empört.

»Ich traue dem Kerl nicht«, antwortete Warstein. »Irgendwas ist hier faul.« Er sah sich mit wachsender Nervosität um. Irgendwo mußte es doch einen Hinweis auf die Identität ihres Fahrers geben. Alles sah ganz normal aus. Und doch...

»Sie sind ja verrückt!« empörte sich Lohmann. »Hören Sie sofort damit auf! Wenn er zurückkommt und sieht, was Sie da tun, können wir den Rest der Strecke laufen!«

Warstein drehte sich einmal im Kreis, während sein Blick immer nervöser über das Innere des Vans strich. Er hatte nicht mehr viel Zeit. Er beugte sich mit einer plötzlichen Bewegung vor, nahm den Telefonhörer aus seiner Halterung und betrachtete das Gerät nachdenklich.

»Lassen Sie das bleiben«, sagte Lohmann erschrocken.

Warstein schaltete den Lautsprecher ein, zögerte noch eine Sekunde und drückte dann die Wahlwiederholungstaste. Im Display leuchtete eine neunstellige Ziffernkombination auf, und sie konnten hören, wie die Nummer gewählt wurde.

»Was zum Teufel tun Sie da?!« jammerte Lohmann. »Sind Sie vollkommen wahnsinnig geworden?«

Das Freizeichen erscholl; einmal, zweimal. Dann wurde abgehoben, und eine Stimme sagte: »Ja?«

Warstein erstarrte. Er konnte hören, wie Angelika hinter ihm scharf die Luft einsog.

»Wer ist denn da?« fragte die Stimme aus dem Telefon. Sie klang ungeduldig und hörbar gereizt. »Zum Teufel, melden Sie sich.«

Warstein drückte die Taste, die die Verbindung unterbrach, und hängte das Telefon wieder ein. Er sah Angelika an, und der Ausdruck auf ihrem Gesicht machte jede Erklärung überflüssig. Sie hatte die Stimme so deutlich erkannt wie er.

»Was ist los?« fragte Lohmann unsicher. »Was habt ihr denn plötzlich?«

»Sie haben die Stimme nicht erkannt?« fragte Warstein.

»Natürlich nicht«, sagte Lohmann. »Wieso sollte...«

»Franke«, sagte Angelika leise. »Das war Franke.«

Eine Sekunde lang wirkte Lohmann bestürzt. Dann zwang er sich zu etwas, das er allerhöchstens selbst für ein Lachen halten mochte. »Unsinn«, sagte er. »Wie soll seine Nummer in dieses Telefon kommen?«

»Weil es die letzte Nummer ist, die von diesem Apparat aus angerufen wurde«, antwortete Warstein. »Begreifen Sie es immer noch nicht? Ihr neuer Freund gehört zu ihm. Wahrscheinlich haben sie uns die ganze Zeit über beobachtet.« Er gestikulierte heftig nach draußen. »Und er ist auch nicht nach draußen, um zu pinkeln, sondern um auf die anderen zu warten, mit denen er sich hier verabredet hat!«

»Das glaube ich nicht«, sagte Lohmann.

»Aber es ist die Wahrheit.«

Warstein fuhr erschrocken herum und blickte ins Gesicht des Fahrers. Er hatte nicht einmal gehört, daß er die Tür geöffnet hatte, und doch stand er offenbar schon lange genug da, um zumindest einen Teil ihres Gespräches belauscht zu haben. Jetzt öffnete er die Tür ganz, stieg in den Wagen und ließ sich wieder hinter das Steuer sinken. Kopfschüttelnd betrachtete er das Telefon, während er den Zündschlüssel wieder ins Schloß steckte. »Es ist wirklich so: man kann noch so vorsichtig sein, irgendein dummer Fehler passiert am Ende meistens doch. Und wenn es nur eine Kleinigkeit ist.«

»Was haben Sie jetzt mit uns vor?« fragte Angelika.

»Vor? Nichts. Keine Sorge, meine Liebe, Ihnen wird nichts geschehen. Wir warten, das ist alles. In ein paar Minuten wird jemand hier sein, der sich um Sie und Ihre Freunde kümmert.« Er sah auf die Uhr im Armaturenbrett. »Sie müßten längst hier sein. Ich verstehe das gar nicht.«

»Dann hat Warstein recht?« Lohmann klang noch immer so, als könne er einfach nicht glauben, was er hörte. »Sie ... Sie arbeiten für Franke?«

»Sie hätten auf das hören sollen, was man Ihnen gesagt hat, und wieder nach Hause fahren. Das hätte Ihnen eine Menge Ärger erspart. Ich fürchte, jetzt ist es zu spät. Aber keine Sorge - Ihnen wird nichts passieren. Vielleicht wird man Sie ein paar Tage festhalten, aber das ist auch alles. Wir sind keine Verbrecher.«

»Und Sie glauben, wir warten in aller Seelenruhe ab, bis Ihre Komplicen hier sind?« fragte Angelika.

»Ich denke schon.«

»Und wenn nicht?« Angelika deutete auf die Beifahrertür. »Was wollen Sie machen? Sie können uns nicht alle drei festhalten.«

Warstein war nicht einmal sicher, daß er das nicht gekonnt hätte. Der Bursche war ein wenig kleiner als Lohmann, aber viel kräftiger, und er machte einen durchtrainierten Eindruck. Wahrscheinlich war er in der Lage, mit ihnen allen fertig zu werden, ohne sich besonders anzustrengen.

Aber er zog eine andere Taktik vor. Ohne besondere Hast griff er unter seine Jacke, zog eine Pistole hervor und richtete sie auf Angelika, nachdem er sie entsichert hatte. »Ich würde es äußerst ungern tun«, sagte er, »aber wenn Sie mich dazu zwingen...«

»Was?« fragte Angelika herausfordernd. Sie war beim Anblick der Waffe bleich geworden, aber sie kämpfte ihre Furcht tapfer nieder. »Werden Sie mich dann erschießen?«

»Das kann man damit nicht«, antwortete der Mann. »Ich habe Hartgummigeschosse geladen - Ihre Polizei benutzt sie auch, glaube ich. Man kann niemanden damit umbringen. Aber sehr weh tun. Lassen Sie es nicht darauf ankommen.«

»Und wenn doch?« fragte Angelika herausfordernd.

»Laß es!« sagte Warstein rasch. »Er schießt.«

Angelika sah ihn unsicher an, aber der Fahrer nickte anerkennend. »Gut, daß wenigstens Sie vernünftig sind«, sagte er.

»Wer sagt, daß ich das bin?« fragte Warstein und schlug ihm die Faust ins Gesicht.

Es war kein sehr geschickter Schlag, ohne große Kraft und aus dem falschen Winkel heraus geführt, und er tat Warstein selbst vermutlich sehr viel mehr weh als dem Mann, den er traf. Aber er kam vollkommen ohne Warnung, und was ihm an Wirkung fehlte, das machte er durch die Überraschung wieder wett. Der Bursche schrie auf, prallte im Sitz zurück und versuchte seine Waffe auf Warstein zu richten.

Angelika fiel ihm in den Arm. Ihre Kraft reichte nicht, um die Hand wirklich herunterzuschlagen, aber im gleichen Moment warf sich auch Lohmann auf den Mann, und obwohl sie sich mehr gegenseitig behinderten, als sich zu helfen, gelang es ihnen, dem Burschen die Waffe zu entringen und ihn halb aus dem Sitz zu zerren. Auch Warstein griff mit beiden Händen zu und versuchte den anderen Arm ihres Gegners zu packen und festzuhalten. Für einen Moment entstand ein unbeschreibliches Gerangel und Geschiebe, und für einen noch kürzeren Moment schöpfte er wirklich Hoffnung, daß es ihnen zu dritt gelingen könnte, den Burschen zu überwältigen.

Dann traf ihn ein fürchterlicher Schlag gegen die Brust und schleuderte ihn quer durch den Wagen.

