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Mittwoch. War heute Mittwoch? fragte sich Warstein, während er sich mit unsicheren kleinen Schritten zum Badezimmer vortastete und sich dabei in Gedanken völlig auf zwei Dinge konzentrierte - was an sich schon eins mehr war, als er sich an einem Morgen wie diesem zutraute. Nicht, daß dieser Morgen irgendwie anders als der gestrige oder der davor gewesen wäre; oder der von morgen oder dem Tag danach.

Das eine war, sich im Slalom durch das Chaos in seiner Anderthalb-Zimmer-Wohnung zu tasten, ohne irgend etwas umzustoßen, gegen ein Möbelstück zu laufen oder in die Reste seines Abendessens von gestern zu treten: ein halbes Grillhähnchen, dessen Knochen er Vlad hingeworfen hatte. Der Kater hatte das allermeiste davon verputzt, aber wie üblich natürlich gerade genug übriggelassen und an strategisch günstigen Punkten in der Wohnung verteilt, daß er eben nicht sicher sein konnte, nicht mit nackten Füßen in spitze Hühnerknochen zu treten.

Der zweite Punkt, auf den Frank Warstein seinen noch immer nicht ganz in Gang gekommenen Denkapparat fokussierte, war, sich gegen den Anblick zu wappnen, den ihm der Spiegel bieten würde. Sicher keine Überraschung, aber auch nichts, worauf er sich freute. Von allem war das vielleicht das Schlimmste. Warstein ließ keine Gelegenheit aus, jedem, der es hören wollte (viele waren es ohnehin nicht), zu erzählen, daß er im Grunde ganz zufrieden mit seinem Leben war und sich im übrigen jeder zum Teufel scheren konnte, dem die Art und Weise nicht paßte, auf die er es eingerichtet hatte.

Er wußte nicht, ob seine Freunde ihm diese Lesart abkauften oder nicht - der Spiegel jedenfalls tat es eindeutig nicht.

War heute Mittwoch? Er nahm den Gedanken wieder auf, während er nach einem flüchtigen, aber äußerst unsanften Kontakt mit dem Türrahmen zum Waschbecken weiterschlurfte und sich schwer mit beiden Händen darauf stützte, wobei er es sorgsam vermied, in den Spiegel zu sehen. Ja, er war fast sicher. Auch wenn er sich nicht mehr genau an den Abend erinnerte, bewiesen der hämmernde Schmerz in seinen Schläfen und der schlechte Geschmack doch, daß er gestern betrunken gewesen war, und dienstags war er immer betrunken, was allerdings nur eine vierzehnkommaachtundzwanzigprozentige Chance darstellte, daß heute wirklich Mittwoch war, denn er war jeden Abend betrunken. Warsteins stoppelbärtiges Gesicht verzog sich zu einem flüchtiggequälten Lächeln. Vierzehnkommaachtundzwanzig Prozent - er setzte immer noch alles in Zahlen um. Erstaunlicherweise funktionierte dieser Teil seines Alkoholikergehirnes noch so präzise wie eh und je. Manche Dinge änderten sich wahrscheinlich nie. Irgendwann, dachte er, während er sich schaudernd zwei Hände eiskaltes Wasser ins Gesicht schaufelte - nicht etwa aus Gründen der Askese oder gar, weil es gesünder war, sondern einzig weil dieser beschissene Heißwasserboiler schon vor Monaten seinen Geist aufgegeben hatte und sein nicht minder beschissener Vermieter nicht daran dachte, das Gerät zu reparieren -, irgendwann einmal würde er wahrscheinlich ganz aus Versehen ausrechnen, wie viele Dosen Warsteiner Premium er noch in sich hineinkippen konnte, bis es endlich vorbei war. Allzu viele konnten es nicht mehr sein. Sein Arzt hatte schon vor einem Jahr damit aufgehört, ihm entsprechende Vorhaltungen zu machen; und vor einem halben, ihn zu einer Entziehungskur überreden zu wollen. Warstein war es nur recht. Es spielte keine Rolle, ob er noch ein Jahr oder zehn so weitermachte, dreihundertfünfundsechzig oder dreitausendsechshundertfünfzig Nächte zwischen RTL, PRO7 und SAT1 hin- und herschaltete, bis er genug getrunken hatte, daß ihm die Augen zufielen, wo war der Unterschied?

Warstein dachte diesen Gedanken nicht zum ersten Mal, und übrigens auch ohne Angst oder gar solch komplizierte Gefühle wie Selbstmitleid oder Bitterkeit. Über dieses Stadium war er längst hinaus - falls er jemals darin gewesen war. Er war dabei, sich zu Tode zu saufen, na und?

Statt sich weiter mit Gedanken an Dinge herumzuschlagen, die ihn im Grunde ohnehin nicht interessierten, konzentrierte er sich zum dritten Mal auf die Frage, welcher Wochentag heute war. Mittwoch war wichtig. Mittwochnachmittags hatte er sich auf dem Amt zu melden, und auch wenn Ämter gleich welcher Art auf Warsteins persönlicher Verhaßtheitsskala ganz oben standen - dieser Termin war wichtig. Schließlich ging es um Geld. Nicht einmal unbedingt um viel, aber neben einer Reihe anderer hatte Geld noch eine ziemlich verblüffende Eigenschaft: je weniger man davon hatte, desto mehr Ärger machte es einem. Warstein kippte sich eine weitere Handvoll Wasser ins Gesicht und prustete. Einige Tropfen liefen ihm eiskalt den Nacken hinab, so daß er schaudernd zusammenfuhr und hastig nach dem Wasserhahn tastete, um ihn zuzudrehen. Noch immer halb blind und mit zusammengekniffenen Augen trat er vom Waschbecken zurück und wankte aus dem feuchten Verschlag, von dem sein Vermieter glaubte, es wäre ein Badezimmer. Vlad, der sich von seinem Kissen herunterbequemt und an seine Fersen geheftet hatte, um nach seinem Frühstück zu betteln, reagierte nicht schnell genug, so daß Warstein ihm kräftig auf den Schwanz trat. Der Kater schoß mit einem schrillen Kreischen davon, Warstein machte einen erschrockenen Ausfallschritt zur Seite und trat prompt in einen spitzen Hühnerknochen. Er verbiß es sich, ebenso laut auf zujaulen wie der Kater, obwohl ihm danach war. Aber er nahm sich vor, Vlads Frühstück an diesem Tag ausfallen zu lassen. Sollte das dumme Vieh doch die Hähnchenknochen fressen, mit denen es die Wohnung gespickt hatte.

Warstein humpelte zur Couch, setzte sich ungeschickt auf die Lehne und zog seinen Fuß mit der Hand nach oben, um die Sohle zu betrachten. Sie war nicht verletzt, obwohl sie höllisch weh tat. Vlad lugte hinter einem Sessel am anderen Ende des Zimmers hervor und beäugte ihn aufmerksam. Warstein war sicher, ein höhnisches Funkeln in seinen Augen zu erkennen. Daß Katzengesichter nicht zu einer komplizierten Mimik imstande waren, war ein Märchen. Seit Vlad bei ihm war, wußte er, woher Levis die Inspiration für seine Grinsekatze genommen hatte. Vlad war nichts anderes als deren Reinkarnation; nur mit einem mieseren Charakter.

Es klingelte. Der Laut kam so unerwartet, daß Warstein erschrocken zusammenfuhr und um ein Haar von der Couch gefallen wäre. Er fluchte. Im allerersten Moment irritierte ihn das Klingeln nur. Es war nicht einmal zehn - niemand besuchte ihn um diese Zeit. Um ganz genau zu sein: im Grunde besuchte ihn überhaupt nie jemand, weder zu dieser noch zu irgendeiner anderen Zeit. Schon gar nicht mitten in der Nacht.

Die Erkenntnis setzte eine zwar vielleicht etwas abenteuerliche, für Warstein aber typische Kausalkette in Gang. Da es niemanden gab, der ihn besuchen würde, konnte es nur jemand sein, der etwas von ihm wollte, und das wiederum konnte nur eines bedeuten - Ärger. Das Ergebnis dieser ganz privaten Frank-Warstein-Logik war fast zwingend: er geriet in Panik. Irgendwie fand er zwar sein Gleichgewicht wieder, nicht aber die Kraft aufzustehen und zur Tür zu gehen.

Vielleicht hatte sich ja einfach jemand in der Adresse geirrt. Das Klingeln wiederholte sich, und einen kurzen Moment bekam es Verstärkung in Form eines lang anhaltenden Klopfens. Wer immer dort draußen war, ging entweder auf Nummer Sicher oder wußte, daß er seine Gründe hatte, nicht zu öffnen. Einen Augenblick lang überlegte Warstein tatsächlich, einfach Toter Mann zu spielen und abzuwarten, bis sich das Problem von selbst erledigte. Aber dann stand er doch auf und humpelte zur Tür. Wenn es ein Irrtum war, würde er sich schnell aufklären. Wenn es ein Besucher der unangenehmen Art war - wozu zum Beispiel Postboten mit Einschreibebriefen von gewissen Rechtsanwälten, Gerichtsvollzieher und andere unliebsame Zeitgenossen zählten (wer hatte behauptet, daß Frank Warstein niemanden kannte?) -, würde er das Problem nur hinausschieben, nicht erledigen. Und die Ungewißheit würde ihn in den nächsten Tagen verrückt machen. Besser, er stellte sich der bitteren Wahrheit jetzt gleich. Warstein grinste schief. Es schien, als hätte er heute seinen mutigen Tag.

Das Klopfen hörte auf. Dafür klingelte es zum dritten Mal, noch ehe er die Tür erreicht hatte, und diesmal klang es eindeutig ungeduldiger. Das war zwar unmöglich, aber es war so, basta. Schließlich war er Spezialist für Dinge, die eigentlich unmöglich sein sollten.

Daß der ›nächtliche‹ Besucher so hartnäckig auf Einlaß bestand, beruhigte ihn ein wenig. Gerichtsvollzieher und Briefträger benahmen sich nicht so.

