Dem ersten Helikopter waren zwei weitere gefolgt, die in kurzem Abstand auf der Straße am Ufer landeten und denen insgesamt mehr als zwei Dutzend Soldaten entstiegen. Die Männer hatten die Straße in weitem Umkreis abgeriegelt. Wer nicht schon vor den Hubschraubern in Panik davongelaufen war, den trieb der Anblick der bewaffneten Gestalten zurück, und in einigen wenigen Fällen auch der Einsatz von - mehr oder weniger - sanfter Gewalt. Was Roglers Polizisten in einer guten Stunde nicht gelungen war, das schafften die Soldaten binnen weniger als fünf Minuten. Als ihr Aufmarsch beendet war, befanden sich auf der Uferpromenade nur noch Uniformierte. Nur die Männer jenseits der Mauer, denen die Anwesenheit und auch die Befehle der Soldaten galten, waren noch da. Ein grauhaariger Offizier mit den Rangabzeichen eines Majors kommandierte die Truppe. Er mußte nicht sehr viele Befehle geben. Die Männer schienen genau zu wissen, was von ihnen erwartet wurde, und sie erfüllten ihre Aufgabe so schnell und präzise, daß jedem Beobachter schon nach Augenblicken klargeworden wäre, daß es sich bei ihnen um eine gut trainierte und seit Jahren aufeinander eingespielte Elitetruppe handelte. In einer Entfernung von zweihundert Metern zu beiden Seiten der Straße wurden Barrieren errichtet, und einige Männer umgingen das Lager der reglos dastehenden Gestalten in weitem Umkreis und bildeten eine Kette zwischen ihnen und dem See, um es auch in dieser Richtung abzuriegeln. Längst war klargeworden, daß es sich bei diesen Schamanen und Zauberern um Druiden handelte, die letzten Wächter der Welt. Keiner von ihnen schien Notiz davon zu nehmen, was um sie herum geschah.
Der Major wartete. Er hatte Befehl, die Gruppe am Ufer zu umstellen, aber nichts zu tun, solange sie nichts taten, und auch, wenn er sich insgeheim fragte, was an diesem Haufen offensichtlich verrückter alter Männer den Einsatz einer auf den Nahkampf spezialisierten Eliteeinheit wie seiner rechtfertigte, so stellte er seinen Befehl trotzdem nicht in Frage, sondern folgte ihm Wort für Wort. Zeit verging. Fünf Minuten, zehn, eine halbe Stunde, schließlich eine ganze. Keiner der Soldaten rührte sich. Von Zeit zu Zeit erschien ein Schatten hinter einem erleuchteten Fenster auf der anderen Straßenseite oder wurde eine Tür geöffnet, nur um sofort und sehr hastig wieder geschlossen zu werden, denn vor jedem einzelnen Haus auf der anderen Seite der Straße stand ein Posten, der dafür sorgte, daß niemand versuchte, es zu verlassen.
Der ersten Stunde schloß sich eine zweite an und dieser noch ein Teil der dritten, ehe die Männer auf der anderen Seite der Mauer endlich aus ihrer Starre zu erwachen begannen.
Es geschah auf eine Weise, die fast ebenso unheimlich und bizarr war wie die Stunden völliger Reglosigkeit, in der sie bisher verharrt hatten. Sie bewegten sich, alle zugleich und wie in einem Tanz, langsam, mit bedächtigen, fast zeremoniellen Bewegungen, ein jeder für sich und auf eine andere Art, und doch in ihrer Gesamtheit wie einem nicht klar erkennbaren, aber eindeutig vorhandenen Muster folgend. Der Major hatte das Gefühl, dem Erwachen einer großen, ungemein kompliziert und zugleich ungemein präzise funktionierenden Maschine zuzusehen. Jede einzelne Geste der hundert Männer schien eine ganz bestimmte Bedeutung zu haben. Das Heben einer Hand bedingte die Bewegung eines anderen Körpers, ein Lidzucken eine Drehung, ein Atemzug einen Schritt. Wie die Zahnräder eines gewaltigen Mechanismus ineinandergreifen, so griffen diese Bewegungen und Gesten ineinander und führten in ihrer Gesamtheit zu etwas anderem, Größerem, einem Ganzen, das viel größer als die Summe seiner einzelnen Teile war und etwas noch Größeres bewirken mußte.
Es dauerte lange, ehe er erkannte, was es war.
Der Himmel.
Die Lichter und wogenden Formen waren noch da, aber ihre Bewegung war jetzt nicht mehr willkürlich, sondern kommunizierte auf eine unheimliche Weise mit der der Druiden. Es war nicht zu erkennen, was worauf reagierte - die Lichter am Himmel auf das Erwachen der Männer oder diese auf die veränderten Muster über ihnen. Es war im Grunde auch gleich. Der Major hatte seine Befehle. Auch und vor allem für diesen Fall. Und er befolgte sie präzise. Das Funkgerät, mit dem er wie jeder einzelne seiner Männer ausgerüstet war, funktionierte noch immer nicht, aber ihre Planung hatte auch für diesen Fall vorgesorgt. Er hob die Hand über den Kopf, machte eine rasche, befehlende Geste, und der Halbkreis bewaffneter Männer auf dieser Seite der Mauer zog sich enger zusammen, ohne die eigentliche Grenze zum Park zu überschreiten. Zugleich begann ein Soldat, der auf dem Dach eines der gegenüberliegenden Häuser Aufstellung genommen hatte, mit einem tragbaren Scheinwerfer Lichtsignale auf den See hinauszugeben. Nur einen Moment später wurde das Blinken von einem flackernden weißen Stern einen halben Kilometer vom Ufer entfernt beantwortet, und das Geräusch eines Motors begann sich zu nähern. Ein Schatten glitt auf das Ufer zu und wurde zu den kantigen Umrissen eines kleinen Schiffes. Auf der Brücke waren die Kennzeichen der italienischen Wasserschutzpolizei angebracht, aber hinter der niedrigen Reling standen Männer in den gleichen Umformen wie die, die die Soldaten hier trugen. Das Schiff näherte sich dem Ufer auf fünfzig Meter und hielt dann an. Mehr geschah nicht. Der Major hatte Befehl, die Druiden daran zu hindern, den Park zu verlassen, ansonsten aber auf keinen Fall einzugreifen, ganz egal, was sie taten.
Mittlerweile hatte der Tanz der Druiden ein Ende gefunden. Die Männer hatten sich allesamt erhoben und ihre Plätze an den Feuern verlassen, und nun wandten sie sich einer nach dem anderen um und begannen langsam, mit ebenso gemessenen und fast zeremoniellen Schritten, wie es die Bewegungen davor gewesen waren, auf das Ufer zuzugehen.