Der Schmerz war so schlimm, daß er nicht einmal schreien konnte. Haltlos taumelte er zurück und prallte gegen den Kühlschrank. Irgend etwas zerbrach darin, und der Türgriff bohrte sich mit grausamer Wucht in seine Nieren. Ein neuerlicher, noch schlimmerer Schmerz explodierte in seinem Rücken und zwang ihn auf die Knie herab. Warstein keuchte. Vor seinen Augen drehten sich rotierende Feuerräder, und sein Mund schmeckte plötzlich nach Blut. Er bekam keine Luft mehr, und die Geräusche des Kampfes hörten sich plötzlich an, als wären sie weit, weit fort. Er sank nach vorne, fing seinen Sturz im letzten Moment mit den Händen ab und spürte, wie alle Kraft aus seinem Körper wich. Er begann ohnmächtig zu werden. Aber das durfte er nicht. Wenn er jetzt das Bewußtsein verlor, war alles vorbei.

Irgendwie gelang es ihm, die Ohnmacht zurückzudrängen und sich wieder aufzurichten - gerade im richtigen Moment, um mit anzusehen, wie Lohmann von einem wütenden Schwinger des Burschen von seinem Sitz gefegt wurde und gegen die Tür krachte. Angelika hing noch immer an seinem rechten Arm und versuchte ihn festzuhalten. Er schüttelte sie mit einer zornigen Bewegung ab, sprang auf seinem Sitz hoch und bückte sich nach seiner Waffe, und im gleichen Moment sprang Warstein ihn an.

Es war wenig mehr als ein Versuch. Warstein hatte keinerlei Erfahrung in solchen Dingen. Er hatte sich in seinem ganzen Leben noch nie geschlagen, nicht einmal als Kind in der Schule, und er wußte, daß er keine Chance hatte. Statt den anderen niederzureißen, rannte er direkt in dessen Knie, das seinen Magen mit der Wucht eines Hammerschlages traf. Pfeifend entwich die Luft aus seinen Lungen. Übelkeit und Schmerz explodierten in seinem Leib. Er brach abermals in die Knie, aber er klammerte sich mit beiden Armen an die Beine des Mannes und versuchte ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen.

Es gelang ihm nicht. Ein Faustschlag traf seine Schulter, und obwohl er nicht einmal besonders weh tat, war sein rechter Arm plötzlich wie gelähmt. Sein Griff lockerte sich, und der andere befreite sich mit einer zornigen Bewegung vollends und schleuderte ihn zu Boden.

»Verdammt, hört endlich auf!« schrie er. »Seid ihr verrückt geworden?!« Angelika sprang ihn von hinten an und umklammerte seinen Hals mit beiden Armen. Er schüttelte sie ab, und sie fiel mit einem Schmerzensschrei zwischen die vorderen Sitze, doch auch Lohmann hatte sich inzwischen wieder hochgerappelt. Mit wild rudernden Armen drang er auf den Burschen ein, und einer seiner fast ungezielten Schläge traf tatsächlich. Der Mann wankte zurück, stolperte über den Fahrersitz und fiel rücklings gegen die Tür, als Warstein nach seinem Fuß griff und daran zerrte. Es gab einen dumpfen, knirschenden Laut, als sein Schädel mit dem harten Metall kollidierte.

Der Mann verdrehte stöhnend die Augen. Er verlor nicht das Bewußtsein, aber er war für einen Moment benommen, und Warstein nutzte die Chance, die Tür aufzustoßen und ihn mit der anderen Hand an der Schulter zu packen, um ihn aus dem Wagen zu werfen. Sie hatten ihren Gegner angeschlagen, aber das war pures Glück gewesen und dem Umstand zu verdanken, daß er sich seiner Überlegenheit ein wenig zu sicher gewesen war. Ein zweites Mal würde er diesen Fehler nicht mehr begehen. Wenn er erst einmal wieder ganz bei sich war, würde er dem Kampf ganz schnell ein Ende bereiten.

Der andere begriff, was er vorhatte, und klammerte sich instinktiv am Türrahmen fest, aber er war noch immer ein wenig benommen.

Warstein versetzte ihm einen Faustschlag auf die Hand, und im gleichen Moment ergriff Lohmann von hinten seine Beine und riß sie in die Höhe. Dieser doppelte Angriff war zuviel. Der Mann stürzte rücklings aus dem Wagen und schlug schwer auf dem nassen Asphalt draußen auf.

Warstein war mit einem einzigen Satz hinter dem Steuer und drehte den Zündschlüssel. Der Motor sprang sofort an, aber er war so nervös, daß er den Wagen abwürgte, als er loszufahren versuchte. Fluchend griff er nach dem Schlüssel und drehte ihn herum. Der Anlasser arbeitete jaulend, aber der Motor sprang nicht an.

»Kein Gas!« sagte Lohmann. »Geben Sie nicht so viel Gas, er säuft Ihnen ab!« Warstein nahm den Fuß vom Gaspedal und versuchte es erneut. Wieder wimmerte der Anlasser, aber eine Sekunde, zwei, drei, dann sprang der Motor an - der Wagen machte einen Satz nach vorne und ging abermals aus. Er hatte vergessen, den Gang herauszunehmen.

Lohmann begann ihn mit einer Flut von Beschimpfungen zu überschütten, während Warstein nervös zum dritten Mal versuchte, den Wagen zu starten. Diesmal gelang es ihm fast auf Anhieb - aber als er die Kupplung treten und den Gang einlegen wollte, wurde die Tür neben ihm aufgerissen. Eine Hand klammerte sich an den Türrahmen, die andere krallte sich mit solcher Kraft in seine Schulter, daß er vor Schmerz aufschrie und halb aus dem Wagen gezerrt wurde. Lohmann griff blitzschnell zu und hielt ihn fest, und irgendwie gelang es ihm, den Schalthebel nach vorne zu drücken. Ein häßliches Knirschen erscholl, das an Metallspäne und zerbrechende Zahnräder erinnerte, aber der Wagen rollte los.

Warstein schlug blindlings mit dem Ellbogen aus. Er traf etwas, und ein zorniger Schrei erklang, aber die Hand, die an seiner Schulter zerrte, ließ trotzdem nicht los. Warstein rutschte unerbittlich weiter vom Sitz und drohte, aus dem Wagen zu stürzen. Das Gesicht des Burschen neben ihm war jetzt blutüberströmt, denn Warsteins Ellbogen hatte seine Lippe getroffen und sie aufplatzen lassen. Der Ausdruck in seinen Augen war pure Mordlust. Wenn es ihm gelang, in den Wagen hineinzukommen, war es vorbei.

Warstein angelte verzweifelt mit dem Fuß nach dem Gaspedal. Es gelang ihm, es niederzudrücken. Nicht viel, aber der Wagen wurde schneller. Der Mann neben ihm begann groteske Hüpfer und Sprünge zu vollführen, um mit der Geschwindigkeit mitzuhalten, aber er dachte noch immer nicht daran, aufzugeben. Ganz im Gegenteil machte er Anstalten, sich in den Wagen hineinzuziehen, und da er sich dabei noch immer an Warsteins Schulter festhielt, zerrte er ihn immer weiter vom Sitz.

Angelika erschien hinter ihm. Zwei, drei Sekunden lang versuchte sie vergeblich, die Finger zurückzubiegen, die sich in seine Schulter gegraben hatten, dann wechselte sie ihre Taktik und fuhr dem Angreifer mit den Nägeln beider Hände durch das Gesicht. Der Bursche schrie auf, ließ endlich Warsteins Schulter los und verschwand mit einem halben Salto rückwärts aus der Tür. Um ein Haar wäre Warstein ihm gefolgt. Das plötzliche Fehlen der Kraft, die an seiner Schulter zerrte, brachte ihn endgültig aus dem Gleichgewicht. Er kippte zur Seite, hielt sich instinktiv am Lenkrad fest und brachte den Wagen dadurch zum Schlingern. Hätten Lohmann und Angelika ihn nicht mit vereinten Kräften festgehalten und wieder ins Wageninnere zurückgezerrt, wäre er Frankes Mann nach draußen gefolgt, und...

Irgendwie gelang es ihm sogar, die Gewalt über den Wagen zurückzuerlangen und ihn zum Stehen zu bringen, ehe sie gegen einen Baum krachten oder die Böschung hinabstürzten. Mit einem erschöpften Seufzen sank er über dem Steuer zusammen. Sein Herz schlug so schnell, daß es weh tat, und er zitterte am ganzen Leib. Er gönnte sich selbst fünf, sechs Sekunden, um mit dem Allerschlimmsten fertig zu werden, dann richtete er sich auf und sah nach den beiden anderen.

»Alles in Ordnung?« fragte er.