»Ja, ja, schon gut!«

Seine Worte mußten gehört worden sein, denn das Klingeln hörte auf, ungefähr eine halbe Sekunde, ehe er die Klinke herunterdrückte und die Tür mit den Worten aufriß: »Kein Grund, gleich die Klingel abzureißen!«

Er mußte wohl lauter und sehr viel schärfer gesprochen haben, als er eigentlich vorgehabt hatte, denn sein - nebenbei gesagt: äußerst attraktives - Gegenüber fuhr erschrocken zusammen, und für einen Moment überlagerte Unsicherheit den Ausdruck in ihren Augen, den Warstein früher ohne den mindesten Zweifel als jene Art übertrieben aufgesetzter Arroganz identifiziert hätte, die keinem anderen Zweck diente, als Furcht zu überspielen. Jetzt erschreckte er ihn. »Ja, bitte?« fragte er, etwas leiser, aber in kein bißchen versöhnlicherem Ton. Er hatte schon vor Jahren aufgehört, solch feine Differenzierungen zu machen; kurz nachdem er festgestellt hatte, daß es sich einfach nicht lohnte.

Sein unwirscher Ton hatte nicht nur zur Folge, daß der Schrecken in den Augen der jungen Frau erneut aufflammte, sondern auch, daß sie gute fünf Sekunden lang einfach dastand und nichts anderes tat, als verloren auszusehen, wodurch sich Warstein hinlänglich Gelegenheit bot, sie etwas aufmerksamer zu mustern.

Was er sah, hätte ihm gefallen, wäre der Moment nur ein bißchen günstiger gewesen. Vor ihm stand eine dunkelhaarige, nicht ganz schlanke Frau in jenem schwer zu schätzenden Alter zwischen dreißig und vierzig. Sie war fast so groß wie er - beinahe einsachtzig also - und geschmackvoll gekleidet, wenn die weiße Bluse und das leichte Sommerkostüm auch für die Jahreszeit nicht ganz zu passen schienen. In der Rechten trug sie eine Handtasche aus schwarzem Kunstleder, unter den linken Arm hatte sie eine voluminöse Kunststoffmappe geklemmt. Ihr Gesicht hätte ihr keine Chance bei irgendeiner Mißwahl verschafft, war aber trotzdem hübsch, fast ein wenig zu mädchenhaft für ihr Alter und ihre Erscheinung.

Umgekehrt offenbarte sich der unangemeldeten Besucherin das Bild, dessen Anblick im Spiegel Warstein so sorgsam ausgewichen war - das eines siebenunddreißigjährigen, heruntergekommenen Alkoholikers, der seit drei Jahren vergeblich versuchte, sich zu Tode zu trinken. Sein Haar fiel lang bis auf die Schultern herab und hatte seit einer Woche keinen Kamm mehr gesehen, und der ungleichmäßig wachsende Drei-Tage-Bart und die dunklen Ringe unter den Augen verstärkten den (übrigens durchaus beabsichtigt) abschreckenden Eindruck noch, den Frank Warstein auf den Rest der menschlichen Spezies ausübte.

»Ja?« fragte er noch einmal.

Die junge Frau fuhr ein wenig zusammen und versuchte dann, sich zu einem Lächeln zu zwingen. Warstein war nicht ganz sicher, ob es ihr gelang.

»Herr Warstein?« fragte sie. »Frank Warstein?«

»Das steht jedenfalls auf der Klingel«, gab Warstein zurück. Das war nicht nur unnötig grob, es hörte sich sogar in seinen eigenen Ohren wie eine schlechte Philip-Marlowe-Imitation an. Er entschuldigte sich nicht für den Ausrutscher, aber er fügte in deutlich zurückgenommenem Ton und mit seiner Version eines Zehn-Uhr-vormittags-Lächelns hinzu: »Der bin ich. Kennen wir uns?«

»Nicht persönlich«, antwortete die junge Frau. »Mein Name ist Berger. Angelika Berger.« Sie sagte das in einem Ton, als erwarte sie eine ganz bestimmte Reaktion auf diese Eröffnung, aber Warstein sah sie nur weiter fragend an. Er kannte niemanden dieses Namens, und er machte sich auch nicht die Mühe, darüber nachzudenken.

»Und?« fragte er.

»Ich hätte Sie gerne einmal gesprochen. Ich weiß, es ist ungewöhnlich, und ich hätte Sie nicht einfach so überfallen dürfen, aber Sie stehen nicht im Telefonbuch, und...«

Er konnte regelrecht sehen, wie sie den Faden verlor, aber sein Mitgefühl hielt sich in Grenzen. Mißtrauisch sah er einige Sekunden lang sie, dann für mindestens die gleiche Zeit die Mappe an, die sie unter dem Arm trug. »Schickt Sie meine Frau?«

»Ich wußte bis jetzt nicht einmal, daß Sie verheiratet sind.«

»Das bin ich auch nicht«, knurrte Warstein. Er trat einen Schritt zurück, wobei er die Wohnungstür weiter aufzog, und hielt Angelika Berger scharf im Auge, während sie der wortlosen Einladung Folge leistete und an ihm vorbeiging. Ihre Reaktion irritierte ihn - sie zeigte nämlich gar keine. Und das war ungewöhnlich für jemanden, der zum ersten Mal hierherkam. Seine Wohnung war - gelinde ausgedrückt - ein Saustall. Das Gemetzel, das Vlad an den Überresten des Hähnchens angerichtet hatte, fiel nicht weiter auf. So lange man nicht hineintrat, selbstverständlich. Abgesehen vom Bad bestand Warsteins ›Appartement‹ aus einem einzigen, noch dazu asymmetrisch geschnittenen Raum, in den er seit drei Jahren beharrlich mehr Dinge stopfte, als eigentlich hineinpaßten. Auf der Spüle stapelte sich schmutziges Geschirr. Das Bücherregal, mit dem er versucht hatte, sich so etwas wie eine Schlafnische abzuteilen, quoll über von zerlesenen Illustrierten, Büchern, Kartons und tausend anderen überflüssigen Dingen, die wegzuwerfen er sich nie die Mühe gemacht hatte. Ein Teil seines spärlichen Besitzes an Kleidung war auf dem Fußboden verstreut, der Rest lag unordentlich auf der Couch und dem einzigen Sessel, den er besaß. Außerdem gab es eine erstaunliche Sammlung an leeren Bierdosen und Rotweinflaschen. Ein erstaunter Blick, ein verlegen-überraschtes Lächeln oder doch das angedeutete Hochziehen einer Augenbraue waren das mindeste, was er erwartet hatte.

Aber Angelika Berger hatte sich entweder erstaunlich gut in der Gewalt - oder sie hatte ziemlich genau gewußt, was sie sehen würde. Vielleicht kannten sie sich doch.

»Also?« fragte er, während sie zum Sessel ging und sich unaufgefordert setzte. Die Mappe legte sie mit einem Geräusch auf den Tisch, das ihr großes Gewicht verriet. »Was kann ich für Sie tun?«

Konsequenterweise ging er an ihr vorbei und öffnete den Kühlschrank, ehe sie auch nur Gelegenheit hatte, seine Frage zu beantworten. Er enthielt nichts außer vier Büchsen Bier und zwei Dosen Katzenfutter, eine davon schon angebrochen. »Kann ich Ihnen etwas anbieten?« fragte er, während er in die gelb erleuchtete Kälte hineingriff, ein Bier herausnahm und das Katzenfutter nachdenklich musterte. Vlad, der das Geräusch der Kühlschranktür gehört hatte, sprang mit einem Satz zwischen seine Beine und maunzte kläglich. Aber darauf fiel er nicht herein. Sollte der Kater doch seine Hühnerknochen fressen - genug davon waren schließlich da. »Ein Bier. Oder lieber Kaffee? Ich habe allerdings nur Instant.« Er schloß die Kühlschranktür.

»Danke, gar nichts. Darf ich vielleicht rauchen?«

»Nein«, antwortete Warstein. Er riß die Bierdose auf, warf den Verschluß ins Spülbecken und nahm einen ersten Schluck. Er schmeckte so, wie der erste Schluck am Morgen immer schmeckte: scheußlich. Aber er spülte zumindest das pelzige Gefühl von seiner Zunge, und der zweite war schon besser.

Seine Besucherin hatte die Hand bereits nach ihrer Tasche ausgestreckt. Jetzt verharrte sie mitten in der Bewegung, zögerte eine Sekunde und lehnte sich dann mit einem enttäuschten Achselzucken wieder zurück.

»Ich ... bin aus einem ganz bestimmten Grund hier«, begann sie, langsam, übermäßig betont und auf eine sehr dezidierte Art ihre Worte wählend. Sie sah überall hin, nur nicht in seine Richtung.

»Das dachte ich mir.« Er setzte sich ihr gegenüber, nahm einen dritten Schluck Bier und scheuchte Vlad davon, der es sich auf seinem Schoß bequem machen wollte. Der Kater lief verärgert davon und blieb zwei Schritte vor der Wohnungstür stehen, die Warstein offengelassen hatte.

Bergers Blick, offenbar froh, etwas gefunden zu haben, woran er sich festhalten konnte, folgte ihm. »Haben Sie keine Angst, daß er wegläuft?« fragte sie.

»Die Hoffnung habe ich schon vor drei Jahren aufgegeben«, antwortete Warstein. »Das hier ist seine Wohnung, wissen Sie? Ich bin hier nur geduldet. Er war schon hier, als ich eingezogen bin, und wahrscheinlich wird er auch die nächsten drei Mieter überleben.«

»Ein hübscher Kerl. Wie heißt er?« Berger beugte sich vor, um den Kater zu locken, und Vlad war tatsächlich gnädig genug gestimmt, näher zu kommen und ihre Finger zu beschnüffeln.

»Vlad«, antwortete Warstein. »Jedenfalls nenne ich ihn so. Ich finde, der Name paßt irgendwie zu seinem Charakter.«

Berger zog die Hand beinahe erschrocken wieder zurück und sah ihn eine Sekunde irritiert an. Sie versuchte zu lachen, aber es wollte ihr auch diesmal nicht so recht gelingen. Erneut fiel Warstein auf, wie unsicher sie war. Sie machte ganz den Eindruck eines Menschen, der sich an einem Ort befand, von dem er sich möglichst weit weg wünschte, und in einer Situation, die vielleicht nicht sein schlimmster Alptraum war, diesem aber ziemlich nahe kam. Und irgend etwas an ihr störte Warstein.

Es war nicht ihre Nervosität. Warstein war es gewohnt, seine Gesprächspartner nervös zu machen; früher manchmal absichtlich, mittlerweile einfach durch das, was er war. Es war nicht einmal ihre Geheimniskrämerei, die ohnehin nur Folge ihrer Unsicherheit war. Es war etwas anderes.