Nun erwachte auch der Major aus seiner Starre. Mit einer für einen Mann seines Alters und seiner Statur erstaunlichen Behendigkeit überwand er die Mauer, verfiel in einen raschen Laufschritt und begann zum Ufer hinabzueilen. Da die Druiden noch immer sehr langsam gingen, fiel es ihm nicht schwer, sie zu überholen und die dort wartenden Soldaten zu erreichen, ehe der erste der alten Männer dort war. Er mußte keinen Befehl erteilen, damit seine Soldaten reagierten.
Die Männer bildeten eine Kette hinter und zu beiden Seiten ihres Kommandanten und hoben ihre Waffen vor die Brust; eine Haltung, die so eindeutig war, daß auch die näherkommende Prozession buntgekleideter Gestalten sie begreifen mußte. Trotzdem setzten sie ihren Vormarsch fort; sehr langsam, aber auf eine Weise, die in dem Major das ungute Gefühl wachrief, daß es ihm vielleicht nicht gelingen würde, sie aufzuhalten. Zumindest nicht, ohne Gewalt anzuwenden.
Er hatte es bisher selbst nicht einmal bemerkt, aber die Zeit, die er dagestanden und die reglosen Gestalten angeblickt hatte, hatte etwas in ihm verändert. Als er gekommen war, hatte er die Männer einfach nur für seltsam gehalten. Jetzt flößten sie ihm Furcht ein. Nicht einmal wegen ihres zum Teil bizarren Äußeren. Aber etwas schien von ihnen auszugehen, unsichtbar, zugleich aber so intensiv, daß man fast meinte, es berühren zu können. Eine Aura von Macht und uraltem Wissen, die etwas in dem Major tief berührte und erzittern ließ. Er empfand noch keine wirkliche Angst, aber es kostete ihn große Überwindung vorzutreten und in einer Geste, die nicht halb so überzeugend ausfiel, wie er es sich gewünscht hätte, die Hand zu heben.
»Halt!« sagte er.
Er hatte nicht wirklich damit gerechnet, aber der Vormarsch der Prozession kam tatsächlich für einen Moment ins Stocken. Zugleich hörten die Lichter über ihnen auf zu flackern, die Formen und Farben sich zu verändern. Es war ein bizarrer, unwirklicher Moment; als hätte die Zeit für einen Augenblick angehalten. Plötzlich hatte er Angst. Nicht vor dem, was diese Männer da vor ihm tun oder sagen konnten, sondern einfach vor dem, was sie waren.
Eine der Gestalten löste sich aus der Reihe und kam auf ihn zu. Es war ein uralter Mann in einem knöchellangen weißen Gewand, dessen Gesicht einen dunklen Teint und einen leicht asiatischen Schnitt hatte und von einem ebenfalls weißen Turban gekrönt wurde. Zwei Schritte vor dem Major blieb er stehen und sah ihn aus Augen an, deren Blick tiefer zu gehen schien als alles andere, was dem Major bekannt war. Seine Hände begannen ganz leicht zu zittern. Es fiel ihm immer schwerer, wenigstens äußerlich Ruhe zu bewahren.
»Bitte, gib den Weg frei«, sagte der Alte. Er bediente sich einer Sprache, die der Major noch nie zuvor gehört hatte, geschweige denn sprach. Und trotzdem verstand er jedes Wort.
»Das kann ich nicht«, antwortete er. »Es tut mir leid, aber ich habe meine Befehle. Bitte, seien Sie vernünftig und gehen Sie zurück.«
Die uralten Augen in dem nicht weniger alten Gesicht sahen ihn noch eine Sekunde lang durchdringend an, dann lächelte der Mann, drehte sich um und ging ohne Hast zu den anderen zurück. Kaum hatte er seinen Platz in der Reihe wieder eingenommen, gingen sie weiter.
Der Major war nicht überrascht, aber zutiefst erschrocken. Vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben als Soldat und kommandierender Offizier wußte er nicht, was er tun sollte. Seine Befehle waren eindeutig: er durfte nicht zulassen, daß die Männer den Bereich zwischen der Straße und dem Ufer verließen. Aber zugleich wußte er auch, daß es ihm nicht gelingen würde, sie daran zu hindern. Was sollte er tun? Auf diese zum größten Teil alten, gebrechlichen Männer schießen lassen? Entschlossen kämpfte er seine Furcht nieder, trat den Männern einen weiteren Schritt entgegen und breitete die Arme aus. »Halt«, sagte er noch einmal. »Sie dürfen nicht weitergehen.«
Natürlich taten sie es trotzdem. Der Vormarsch der Männer kam nicht einmal für eine Sekunde ins Stocken. Langsam näherten sie sich dem Major, und als sie ihn erreicht hatten, geschah etwas Unheimliches: Der Soldat war entschlossen gewesen, sie nötigenfalls mit der Kraft seiner Hände zurückzuhalten, aber als der erste der alten Männer noch einen halben Meter von ihm entfernt war, trat er plötzlich einen Schritt zurück. Es war ihm unmöglich, sie zu berühren.
»Halt!« rief er noch einmal. Seine Stimme klang plötzlich verzweifelt. »Stehenbleiben!«
Die Männer bewegten sich weiter. Die ersten erreichten die Kette der Soldaten am Wasser, und was ihrem Kommandanten widerfahren war, wiederholte sich bei ihnen. Sie wichen einer nach dem anderen zurück und zur Seite; widerwillig und wie gegen einen inneren Zwang ankämpfend, aber zugleich auch ohne zu zögern.
Der Major sah die Katastrophe kommen, aber er war nicht in der Lage zu reagieren.
Einer der Soldaten verlor die Nerven. Mit einem halblauten Schrei riß er sein Gewehr in die Höhe, legte auf die näherkommenden Männer an und schoß. Das Gewehr explodierte. Flammen und scharfkantige Metallsplitter verheerten das Gesicht des Soldaten, zerfetzten seine rechte Hand und schwärzten die Brust seiner Uniform. Mit einem gellenden Schrei ließ er die Waffe fallen, stürzte nach hinten und begann sich am Boden zu wälzen.
Der Major war der erste, der den Verletzten erreichte. Der Soldat krümmte sich am Boden und hatte beide Arme vor sein blutendes Gesicht gerissen, doch der Major wußte, was sich dahinter verbarg. Er kannte die furchtbare Wirkung dieser Waffen zu gut, um sich auch nur eine Sekunde lang einreden zu können, daß es noch irgend etwas gab, was sie für den Mann tun konnten. Es war ein Wunder, daß er überhaupt noch am Leben war. Er war nur nicht sicher, ob es auch eine Gnade war.