Schon während er die Worte aussprach, wurde ihm klar, daß er damit gute Aussichten auf den Preis für die dümmste Frage der Woche hatte. Angelika war kreidebleich und zitterte am ganzen Leib. Sie hatte sich mehrere Fingernägel abgebrochen, auf die unschöne, schmerzhafte Art, denn ihre Linke war voller Blut, und Lohmanns Gesicht begann schon jetzt sichtbar anzuschwellen. Trotzdem nickten beide.

Warstein drehte sich zur anderen Seite und angelte nach dem Griff, um die Tür zuzuziehen. Dabei fiel sein Blick auf ihren Fahrer, der sich jetzt gute zwanzig Meter hinter ihnen befand. Es war beinahe unglaublich - aber er richtete sich bereits wieder auf. Der Kerl war zäh.

»Fahren Sie los«, sagte Lohmann. »Ehe seine Freunde hier sind.«

»Zu spät«, sagte Angelika. »Da sind sie schon.«

Warstein sah erschrocken auf. Hinter ihnen war ein Scheinwerferpaar aufgetaucht, das sich rasch näherte. Sie konnten den dazugehörigen Wagen nicht erkennen, aber die wilden Gesten, die der Fahrer in ihre Richtung machte, machten es auch vollkommen überflüssig. Warstein hämmerte fluchend den Gang hinein und gab Gas.

Der Motor heulte auf, aber der Wagen setzte sich ebenso schwerfällig in Bewegung, wie ihr Verfolger schnell näher kam. Die Räder schienen am Boden festzukleben, während das jetzt voll aufgeblendete Scheinwerferpaar mit rasendem Tempo herankam. Nach ein paar Sekunden bereits war der andere Wagen heran und fast neben ihnen, und jetzt erkannte ihn Warstein. Es war ein blauer Fiat.

»Festhalten!« schrie er.

Beinahe im gleichen Moment riß er das Steuer herum. Ein knirschender, dumpfer Laut erscholl. Metall zerbarst. Glas splitterte. Lohmann wurde gegen das Armaturenbrett geschleudert, und auch Angelika stürzte wieder zu Boden, während der Wagen nach rechts ausbrach und für eine halbe Sekunde umzukippen drohte. Der Fiat schleuderte davon, drehte sich mehrmals um seine Achse und prallte mit einem zweiten, noch lauteren Krachen gegen ein Hindernis, das irgendwo in der Dunkelheit verborgen gewesen war.

Warstein kurbelte wild am Lenkrad, um die Gewalt über den Van zurückzuerlangen. Der Wagen schlingerte, aber sein großes Gewicht, daß ihnen gerade noch beinahe zum Verhängnis geworden wäre, erwies sich nun als Vorteil. Der Van fand beinahe von selbst in die Spur zurück. Als sie den Parkplatz verließen, gehorchte das Lenkrad Warsteins Befehlen wieder.

Lohmann richtete sich stöhnend auf und hob die Hände ans Gesicht. Seine Nase blutete. Aber er ersparte sich zu Warsteins Überraschung jeden Vorwurf. »Haben wir sie abgehängt?«

»Ich denke schon.« Warstein sah in den Rückspiegel. Der Parkplatz war bereits außer Sicht gekommen. Der Fiat verfolgte sie nicht. Und wenn er an den entsetzlichen Knall zurückdachte, mit dem die Scheinwerfer hinter ihnen in der Nacht erloschen waren, würde er es wahrscheinlich auch nie wieder tun. »Hoffentlich haben wir sie nicht umgebracht«, murmelte er.

»Ihre Sorgen möchte ich haben«, maulte Lohmann. Er betupfte sich seine Nase und sah anschließend auf das Blut auf seinen Händen herunter. Der Anblick erinnerte ihn wohl daran, daß er etwas vergessen hatte. »Wo zum Teufel haben Sie Autofahren gelernt, Warstein? Auf der Geisterbahn?«

Warstein ersparte es sich, überhaupt darauf zu antworten. Er gab mehr Gas, um den Wagen in den schnell fließenden Verkehr auf der Autobahn einzufädeln, und sah zugleich nach rechts, zu Angelika. »Alles okay?«

Sie zog eine Grimasse. »Allmählich begreife ich, warum man sich in einem fahrenden Wagen anschnallen soll«, sagte sie. »Hast du noch mehr solcher Kunststücke auf Lager? Ich frage nur, weil ich dann gleich liegenbleibe.« Anders als bei Lohmann verletzte ihn ihr Spott nicht. Ganz im Gegenteil lachte er leise und konzentrierte sich dann wieder auf den Verkehr. Er hatte eine Lücke erspäht, die ihm groß genug erschien, den schwerfälligen Van hineinzubringen. Der Motor klang nicht gut. Irgend etwas schleifte, und einer ihrer Scheinwerfer war zu Bruch gegangen. Sehr weit würden sie mit diesem Wagen nicht mehr kommen.

Lohmann schien das wohl genauso zu sehen, denn er sagte: »Fahren Sie an der nächsten Ausfahrt raus. Ich will nach dem Wagen sehen.«

»Verstehen Sie denn etwas davon?«

»Ein bißchen«, antwortete Lohmann. Plötzlich lachte er. »Wir sollten Ihren Freund Franke noch einmal anrufen, finde ich.«

»Wozu?«

»Um uns zu bedanken. Immerhin haben wir jetzt einen Wagen.«

»Was glauben Sie, wie weit wir damit kommen?« fragte Angelika.

»Wahrscheinlich kennt jetzt schon jeder Schweizer Polizist unser Nummernschild.«

Das war übertrieben, aber im Prinzip stimmte Warstein ihr zu. Die kurze Euphorie, die sich nach ihrer geglückten Flucht in ihm breitgemacht hatte, war schon wieder verflogen. Mit ein bißchen Pech - und Warstein zweifelte nicht daran, daß es ihnen treu blieb - würde sich ihre Flucht als Pyrrhussieg herausstellen. Sie hatten Franke genau den Vorwand geliefert, den er bis jetzt vielleicht noch nicht gehabt hatte, um auch offiziell zum großen Halali auf sie zu blasen. Innerhalb der letzten fünf Minuten hatten sie sich der Körperverletzung, des Autodiebstahls und der Unfallflucht schuldig gemacht, und vermutlich noch einer ganzen Reihe anderer Delikte, die ihm jetzt noch nicht einfielen. Nein, dachte er düster, sie mußten Franke nicht anrufen. Wahrscheinlich würde er es tun, um sich bei ihnen zu bedanken.

»Ich verstehe ja Ihren Ärger«, sagte Marzin, wobei er sich bemühte, gleichzeitig beruhigend wie angemessen zu klingen, damit sein Gegenüber nicht etwa glaubte, seine Beschwerde wäre ihm im Grunde egal, »aber ich fürchte, ich kann wenig tun.«

»So, fürchten Sie?« Der grauhaarige Mann, dem Marzins Worte gegolten hatten, richtete sich kampflustig auf und begann auf den Absätzen zu wippen. Immerhin ging er Marzin dadurch fast bis zum Kinn - was nicht etwa daran lag, daß der Hotelmanager so groß gewesen wäre. Aber was dem Touristen an körperlicher Größe fehlte, um hinlänglich beeindruckend zu wirken, das machte er an Zorn dreimal wett. »Na, dann fürchte ich, werde ich Ihre Rechnung nicht in voller Höhe begleichen können, wenn ich morgen abreise. Und ich fürchte, Sie können dagegen auch wenig tun.«

»Ich bitte Sie!« sagte Marzin. Es fiel ihm immer schwerer, Ruhe zu bewahren. »Wir werden sicherlich eine Lösung finden. Das Hotel kann nun wahrlich nichts dafür, wenn -«

»Papperlapapp!« unterbrach ihn der Gast - übrigens der fünfte an diesem Abend, der Marzin sinngemäß den gleichen Vortrag hielt. »Es interessiert mich nicht, wer irgend etwas wofür kann und wer nicht! Ich habe drei Wochen Badeurlaub in Ihrem famosen Hotel gebucht, zu einem Preis, der an Wucher grenzt. Ich habe mich nicht beschwert, daß in Ihrer angeblich ach so ruhigen Stadt plötzlich ein Gedränge herrscht wie auf dem Ku'damm beim Sommerschlußverkauf. Ich habe kein Wort darüber verloren, daß man mittlerweile eine halbe Stunde braucht, um die Straße zu überqueren! Ich habe nicht einmal etwas gesagt, als ich feststellen mußte, daß Ihr nobles Städtchen offenbar zu einem Treffpunkt international gesuchter Terroristen und Verbrecher geworden ist. Aber jetzt reicht es. Verraten Sie mir, wie ich meinen Badeurlaub genießen soll, wenn ich nicht mehr ans Wasser komme, weil das Ufer von einer Armee von Verrückten belagert wird?«