Warstein hatte das sichere Gefühl, daß mit Angelika Berger der Ärger zu ihm zurückgekommen war, vor dem er sich vor so langer Zeit in seiner vom Sozialamt bezahlten Einzimmerwohnung verkrochen hatte. Man sah es ihr vielleicht nicht an, aber in gewissem Sinne war diese Wohnung eine Art Festung. Er hatte plötzlich das Gefühl, einem Vampir die Tür geöffnet und sich zu spät daran erinnert zu haben, daß er nur hereinkommen konnte, wenn man ihn einlud.

Warstein verscheuchte den Gedanken. Er mußte sich zusammenreißen. Sein ohnehin latent vorhandener Hang zur Paranoia begann in letzter Zeit immer stärker zu werden. Wahrscheinlich würde sich in ein paar Minuten herausstellen, daß ihr Bitte-schlag-mich-nicht-Blick und ihre Unsicherheit nur eine ganz besonders raffinierte Methode waren, sich Einlaß zu verschaffen. Er betrachtete unauffällig ihre Mappe, aber das dunkelgrüne Plastik war glatt; kein Aufdruck, kein Firmensignet.

»Ein wirklich schönes Tier«, sagte Berger. »Ich hatte auch einmal eine Katze. Aber sie war sehr scheu. Eine Balinesin - glaube ich. Ich verstehe nicht viel von Katzen«, fügte sie mit einem entschuldigenden Lächeln hinzu.

»Ich auch nicht«, sagte Warstein. »Aber Sie sind doch bestimmt nicht gekommen, um mit mir über Katzen zu reden, oder?« Er machte eine Kopfbewegung auf ihre Mappe und sprach weiter, gerade als sie zu einer Antwort ansetzen wollte. »Falls Sie hier sind, um mir ein Zeitungsabo oder eine Lebensversicherung zu verkaufen, vergeuden Sie nur Ihre Zeit. Eine Zeitschrift kann ich mir nicht leisten, und an einer Versicherungspolice für mich hätten Ihre Vorgesetzten bestimmt keine große Freude.«

Er beobachtete sie scharf, während er sprach, und er konnte regelrecht sehen, wie das, was von ihrer Selbstsicherheit bisher noch übriggeblieben war, wie ein Kartenhaus in sich zusammenfiel. Er fragte sich selbst, warum er eigentlich so grob zu ihr war - und vor allem, warum er ihr ständig Fragen stellte und ihr dann keine Gelegenheit gab, sie zu beantworten.

Vielleicht, weil er Angst vor ihren Antworten hatte. Er konnte sich weniger denn je denken, warum diese Frau hierhergekommen war, aber die Unsicherheit, die sie ausstrahlte, begann auch ihn nervös zu machen.

»Ich will Ihnen nichts verkaufen«, antwortete Berger. Ihre Finger zitterten ganz sacht. Sie zwang sich jetzt, ihn direkt anzusehen, aber es kostete sie sichtbar so große Überwindung, daß sie es vielleicht besser nicht getan hätte. »Ich bin...« Sie stockte abermals, suchte ein paar Sekunden vergebens nach Worten und schüttelte dann den Kopf. »Es tut mir leid. Ich ... kann mir vorstellen, wie ich Ihnen vorkommen muß. Sie müssen mich für eine komplette Idiotin halten.« Wenn sie das nur gesagt hatte, damit er ihr widersprach, so mußte sie wohl eine Enttäuschung erleben. Er hielt sie nicht für eine Idiotin, aber er war der Meinung, daß sie genug Zeit damit verschwendet hatten, zu reden, ohne etwas zu sagen.

»Bitte entschuldigen Sie«, sagte sie noch einmal. »Ich hatte mir alles ganz genau überlegt, bevor ich hierhergekommen bin, aber jetzt ist ... ist plötzlich alles weg. Es ist nicht leicht, zu einem wildfremden Menschen zu gehen und ihn um Hilfe zu bitten.«

»Hilfe? Wobei?« Warstein gab sich keine Mühe mehr, sein Mißtrauen zu verhehlen.

»Ascona«, antwortete Berger. »Ich bin wegen Ascona hier. Der Tunnel.« Warstein erstarrte. Er konnte spüren, wie sich jeder einzelne Muskel in seinem Körper versteifte. Das dünne Weißblech der Bierdose in seiner Hand knisterte hohl, als sich sein Griff ohne sein Zutun verstärkte, und sein Erschrecken mußte wohl auch deutlich auf seinem Gesicht abzulesen sein, wie er an Bergers Reaktion erkannte.

Er hatte recht gehabt. Sein ungutes Gefühl hatte ihn nicht getrogen. Sie war der Vampir, den er hereingebeten hatte, ohne zu fragen, wer draußen stand und an der Tür klopfte.

»Ich kann mir vorstellen, was Sie jetzt denken«, fuhr Berger fort. Sie sprach jetzt laut, nicht mehr stockend, sondern sprudelte die Worte geradezu hervor, als hätte sie nur die Kraft für einen einzigen Atemzug, mit dem sie alles loswerden mußte, was sie zu sagen hatte. »Aber bitte, hören Sie mir zu. Nur fünf Minuten. Mehr verlange ich nicht. Sie ... Sie sind vielleicht der einzige, der mir helfen kann.«

»Ich wüßte nicht, wobei«, antwortete Warstein lahm. Er hatte Mühe, überhaupt zu sprechen. Sein schlimmster Alptraum begann wahr zu werden. Seine Hand drückte die Bierdose immer weiter zusammen, ohne daß er imstande gewesen wäre, etwas dagegen zu tun. Schließlich stellte er sie mit einem Knall auf den Tisch zurück. Ein paar schaumige Tropfen spritzten heraus und fielen auf Bergers Handtasche und ihre Mappe.

»Es geht um meinen Mann«, antwortete Berger, die die Warnsignale in seinem Gesicht und seiner Stimme offensichtlich nicht registriert hatte - oder es nicht wollte. »Sie kennen ihn. Er hat für Sie gearbeitet, als Sie noch bei der Tunnelbaugesellschaft waren.«

»Das haben viele«, sagte Warstein. »Hören Sie - ich will nichts mehr von damals wissen. Das ist Vergangenheit, vorbei. Und ich bin froh, daß es -«

»Frank Berger«, fuhr Berger fort. Sie lächelte flüchtig. »Er heißt genau wie Sie. Ich hatte gehofft, daß Sie sich an ihn erinnern. Er ... er hat viel von Ihnen gesprochen. Er war bei dem Trupp, der zwei Tage lang verschwunden war.«

Ob er sich erinnerte? Warstein spürte, wie ein hysterisches Lachen in seiner Kehle emporkroch. Ob er sich erinnerte? Verdammt, er hatte fast fünf Jahre gebraucht, um es zu vergessen, und ganz war es ihm bis zum heutigen Tag nicht gelungen. »Hören Sie auf«, sagte er. »Bitte.«

Natürlich hörte sie nicht auf. Wahrscheinlich konnte sie es gar nicht mehr, jetzt, wo sie einmal angefangen hatte. Irgendwo, tief unter dem Tornado von Gefühlen, der Warsteins Gedanken durcheinanderwirbelte, begriff er sogar, daß sie wahrscheinlich nicht einmal ahnte, was sie ihm gerade antat, aber das änderte nichts, und es machte es auch nicht besser.

»Ich kann mir vorstellen, wie unangenehm es Ihnen ist, wieder an alles erinnert zu werden«, fuhr Berger fort. »Aber Sie sind meine letzte Hoffnung.«

Warstein hätte beinahe schrill aufgelacht. Vorstellen? Das konnte sie ganz bestimmt nicht. Aber er unterbrach sie auch nicht, denn er spürte, daß er vollends die Beherrschung verlieren würde, wenn er jetzt auch nur ein Wort sagte.

»Ich weiß nicht, an wen ich mich noch wenden soll. Niemand will mit mir reden, und...«

»...und ich will es auch nicht«, unterbrach sie Warstein. Er starrte einen imaginären Punkt irgendwo über ihrer linken Schulter an, und er sprach langsam, aber mit jener übermäßigen Betonung, die ihr verraten hätte, daß die wenigen Worte seine gesamte Kraft beanspruchten - wäre sie in der Verfassung gewesen, auf solche Nuancen zu achten.

»Aber -«

»Ich weiß nicht, was passiert ist, weder damals noch heute, und ich will es auch gar nicht wissen. Bitte, gehen Sie!«

»Aber Sie haben mir ja noch nicht einmal zugehört!« protestierte Berger. »Sie -«

»Und das werde ich auch nicht«, fiel ihr Warstein ins Wort. »Ich will nichts mehr von diesem verdammten Berg hören!«

»Sie haben Ihnen wirklich schlimm zugesetzt, wie?« sagte Berger leise. »Mein Mann hat mir davon erzählt. Er hat alles mitverfolgt, soweit das möglich war, wissen Sie? Er hat immer an Sie geglaubt. Er hat immer gesagt, daß Sie recht haben, und nicht Franke und die anderen. Aber ich wußte nicht, daß sie Ihnen so übel mitgespielt haben.«

»Niemand hat mir übel mitgespielt«, antwortete Warstein. »Wenn überhaupt, dann war ich es selbst. Aber das ist vorbei. Vergangenheit. Und es ist gut so.« Er schloß die Augen und atmete hörbar ein. »Es tut mir leid, wenn Ihrem Mann etwas zugestoßen sein sollte, aber ich kann Ihnen nicht helfen. Ich will nichts mehr von damals wissen. Bitte verstehen Sie das.«

»Es geht nicht um damals«, sagte Berger leise. »Es geht um heute. Was immer in diesem Berg war, es ist noch da. Und es hat meinen Mann.«

Das war lächerlich, dachte Warstein. Das war ein Satz, wie man ihn in einem Roman las. Ein Dialog aus einem Film. Niemand sprach in Wirklichkeit so. Er erinnerte sich daran, daß sie ihm gerade selbst gesagt hatte, sie hätte sich jedes Wort sorgsam zurechtgelegt. Und wenn er sie jetzt nicht unterbrach, dann würde er sich zweifellos noch sehr viel mehr anhören müssen, was er nicht hören wollte.