Als er neben dem Sterbenden niederkniete und die Hände nach ihm ausstrecken wollte, sagte eine befehlende Stimme hinter ihm: »Halt!«
Ganz instinktiv zog er die Hände wieder zurück und sah auf. Über ihm stand ein junger, ganz in Schwarz gekleideter Mann. Es war dem Major ein Rätsel, wie er hierhergekommen war. Davon einmal abgesehen, daß die Soldaten das Ufer in weitem Umkreis abgesichert hatten, war er vollkommen sicher, ihn vorher noch nicht gesehen zu haben. Und das war nicht das einzig Erstaunliche an ihm. Er trat einen Schritt auf den Major und den Verletzten zu. Einer der anderen Soldaten versuchte ihm den Weg zu vertreten. Es blieb bei dem Versuch. Er lächelte, und nach einer Sekunde wich der Ausdruck nervöser Entschlossenheit auf den Zügen des Soldaten einem fassungslosen Erstaunen. Nach einer weiteren Sekunde senkte er seine Waffe und trat beiseite.
Der Fremde kniete neben dem Verletzten nieder. Es dauerte nur einen Moment, bis auch der Major vor ihm zurückwich, wenn auch diesmal nicht aus Furcht. Das Gefühl war anders als das, das er in der Nähe der Druiden gehabt hatte. Der Schwarzgekleidete flößte ihm keine Angst ein. Vielmehr strahlte er eine ungeheure Autorität aus, die nichts mit Macht zu tun hatte. Es war die Autorität dessen, der wußte, was er tat, und der es richtig tat, immer und unter allen Umständen. Reglos vor Staunen und Ehrfurcht sah der Major zu, wie er behutsam die Hände des Verletzten beiseite schob und dann sein blutiges Gesicht berührte.
Der Soldat wimmerte vor Schmerz und versuchte die Hände des Fremden beiseite zu schlagen. Dann aber entspannte er sich so plötzlich und so total, daß der Major im ersten Moment nicht mehr sicher war, ob er noch lebte. Doch dann sah er, daß sich seine Brust weiter hob und senkte. Sein rechtes Auge war zerstört, aber das andere stand offen und blickte den Fremden ruhig an. Weder Schmerz noch Furcht waren jetzt darin zu erkennen.
»Hab keine Angst, Bruder«, sagte der Fremde. Er lächelte, und obwohl dieses Lächeln nicht dem Major galt, spürte auch er etwas von der Zuversicht und Wärme, die es verströmte und mit der es den Sterbenden erfüllte. Der Fremde nahm ihm wenigstens in seinen letzten Sekunden noch den Schmerz und die Angst. Es spielte überhaupt keine Rolle, wie und warum oder wer er war. Mittlerweile hatte die Prozession der Druiden das Wasser erreicht. Der Major hätte selbst nicht sagen können, was er erwartet hatte - aber nicht das. Die Männer gingen einfach weiter. Das Wasser reichte ihnen bis an die Knöchel, dann zu den Knien, schließlich bis zu den Hüften, aber sie gingen immer noch unbeirrt weiter. Sie bringen sich um! dachte er. Vielleicht fühlten sie sich unverwundbar, durch den Hokuspokus, den sie aufgeführt hatten, aber das einzige, was bei diesem Wahnsinn herauskommen konnte, waren einhundert Leichen, die im Wasser trieben.
»Aufhalten!« befahl der Major. Er sprang hoch, unterstrich seinen Befehl mit einer entsprechenden Geste und wiederholte ihn noch einmal und lauter: »Haltet sie auf!«
Zwei oder drei Soldaten versuchten tatsächlich, dem Befehl zu folgen, aber sie kamen nicht einmal in die Nähe der Männer. Nach einigen Schritten blieben sie wieder stehen. Die Prozession setzte ihren Weg ins Verderben unbeirrt fort. »Um Gottes willen, bleibt doch stehen!« rief der Major.
Seine Schreie verhallten ungehört. Die Männer gingen einfach weiter. Das Wasser reichte dem ersten jetzt bis zur Brust.
Der Major hob den Arm und machte eine befehlende Geste. Der Motor eines Polizeibootes dröhnte. Nach einem weiteren Befehl hoben die Männer auf dem Schiff ihre Gewehre und feuerten eine Salve ab. Dicht vor den Druiden spritzte das Wasser auf, in einer präzise wie mit einem Lineal gezogenen Linie, die zeigte, wie perfekt die Männer mit ihren Waffen umzugehen wußten. Trotzdem bewegten sich die Druiden noch immer weiter. Das Wasser reichte dem ersten jetzt bis zum Hals.
Einen Moment lang erwog der Major ernsthaft den Gedanken, das Feuer auf sie eröffnen zu lassen. Vielleicht war es immer noch besser, zwei oder drei Verletzte in Kauf zu nehmen, als tatenlos zuzusehen, wie annähernd hundert Männer aus einem religiösen Wahn heraus in den sicheren Tod gingen.
Die Entscheidung wurde ihm abgenommen. Der Scheinwerfer des Polizeibootes begann zu zittern. Die Lichter oben am Himmel flackerten stärker, und plötzlich wehte ein Chor überraschter Rufe und Schreie zum Ufer herauf. Das Wasser lag nicht mehr still. Eine immer schneller werdende Folge anwachsender Wellen begann sich halbkreisförmig von der Spitze der Prozession her auszubreiten. Das Polizeiboot schwankte immer heftiger. Die Wellen waren längst nicht stark genug, das Boot wirklich in Gefahr zu bringen, aber an ein gezieltes Schießen war nicht mehr zu denken.
»Verdammte Idioten«, flüsterte der Major. »Dann bringt euch doch um!« Die Männer marschierten unbeeindruckt weiter, und es vergingen nur noch wenige Sekunden, bis sich die dunklen Wogen des Lago Maggiore über den Köpfen der ersten Gestalten schlossen.
Die Fahrt durch den Tunnel hatte etwas von einem Alptraum. Warstein wußte, daß sie kaum länger als eine halbe Stunde gedauert haben konnte, denn es war ein Wagen der gleichen Art wie die, die sie damals beim Tunnelbau eingesetzt hatten, und obwohl rings um sie herum vollkommene Finsternis herrschte, konnte er die Geschwindigkeit fühlen, mit der sie sich fortbewegten. Aber für ihn - und für die beiden anderen wohl auch - wurde diese halbe Stunde zu einer Ewigkeit, in der jede Sekunde mit banger Erwartung angefüllt war und mit Furcht vor dem, was sich in der Dunkelheit verbergen konnte.