»Wie gesagt, ich verstehe Ihren Ärger«, sagte Marzin, »aber ich kann da gar nichts tun. Es ist nicht unsere Schuld, wenn...«

»...vierundzwanzig Dutzend Folkloregruppen aus aller Welt den See belagern?« wurde er unterbrochen. »Das werden wir sehen. In Ihrem Prospekt stand nichts dergleichen. Ich wollte heute abend mit meiner Frau an den See. Nicht einmal zum Schwimmen, sondern nur so. Wissen Sie, was passiert ist? Wir sind einem Dutzend ausgewachsener Indianer in die Hände gefallen, die angemalt waren, als befänden sie sich auf dem Kriegspfad! Meine Frau hat Todesängste ausgestanden! Wenn Sie das komisch finden - ich jedenfalls nicht. Wir reisen morgen ab. Und wenn Sie der Meinung sind, mehr als die Hälfte der Rechnung haben zu wollen, dann können Sie sich mit meinem Anwalt darüber unterhalten!«

Er funkelte Marzin herausfordernd an, aber der Manager war klug genug, nicht zu antworten. Wahrscheinlich würde er sich bis zum nächsten Morgen wieder beruhigt haben, und ebenso wahrscheinlich war, daß er nicht abreiste und es auch nicht darauf ankommen ließ, sich mit einem Polizeibeamten über die Begleichung der Rechnung zu unterhalten. Er hatte seinen Auftritt gehabt, und das Gefühl, als Sieger daraus hervorgegangen zu sein, würde ihm den Rest des Abends ein wenig versüßen.

Das Schlimme war, daß Marzin ihn gut verstehen konnte. Er wartete, bis der Gast sein Büro verlassen hatte (selbstverständlich nicht, ohne die Tür hinter sich zuzuknallen), dann griff er zum Telefon und wählte eine gespeicherte Nummer. Das erste Freizeichen war noch nicht zu Ende, als auch schon abgehoben wurde. »Lesser?«

»Guten Abend, Frau Stadtrat«, sagte Marzin. »Bitte verzeihen Sie die späte Störung, aber wäre es möglich, Ihren Gatten zu sprechen? Ich weiß, wie spät es ist, aber...«

»Oh, das macht nichts. Sie sind ungefähr der zehnte, der anruft. Aber ich fürchte, ich kann Ihnen nicht helfen. Mein Mann ist in einer Sitzung im Bürgermeisteramt.«

Marzin sah auf die Uhr, die an der Wand neben der Tür hing. Es war fast elf. »Um diese Zeit?« entfuhr es ihm. Am liebsten hätte er sich dafür auf die Zunge gebissen. Schließlich war er es, der mitten in der Nacht anrief.

»Ja, und es wird auch noch eine Weile dauern, fürchte ich.« Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang nun schon merklich kühler. »Sie können gerne selbst im Rathaus anrufen.« Wenn Sie mir nicht glauben, fügte sie zwar nicht laut hinzu, aber Marzin hörte es trotzdem.

»Das ist nicht nötig«, sagte er hastig. »Ich melde mich dann morgen wieder. Gute Nacht.« Er hängte ein und starrte das Telefon beinahe feindselig an. Für einen Moment war er nahe daran, tatsächlich im Rathaus anzurufen - aber wozu? Es brachte nichts, sich mit einem Anrufbeantworter zu unterhalten. Marzin stand auf, trat ans Fenster und öffnete die Jalousien. Tagsüber reichte der Blick aus seinem Fenster weit auf den Lago Maggiore hinaus, der jetzt nicht mehr als ein schwarzer Schatten vor einem nicht ganz so schwarzen Hintergrund war. Trotzdem konnte er seine Umrisse deutlich erkennen. Das Ufer wurde von Dutzenden winziger roter Funken gesäumt; Feuer, die dort brannten und um die sich das scharte, was der erboste Gast gerade als vierundzwanzig Dutzend Folkloregruppen bezeichnet hatte. Sie waren es nicht. Marzin war schon am Nachmittag selbst unten am See gewesen, und was er dort gesehen hatte, das hätte ihn in Angst und Schrecken versetzt, hätte er zugelassen, daß diese Gefühle Gewalt über ihn erlangten. Was um alles in der Welt ging in dieser Stadt vor?

Sie hatten die Autobahn verlassen, und Warstein war nach ein paar Kilometern auch von der Hauptstraße abgebogen und hatte den Wagen in einen schmalen Waldweg hineingelenkt, bis sie eine Stelle gefunden hatten, die ihnen geeignet schien, die Nacht dort zu verbringen: eine winzige Lichtung, die mit Mühe und Not Platz zum Wenden bot und an drei Seiten von dichtem Gestrüpp umgeben war. Lohmann hatte den Wagen verlassen und sich eine Zeitlang an der beschädigten Seite zu schaffen gemacht. Als er zurückkam, waren seine Hände ölverschmiert, aber er wirkte trotzdem zufrieden. Wie er erklärte, war der Schaden nicht besonders groß: mit Ausnahme des zerbrochenen Scheinwerfers war der Wagen voll funktionstüchtig.

Fünf Minuten später klingelte das Telefon.

Warstein nahm ab, während sich Angelika und Lohmann noch überrascht ansahen. »Guten Abend, Herr Doktor Franke«, sagte er, noch ehe sich der Gesprächsteilnehmer melden konnte.

»Ein ziemlich billiger Effekt, finden Sie nicht?« Es war Franke, und er klang sehr zornig.

»Ich habe sogar eher mit Ihnen gerechnet«, antwortete Warstein. »Wieso hat es so lange gedauert? Hatten Ihre Schläger kein Kleingeld zum Telefonieren?«

»Ich rede von dem kleinen Kunststück, daß Sie sich gerade geleistet haben«, antwortete Franke ärgerlich. »Zwei der Männer sind schwer verletzt. Sind Sie zufrieden? Oder muß es erst ein paar Tote geben, ehe Sie Vernunft annehmen?«

»Und was tun?« gab Warstein zurück. Der scharfe Ton in seiner Stimme überraschte ihn fast selbst. Frankes Worte hatten ihn stärker getroffen, als er zugab. Er hatte gehofft, daß es bei einem demolierten Wagen geblieben wäre.

»Also gut.« Franke wechselte die Taktik und versuchte, einen versöhnlichen Ton in seine Stimme zu legen. Sehr überzeugend klang es nicht. »Was muß ich tun, um mit Ihnen reden zu können?«

»Sie sind doch schon dabei, oder?«

»Verdammt, hören Sie mit diesem Quatsch auf!« fauchte Franke. »Den James-Bond-Verschnitt nimmt Ihnen niemand ab!«

Warstein schwieg ein paar Sekunden. Er hatte den Lautsprecher eingeschaltet, so daß Lohmann und Angelika mithören konnten, aber sie wirkten so hilflos wie er. Franke hatte den Nagel auf den Kopf getroffen, auch wenn er es vielleicht selbst nicht wußte: die Ereignisse der letzten Stunde hatten etwas von einem Agentenkrimi gehabt. Aber es war ein verdammter Unterschied, ihn im Kino zu sehen oder ihn selbst zu erleben. Warstein hätte eine Menge dafür gegeben, einfach aufzustehen und nach Hause gehen zu können, auch wenn die Vorstellung noch nicht vorbei war.

»Was wollen Sie?« fragte er müde.