Aber es war seltsam. Obwohl Warstein innerlich sehr viel mehr aufgewühlt (und auch zorniger) war, als er sich anmerken ließ, wirkten ihre Worte. Statt aufzustehen und sie einfach hinauszuwerfen, wie er es noch vor einer Sekunde vorgehabt hatte, starrte er sie nur an, und Berger deutete sein Schweigen als Aufforderung weiterzusprechen.

»Er ist verschwunden«, sagte sie. »Vor einer Woche. Und die anderen auch.«

»Welche anderen?« fragte Warstein, obwohl er das sichere Gefühl hatte, die Antwort auf diese Frage gar nicht wissen zu wollen.

»Seine Kollegen«, antwortete Berger. »Alle, die damals dabei waren. Der komplette Trupp neunzehn.«

»Trupp neunzehn? Was soll damit sein?« Warstein blickte mit einer Bewegung, die seinen Unmut über die Störung noch deutlicher machte als der gereizte Ton in seiner Stimme, von dem Computermonitor auf. Er hatte ganz automatisch geantwortet, und eine halbe Sekunde lang bekam er das unangenehme Gefühl zu spüren, gar nicht richtig zu wissen, was er geantwortet hatte - geschweige denn, worauf. Dann rekonstruierte er aus seiner Antwort die dazugehörige Frage; wenigstens gut genug, um sich mit seinen nächsten Worten nicht vollends zu blamieren.

»Die Schicht hat doch gerade erst angefangen, oder?«

»Sie hat vor drei Stunden angefangen«, verbesserte ihn Franke betont. »Und seit einer halben Stunde versuchen wir vergeblich, den Trupp zu erreichen. Sie antworten nicht.« Er zog eine Grimasse. »Wahrscheinlich sind diese besch ... eidenen Funkgeräte wieder mal ausgefallen. Wäre ja nicht das erste Mal. Allmählich beginne ich zu glauben, daß dieser verdammte Berg in Wahrheit aus einem massiven Bleiklumpen besteht. Wir senden mittlerweile mit einer Leistung, mit der man uns eigentlich auf dem Mond hören müßte.«

Und genau dorthin wünschte Warstein Franke in diesem Moment auch. Er hatte eine ziemlich konkrete Vorstellung davon, warum Franke ihm von den Kommunikationsproblemen mit Trupp neunzehn erzählte. Zum einen natürlich, weil Dr. Gerhard S. Franke, sein ehemaliger Lehrer und Mentor - wobei die Betonung eindeutig auf dem ehemalig lag -, ein ausgemachter Blödmann war, der kein größeres Vergnügen kannte, als anderen seine Probleme aufzuhalsen und die Lorbeeren für sich zu beanspruchen, wenn sie sie lösten. Und zum anderen natürlich, weil er, Warstein, die modifizierten Walkie-talkies entwickelt hatte, mit denen die Verbindung zwischen der Bauleitung und den Arbeitskolonnen im Inneren des Berges aufrechterhalten wurde. Es waren phantastische Konstruktionen, die, mit der entsprechenden Leistung betrieben, tatsächlich bis zum Mond gereicht hätten. Sie hatten nur einen winzigkleinen Fehler: sie funktionierten überall - nur im Inneren des Gridone nicht.

Warstein schaltete mit einer resignierenden Bewegung den Computer aus und massierte mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand seine Nasenwurzel, ehe er antwortete. Er war müde. Vor seinen Augen drehten sich grüne Glühwürmchen, wenn er die Lider schloß, und er hatte ganz leichte Kopfschmerzen; eindeutige Beweise dafür, daß er zu lange gearbeitet hatte. Neun Stunden konzentriertes Sitzen am Computer waren einfach zuviel, selbst für einen jungen Mann wie ihn, der gerade seinen dreißigsten Geburtstag hinter sich gebracht hatte und eigentlich vor lauter Energie aus den Nähten platzen sollte. Frankes Störung kam ihm nicht einmal so unrecht. Die letzten beiden Stunden hätte er sich im Grunde schenken können. Statt sie zu beseitigen, hatte er allem Anschein nach noch ein paar Fehler in das Computerprogramm hineingeschrieben, an dem er seit dem frühen Morgen gearbeitet hatte.

»Also gut, Trupp neunzehn antwortet nicht«, sagte er. »Und was habe ich damit zu tun?« Wahrscheinlich hatten sie die Funkgeräte abgeschaltet und spielten eine Runde Doppelkopf, dachte er mißmutig. Es wäre nicht das erste Mal.

»Irgend jemand muß in den Berg fahren und die Funkgeräte überprüfen«, sagte Franke in einem fröhlichen Ton, für den allein Warstein ihm am liebsten die Zähne eingeschlagen hätte. »Und da Sie am meisten von den Geräten verstehen...«

»...haben Sie mir diese wichtige Aufgabe zugedacht, ich verstehe«, maulte Warstein. Er war nicht im mindesten überrascht. Das wäre er höchstens gewesen, hätte Franke diesen Vorschlag nicht gemacht - der im übrigen kein Vorschlag war, sondern ein eindeutiger Befehl. Der Tag würde kommen, dachte Warstein, an dem er ein für allemal klären würde, ob Franke wirklich berechtigt war, ihm Befehle zu erteilen. Er mußte nur erst jemanden finden, der ihm diese Frage beantworten konnte. Abgesehen davon, daß Franke ein ausgemachter Blödmann und Aufschneider war, war er nämlich auch noch der Leiter des gesamten Tunnelbauprojektes - soweit ihm seine diversen anderen Aktivitäten Zeit dafür ließen.

»Natürlich nur, wenn es Ihnen nichts ausmacht«, antwortete Franke fröhlich.

»Natürlich«, knurrte Warstein. Wie hätte er auch etwas anderes annehmen können?

»Sie sehen ein bißchen müde aus. Kann es sein, daß Sie zuviel arbeiten?« An zu vielen unsinnigen Projekten, von denen ich nichts habe? Das sprach er nicht laut aus, aber es leuchtete in Neonbuchstaben in seinen Augen.

Warstein schluckte seinen Ärger mühsam herunter. »Tun wir das nicht alle?«

»Sicher. Trotzdem sollten Sie ein bißchen mehr auf sich aufpassen.« Franke hob die Hand und drohte ihm spielerisch mit dem Zeigefinger. »Sie tun niemandem einen Gefallen, wenn Sie bis zum Zusammenbruch arbeiten und dann eine Woche lang auf der Nase liegen, junger Freund. Ich weiß Ihren Enthusiasmus zu schätzen, aber Sie sollten ab und zu einen Blick in den Spiegel werfen.«

»So?« fragte Warstein einsilbig. Er warf einen letzten Blick auf seinen Computer und überzeugte sich davon, daß alles ordnungsgemäß abgeschaltet und verriegelt war. Während er sprach, war Franke hinter ihn getreten, angeblich ohne besonderen Grund, in Wahrheit aber ganz zweifellos, um einen Blick auf seinen Monitor und das Programm darauf zu werfen. Warstein zweifelte auch keine Sekunde daran, daß Franke das Terminal wieder einschalten und darin herumschnüffeln würde, kaum daß er fort war. Sollte er. An dem System von Paßwörtern und Codeabfragen, das er in den letzten Tagen installiert hatte, würde er sich die Zähne ausbeißen. Franke platzte geradezu vor Neugier, was den Fortgang seiner Arbeit anbetraf. Warstein schwieg sich beharrlich darüber aus. Natürlich hätte Franke ihm einfach befehlen können, ihm alles zu zeigen, aber das würde er niemals tun. Das war nicht seine Art.

»Sie sehen aus wie der Tod auf Latschen, mein Junge«, sagte Franke. Er wußte natürlich genau, wie sehr es Warstein ärgerte, wenn er ihn so nannte, und wahrscheinlich war das der einzige Grund, warum er es überhaupt tat. Dabei hatte er durchaus das Recht dazu - unabhängig davon, daß er keinen Tag älter als fünfundvierzig aussah, hätte er bequem Warsteins Vater sein können. Aber das Verhältnis zwischen Schülern und ihren ehemaligen Lehrern war manchmal recht kompliziert; zumal, wenn die Schüler heranwuchsen und irgendwann einmal besser waren als ihre Lehrer. Warstein war besser als Franke. Warstein wußte es. Alle hier wußten es. Was die Sache schlimm machte, war, daß Franke es auch wußte.

»Es ist eine Schande«, fuhr Franke fort. »Dabei befinden wir uns hier an einem der schönsten Flecken Europas, wenn nicht der ganzen Welt. Eine Menge Leute bezahlen Unsummen dafür, hier Urlaub machen zu dürfen. Und was tun Sie?«

»Ich bohre Löcher hinein«, antwortete Warstein und stand auf.

»Und in Ihre Gesundheit gleich mit«, fügte Franke hinzu. »Sie machen jetzt Schluß, und das ist kein guter Rat, sondern ein dienstlicher Befehl. Schnappen Sie sich einen Wagen und fahren Sie in den Tunnel, um nach den Funkgeräten zu sehen, und den Rest des Tages nehmen Sie sich frei.«

Was alles in allem garantiert länger dauerte, als seine Arbeit hier zu Ende zu bringen, dachte Warstein verärgert. Der Tunnel hatte mittlerweile die Fünf-Kilometer-Grenze überschritten. Er würde allein für den Weg hin und wieder zurück eine Stunde brauchen, die Zeit gar nicht mitgerechnet, die er benötigte, um nach den Geräten zu sehen. Arschloch.

Er hätte protestieren können, und das vermutlich sogar mit Erfolg. Schließlich war er Diplomingenieur, kein Elektriker. Aber er verzichtete darauf, und Franke wäre wahrscheinlich höchst erstaunt gewesen, hätte er den Grund dafür gekannt. Der Ausflug in den Berg kam ihm eigentlich nur recht. Bis er zurück war, würde es spät sein, und er war schon jetzt so müde, daß er zweifellos sofort ins Bett fallen und auf der Stelle einschlafen würde; ein weiterer gewonnener Abend, an dem er nicht Ewigkeiten wach auf seinem Bett lag und darauf wartete, daß ihm die Augen zufielen.