Und anders als sonst war diese Angst ganz konkret, denn die Schwärze hier war mehr als die Abwesenheit von Licht, vielleicht die Leinwand, auf der die Schrecken, die ihr Unterbewußtsein gebären mochte, nur zu real werden konnten. Was auch immer er sich auf dem Weg zum Tunnel selbst einzureden versucht hatte, er hatte den Umstand begrüßt, daß sie offensichtlich in der Lage waren, die Realität kraft ihrer Gedanken und Wünsche zu beeinflussen, und bisher hatte er sich ja auch als Segen erwiesen.
Das mußte nicht so bleiben. Hier, in dieser schwarzen, scheinbar endlosen Röhre, in der sie allein mit sich und ihren Ängsten und Erwartungen waren, konnten sich ihre neu gewonnenen Fähigkeiten nur zu leicht als Fluch erweisen und vielleicht als tödliche Gefahr. Lohmanns einfacher Wunsch nach einem Transportmittel hatte gereicht, es erscheinen zu lassen. Vielleicht reichte seine Furcht vor den Schrecken dieser Schwärze - oder die Angelikas oder auch seine eigene - ja auch aus, daß diese Gestalt annahm.
Warstein versuchte, seine Gedanken mit Gewalt auf etwas anderes zu konzentrieren. Je mehr er aber versuchte, nicht an seine Angst und die apokalyptischen Schrecken zu denken, desto intensiver dachte er daran. Und so wurde die Fahrt zumindest für ihn zu einer Reise durch die Hölle, auf der er innerlich um hundert Jahre alterte und die kein Ende zu nehmen schien. Schließlich wurde es vor ihnen doch wieder hell. Es war nicht das Ende des Tunnels, das sie sahen - das Licht war gelb und zu hart, um natürlichen Ursprungs zu sein, und draußen herrschte ja auch noch immer tiefste Nacht. Obwohl der Elektrowagen mit sicherlich zwanzig oder dreißig Stundenkilometern über die Schienen rollte, näherten sie sich ihm nur sehr langsam. Warstein schätzte, daß sie noch einmal zwei oder drei Kilometer zurücklegten, ehe aus dem verschwommenen gelben Fleck, der irgendwo in der Dunkelheit schwamm, ein von Schatten und schwarzen Umrissen erfüllter Halbkreis wurde und sie Einzelheiten erkennen konnten.
Der gesamte Tunnel war hell erleuchtet, nicht nur von den unter der Decke befestigten, sondern auch durch eine Anzahl großer Scheinwerfer, die ganz offensichtlich nicht zur normalen Ausstattung des Bauwerkes gehörten, sondern nachträglich angebracht worden waren, um das zu beleuchten, was vor ihnen auf den Schienen stand. Der Wagen wurde langsamer, als sie sich dem erleuchteten Bereich näherten, und hielt schließlich ganz an. Warstein verlor kein Wort darüber, aber ihm entging auch nicht, daß Lohmann, der am Steuerpult des kleinen Elektrowagens stand, die Kontrollen nicht berührt hatte. Wortlos stiegen sie ab und näherten sich den beiden Zügen, die nebeneinander auf den beiden Gleisen standen. Ihre Schritte, die in der hohen, endlos langen Betonröhre unheimliche, verzerrte Echos hervorriefen, wurden immer langsamer, bis sie schließlich ganz anhielten, aber es vergingen auch dann noch lange, endlose Sekunden, ehe Lohmann als erster das betäubende Schweigen brach, das Besitz von ihnen ergriffen hatte.
»So ist das also«, sagte er. »Von wegen: Terroranschlag!« Er klang schockiert und zutiefst erschrocken.
Warstein war nicht einmal in der Lage, irgend etwas darauf zu erwidern. Vielleicht war er von ihnen derjenige gewesen, der noch am ehesten hätte ahnen können, was sie erwartete.
Die beiden Züge, die in der gleichen Fahrtrichtung nebeneinander auf den Schienensträngen standen, hätten sich ähneln können wie ein Ei dem anderen, wären sie nicht in völlig unterschiedlichem äußerem Zustand gewesen. Es waren zwei Hochgeschwindigkeitszüge vom Typ ICE 2000 der Deutschen Bundesbahn, und keiner von ihnen war älter als zwei Jahre - das konnten sie nicht sein, denn diese letzte Generation superschneller Eisenbahnzüge war erst vor kurzem in Dienst gestellt worden.
Trotzdem sah einer davon aus, als stünde er seit mindestens einem Jahrhundert hier; vielleicht auch seit einem Jahrtausend.
»Ich wußte es«, sagte Lohmann. »Sie haben gelogen. Sie haben die ganze Welt an der Nase herumgeführt!«
»Aber was ist denn hier nur passiert?« murmelte Angelika. Auch sie klang vollkommen fassungslos, erschrocken und zutiefst aufgewühlt wie Warstein. Vielleicht hätte er ihre Frage sogar beantworten können, aber er war in diesem Moment nicht fähig, auch nur irgendein Wort zu sagen. Er brachte nicht einmal die Kraft auf, seinen Blick von dem zerfallenen, von Rost und Alter zerfressenen Eisenbahnwrack zu lösen, das vor ihnen auf den Schienen thronte wie ein Symbol für die Vergänglichkeit aller menschlichen Schöpfung.
An seiner Stelle war es Lohmann, der antwortete. »Auf jeden Fall waren es keine Terroristen«, sagte er. »Es sei denn, sie haben den Begriff Zeitbombe vollkommen neu definiert.« Er lachte, aber der Scherz entspannte den Moment nicht, sondern erfüllte Warstein mit einem eisigen Schaudern und Angelikas Gesicht mit einem Ausdruck nackter Angst. »Das muß der andere Zug sein«, sagte Lohmann mit einer Geste auf den zweiten ICE. »Der, von dem der alte Mann erzählt hat. Sie haben ihn hierhergeschafft. Deshalb also hat man ihn nie wieder gesehen. Unglaublich.«
»Was ist daran so erstaunlich?« wollte Angelika wissen. »Sie wollten ihn wahrscheinlich nur in Ruhe untersuchen und -«
»Wissen Sie, was so ein Ding kostet?« unterbrach sie Lohmann. Er machte ein abfälliges Geräusch und schüttelte zugleich heftig und mehrmals hintereinander den Kopf. »Wir reden hier nicht über einen Kleinwagen, Süße. Die Dinger da kosten Millionen, viele, viele Millionen.«
»Und?« fragte Angelika. Sie verstand immer noch nicht, worauf Lohmann hinauswollte.
»Glauben Sie wirklich, daß die Deutsche Bundesbahn zwei Züge im Wert von hundert Millionen Mark hier ein Jahr lang versteckt, wenn es sich nicht wirklich um etwas Großes handelt?« fragte Lohmann.