»Ich appelliere an Ihre Vernunft, Warstein«, antwortete Franke. »Ich glaube, Sie wissen nicht, was Sie tun. Sie sind dabei, sich in eine Situation hineinzumanövrieren, aus der Sie nicht wieder herauskommen, ist Ihnen das klar?«

»Und was soll ich dagegen tun?«

»Sagen Sie mir, wo Sie sind«, antwortete Franke. »Ich gebe Ihnen mein Wort, daß Ihnen nichts geschieht. Wir vergessen, was gerade passiert ist. Sie und Ihre Freunde steigen morgen früh in die erste Maschine nach München, und das ist alles.«

»Oh, wie beruhigend«, sagte Warstein. »Sie meinen, wir hätten uns all das sparen können. Und wenn uns Ihr Vorschlag nun nicht gefällt?«

»Seien Sie kein Narr, Warstein«, antwortete Franke gereizt. »Sie wissen ganz genau, was dann passiert. Es kostet mich einen Anruf, und die gesamte Polizei dieses Landes macht Jagd auf Sie. Was glauben Sie, wie weit Sie kommen?«

»Vermutlich nicht sehr weit«, sagte Warstein ehrlich. »Aber beantworten Sie mir eine Frage, Franke. Warum geben Sie sich solche Mühe, mich vom Berg fernzuhalten? Ich nehme an, Sie haben gefunden, wonach Sie die letzten drei Jahre gesucht haben. Was ist es?«

Franke schwieg eine Sekunde. Er beantwortete Warsteins Frage nicht. »Geben Sie mir Frau Berger«, sagte er dann. »Sie ist doch noch bei Ihnen?«

»Sie hört mit«, antwortete Warstein. »Die Presse übrigens auch. Nur, falls es Sie interessiert, daß alles, was wir besprechen, vielleicht schon morgen in der Zeitung steht.«

»Kaum«, antwortete Franke gelassen. »Frau Berger?«

»Ich höre«, sagte Angelika laut. Sie wirkte unsicher. Nervös.

»Ich habe Ihnen einen Vorschlag zu machen«, sagte Franke. »Sie sind hierhergekommen, weil Sie Ihren Mann suchen. Ich weiß, wo er ist. Ich bringe Sie zu ihm, wenn sie wollen.«

»Einfach so?« fragte Angelika überrascht. »Ohne Bedingungen? Ohne Wenn und Aber? Heute morgen haben Sie noch behauptet, nicht zu wissen, wo er ist.«

»Das war nicht die Wahrheit«, sagte Franke. »Ein Fehler. Ich bedaure ihn.«

»Ich glaube Ihnen nicht«, sagte Angelika.

»Das kann ich verstehen«, antwortete Franke. »Also gut, hören Sie mir zu - und Sie auch, Warstein. Ich könnte Ihnen eine ganze Armee auf den Hals hetzen, wenn ich wollte, aber ich werde es nicht tun. Noch nicht. Ich gebe Ihnen Zeit bis morgen früh, sich zu entscheiden. Mein Angebot gilt. Sagen Sie mir, wo Sie sind, und ich lasse Sie abholen und zu Ihrem Mann bringen. Und für Sie, Warstein, gilt dasselbe. Geben Sie auf, und ich werde sehen, was ich für Sie tun kann. Vielleicht kann ich Sie sogar rehabilitieren. Ich verspreche Ihnen nichts, aber ich werde es versuchen. Ich rufe Sie morgen früh noch einmal an.« Die Verbindung wurde unterbrochen.

»Was ... war denn das?« fragte Lohmann überrascht. »War das derselbe Kerl, der uns bisher solchen Ärger bereitet hat?« Er lachte unsicher. »Entweder, er hat mehr Respekt vor Ihnen, als ich bisher geglaubt habe...«

»...oder er hat sehr viel mehr zu verlieren, als wir dachten«, führte Angelika den Satz zu Ende. »Anscheinend sind wir ihm ziemlich auf die Pelle gerückt.«

Warstein schwieg. Sie hatten beide unrecht, aber es wäre müßig, diese Diskussion zu führen. Er kannte Franke gut genug, um den Unterton von Panik nicht zu überhören, der in seiner Stimme gewesen war. Langsam hob er den Kopf und sah Angelika an.

»Du solltest dir sein Angebot überlegen«, sagte er. »Ich glaube, es war ehrlich gemeint.«

»Das ist nicht dein Ernst!« Sie klang ebenso erstaunt wie empört über diesen Vorschlag. »Du glaubst doch nicht, daß ich euch jetzt im Stich lasse und mit fliegenden Fahnen die Seiten wechsle!«

»Das hier ist kein Spiel«, antwortete Warstein ruhig. »Jetzt nicht mehr. Du bist hier, weil du deinen Mann suchst, nicht, um mit uns Räuber und Gendarm zu spielen. Franke weiß, wo er ist, und ich bin sicher, daß er dich zu ihm bringen kann, wie er es versprochen hat. Denk darüber nach.«

»Auf welcher Seite stehen Sie eigentlich?« fragte Lohmann mißtrauisch. »Ich glaube diesem Kerl kein Wort.«

»Ich schon«, erwiderte Warstein. »Ich glaube ihm zum Beispiel, daß er uns quer durch dieses Land hetzen kann, wenn er wirklich will. Seien Sie realistisch, Lohmann - wir kommen nicht einmal auf hundert Kilometer an den Berg heran, wenn Franke es nicht will. Ich weiß, daß Sie hier sind, um eine Story für Ihre Zeitung zu schreiben, aber ich bin hier, weil Angelika mich gebeten hat, ihr zu helfen. Und das tue ich nicht, wenn ich sie überrede, diese Chance auszuschlagen.«

»Deshalb sind Sie nicht hier«, antwortete Lohmann böse. »Sie behaupten es, aber es ist nicht die Wahrheit. Vielleicht glauben Sie es ja sogar selbst, aber der wirkliche Grund, aus dem Sie hier sind...« er deutete auf das Telefon, »...ist Franke. Der Mann hat Sie fertiggemacht, nach allen Regeln der Kunst, und Sie sind hier, um es ihm heimzuzahlen. Aus keinem anderen Grund.«

»Das ist nicht wahr«, antwortete Warstein. Es klang nicht einmal in seinen eigenen Ohren überzeugend, und Lohmann machte sich nicht die Mühe zu widersprechen. Natürlich hatte er recht. Vielleicht waren Warsteins Beweggründe nicht ganz so einfach, wie er behauptete, aber im Kern der Sache hatte er recht. Jeder von ihnen war aus seinem ganz persönlichen Grund hier, und die anderen waren dabei wenig mehr als Staffage. Er fragte sich, ob sie ihm ebenfalls geraten hätte aufzugeben, wäre es umgekehrt gewesen, und vielleicht stellte er sich diese Frage im Grunde nur, weil er Angst vor der anderen Frage hatte, die er sonst vielleicht an sich selbst gerichtet hätte: nämlich wie er reagiert hätte, hätte Franke ihm angeboten, ihm zu geben, weshalb er gekommen war.

»Und Sie?« fragte er böse. Lohmann sah ihn irritiert an, und Warstein fuhr in herausforderndem Ton fort: »Sie würden uns doch auf der Stelle verkaufen, wenn Sie Ihre Story dafür bekämen, oder?«

Lohmann wurde bleich, eine Sekunde später lief sein Gesicht rot an. »Das ist...«

»Hört auf!« sagte Angelika scharf. »Verdammt, begreift ihr eigentlich nicht, daß ihr ganz genau das tut, was er wollte? Hört sofort auf zu streiten.«

»Warum?« fragte Lohmann giftig. »Es beginnt doch gerade erst Spaß zu machen.«

»Ja, das glaube ich Ihnen sogar«, sagte Warstein. »Ein weiterer Absatz für Ihre Geschichte, nicht wahr?«

Lohmann verzog das Gesicht. »Sie sind ein Idiot, Warstein, wissen Sie das eigentlich?« Er deutete auf Angelika. »Sie hat recht. Ein einziger Anruf reicht, und Sie gehen wie ein tollwütiger Hund auf alles los, was sich bewegt. Dieser Franke hat Sie ganz gut programmiert, nicht wahr? Er braucht nur auf den richtigen Knopf zu drücken, und schon tun Sie alles, was er will.« Er lachte, auf eine Art und Weise, für die Warstein ihm am liebsten die Zähne eingeschlagen hätte. »Sind Sie so dumm, oder tun Sie nur so? Glauben Sie wirklich, daß er sein Wort hält? Ich kenne diesen Franke nicht persönlich, aber ich kenne Typen wie ihn zur Genüge. Und Typen wie Sie auch.«

»Seien Sie doch endlich still!« sagte Angelika. »Verdammt, warum gehen Sie nicht raus und basteln ein bißchen am Wagen herum oder erschrecken meinetwegen ein paar Kaninchen.«

Lohmann starrte sie wutentbrannt an, aber der Ausbruch, auf den Warstein wartete, kam nicht. Statt dessen stand er plötzlich mit einem Ruck auf und verließ tatsächlich den Wagen. Der Knall, mit dem er die Tür hinter sich zuwarf, mußte kilometerweit zu hören sein.