Franke täuschte sich, wenn er glaubte, daß er die Schönheit dieses Fleckchens Erde nicht zu schätzen wußte. Ganz im Gegenteil. Warstein war sicher, daß dies einer der herrlichsten Orte war, die es auf diesem ganzen Planeten gab. Die Aussicht vom Rande des zum Teil künstlich aufgeschütteten Plateaus, auf dem sich die Barackensiedlung erhob, war phantastisch - selbst bei schlechter Sicht konnte man den gesamten Lago Maggiore und einen guten Teil des dahinterliegenden Italien überblicken, und bei klarer Witterung reichte der Blick manchmal bis zum Meer. Manche behaupteten, daß die italienische Seite der Alpen einen nicht ganz so grandiosen Anblick böte wie die schweizerische, aber das stimmte nicht. Vielleicht gab es hier nicht unbedingt die größten Berge, aber sie hatten etwas Gewaltiges, das nichts mit meßbarer Größe zu tun hatte. Nein, er liebte diesen Ort - aber er haßte die Abende hier.

Wie die meisten Arbeiter und technischen Angestellten lebte auch Warstein in dem kleinen Barackendorf, das im Schatten des eisgekrönten Giganten entstanden war. Der Ort bot alles, was zu einem einigermaßen komfortablen Überleben nötig war - aber auch nicht mehr. Die Zerstreuungsmöglic hkeiten beschränkten sich auf ein Fernsehgerät in seinem Zimmer (das die meiste Zeit nicht funktionierte, weil die Berge ringsum den Empfang beeinträchtigten), eine winzige Bibliothek und eine Sammlung von Videocassetten, die kostenlos ausgeliehen werden konnten. Aus Videos machte er sich nichts, und zum Lesen war er abends meist zu müde. Viele der anderen fuhren nach Ende ihrer Schicht nach Ascona hinunter, und ein paarmal hatte Warstein sie auch begleitet. Aber nicht oft. Die Stadt war ihm zu laut, zu bunt und zu aufgesetzt fröhlich. So war sein schlimmster Feind hier oben die Langeweile geworden, die jeden Abend in seinem Zimmer auf ihn lauerte.

Nein, er hatte nichts dagegen, noch einmal in den Berg hineinzufahren. Er hatte etwas dagegen, es für Franke zu tun.

Warstein stellte mit einem Gefühl sachter Überraschung fest, daß es bereits zu dunkeln begann, als er die Baracke verließ. Mit der Sonne war auch das letzte bißchen Wärme verschwunden. Graue Schatten hatten sich zwischen den weißgetünchten Wohncontainern eingenistet, die den Bereich vor dem Tunneleingang in ein halbmondförmiges, scharf abgegrenztes Chaos verwandelten. Zwischen den Gebäuden stritten sich stehengelassene Baumaschinen, Fahrzeuge, Werkzeugcontainer und Abraumhalden in allen nur denkbaren Größen und Ausformungen um den verbliebenen Platz, und der Regen der letzten Tage hatte den Boden aufgeweicht, so daß die überschweren Lastwagen tiefe, wassergefüllte Gräben hinterlassen hatten, die im schräg einfallenden Sonnenlicht glitzerten wie ein futuristisches Schienensystem. Der Anblick stimmte Warstein traurig. Der Berg erhob sich in seiner ganzen majestätischen Größe über ihm. Von nahem betrachtet wirkte er noch gewaltiger und großartiger als aus dem Tal, und der Schandfleck, den die Anwesenheit des Menschen hinterlassen hatte, noch häßlicher. Manchmal hatte Warstein das Gefühl, daß sie einen Frevel begingen mit dem, was sie taten, und ein- oder zweimal hatte er sich schon bei dem Gedanken ertappt, daß dieser Frevel vielleicht eines Tages gesühnt werden würde.

Aber das war natürlich Unsinn. Vielleicht, dachte Warstein, gehörte es einfach dazu, erst einmal richtig Unordnung zu machen, ehe man richtig aufräumen konnte. Sie würden es tun, und Warsteins Phantasie reichte durchaus, sich das Ergebnis dieses Aufräumens vorzustellen, was ihm ein wenig über den Anblick hinweghalf. Aber nur ein wenig.

Das Barackendorf würde verschwinden, ohne Spuren zu hinterlassen. Die unvorstellbaren Mengen von Abraum und Gestein, die sie seit zwei Jahren mit der Beharrlichkeit einer Ameisenkolonie aus dem Berg herausholten, waren schon jetzt bis auf den letzten Kubikmeter verplant. Was nicht dazu diente, die zweispurige Schnellbahntrasse aufzuschütten, die auf dieser Seite in den Berg hinein- und auf der anderen wieder hinausführte, würde äußerst behutsam in die Landschaft integriert werden; keine bloße Veränderung, sondern eine Verbesserung der Natur - jedenfalls stand es so in dem aufwendigen Vierfarb-Prospekt, den die Tunnelbaugesellschaft seit Jahren mit vollen Händen verteilte, um Stimmung für das Projekt zu machen. Warstein kannte die entsprechenden Pläne und wußte auch, daß dieser Slogan durchaus berechtigt war. Trotzdem hörte er ihn mit gemischten Gefühlen. Er war nicht sicher, daß es richtig war, die Natur nach Maßstäben menschlicher Ästhetik umzugestalten.

Ein plötzlicher Windstoß traf Warstein und ließ ihn frösteln. Er trug einen langärmeligen Pullover und eine Strickjacke, aber beide setzten dem eiskalten Wind keinen nennenswerten Widerstand entgegen. Mit einem leisen Gefühl von Wehmut dachte Warstein an den pelzgefütterten Parka, der in seinem Spind in der Verwaltungsbaracke hing. Es war kalt, und im Inneren des Berges würde es noch kälter sein. Das Vernünftigste wäre, zurückzugehen und die Jacke zu holen. Aber er war nicht in der Stimmung, vernünftig zu sein; und noch viel weniger in der, Franke an diesem Tag noch einmal zu begegnen. Das bißchen Kälte würde ihn nicht umbringen. Schneller, mit tief in den Taschen seiner Wolljacke vergrabenen Händen und das Gesicht aus dem Wind gedreht, ging er weiter und näherte sich dem Tunneleingang.

Kurz bevor er ihn erreichte, mußte er noch einmal zur Seite treten, um einem der überschweren Lastwagen auszuweichen, der mit fünfzig Tonnen Felsgestein und Schutt beladen aus dem Tunnel herausgerumpelt kam. Der Fahrer winkte ihm zu und blinzelte mit der Lichthupe. Warstein erwiderte den Gruß, obwohl er es lieber nicht getan hätte, denn er mußte dazu die Hand aus der warmen Tasche nehmen. Trotz der Größe des Projektes zählte das gesamte Personal gerade knapp dreihundert Mann, denn der allergrößte Teil der Arbeit wurde von Maschinen erledigt, und so war es nur natürlich, daß hier jeder jeden kannte. Und trotz der traditionellen Kluft, die zwischen Arbeitern und technischem Personal klaffte, war Warstein durchaus beliebt.

Der Wagen rumpelte auf seinen gewaltigen Ballonreifen vorbei und näherte sich einem der kleinen, von Menschenhand aufgeschütteten Berge am Ende des Plateaus, um seine Last an seinem Fuße abzuladen, und Warstein ging weiter. Nach nur zwei Schritten blieb er wieder stehen.

Über dem Tunnel, auf einem schmalen Felsgrat, der Warstein nicht einmal für eine Bergziege breit genug erschienen wäre, stand eine Gestalt und starrte ihn an. Sie blickte nicht einfach auf den Platz herunter oder in seine Richtung - der Mann stand reglos da und starrte ihn an. Obwohl die Entfernung so groß war, daß Warstein sein Gesicht nur als daumennagelgroßen hellen Fleck über dem verschlissenen grünen Cape erkannte, konnte er seinen Blick mit fast körperlicher Intensität fühlen.

Warstein blieb sicherlich zehn Sekunden reglos stehen und erwiderte den Blick des dunkelhaarigen Mannes, der dort oben im heulenden Wind stand und auf ihn herabstarrte, dann griff er in die linke Tasche seiner Strickjacke und zog ein Walkie-talkie hervor, das kaum die Größe eines handelsüblichen Walkmans hatte. Ohne auf die Kontrollen zu sehen, wechselte er die Frequenz, schaltete das Gerät ein und hob es an die Lippen.

»Sicherheit. Hier ist Warstein.«

Kaum eine Sekunde später antwortete eine verzerrte Stimme aus dem winzigen Lautsprecher. »Sicherheitsdienst. Hartmann. Was gibt's?«

»Er ist wieder da«, antwortete Warstein, noch immer, ohne den Blick von der Gestalt am Berg zu nehmen. Der Mann hatte sich nicht gerührt, aber Warstein hatte das Gefühl, daß er ganz genau wußte, was er jetzt tat. Und daß es ihm gleich war.

»Der Verrückte?« erwiderte Hartmann. Trotz der schlechten Wiedergabequalität des Minilautsprechers konnte Warstein das Erstaunen in Hartmanns Stimme hören.

»Ja. Diesmal steht er auf dem Felsgrat über dem Tunnel.«

In einer der Baracken neben ihm öffnete sich eine Tür, und er konnte eine gedrungene, in eine dunkelblaue Phantasieuniform gekleidete Gestalt erkennen, die heraustrat und zum Berg hinaufsah. Hartmann hielt das Gegenstück seines Sprechgerätes in der Rechten. Mit der anderen Hand versuchte er ungeschickt, seine Jacke zuzuknöpfen, in die er offensichtlich in aller Hast geschlüpft war.

»Das darf doch nicht wahr sein!« drang seine Stimme aus dem Sprechgerät. »Wie zum Teufel ist er da hinaufgekommen?«

»Fragen Sie sich lieber, wie Sie ihn dort wieder herunterbekommen«, antwortete Warstein. »Und zwar am besten, bevor Franke ihn sieht.« Er seufzte. Hartmann war ein netter Kerl, aber seiner Arbeit offensichtlich nicht gewachsen. Es war das fünfte oder sechste Mal binnen einer Woche, daß dieser Verrückte durch die Maschen seines Sicherheitssystems schlüpfte und auf der Baustelle auftauchte. Und hier hatte verdammt noch mal kein Fremder etwas verloren. In fünfzehn Meter Höhe an einer nahezu senkrechten Felswand schon gar nicht.

»Ich verstehe das nicht!« Warstein sah, wie Hartmann sich herumdrehte und etwas zu jemandem in der Baracke hinter sich sagte. Augenblicke später drang seine Stimme erneut aus dem Lautsprecher.