»Kaum«, sagte eine Stimme hinter ihnen. »Außerdem irren Sie sich. Sie kosten mehr als zweihundert Millionen - das Stück.«
Warstein, Lohmann und Angelika fuhren in einer einzigen, gleichzeitigen Bewegung herum, und Franke trat vollends hinter dem Zug hervor und fuhr mit einem angedeuteten Lächeln fort: »Die Zahlen wurden ein bißchen geschönt, weil sie Angst hatten, daß die Bahnkunden bei der nächsten Preiserhöhung noch verärgerter reagieren könnten. Die Waggons mitgerechnet, steht hier fast eine halbe Milliarde. Ein irgendwie beeindruckender Gedanke, finden Sie nicht?« Hinter ihm trat eine zweite Gestalt auf die Schienen heraus. Der Mann konnte nur wenig jünger als Franke sein, war aber von weitaus kräftigerer Statur und wirkte in seinem ganzen Wesen agiler. Er hatte graues Haar und aufmerksame, wache Augen, die ständig in Bewegung waren und denen nicht die kleinste Kleinigkeit entging. Er war in einen dunkelgrauen Anzug gekleidet, der teuer gewesen sein mußte, jetzt aber ein wenig verschlissen wirkte; und so, als hätte er mindestens drei Tage darin geschlafen. Obwohl er sehr aufmerksam wirkte, machte er zugleich einen erschöpften Eindruck. Die rechte Hand hatte er scheinbar lässig in der Jackentasche vergraben. Warstein vermutete, daß er eine Waffe darin trug.
»Franke!« sagte Lohmann. Er trat einen Schritt auf den Wissenschaftler zu, blieb abrupt wieder stehen und sagte noch einmal: »Franke! Sie -«
»Bitte!« Franke hob die Hand, aber Warstein konnte nicht einmal sagen, ob die Geste Lohmann galt oder seinem Begleiter, der mit einer raschen Bewegung an Frankes Seite getreten war. Er war mehr als einen Kopf kleiner als Lohmann, aber Warstein zweifelte keine Sekunde daran, daß er dem Journalisten trotzdem hoffnungslos überlegen war, wenn er es auf eine körperliche Auseinandersetzung angelegt hätte. Franke war kein Narr. Zweifellos wußte er mittlerweile, wer Lohmann war und was für einen Charakter er hatte. »Ich verstehe durchaus, daß Sie nicht gut auf mich zu sprechen sind, Herr Lohmann«, fuhr Franke fort. »Und von Ihrem Standpunkt aus haben Sie wahrscheinlich sogar recht damit. Aber jetzt ist nicht der Moment, uns um persönliche Animositäten zu kümmern. Ich bin sicher, Herr Warstein wird Ihnen das bestätigen.«
»Ich werde Ihnen zeigen, wozu jetzt der Moment ist!« drohte Lohmann. Er reckte kampflustig die Schultern, bedachte Frankes Begleiter mit einem herausfordernden, aber auch unübersehbar vorsichtigen Blick und schien darauf zu warten, daß dieser oder Franke selbst in irgendeiner Art auf seine Worte reagierten. Anscheinend, dachte Warstein, hatte er immer noch nicht begriffen, worum es hier wirklich ging. Oder er wollte es nicht.
Franke ignorierte ihn einfach. Vollkommen unbeeindruckt von Lohmanns drohender Haltung ging er an ihm vorbei und blieb dicht vor Warstein stehen. »Sie haben lange gebraucht«, sagte er. »Ich hatte schon Angst, daß Sie es nicht schaffen. Aber ich sehe, daß ich mich nicht in Ihnen getäuscht habe.«
»So wenig wie ich mich in Ihnen«, antwortete Warstein. Er fragte sich, warum er das sagte. Franke hatte recht - jetzt war nicht der Moment für solche albernen Spielchen.
Franke senkte für einen Moment den Blick und sah traurig zu Boden. »Ich verstehe«, sagte er. »Sie hassen mich immer noch. Das ist schade.«
»Hassen?« Seine Vernunft schrie ihm zu, daß jede einzelne Sekunde jetzt einfach zu kostbar war, um sie damit zu vergeuden, sich gegenseitig Vorwürfe zu machen. Aber die Worte hatten zu lange darauf gewartet, ausgesprochen zu werden. Sie mußten einfach heraus.
»Warum sollte ich Sie hassen, Franke?« fragte er höhnisch. »Sie haben nur mein Leben zerstört. Sie haben meine Karriere ruiniert, mich in den finanziellen Ruin getrieben und letztendlich dafür gesorgt, daß meine Ehe zum Teufel geht. Glauben Sie wirklich, daß ich Ihnen die paar Kleinigkeiten übelnehme? Sie tun mir unrecht.«
»Und Sie mir«, erwiderte Franke ernst. »Sie haben recht, mit jedem Wort. Falls wir noch Gelegenheit dazu finden, werde ich gerne öffentlich Abbitte tun und alles wieder gutmachen - so weit es in meiner Macht steht. Aber damals glaubte ich, im Recht zu sein. Ich glaubte so handeln zu müssen. Wenn Sie mir nur einen Moment zuhören, werden Sie mich verstehen.«
»Werde ich das?« Warstein ballte die Hände zu Fäusten. Es war nur ein Ausdruck seiner Ohnmacht, aber Franke sah die Bewegung. »Nennen Sie mir nur einen einzigen Grund, warum ich Ihnen nicht den Schädel einschlagen sollte.«
Sein Begleiter machte erneut einen Schritt, der ihn an Frankes Seite brachte, aber wieder hob Franke rasch und beruhigend die Hand. »Lassen Sie nur, Rogler«, sagte er. »Er meint es nicht so.«
»Nein? Tue ich das nicht?« fragte Warstein.
»Nein«, behauptete Franke. »Nicht nachdem Sie das hier gesehen haben. Sie haben gewußt, was sie vorfinden würden, nicht wahr? Deswegen sind Sie auch hierhergekommen, statt nach Ascona.«
Die Worte waren nicht im Tonfall einer Frage gestellt. Warstein schwieg. Franke mußte dieses Schweigen falsch auslegen, aber er hatte das Gefühl, daß alles, was er jetzt sagen konnte, die Situation nur schlimmer machen würde. In den zurückliegenden drei Jahren hatte es nicht einen Tag gegeben, an dem er sich diese Situation nicht mindestens einmal ausgemalt hatte, in immer verschiedenen Variationen, aber stets mit dem gleichen Ausgang: der Moment, in dem er Franke gegenüberstand und dieser endlich zugab, wer damals im Recht gewesen war. Trotzdem war es aber jetzt anders. Er empfand keinerlei Triumph, nicht einmal eine Spur von Erleichterung. Ihr Kampf, der von Anfang an so ungleich gewesen war, war endlich vorüber, und er hatte ihn eindeutig gewonnen. Es hatte aber bis zur allerletzten Sekunde gedauert, bis er begriff, daß es dabei keinen Sieger gab.