»Danke«, sagte Warstein. »Ich weiß nicht, was -«

»Behalt deinen Dank für dich«, unterbrach ihn Angelika, keinen Deut weniger zornig als gerade, da sie mit Lohmann gesprochen hatte. »Ich weiß wirklich nicht, wer der größere Dummkopf ist - du oder er. In einem hat er recht, weißt du? Franke braucht nur auf einen Knopf zu drücken, und schon springst du.« Sie verschwand mit zornigen Schritten im hinteren Teil des Wagens. Warstein wollte ihr nachgehen, aber das wäre wahrscheinlich nicht so klug gewesen. Er war noch immer wütend, und er spürte erst jetzt, daß sein Zorn eigentlich nicht Lohmann galt, auch nicht Franke - sondern niemand anderem als sich selbst. Lohmann hatte recht, und Angelika auch: wenn Franke diesen Vorschlag nur gemacht hatte, damit sie sich in die Haare gerieten, dann hatte er sein Ziel erreicht; zumindest bei ihm.

»Es tut mir leid«, sagte er. »Wirklich.«

Angelika antwortete nicht, aber sie fuhr ihn zumindest nicht erneut an, obwohl er spürte, daß auch sie innerlich vor Zorn brodelte. Sie begann sich lautstark in der kleinen Küche zu schaffen zu machen, und Warstein war klug genug, dieses Verhalten als das zu verstehen, was es war, und ihr auch jetzt nicht zu folgen. Statt dessen lehnte er sich im Sitz zurück, schloß die Augen und versuchte, sich zur Ruhe zu zwingen. Erstaunlicherweise gelang es ihm sogar, auch wenn er spürte, daß es eine trügerische Ruhe war, die vielleicht nicht lange halten mochte. Und die ihm zugleich fast unerträglich war.

Er brauchte irgend etwas, um seine Hände zu beschäftigen. Ziellos kramte er im Handschuhfach, fand einen kleinen Block und einen Stift und begann sinnlose Wellenmuster und Linien darauf zu malen, anfangs mit harten, hektischen Strichen, die das Papier fast zerfetzten, dann, nachdem er das erste Blatt abgerissen und zerknüllt auf den Boden geworfen hatte, etwas ruhiger. Seine Finger zitterten noch immer heftig, aber jetzt war es wirklich nur noch die Anstrengung des Tages, der hinter ihnen lag.

»Hast du das gerade ernst gemeint?« fragte Angelika plötzlich.

Warstein sah zu ihr zurück, aber sie hatte sich nicht zu ihm umgewandt, sondern drehte ihm weiter den Rücken zu und war mit der Kaffeemaschine beschäftigt. »Was?«

»Daß ich Frankes Vorschlag annehmen soll.«

»Du solltest zumindest darüber nachdenken«, antwortete er.

»Ich würde euch verraten.« Sie sah ihn immer noch nicht an, aber ihr Ton verriet, daß sie schon längst damit begonnen hatte, über Frankes Worte nachzudenken. Vielleicht war sie sogar schon zu einem Ergebnis gekommen.

»Quatsch.« Er bemühte sich, so überzeugend wie möglich zu klingen, aber es mißlang - nein, er wollte nicht, daß sie auf Franke hörte. Er wollte nicht, daß sie ihn verließ, das war die Wahrheit. Aber es gab Situationen, in denen man das Gegenteil dessen tun mußte, was man wirklich wollte, so sprach er gegen seine Überzeugung weiter. »Wir sind hier nicht in einem Kriminalfilm, Angelika. Weißt du, es gibt niemanden, der uns ein Happy-End garantiert.«

»Du meinst, wir schaffen es nicht?«

»Ich meine, daß die ganze Situation uns längst über den Kopf gewachsen ist«, antwortete er ernsthaft. »Was muß denn noch passieren, damit Lohmann und du begreift, wie ernst es Franke ist? Ich glaube mittlerweile, daß er vor nichts mehr zurückschreckt, um uns aufzuhalten. Ich will nicht, daß dir etwas zustößt.« Sie antwortete nicht mehr, und nach einer Weile drehte sich Warstein wieder herum und zeichnete weiter. Lohmann schien tatsächlich zu tun, was Angelika ihm geraten hatte, denn nach einer Weile begannen von draußen dumpfe Schläge und ein metallisches Knirschen hereinzudringen. Der Wagen begann unter ihnen zu schaukeln. Er würde sich bei ihm entschuldigen, sobald er wieder hereinkam. Sein Angriff war unfair gewesen. Auch wenn er der Wahrheit vielleicht ziemlich nahe gekommen war, er hatte kein Recht gehabt, ihn derart zu attackieren, nicht in diesem Moment und nicht auf diese Weise.

Nach ein paar Minuten begann der verlockende Duft von frisch aufgebrühtem Kaffee den Wagen zu durchziehen. Angelika klapperte mit Tassen und Geschirr und trat dann hinter ihn. »Das ist sehr schön«, sagte sie. »Was ist es? Der Berg?« Im allerersten Moment begriff Warstein nicht einmal, was sie meinte. Dann sah er auf das Blatt herab, das auf seinen Knien lag, und erschrak.

Er hatte es selbst nicht gemerkt - aber er hatte aufgehört, sinnlose Kreise und Linien auf den Block zu kritzeln. Statt dessen hatte er ein Bild des Gridone gemalt.

Im schwachen Licht der Taschenlampe sah der Raum größer aus, als Andy ihn in Erinnerung hatte, und er schien sich auch noch auf andere Weise verändert zu haben. Er konnte nicht sagen, wie, aber es war keine Veränderung, die ihm gefiel. Die Dinge, die der asymmetrische Lichtkreis aus der Dunkelheit hob, erschienen ihm größer, und ihre Umrisse irgendwie härter, die Schatten dunkler, als sie sein sollten, als wäre etwas darin, was nicht hineingehörte.

Natürlich war das alles ausgemachter Unsinn, und er kannte auch den Grund, warum sich seine Sinne mit seinem Nervenkostüm verbündet hatten, um ihm einen Streich zu spielen. Er war nervös, und er hatte verdammt noch mal allen Grund dazu.

»Was tust du da?« Travis Stimme drang aus der Dunkelheit jenseits der Tür, die der Schein seiner Lampe nicht erreichte. Er sprach leise, kaum, daß er flüsterte. Trotzdem fuhr Andy so erschrocken zusammen, daß er um ein Haar die Lampe fallen gelassen hätte.

»Nichts«, sagte er hastig. »Es ist alles in Ordnung.« Es klang nicht sehr überzeugend. Er war vielleicht ein guter Dieb und Einbrecher, aber kein sehr talentierter Lügner.

»Paß auf«, antwortete Travi. »Und bleib vom Fenster weg.«

Das ganze Unternehmen ist der helle Wahnsinn, dachte Andy nervös. Alles hatte so einfach geklungen, vor drei Tagen, als sie zusammengesessen und den Plan noch einmal durchgesprochen hatten. Travi war ein erfahrener Mann, ein Profi von fast fünfzig Jahren, der trotz der gut und gerne zweihundert Brüche, die er auf dem Kerbholz hatte, noch nie erwischt worden war. Er war sehr überzeugend gewesen, und alles, was er gesagt hatte, hatte gut geklungen - und vor allem einfach. Aber jetzt, als er hier stand, in dem dunklen, schatten-erfüllten Hinterzimmer des Juwelengeschäftes, dessen Safe Travi gerade zu knacken versuchte, wünschte er sich weit weg.

»Komm her und hilf mir«, verlangte Travi.

Andy beeilte sich, der Aufforderung zu folgen. Er war ein wenig erstaunt über Travis gereizten Ton. Auch sein Komplice war nervös, und das war wirklich ungewöhnlich, denn Travi gehörte normalerweise zu den Menschen, die immer ruhiger zu werden schienen, je haariger die Situation wurde.