»Ich kümmere mich darum. Diesmal entkommt uns der Bursche nicht, das verspreche ich Ihnen.«

»Sehen Sie zu, daß er verschwindet«, sagte Warstein noch einmal. »Und seien Sie vorsichtig. Wenn Franke etwas davon mitbekommt, ist der Teufel los.«

»In Ordnung«, antwortete Hartmann. »Und ... vielen Dank.«

Warstein schaltete das Gerät ab, ließ es in die Jackentasche zurückgleiten und winkte Hartmann mit der freien Hand zu, ehe er weiterging. Er vermied es ganz bewußt, noch einmal zu der einsamen Gestalt am Berg hinaufzusehen, sondern legte den Rest der Strecke schnell und mit gesenktem Blick zurück. Was natürlich nichts daran änderte, daß er die Blicke des Mannes noch deutlicher zu spüren glaubte. Es war ein unangenehmes Gefühl und ein sehr irritierendes, denn er vermochte es nicht wirklich einzuordnen.

Schließlich blieb er abermals stehen und zog das Funkgerät erneut aus der Tasche. Er stand jetzt unmittelbar unter dem aus gewaltigen Natursteinblöcken geformten Torbogen, so daß er den Mann nicht mehr sehen konnte. Aber er spürte, daß er noch da war. Und ihn weiter anstarrte.

»Hartmann?«

Diesmal verging mehr Zeit, bis die Stimme des Sicherheitsmannes aus dem Gerät drang. »Ja?«

»Falls Sie den Burschen kriegen«, sagte Warstein, »dann halten Sie ihn fest, bis ich zurück bin. Ich möchte mit ihm reden.«

»Ich schnappe ihn«, versprach Hartmann grimmig. »Und wenn ich ihn eigenhändig dort herunterschießen muß.«

»Gehen Sie kein Risiko ein«, erwiderte Warstein scharf. »Es reicht, wenn er verschwindet. Ich will hier keine wilde Verfolgungsjagd. Verscheuchen Sie ihn, und wenn er Ihnen dabei zufällig in die Hände fällt, um so besser. Aber denken Sie daran: wir sind hier nicht in Chicago.«

»Ganz, wie Sie wünschen, Herr Warstein«, antwortete Hartmann. Er klang jetzt ein wenig steif, und Warstein konnte sich gut vorstellen, wie sehr ihn sein plötzlicher scharfer Ton verwirrte. Natürlich wußte er, daß Hartmann nur einen Scherz gemacht hatte. Die beiden einzigen Schußwaffen, über die der Sicherheitsdienst verfügte, befanden sich in Frankes Büro unter Verschluß, und selbst wenn die Männer bewaffnet gewesen wären, hätten sie wohl kaum auf einen harmlosen Verrückten geschossen, der Spaß daran fand, Salamander zu spielen und an einer senkrechten Felswand hinaufzukrabbeln; noch dazu im Regen. Aber Warstein wußte auch, wie leicht eine solche Situation eskalieren konnte. Und ein Verletzter oder gar Toter war so ziemlich das letzte, was sie brauchten. Das Tunnelbauprojekt hatte bis jetzt - von wenigen Ausnahmen abgesehen - einhellige Zustimmung in der Bevölkerung am Ort und bei der Presse gefunden. Aber nichts war so unberechenbar wie die öffentliche Meinung und nichts so hartnäckig wie ein Journalist, der eine Sensation witterte. Warstein bedauerte es schon fast, Hartmann überhaupt darum gebeten zu haben, den Mann festzuhalten.

Genau wußte er eigentlich selbst nicht, warum. Aber er dachte voller Unbehagen an die Art zurück, in der der Verrückte ihn angestarrt hatte. Irgend etwas war in seinem Blick gewesen, das ihm ... angst machte? Nein, das war das falsche Wort. Er verwirrte ihn, und er hatte seine Neugier geweckt.

Warstein selbst hatte den sonderbaren Alten sieben- oder achtmal gesehen, meist am anderen Ende des Camps, wenn er um den Bauzaun schlich oder versucht hatte, unbemerkt durch das Tor zu schlüpfen. Manchmal stand er stundenlang da und starrte das Lager an. Dagegen hatte niemand etwas, ganz im Gegenteil - im allgemeinen wurde er für einen Sonderling gehalten, einen Spinner vielleicht, aber harmlos. Die Geschichten über ihn waren mittlerweile zu einem festen Bestandteil der abendlichen Gespräche geworden.

Aber in letzter Zeit war er immer öfter innerhalb des Bauzaunes aufgetaucht, und dagegen hatten eine ganze Menge Leute etwas; Warstein eingeschlossen. Er mußte mit ihm reden, und sei es nur, um es zu tun, ehe Franke auf ihn aufmerksam wurde. Vielleicht reichte ja schon ein einfaches Gespräch, um dem Spuk ein Ende zu bereiten.

Warstein verscheuchte den Gedanken an den Verrückten endgültig und ging weiter. Er befand sich nun endgültig im Inneren des Berges, und wie immer, wenn er hier war, überkam ihn ein sonderbares Gefühl, das er niemals wirklich hatte in Worte fassen können; etwas zwischen Ehrfurcht, Stolz und einem ganz sanften Unbehagen. Ehrfurcht vor der Größe dieses Berges, die man in seinem Inneren fast noch intensiver spürte als draußen, und Stolz auf das, was er und seine Kollegen in den letzten beiden Jahren vollbracht hatten. Im Vergleich zu diesem Granitgiganten waren sie weniger als Ameisen; allerhöchstem Mikroben, die an der Haut eines Riesen nagten. Und trotzdem hatten sie ihn schon fast zur Hälfte durchbohrt. Der Vortrieb näherte sich seinem Herzen. Noch ein paar hundert Meter, und sie hatten genau die Hälfte der Strecke geschafft. Und das Unbehagen... Nun, es war ein Gefühl vollkommen irrationaler Art, das aber dadurch nichts von seiner Intensität verlor. Es hatte auch keinen faßbaren Grund. Es war einfach das Gefühl, etwas zu tun, das möglicherweise kein Fehler, aber eben auch nicht ganz richtig war.

Warsteins Gedanken kehrten wieder zu seiner momentanen Situation zurück, während er mit raschen Schritten in den Tunnel eindrang. Die ersten zweihundert Meter des Stollens waren hell erleuchtet, und so pedantisch aufgeräumt und sauber, daß man buchstäblich vom Boden hätte essen können. Es herrschte ein reges Treiben und Hantieren. Eine in schreiendem Gelb lackierte Diesellok der Schweizer Kantonsbahn stand auf einem der beiden Gleise, aber sie war nicht mehr als eine Attrappe, aufgestellt für die Fotoapparate und Kameras der Journalisten, die immer wieder einmal hierherkamen und den Tunnel bewunderten. Sie war voll funktionsfähig und aus eigener Kraft hier heraufgefahren. Aber das Gleis, auf dem sie stand, endete keine zwanzig Meter hinter dem erleuchteten Teil des Tunnels. Von den beiden Schienensträngen war erst einer fertiggestellt, aber das reichte vollauf, um die Arbeiter und dann und wann schweres Gerät ans Ende des Vortriebs zu bringen. Der Abraum wurde auf einem Förderband herausgebracht und später auf Lastwagen verladen; immer noch die probateste Methode, wenn es darum ging, Steine aus einem Berg herauszutransportieren.

Warstein ging an der Diesellok vorbei, nahm sich einen Helm von einem Metallregal, das an der rechten Seite der Wand angebracht war, und ging weiter, und schon der übernächste Schritt führte ihn in eine völlig andere Welt, die nichts mehr mit der Hochglanzprospekt-Realität des ersten Abschnitts zu tun hatte.

Der Tunnel war hier größer, denn die Kunststoffverkleidungen, die die Wände auf den ersten zweihundert Metern kaschierten, waren hier noch nicht angebracht, so daß man die zum Teil mannsdicken Stahlbetonträger sehen konnte, die die Wände abfingen. Dazwischen und dahinter zog sich ein ganzes Aderwerk von Kabeln und Versorgungsleitungen dahin, manche so dick wie Warsteins Oberschenkel, andere dünn wie Feenhaar, so daß Dutzende zu einem einzigen, geflochtenen Zopf zusammengefaßt worden waren. Wenn man ganz genau hinsah, erkannte man ein ganz feines rotes Flimmern, das aus nichts weiter als Licht bestand: der Laser. Er funktionierte zwar immer noch nicht richtig - das konnte er nicht, denn dazu waren die äußeren Störungen einfach zu massiv, die die Bauarbeiten nun einmal mit sich brachten -, aber der Anblick erfüllte Warstein trotzdem mit einem gewissen Stolz. Die wenigen Male, wo das Gerät bisher wirklich frei von äußeren Einflüssen hatte arbeiten können, hatte es die Länge des Vortriebs bis auf einen tausendstel Millimeter genau angegeben. Selbst Franke hatte sich entsprechend beeindruckt gezeigt, und dazu hatte er allen Grund. Allein die Korrekturen, die sie bisher nicht hatten vornehmen müssen, weil sie Warsteins Laser hatten, hatten der Tunnelbaugesellschaft vermutlich Millionen erspart - und ihnen so ganz nebenbei zu etwas verholfen, was vielleicht noch wichtiger war: sie hinkten nicht wie bei solchen Projekten eigentlich üblich um Monate hinter dem Zeitplan her, sondern waren ihm gute sieben Wochen voraus.

Wenn das Gerät erst wirklich fertig und die neue Software, an der er arbeitete, perfekt darauf installiert war, dachte Warstein, würde sich Franke noch viel beeindruckter zeigen müssen, denn sein Laser war viel mehr als ein Zollstock aus Licht. Völlig in Betrieb genommen, würde ihnen das System alles über den Zustand des Tunnels verraten, was sie wissen wollten: Temperatur, Luftdruck, die Qualität der Atemluft, den Zustand der Trasse, die Spannungsverhältnisse in den Wänden, Daten über Materialermüdung und eventuelle Gefahrenpunkte - die Auflistung hätte sich fast beliebig lang fortsetzen lassen. Das Lasersystem würde den Gridone-Durchstich in einer weiteren Hinsicht zu etwas Besonderem machen, nämlich zu dem sichersten Eisenbahntunnel, den es je gegeben hatte. Nicht einmal eine Feldmaus konnte dann über die Gleise huschen, ohne daß die Computer es bemerkten.