»Also gut«, sagte er schließlich. »Was wollen Sie, Franke?«
»Ihre Hilfe«, antwortete Franke. Sein Gesicht blieb dabei vollkommen ausdruckslos, aber Warstein spürte, welch ungeheure Überwindung es ihn kostete, diese beiden Worte auszusprechen.
»Hilfe?« erwiderte er verblüfft.
»Bitte, Warstein!« Plötzlich, von einer Sekunde auf die andere, war von Frankes Beherrschung nichts mehr übrig. Die mühsam aufrechterhaltene Maske der Ruhe und gespielten Gelassenheit fiel von ihm ab, und dahinter kam der wirkliche Franke zum Vorschein: ein Mann, der völlig verzweifelt und sichtbar am Ende seiner Kräfte war. »Sie können mir sagen, was Sie wollen. Sie können mit mir machen, was Sie wollen - wenn Sie wirklich glauben, es tun zu müssen, dann bringen Sie mich um, meinetwegen, aber nicht jetzt. Helfen Sie mir, das hier zu beenden!«
»Aber das kann ich nicht«, antwortete Warstein wahrheitsgemäß. Er war irritiert, denn er spürte, daß das, was Franke sagte, in diesem Moment vollkommen aufrichtig gemeint war. Plötzlich begriff er, daß Franke sich von ihm eine Hilfe erwartet hatte, die er ihm nicht geben konnte. Aber ihm wurde auch erst in diesem Moment klar, daß es umgekehrt genauso war. Trotz allem hatte er geglaubt, daß Franke ihm helfen konnte. Er hatte diesem Gedanken niemals gestattet, sich so klar zu artikulieren, doch er war zutiefst davon überzeugt gewesen, daß es ausreichte, Franke dazu zu zwingen, seinen Fehler von damals zuzugeben. Aber das war nicht so. Sie hatten gegenseitig auf eine Hilfe gehofft, die keiner dem anderen zu geben vermochte.
»Ich weiß nicht, was hier geschieht, Franke«, sagte er. »Und ich weiß noch viel weniger, was ich dagegen tun kann.«
Franke starrte ihn an. Fünf Sekunden, zehn, zwanzig, in denen die verzweifelte Hoffnung in seinen Augen erlosch und einem Ausdruck von Panik Platz machte, die schließlich zu einem resignierenden Entsetzen wurde. Er wußte, daß Franke die Wahrheit sagte. Er las es so deutlich in seinen Augen, wie dieser umgekehrt spürte, daß auch Warstein ihn nicht belog.
»Dann ist alles verloren«, sagte er leise.
»Was ist verloren?« mischte sich Lohmann ein.
Franke sah nicht einmal zu ihm auf, sondern blickte weiter in Warsteins Gesicht, aber dann beantwortete er die Frage doch: »Wir alle. Sie, ich, die Menschen dort draußen...«
»Wie melodramatisch«, höhnte Lohmann. »Aber vielleicht hätten Sie sich das ein bißchen eher überlegen sollen. Zum Beispiel, bevor Sie angefangen haben, mit Dingen herumzuspielen, von denen Sie nichts verstehen!«
»Bitte, Lohmann, seien Sie still«, sagte Warstein. An Franke gewandt, fuhr er fort: »Was meinen Sie? Wir haben gesehen, was auf der anderen Seite des Berges passiert ist. Ist es in Ascona auch so schlimm?«
»Schlimm?« Franke sah ihn durchdringend an. Er wirkte überrascht. »Sie wissen noch gar nicht, was passiert ist, nicht wahr?«
»Was ist passiert?« fragte Warstein betont.
»Die ganze Welt dort draußen geht zum Teufel, das ist passiert«, antwortete Frankes Begleiter an dessen Stelle. »Jedenfalls behauptet er das.«
Warstein sah den Grauhaarigen zum ersten Mal aufmerksamer an und versuchte zugleich, sich an seinen Namen zu erinnern. Rogler. Franke hatte ihn Rogler genannt. Es war das erste Mal, daß er sprach, seit Franke und er aufgetaucht waren, und seine Stimme verriet weit mehr als das, was er sagte. Es war die Stimme eines Mannes, der wußte, daß das, wovon er sprach, die Wahrheit war, sich aber mit aller Macht selbst davon zu überzeugen versuchte, daß er sich irrte. Warstein betrachtete ihn noch einen Augenblick lang verwirrt, dann wandte er sich wieder an Franke.
»Erzählen Sie«, bat er.
Franke seufzte. »Gut«, sagte er. »Aber nicht hier. Kommen Sie.«
Er drehte sich um und machte zwei Schritte in die Richtung, aus der Rogler und er gekommen waren, ehe er merkte, daß Warstein und die beiden anderen ihm nicht folgten.
»Keine Angst«, sagte er. »Es ist keine Falle. Wenn ich das vorgehabt hätte, hätte ich es geschickter anstellen können.« Er machte eine einladende Geste in Angelikas Richtung. »Vielleicht kann ich wenigstens noch etwas für Sie tun, meine Liebe. Sie sind doch hier, weil Sie Ihren Mann finden wollen, oder? Kommen Sie - ich bringe Sie zu ihm.«
Ascona fiel der Gewalt anheim. Jetzt glich es einem Hexenkessel. Die Panik, von der Rogler noch am Abend geglaubt hatte, daß sie ihnen erspart bleiben würde, kam nun doch, und dafür um so schlimmer.
Das Flackern der Lichter am Himmel, der Anblick der Soldaten, die Hubschrauber und das, was sich am See abspielte, begann immer mehr an den Nerven der Menschen zu zerren, so daß es nur eine Frage der Zeit gewesen war, bis sich die aufgestaute Furcht auf die eine oder andere Weise entladen hatte. In einem Teil der Stadt war der Strom ausgefallen, und in ganz Ascona die Telefone, Fernsehgeräte, Radio- und Funkempfänger. Die Stadt war blind, taub und zum Teil gelähmt, und die Menschen reagierten darauf, wie sie zu allen Zeiten auf Ausnahmesituationen reagiert hatten: mit Furcht, Panik und Flucht. Wer ein Automobil oder ein anderes Fahrzeug besaß, versuchte die Stadt zu verlassen. Niemandem gelang es. Der Verkehr, der schon im Laufe des Abends zusammengebrochen war, staute sich binnen Minuten zu einer unüberwindlichen Barriere aus Blech und Kunststoff, die nicht nur die drei aus der Stadt herausführenden, sondern auch alle anderen Straßen praktisch unpassierbar machte.