Andy fand ihn vor dem altmodischen Safe im hinteren Teil des Büros am Boden kniend. Er hatte eine winzige Taschenlampe mit Klebestreifen über seinem rechten Ohr befestigt, so daß der kaum münzgroße Lichtfleck jeder Kopfbewegung folgte. Seine Finger, die aussahen, als bereite es ihnen keine Schwierigkeiten, Walnüsse zu zermalmen, und doch die Geschicklichkeit eines Chirurgen besaßen, ruhten auf dem grün gestrichenen Stahl der Safetür. Er wedelte unwillig mit der Hand, als Andy hinter ihn trat und den Strahl seiner Lampe auf den Geldschrank fallen ließ. Andy schaltete sie hastig aus, und der helle Bereich schmolz wieder auf eine daumennagelgroße Insel in einem Meer von absoluter Schwärze zusammen.

»Wie steht's?« fragte er.

»Kein Problem«, antwortete Travi. Seine Stimme verriet große Konzentration. Andy sah, wie seine Finger das Zahlenrad um den Bruchteil eines Millimeters weiter nach links drehten, und obwohl er selbst gespannt lauschte und nichts hörte, schien Travi sehr zufrieden zu sein. Er lachte.

»Das Ding ist nicht viel mehr als eine Blechbüchse«, sagte er kopfschüttelnd. »Es ist immer dasselbe - da geben sie ein Vermögen für eine Alarmanlage aus, aber der Geldschrank kann gar nicht alt und billig genug sein. Das Ding stammt noch aus dem vergangenen Jahrhundert. In fünf Minuten bin ich soweit.« Seine Finger glitten weiter über den Safe und taten Dinge, die Andy nicht begriff und die ihm wie Zauberei vorkamen. Auf eine gewisse Weise war es das wohl auch. Travi war ein Genie auf seinem Gebiet. Manchmal hatte Andy das Gefühl, daß er einen Tresor nur anzusehen brauchte, um ihm all seine Geheimnisse zu entlocken. Das war einer der Gründe - wenn nicht der entscheidende überhaupt -, warum sich Andy vor einiger Zeit mit Travi zusammengetan hatte. Er hatte gehofft, im Laufe der Zeit einiges von Travis Fertigkeiten kennenzulernen. Bisher war das nicht geschehen. Sie waren ein gutes Team, doch was sein Können anging, war Travi verschlossen wie eine Auster. Aber er war zuverlässig, er war ein guter Kumpel, und was das Wichtigste war: er ging nicht das geringste Risiko ein. Bevor sie sich diesen Laden vorgenommen hatten, hatte er wochenlang die Runden von Polizei und Wach- und Schließgesellschaft beobachtet und jede noch so kleine Abweichung peinlich genau notiert und analysiert. Bei ihm zu Hause stand ein komplettes Duplikat der Alarmanlage, die das Juweliergeschäft schützte. Er hatte sie mindestens ein halbes dutzendmal außer Betrieb gesetzt, ohne Alarm auszulösen. Andy hatte er erst im letzten Moment ins Vertrauen gezogen.

Allerdings begann er sich allmählich zu fragen, warum überhaupt. Bisher hatte er nicht das geringste getan. So, wie die Sache aussah, war es ein Einmannjob. Etwas klickte, und Travi lehnte sich mit einem hörbaren Aufatmen zurück. »Das wär's«, sagte er.

Andy sah ihn zweifelnd an. »Du meinst...«

Travi machte eine einladende Handbewegung. »Bedien dich«, sagte er grinsend. »Schönheit vor Alter, heißt es doch.«

Einen Moment lang war Andy noch unentschlossen. Das Ganze erschien ihm fast zu leicht. Dann streckte er die Hand aus und berührte den Griff. Ein saugendes Geräusch, und die Safetür schwang nach außen. Sie war schwer, aber längst nicht so schwer, wie er angesichts des zehn Zentimeter dicken Stahls erwartet hatte.

Andy riß erstaunt die Augen auf, als er das Innere des Geldschrankes sah. Auf dem obersten Bord stapelten sich Akten und ledergebundene Geschäftsbücher, aber auf den drei Fächern darunter funkelte und blitzte es nur so. Auf schwarzen Samtkissen lagen gleich Dutzende von Colliers, Armbändern, Ringen, Ketten, Ohrringen und anderen Preziosen, eine schöner und kostbarer als die andere. Der Anblick verschlug ihm fast die Sprache. Und bei dem bloßen Gedanken daran, was das Zeug wert war, wurde ihm schwindelig.

Sie rührten nichts davon an. Andy empfand ein tiefes Bedauern bei dem Gedanken an das Vermögen, das vor ihnen lag, aber sie hatten ausgiebig darüber gesprochen. Er vertraute auch in diesem Punkt auf Travis Erfahrung. Schmuck war schwer abzusetzen, und nur mit einem enormen Risiko. Aber der Safe enthielt noch etwas, nämlich ungeschliffene Rohdiamanten im Wert von gut hunderttausend Franken, die in keiner Bilanz und keinem Geschäftsbuch aufgeführt waren - ein kleines Extra, das der Juwelier an der Steuer vorbeigemogelt hatte. Er würde sich hüten, der Polizei den Diebstahl zu melden. Das war das Schöne an Travis Arbeitsweise - und vermutlich auch der Grund, warum er nie erwischt worden war.

Sicherlich ein kluges Prinzip und ein erfolgreiches, wie Travis bisherige Karriere als Berufsverbrecher bewies. Aber das änderte nichts daran, daß Andy beim Anblick all der Kostbarkeiten, die sie liegen lassen mußten, fast die Tränen in die Augen stiegen.

»Es ist eine Schande«, sagte er. »Das Zeug ist mindestens eine halbe Million wert.«

»Das Zeug ist gut und gerne fünf Jahre wert«, korrigierte ihn Travi. Seiner Stimme war keine Spur von Ungeduld anzuhören.

Vielleicht, dachte Andy, gingen ihm ja die gleichen Gedanken durch den Kopf, und er mußte das laut sagen, auch um sich selbst zu beruhigen.

»Außerdem zahlt uns der Hehler höchstens zwanzig Prozent.« Er machte eine Handbewegung, die zugleich Erklärung wie auch Aufforderung an Andy war weiterzumachen. »Hunderttausend mit einer guten Chance, erwischt zu werden, oder fast die gleiche Summe ohne das geringste Risiko. Such es dir aus.« Der letzte Satz war bloße Rhetorik, das wußte Andy. Travi würde nicht zulassen, daß er irgend etwas von den Sachen mitnahm. Und er hatte ja vollkommen recht: für die Rohdiamanten würden sie in Amsterdam gut und gerne achtzig Prozent des Marktpreises erzielen, ohne daß jemand dumme Fragen stellte.

Als er die beiden schwarzen Samtbeutel mit den Steinen an sich nahm, fiel sein Blick auf einen Stapel Banknoten: Franken, D-Mark und Dollar, säuberlich gebündelt. Fragend sah er Travi an.

Der andere überlegte einen Moment, aber dann schüttelte er den Kopf. »Zu viel«, sagte er. »Wenn das verschwindet, ruft er die Polizei.« Plötzlich grinste er. »Aber nimm dir ruhig zwei- oder dreitausend. Das wird seine Buchführung ganz schön durcheinanderwirbeln. Und er wird es bestimmt nicht wagen, den Verlust anzuzeigen. Jemand könnte ihn fragen, warum wir dreitausend Franken mitgenommen und den ganzen Rest liegengelassen haben.«

Andy lachte leise, zählte dreitausend Franken ab und stopfte sie achtlos in die Jackentasche. Travi lächelte noch immer über seinen Einfall. Er war oft auffallend guter Laune, während ein Bruch lief. Andy glaubte den Grund dafür zu kennen. Travi hielt sich für eine Art moderner Robin Hood, wenn auch mit einer Einschränkung. Er bestahl nur die, die andere bestahlen, aber die einzigen Bedürftigen, an die er seine Beute verteilte, waren natürlich Andy und er selbst. »Okay, machen wir zu.« Travi gab ihm mit einer Kopfbewegung zu verstehen, daß sein Teil der Arbeit beendet war und er zurücktreten sollte. Aber Andy zögerte. Es war nicht der erste Safe, den er zusammen mit Travi leerräumte, aber sie hatten noch nie eine so reiche Beute verschmäht wie jetzt. Der Gegenwert dessen, was da im wahrsten Sinne des Wortes zum Greifen nahe vor ihnen lag, reichte möglicherweise für ein ganzes Leben.