»Warstein?«

Das häßliche Quäken von Frankes Stimme riß ihn in die Wirklichkeit zurück. Und das nicht nur im übertragenen Sinne, sondern wortwörtlich: Er trug das Gerät in der Jackentasche, und die Stimme hatte alle Mühe, verständlich zu werden. Er war schon zu tief im Berg. Funksignale hatten so ihre Probleme, massiven Granit zu durchdringen.

Statt also das Walkie-talkie zu benutzen, ging er ein paar Schritte zurück, bis er einen Telefonanschluß erreichte. Er hob ab und wählte Frankes Nummer. Das Freizeichen ertönte sieben-, vielleicht sogar achtmal, bis Frankes Stimme aufhörte, in seiner Jackentasche zu randalieren, und eine schon sehr viel deutlichere, aber noch immer unangenehme Ausgabe desselben Organs unmittelbar in seiner rechten Ohrmuschel erklang.

»Warstein, zum Teufel, wo sind Sie?« Frankes Stimme klang schon weitaus weniger jovial als vorhin in seinem Büro. Noch etwas, was er an Franke haßte: Er gehörte zu jenen Männern, die am Telefon gerne und schnell unhöflich wurden. Warstein hoffte inständig, daß Franke die weltweite Einführung des Bildtelefons noch miterleben würde.

»Im Tunnel«, antwortete er. »Ich wollte gerade losfahren. Wahrscheinlich wäre ich es schon, hätten Sie mich nicht angerufen.«

Falls Franke die Spitze überhaupt begriff, so ignorierte er sie einfach. »Ich dachte schon, Sie wären jetzt auch noch verschollen«, knurrte er. »Hören Sie, Warstein - als ich Ihnen vorhin sagte, Sie sollten eine Pause machen, da meinte ich natürlich, nachdem sie aus dem Berg zurück sind, nicht vorher.«

»Jetzt übertreiben Sie bitte nicht, Dr. Franke«, sagte Warstein scharf. Er spürte, wie ihm Frankes Worte die Zornesröte ins Gesicht trieben. »Ich bin vielleicht nicht im Sprintertempo hierhergerannt, aber ich -«

Während er sprach, hatte er den Ärmel am linken Arm hochgeschüttelt. Und in der nächsten Sekunde vergaß er seinen Zorn auf Franke. Er vergaß sogar, was er hatte sagen wollen.

Eine Stunde.

Als er seinen Computer abgeschaltet hatte, hatte er gewohnheitsmäßig auf die Uhr gesehen. Seither war fast auf die Sekunde genau eine Stunde vergangen. Aber das war doch völlig unmöglich!

»Aber was?« fragte Franke kampflustig, nachdem er den Satz auch nach einer zweiten und dritten Sekunde nicht zu Ende geführt hatte.

»Wie spät ... wie spät ist es?« fragte Warstein mühsam. Seine Stimme klang belegt.

»Gleich sieben«, antwortete Franke. »In zwei Minuten, um präzise zu sein. Warum?«

»Weil ... weil ... nun, also, mir ist irgendwie gar nicht aufgefallen, wie schnell die Zeit vergangen ist«, improvisierte Warstein stotternd - und alles andere als glaubhaft. »Sie wissen ja, wie das ist - ein kleines Gespräch hier, ein Hallo da, ein bißchen Tratsch...« Er ertappte sich dabei, den Telefonhörer verlegen anzugrinsen.

»Nein, ich weiß nicht, wie das ist«, antwortete Franke kühl.

»Es tut mir leid«, stammelte Warstein. »Ich ... ich beeile mich.« Er hängte ein, bevor Franke noch etwas sagen konnte. Eine Stunde. Wo zum Teufel hatte er eine Stunde verloren?

Zutiefst verwirrt und mit einem Gefühl in der Magengrube, das für seinen Geschmack verdammt dicht an Angst grenzte, wandte er sich um und ging auf einen der beiden Wagen zu, die auf einem Nebengleis standen, das gerade lang genug war, um sie aufzunehmen. Im Grunde waren es nicht mehr als viereckige Plattformen auf vier Rädern, die statt von einem altmodischen Schwengel von einem kleinen, aber ungemein leistungsstarken Elektromotor bewegt wurden. Sie waren nicht sehr schnell, aber zuverlässig, und der eingebaute Mikroprozessor sorgte dafür, daß sich der Fahrer um nichts weiter zu kümmern hatte, als sein Ziel einzugeben und den Startknopf zu drücken.

Im Moment sorgten sie noch für etwas anderes: nämlich daß sich der Wagen nicht von der Stelle rührte.

Wider besseren Wissens drückte Warstein fünf- oder sechsmal hintereinander auf den entsprechenden Schalter, und jedes Mal etwas fester, so daß das Plastik beim letzten Mal bereits hörbar ächzte - was vielleicht daran lag, daß er sich einen Moment lang der närrischen Vorstellung hingegeben hatte, dieser Knopf wäre Frankes Gesicht. Erst dann sah er ein, daß er dem Gerät bitter Unrecht tat; sowohl mit diesem Vergleich als auch mit seiner Ungeduld. Der Minicomputer sorgte lediglich dafür, daß er nicht mit einem Wagen kollidierte, der ihm auf dem Gleis entgegenkam. Sie hatten alle tausend Meter Ausweichschleifen errichtet, aber wenn der Rechner zu dem Ergebnis kam, daß die Zeit nicht ausreichte, sie ungefährdet zu erreichen, blockierte er die Abfahrt.

Warstein wußte, daß er sich auf keine allzu lange Wartezeit gefaßt machen mußte. Die kleinen Wagen waren nicht sehr schnell, aber tausend Meter waren auch keine sehr große Entfernung - fünf Minuten, allerhöchstem zehn. Wenn Franke in dieser Zeit noch einmal anrief, würde er es einfach ignorieren und später behaupten, er hätte nichts gehört. Schließlich war er hier, weil mit den Kommunikationseinrichtungen in diesem Berg etwas nicht stimmte.

Die Vorstellung, wie Franke in seinem Büro saß und sich die Finger blutig drückte, erheiterte Warstein. Es war eine alberne Vorstellung, aber es war jene Art von privater Rache, die Untergebene zu allen Zeiten über das Gefühl der Hilflosigkeit hinweggetröstet hatte, das vielleicht die stärkste Waffe im täglichen Karrierekrieg war, und sie half auch Warstein. Er stellte sich vor, wie Franke sich tatsächlich die Finger wund drückte, wie sein Gesicht langsam puterrot anlief und sein Blutdruck die 300er Marke erreichte und überstieg. Mit dieser Vorstellung rettete er sich über die ersten zehn Minuten Wartezeit hinweg.

Die nächsten zehn Minuten amüsierte er sich damit, sich auszumalen, wie Franke ihn später - einem Herzinfarkt nahe und mit hysterischer Fistelstimme - anbrüllte und ihn fragte, wo zum Teufel er gesteckt habe, und mit dem Ausmalen der verschiedensten, originellen Antworten, die diesem aufgeblasenen Blödmann endgültig den Rest geben mußten. Herzinfarkt. Schlaganfall. Aus. Vorbei. Kein Franke mehr. Endlich Ruhe.

Dann waren insgesamt fünfundzwanzig Minuten vergangen, und Warstein kam nicht mehr umhin, sich einzugestehen, daß er wahrscheinlich noch bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag hier herumstehen und auf den Wagen warten konnte. Irgend etwas stimmte hier nicht.

Eine Sekunde lang war er versucht, das einzig Richtige zu tun - nämlich in der Leitzentrale anzurufen und die Jungs an den Computern zu bitten, die Strecke zu checken. Wahrscheinlich war der Wagen liegengeblieben. Pannen kamen selten vor, aber sie kamen vor. Vielleicht war das sogar schon das ganze Geheimnis - ein aus den Schienen springender Wagen konnte durchaus die Versorgungsleitungen treffen und beschädigen. Wenn der Laser unterbrochen war, konnte er auch keine Telefongespräche mehr transportieren.

Zwei Gründe sprachen dagegen: zum einen hätte ein solcher Unfall sofort Alarm ausgelöst, und zum anderen wäre es Wasser auf Frankes Mühlen gewesen, wenn er sich nach zwanzig Minuten von praktisch der gleichen Stelle wieder meldete. Außerdem war er nicht in der Stimmung, vernünftig zu sein.

Also marschierte er los. Er hatte den Startknopf schließlich oft genug gedrückt - sollte ihm der überfällige Wagen nach ein paar Schritten entgegenkommen, würde die Elektrodraisine losfahren, sofort nachdem er die Weiche passiert hatte, und er konnte bequem aufspringen. Und wenn nicht - das Schlimmste, was ihm blühen konnte, war ein Fünf-Kilometer-Marsch; nicht unbedingt ein Spaziergang, aber zu schaffen. Und der Gedanke an eine weitere Stunde, die Franke auf ihn warten mußte, versüßte ihm den bevorstehenden Gang doch erheblich.

Aber seine Schadenfreude war ein bißchen schal. Der Trost, den sie ihm spenden sollte, hielt nicht lange vor, und als er die erste Ausweichschleife erreichte, ohne auf den entgegenkommenden Wagen gestoßen zu sein, war nichts mehr davon übrig. Sein Helmscheinwerfer beleuchtete die nächsten zwanzig oder dreißig Meter des Schienenstranges. Auch wenn der Wagen noch ein gehöriges Stück weiter entfernt gewesen wäre, hätte er ihn sehen müssen. Der Tunnel verlief absolut gerade, und die vollautomatischen Transporter waren schon aus Sicherheitsgründen mit starken Scheinwerfern ausgestattet. So ungern Warstein es sich eingestand, es gab nur eine einzige, logische Erklärung für alles: die gesamte Elektronik in diesem Berg spielte verrückt. Und das war nicht besonders lustig, denn für die Elektronik zeichnete sich einzig und allein er verantwortlich.

Warstein marschierte schneller, wobei er vorsichtshalber einen Schritt vom Gleis heruntertrat. Das Gehen wurde dadurch zwar um etliches mühsamer, aber einem Zug, der sich so sonderbar benahm, traute er auch zu, ohne Licht herangebraust zu kommen.