Es kam zu Unfällen, sinnlosen Kämpfen um einen Platz in einem Wagen, der sowieso nirgendwo mehr hinfahren würde, zahlreichen Ausbrüchen blinder, sinnloser Gewalt, die Verletzte und Tote forderten. Eine Welle aus Furcht und Gewalt raste durch die Stadt wie ein unsichtbares Feuer, das aus sich selbst heraus immer mehr Nahrung gewann und größer und heißer wurde, mit jeder Sekunde, die es brannte. Es war nicht nur die Angst vor dem, was geschehen war, die die Menschen um den Verstand brachte; nicht nur der Schock, von einer Sekunde auf die andere blind und taub, isoliert und völlig abgeschnitten von der übrigen Welt und ihrem gewohnten Leben zu sein.
Etwas griff nach den Menschen und stülpte sie innerlich um. Die dünne Tünche aus Zivilisation und antrainierten Verhaltensmustern zerbrach, und darunter kam das Raubtier zum Vorschein, das nur einem einzigen Instinkt folgte: überleben, ganz gleich wie. Furcht gebar Furcht, und in der neuen Situation, in der ein Leben lang unterdrückte Ängste Gestalt annahmen und in der ein Gedanke töten konnte, begannen sich ihre Bewohner gegenseitig umzubringen. An zahlreichen Stellen brach Feuer aus, und an der Seilbahnstation am nördlichen Stadtrand kam es zu einer regelrechten Schlacht um die Plätze in den Gondeln, die noch fuhren, weil niemand mehr da war, der sie hätte abschalten können. Die erste Gondel verließ die Station mit der dreifachen Anzahl der vorgesehenen Passagiere, die zweite war so überladen, daß sie nach wenigen Metern zerbrach und dabei das Drahtseil zerriß, so daß auch ihre Vorgängerin mit in die Tiefe stürzte. Die Kämpfe, die an der Ablegestelle der Fähre tobten, forderten noch mehr Opfer. Es war längst niemand mehr da, der das Boot hätte fahren können - der Kapitän und die Besatzung waren die ersten gewesen, die von der Menge, der sie sich in den Weg zu stellen versucht hatten, einfach niedergetrampelt wurden. Die Fähre war für zweihundert Personen gebaut. Als sich die gut fünffache Anzahl von Menschen auf ihrem Deck drängelte, brach sie in Stücke und sank. Und das war erst der Anfang.
Wie sich zeigte, war Franke doch nicht ganz so allein gewesen, wie es im ersten Moment den Anschein gehabt hatte. Auf der anderen Seite des Zuges erwartete sie ein ganzes Dutzend Soldaten, die ganz ähnlich gekleidet waren wie die Männer, die sie draußen gesehen hatten: in olivgrüne Tarnanzüge, deren Abzeichen Aufschluß über den militärischen Rang ihrer Träger, aber nicht über ihre Nationalität gaben. Die Männer hatten ihre Gewehre über die Schultern gehängt und folgten ihnen in gut fünfzehn Metern Abstand; weit genug, sie nicht zu einer unmittelbaren Bedrohung werden zu lassen, aber auch nahe genug, um jederzeit eingreifen zu können.
Warstein bedachte die Bewaffneten nur mit einem flüchtigen Blick, aber Lohmann konnte sich eine spitze Bemerkung natürlich nicht verkneifen. Franke nahm sie kommentarlos zur Kenntnis, doch sein Gesichtsausdruck sprach Bände. Ganz offensichtlich fragte er sich dasselbe wie Warstein: was um alles in der Welt nämlich dieser Narr bei ihnen zu suchen hatte.
Sie hatten sich etwa fünfhundert Meter von den beiden Zügen entfernt, als Franke wieder stehenblieb und sich dann nach rechts wandte. Er hatte die Zeit genutzt, Warstein mit knappen Worten zu berichten, was sich in den letzten Tagen in Ascona und oben in den Bergen ereignet hatte, und Warstein hatte so gebannt zugehört, daß er die Tür, die in die graue Kunststoffverkleidung der Tunnelwand eingelassen war, bisher nicht einmal bemerkt hatte. Und hätte er es, hätte er sie vermutlich für den Zugang zu einem der Versorgungsräume gehalten, die es in regelmäßigen Abständen im gesamten Tunnel gab.
Aber das war es nicht.
Einem etwas weniger aufmerksamen Beobachter wäre der Unterschied wahrscheinlich gar nicht aufgefallen, und einem, der in einem mit mehr als dreihundert Stundenkilometern vorüberrasenden Zug saß, sogar ganz bestimmt nicht - aber es war keine normale Tür. Anstelle eines Griffes hatte sie eine Nummerntastatur, und aus der Wand rechts neben der Tür starrte das ausdruckslose Auge einer Weitwinkel-Videokamera. Franke bedeutete ihm mit einer Geste zurückzubleiben, trat an die Tür heran und tippte eine Ziffernfolge in die Tastatur, wobei er sich so postierte, daß weder Warstein noch einer seiner Begleiter seine Hände sehen konnten. Ein heller Summton erklang. Unter der Kamera leuchtete ein grünes Licht auf, aber die Tür öffnete sich erst, nachdem Franke laut und deutlich seinen Namen und eine weitere, aus sieben Ziffern bestehende Nummer in ein Mikrofon darunter gesprochen hatte, das an einen Computer angeschlossen war.
»Das ist ja wie in einem James-Bond-Film«, witzelte Lohmann. »Was kommt als nächstes? Müssen wir das rechte Auge gegen eine Kamera drücken, damit unsere Netzhaut fotografiert wird?«
»Nein«, sagte Franke ruhig. »Das wäre nur nötig, wenn Sie dauernden Zugang zu der Anlage hätten. Als Besucher reicht ein normales Foto. Außerdem verwenden wir die Technik der Retina-Abdrucke schon lange nicht mehr. Zu anfällig, wissen Sie? Wir favorisieren Kirlian-Fotografie. Keine zwei Menschen auf der Welt haben die gleiche Aura, und sie verändert sich nie.«
Er blieb bei diesen Worten vollkommen ernst, und so sehr sich Warstein auch anstrengte, es gelang ihm nicht vollkommen, sich selbst davon zu überzeugen, daß Franke den Journalisten nur auf den Arm nahm. Und auch Lohmanns Scherz war plötzlich gar nicht mehr so komisch - spätestens, als die Tür mit einem leisen Zischen aufglitt. Denn als er sah, daß sie gute zwanzig Zentimeter dick war und allem Anschein nach aus massivem Panzerstahl bestand, hatte er plötzlich das Gefühl, tatsächlich in die Kulissen eines Science-fiction-Filmes geraten zu sein.