»Tut weh, nicht?« sagte Travi. Andy sah ihn verstört an, bis er überhaupt begriff, was er meinte. »Mir geht es ganz genauso«, fuhr Travi fort. »Jedes Mal. Aber es ist besser so, glaub mir.« Er machte eine auffordernde Geste. »Faß es ruhig an. Aber leg es zurück.«

Andy zögerte. Er war nicht sicher, ob Travi im Ernst sprach oder sich über ihn lustig machte. Aber dann sah er den sonderbaren Ausdruck in den Augen seines Partners und begriff, daß Travi nur zu gut verstand, was in ihm vorging. »Ich habe einmal mehr als zwei Millionen liegengelassen«, sagte Travi. »Ich rede mir bis heute ein, daß es richtig war. Und ich bin bis heute nicht sicher.« Andy griff in den Safe und entnahm ihm ein platingefaßtes Collier, dessen Wert er nicht einmal zu schätzen wagte. Es fühlte sich seltsam an, kühl und glatt und schwer, auf eine Weise, die Andy schaudern ließ. Erst nach einer Weile begriff er, was es wirklich war, das er fühlte. Es war die Verlockung. Die Aussicht auf ein Leben ohne Angst, auf ein Leben in Luxus und Wohlbefinden, ohne Furcht vor dem nächsten Tag, ohne erschrockenes Zusammenfahren bei jeder Sirene, ohne ein schlechtes Gewissen beim Anblick jeder Uniform, ohne die beständig nagende Furcht, eines Tages vielleicht den Falschen zu bestehlen oder durch irgendeinen dummen Zufall erwischt zu werden.

»Es wäre genug, um Schluß zu machen«, sagte er. »Für dich. Ich will nichts davon.« Seine Worte waren ehrlich gemeint, und er sah, daß sie Travi wie Pfeile trafen. Es dauerte lange, endlos lange, bis er antwortete.

»Leg es zurück.«

Andy verspürte ein vages Gefühl von Enttäuschung, obwohl er nichts anderes erwartet hatte. Und trotzdem, das spürte er, hatten die letzten Sekunden ihre Beziehung entscheidend verändert. Von jetzt an waren sie Freunde, nicht nur Männer, die sich zufällig kennengelernt hatten und zufällig der gleichen, verbotenen Beschäftigung nachgingen.

Als er das Collier zurücklegte, erschien das Licht. Andy fuhr so erschrocken zusammen, daß er das Schmuckstück um ein Haar fallen gelassen hätte, und auch Travi richtete sich kerzengerade auf. »Verdammt!« keuchte Andy. »Der Alarm! Ich muß den Alarm ausgelöst haben!«

Er wollte aufspringen, aber Travi hielt ihn mit einer raschen Bewegung zurück. »Warte!« sagte er. »Das ist nicht die Alarmanlage!« Seine Stimme klang flach.

»Was denn sonst?« fragte Andy, obwohl er wußte, daß Travi recht hatte. Das Licht, das hinter ihnen angegangen war, gehörte nicht zur Alarmanlage des Gebäudes. Die hatte Travi zuverlässig ausgeschaltet. Im Grunde hatte Andy ein Licht wie dieses überhaupt noch nie gesehen.

Es begann mit einer Farbe, ein sehr helles Weiß, in das sich etwas zwischen Blau und einem undefinierbaren Grün gemischt hatte. Das Licht kam aus keiner bestimmbaren Quelle, sondern war einfach da, ohne klare Grenze in der Dunkelheit. Es war unvorstellbar hell, und es wurde immer noch heller, ohne die beiden Männer auch nur im geringsten zu blenden. Winzige rote, blaue und orangefarbene Sterne schwammen darin, tauchten auf und erloschen oder umtanzten einander wie spielende Elfen. Es war, als blicke er auf ein komplettes, fremdes Universum herab, erfüllt von nichts anderem als Licht und Fröhlichkeit und spielerischer Bewegung.

Dann hörten sie das Geräusch, einen sphärischen, unwirklichen Klang von berauschender Schönheit, und im gleichen Augenblick begriffen sie, daß sie einen Blick in den Himmel warfen. Das Licht durchdrang die beiden, füllte sie aus bis in die letzte Faser ihrer Körper und ihrer Gedanken und tauchte sie in ein Gefühl des Friedens und der Geborgenheit, wie sie es nie zuvor im Leben kennengelernt hatten. Obwohl sehr mild, war dieses Licht zugleich doch auch Feuer, das etwas in ihnen ergriff und verzehrte. Aber es war ein reinigendes, läuterndes Feuer, eine Katharsis, die nur das Schlechte, den Schmerz und den Zorn aus ihnen herausbrannte und sie gereinigt und gestärkt zurückließ.

Keiner von ihnen konnte hinterher sagen, wie lange es gedauert hatte: Minuten oder Ewigkeiten. Es spielte auch keine Rolle. Das war nicht mehr die Art von Fragen, die irgendeine Bedeutung für sie hatten. Irgendwann verblaßte das Licht und erlosch dann ganz, aber die Dunkelheit erschreckte Andy nicht mehr, denn nun war in ihm ein Licht, das ihn erhellte und ihm Kraft gab und ihn zugleich unangreifbar für jede Angst und jede Versuchung machte.

Wortlos griff er in seine Jacke, nahm sowohl das gestohlene Geld als auch die beiden Beutel mit den Rohdiamanten heraus und legte beides zurück. Travi half ihm, alles so zu arrangieren, daß niemandem auffallen würde, daß der Safe geöffnet worden war. Dann schloß er sorgsam die Tür, verstellte die Kombination und stand auf.

Sie sprachen kein Wort, während Andy Travi dabei half, sein Werkzeug einzusammeln und die Kontaktdrähte zu entfernen, mit denen sie die Alarmanlage außer Gefecht gesetzt hatten. Es war auch nicht notwendig. Sie wußten beide, was der andere fühlte und dachte, denn sie waren beide durch das gleiche, reinigende Feuer gegangen, dessen Kraft sie von nun an für den Rest ihres Lebens erfüllen sollte. Bevor sie das Geschäft verließen, stellte Travi die Tasche mit seinem Werkzeug in eine Ecke, wo sie am nächsten Morgen gefunden werden würde, wie etwas, das jemand dort versehentlich vergessen hatte. Er brauchte sie nicht mehr.

Andy zog die Tür achtlos hinter sich zu. Sie rastete mit einem hörbaren Laut ein, und ein zweiter, unhörbarer Laut löste im gleichen Moment auf der Polizeiwache zwei Kilometer entfernt den Alarm aus, denn Travi hatte sich nicht mehr die Mühe gemacht, den entsprechenden Kontakt zu überbrücken. Auch das spielte keine Rolle mehr. Langsam und ohne Hast wandten sie sich nach links, dem hell erleuchteten Herzen der Stadt zu. Noch bevor sie die nächste Kreuzung erreicht hatten, wurde hinter ihnen Sirenenalarm laut.

Der Streifenwagen holte sie ein, kaum daß sie fünfhundert Meter von dem Juwelierladen entfernt waren. Das samtene Dunkel der Nacht wich dem hektischen Flackern des Blaulichtes. Die Bremsen des Fahrzeuges kreischten, als es mit heulender Sirene an ihnen vorüberjagte und sich dann quer stellte. Die Türen wurden aufgerissen, zwei Polizeibeamte sprangen heraus und legten ihre Waffen auf Andy und Travi an.

»Keine Bewegung! Stehenbleiben und die Hände hoch! Beide!«

Tatsächlich verhielt Andy im Schritt. Aber nur für einen Moment. Dann lächelte er und ging weiter. »Mutter Erde liebt dich, Bruder«, sagte er. »Es ist nicht nötig, daß du mich fürchtest.«

»Stehenbleiben!« rief der Polizist noch einmal. Etwas wie Panik durchdrang seine Stimme. »Noch einen Schritt, und ich schieße!«

»Bruder, ich bitte dich«, antwortete Andy sanft. »Richte nie die Waffe gegen deinen Nächsten.«

Der Polizeibeamte feuerte insgesamt dreimal auf ihn, ehe Andy zu Boden ging. Wie hätte er auch wissen sollen, daß Andy, der mit ausgebreiteten Armen auf ihn zukam, einzig und allein vorhatte, ihn zu umarmen?

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