Die Stille fiel ihm auf, denn es war ein Schweigen, das vollkommen ungewöhnlich war. Warstein war unzählige Male hier gewesen, und was ihn stets aufs neue überraschte, war die Vielzahl von Geräuschen. Das Dröhnen der Fräse, das in der engen Röhre selbst über Kilometer hinweg noch zu hören war, ein elektrisches Summen und Wispern, das Rauschen der gewaltigen Ventilatoren, die den Tunnel mit einem beständigen Strom von Frischluft versorgten, das Sirren eiserner Räder auf Schienen, menschliche Stimmen, manchmal Fetzen von Gesprächen, die Kilometer entfernt geführt wurden, und nicht einmal besonders laut. Und selbst wenn alle diese menschlichen Laute verstummten, hörte man noch andere: das Geräusch des Windes, der sich am Eingang brach und manchmal hereinfauchte, ehe seine Kraft nachließ, und manchmal ein schweres Knistern und Ächzen, die Lebensgeräusche des Berges, der sich wie ein schlafender Riese in seinem Bett zu regen schien.

Jetzt war es vollkommen still. Er hörte nicht einmal mehr das Geräusch seiner eigenen Schritte, als würde es von irgend etwas verschluckt, ehe es an sein Gehör dringen konnte.

Warstein drehte den Kopf ein paarmal hastig nach rechts und links, vorne und hinten. Sein Herz klopfte. Der Helmscheinwerfer, der die Bewegung gehorsam nachvollzog, zerschnitt die Dunkelheit in ineinanderfließende Zonen aus absoluter Schwärze und gelbem Licht, und für eine Sekunde hatte er das Gefühl, daß sich in den Grenzbereichen dazwischen etwas bewegte; etwas Körperloses, Großes, das näher kroch, immer wenn er es auch nur eine Sekunde aus den Augen ließ.

Natürlich war das vollkommener Unsinn. Warstein schloß die Augen, zählte in Gedanken bis fünf und zwang sich gewaltsam zur Ruhe, und als er die Lider wieder hob, waren die Schatten verschwunden. Die Dunkelheit war wieder nichts weiter als Dunkelheit. Mehr war sie nie gewesen. Auch die Geräusche waren wieder da.

Warstein fuhr sich nervös mit dem Handrücken über Kinn und Lippen. Er hatte nicht wirklich Angst, aber die Situation hatte etwas beinahe Surreales. Was war nur mit ihm los? Es hatte begonnen, als ... ja - als er den Verrückten gesehen hatte. Das unheimliche Gefühl, von ihm angestarrt zu werden, hatte ihn die ganze Zeit über nicht wirklich verlassen. Und es war noch da.

Er ging weiter und versuchte sich mit Gewalt zu dem zu zwingen, worin er am besten war: rationalem Denken. Aber es wollte ihm nicht recht gelingen. Es wurde auch nicht besser, als er endlich den Wagen sah. Sein Anblick beruhigte ihn für eine Sekunde - großzügig geschätzt.

Das Licht. Der große Scheinwerfer an der Vorderseite des Zuges brannte, und trotzdem sah er ihn erst, als er noch ungefähr fünf Meter entfernt war. Der Zug erschien im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Nichts. Wäre Warstein weiter auf den Schienen gelaufen, hätte er ihn zweifellos erfaßt und überrollt.

Der Transporter, der aus einer kleinen, vollautomatischen Schmalspur-Lok und fünf Hängern bestand, war hoch beladen. Felsbrocken und Schutt türmten sich anderthalb Meter über den zerbeulten Wänden, und alles, die Wagen, ihre Last, die Zugmaschine mit ihren blinkenden Lichtern, der Scheinwerfer, ja, selbst die stählernen Räder, war von einer dünnen, glitzernden Rauhreifschicht bedeckt. Der Wagen glitt beinahe lautlos vorüber, aber Warstein spürte den eisigen Hauch, der sein Gesicht streifte und seine Haut prickeln ließ. Und als wäre das alles noch nicht genug, hatte er ihn kaum passiert, da verschwand er genauso gespenstisch und lautlos wieder in der Dunkelheit, wie er erschienen war. Warstein starrte ihm verwirrt nach. Sein Gesicht prickelte noch immer vor Kälte, und seine Hände zitterten. Verlor er jetzt endgültig den Verstand?

Für einen Moment begann sich Hysterie in ihm breitzumachen, aber es gelang ihm, sie niederzukämpfen - wenn auch buchstäblich mit letzter Kraft, und vielleicht nicht einmal auf Dauer. Er war nicht verrückt. Irgend etwas stimmte hier nicht. Er hatte Halluzinationen, das war die einzig logische Erklärung. Warstein wich Schritt für Schritt zur gegenüberliegenden Wand zurück und preßte sich gegen den rauhen Fels. Etwas Metallisches schnitt schmerzhaft in seinen Rücken, aber Warstein wich dem Schmerz nicht aus, sondern klammerte sich im Gegenteil daran, als wäre er das einzig Reale in einer Welt, die aus den Fugen geraten war, obwohl er nach einigen Sekunden so schlimm wurde, daß er ihm die Tränen in die Augen trieb.

Halluzinationen. Irgend etwas ... stimmte hier nicht.

Gas. Die Fräse hatte irgend etwas freigesetzt, vielleicht ein unbekanntes Gas, das den Überwachungsgeräten entgangen war. Das war auch die Erklärung, daß sich die Männer weiter hinten im Tunnel nicht meldeten: sie waren bewußtlos oder zu lallenden Idioten geworden oder bereits tot.

Tief in sich wußte Warstein, daß das nicht die Erklärung war. Die Atemluft im Tunnel wurde ständig von gleich drei vollkommen voneinander unabhängigen Systemen hochspezialisierter Gas-Chromatographen überwacht, die bereits ausschlugen, wenn einer der Arbeiter zwei Tage lang seine Socken nicht gewechselt hatte. Kein noch so unbekanntes Gas wäre ihnen entgangen; schon gar keines, das zu solch massiven Halluzinationen führte. Aber es war die einzige Erklärung, die er auf Anhieb fand - und die nicht dazu angetan war, ihn endgültig an seinem klaren Verstand zweifeln zu lassen.

Außerdem gab sie ihm einen verdammt guten Grund, nicht weiter zu gehen. Die linke Schulter so dicht an die Wand gepreßt, daß seine Strickjacke Fäden zog, tastete er sich zum nächsten Telefonanschluß zurück, hob ab und wählte mit zitternden Fingern Frankes Nummer.

Nichts.

Das Freizeichen kam nicht.

Warstein schüttelte den Hörer ein paarmal. Natürlich wußte er, daß das vollkommen sinnlos war, aber er tat es trotzdem, und er starrte den Hörer hinterher einige Sekunden lang eindeutig vorwurfsvoll an, ehe er einhängte, bis zehn zählte und es dann noch einmal versuchte; diesmal mit einer anderen Nummer. Das Ergebnis war dasselbe. Er hörte nichts. Plötzlich verfluchte Warstein den Umstand beinahe, daß die Telefonverbindung wie fast alles hier über den Laser ablief; er hätte in diesem Moment seine rechte Hand dafür gegeben, wenigstens ein statisches Rauschen zu hören, oder irgendein Störgeräusch. Aber die Verbindung war absolut störungsfrei.

Und absolut tot.

Warstein wollte schon wieder einhängen, als er doch etwas hörte: ein fernes Knistern und Rauschen, das ihn im allerersten Moment fast noch mehr erschreckte als das Schweigen zuvor - obwohl es nichts anderes war als das, was er sich gerade so sehnlichst gewünscht hatte: Störgeräusche.

Bei einer digitalen Verbindung?! Warstein spürte, wie sich ihm jedes einzelne Haar am Leib sträubte. Das war nicht möglich. Niemand konnte seinen Laser stören. Man konnte ihn unterbrechen, aber nicht stören.

»Zum Teufel noch mal, jetzt hört der Spaß endgültig auf!« blaffte Frankes Stimme in sein Ohr. »Legt die Spielkarten weg, oder was ihr sonst immer tut, und meldet euch!«

»Franke, Gott sei Dank!« sagte Warstein. Plötzlich wußte er, was man darunter verstand, wenn man sagte, daß einem ein Stein vom Herzen fiel. »Hören Sie, irgend etwas ist hier...«

»Also gut«, fuhr Franke in gefährlich leisem Ton fort. »Ihr habt es nicht anders gewollt. Wenn ihr euch einen Spaß mit uns erlauben wollt, werden wir sehen, wer zuletzt lacht.«

Warstein erstarrte. Der Stein war wieder da. Und er war gewachsen.

»Das ist die letzte Warnung. Wer immer gerade zuhört, tut besser daran, sich zu melden, oder ich ziehe euch die gesamte Schicht vom Lohn ab. Und zwar allen.« Warstein spürte, wie ihm ein eisiger Schauer über den Rücken lief. Unter der im Moment reichlich durcheinandergewirbelten Oberfläche seiner Gedanken hatte er bereits begriffen, was Frankes Worte bedeuteten - aber er weigerte sich noch für einen Moment, es zu glauben.

»Also gut, meine Herren.« Er konnte hören, wie Franke den Hörer senkte und mit jemandem in seiner Nähe sprach. Die Worte waren um etliches leiser, aber noch immer gut zu verstehen. Für Warsteins Geschmack entschieden zu gut. »Vielleicht ist die Verbindung wieder einmal zusammengebrochen. Jemand nimmt ab, aber er antwortet nicht.«

»Dann sollten wir jemanden in den Tunnel schicken, der sich drum kümmert. Sie wissen, wie kleinlich die Gewerkschaft in Sicherheitsfragen ist.«

»In Ordnung.« Franke lachte leise. »Und ich weiß auch schon, wen.«

»Spielen Sie dem armen Jungen nicht ein bißchen zu sehr mit, in letzter Zeit?«

»Der arme Junge hat dieses Scheißsystem immerhin erfunden. Und ein kleiner Spaziergang wird ihm guttun. Er sieht in letzter Zeit wirklich schlecht aus.« Franke hängte ein. Die Verbindung war wieder tot. Ohne Störgeräusche. Ohne Frankes Stimme, die ein Gespräch führte, das mehr als zwei Stunden alt war und das stattfand, nachdem er, Franke, ins Rechenzentrum gekommen war, um ihm ein wenig Bewegung zu verschaffen!

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