Franke machte eine einladende Geste, aber Warstein zögerte instinktiv, ihr zu gehorchen. Hinter der Panzertür befand sich ein kleiner, vollkommen kahler Raum von kaum zwei mal zwei Metern. »Was bedeutet das, Franke?« fragte er. »Was ist das?«
»Gleich«, antwortete Franke ausweichend. »Ich erkläre Ihnen alles. Aber nicht hier. Bitte.«
Warstein, Angelika, Lohmann, Rogler und schließlich Franke selbst betraten die Kammer, während die Soldaten draußen zurückblieben. Die Tür begann sich von selbst zu schließen, kaum daß Franke als letzter hindurchgetreten war. Warstein erwartete, daß sich nun ein zweiter Ausgang auf der anderen Seite öffnen würde, denn zweifellos befanden sie sich in einer Art Schleuse. Doch statt dessen erwachte ein Teil der scheinbar fugenlosen Seitenwand zu flimmerndem Leben und wurde zu einem Bildschirm, auf dem das Gesicht eines uniformierten jungen Mannes zu sehen war.
»Professor Franke mit vier Besuchern«, erklärte Franke. »Zugangscode Alpha. Bitte, lassen Sie uns herein.«
»Einen Moment, Herr Professor«, antwortete der Uniformierte. Sein Blick fixierte eine Sekunde lang einen Punkt, der außerhalb des Aufnahmebereiches der Kamera lag. Ein leises Klicken erscholl, und in der Wand unter dem Bildschirm öffnete sich eine schmale Klappe.
Franke griff hinein und zog fünf in durchsichtiges Plastik eingeschweißte Kärtchen heraus. Die oberste, rote, befestigte er mit einer routinierten Bewegung am Revers seiner Jacke, die vier anderen, grünen, verteilte er scheinbar wahllos an sie.
»Bitte geben Sie gut darauf acht«, sagte er. »Sie müssen Sie jederzeit bei sich tragen, solange Sie sich in der Anlage aufhalten. Wenn Sie sie auch nur eine Sekunde aus der Hand legen, löst der Computer automatisch Alarm aus.« Er zuckte entschuldigend mit den Achseln. »Wir haben ziemlich strenge Sicherheitsvorschriften hier.«
»Aber das ist doch lächerlich!« sagte Lohmann. Er drehte das Kärtchen hilflos in der Hand. »Was soll denn das alles?«
»Wie gesagt, Sie werden mich gleich verstehen«, antwortete Franke. »Bitte.« Lohmann heftete den Ausweis widerwillig an seine Jacke, und im selben Moment begann sich die innere Tür der Kammer zu öffnen. Sie war nicht annähernd so dick wie die äußere, aber immer noch hinlänglich massiv, um auch einem ernstgemeinten Versuch standzuhalten, sie aufzubrechen.
Dahinter erwartete sie ein kurzer, von kaltem Neonlicht erhellter Gang, von dem ein halbes Dutzend Türen abzweigten. Wände und Decke bestanden aus nacktem, nur grob geglättetem Fels, über den sich ein wahres Gespinst von Drähten, Kabeln, verschiedenfarbigen Leitungen und Versorgungsschächten zog. Sie hörten Stimmen, das geschäftige Summen und Piepsen elektronischer Geräte und darunter ein dunkles, rhythmisches Dröhnen wie das Schlagen eines mechanischen Herzens. Sämtliche Türen waren geschlossen, so daß sie nicht in die dahinterliegenden Räume hineinsehen konnten, aber Warstein hatte plötzlich eine ziemlich genaue Vorstellung von dem, was sie dahinter erblicken würden.
Lohmann offensichtlich nicht, denn er blieb mit einer demonstrativ heftigen Bewegung stehen und sagte: »Also gut. Was ist das hier? Das geheime Labor von Doktor Fu-Man-Schu? Ich gehe keinen Schritt weiter, ehe ich nicht ein paar Antworten bekomme.«
Franke blieb erstaunlich ruhig. »Aus keinem anderen Grund habe ich Sie hier hereingebracht, Herr Lohmann«, sagte er. »Bitte gedulden Sie sich nur noch ein paar Minuten.« Er wandte sich an Angelika. »Ich habe Ihnen etwas versprochen. Aber ich fürchte, ich habe keine gute Nachricht für Sie.«
»Frank?« fragte Angelika.
»Ihr Mann, ja.« Franke nickte. »Sie hatten recht. Er ist hier. Ebenso wie die anderen.«
»Ist er tot?« fragte Angelika. Ihre Stimme klang gefaßt. Wahrscheinlich hatte sie sich auf dem Weg hierher gegen jede nur denkbare schlechte Nachricht gewappnet.
»Tot?« Franke wirkte im ersten Moment beinahe überrascht, fast so, als hätte er diese Möglichkeit noch gar nicht in Betracht gezogen. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein, tot ist er nicht. Aber ... kommen Sie. Es spielt jetzt auch keine Rolle mehr, wenn Sie alles sehen.«
Er ging weiter, steuerte eine Tür am Ende des Ganges an und gab erneut eine Nummernfolge in die Tastatur ein, die sie anstelle einer Klinke hatte; wie übrigens jede Tür hier drinnen. Mit einem leisen Klicken öffnete sie sich, und Franke trat rasch hindurch. Angelika und die anderen folgten ihm.
Vor ihnen lag ein überraschend großer, unregelmäßig geformter Raum, den große Lampen in unangenehme Helligkeit tauchten. Die halbrunde Decke spannte sich sicherlich zehn oder fünfzehn Meter über ihren Köpfen, und Warstein schätzte, daß die gegenüberliegende Wand mindestens dreimal so weit entfernt war. Das Dröhnen schwerer Maschinen war hier viel lauter, und es war so kalt, daß er seinen eigenen Atem sehen konnte.
Berger und die anderen hockten in einem Kreis vor ihnen auf dem Boden. Die Männer hatten sich bei den Händen ergriffen und schienen sich in einer Art Trance zu befinden, denn sie hatten die Augen geschlossen, und auf allen Gesichtern lag der gleiche, starre Ausdruck höchster Konzentration. Trotz der Kälte saßen einige mit nackten Oberkörpern da. Warstein glaubte ein ganz leises an- und abschwellendes Klingen zu hören, einen Laut, der ihn an die Melodie erinnerte, die Angelika ein paarmal gesummt hatte. Aber er war nicht sicher, ob es wirklich da war oder ob ihm seine Nerven nur einen Streich spielten.
Angelika machte einen raschen Schritt an Franke vorbei und blieb dann so plötzlich stehen, als wäre sie gegen ein unsichtbares Hindernis geprallt. Ihr Blick war starr auf eine der reglos dasitzenden Gestalten gerichtet, von der Warstein vermutete, daß es ihr Mann war. Genau konnte er das nicht sagen. Warstein hatte es Angelika gegenüber nie zugegeben, aber er konnte sich nicht einmal an Bergers Gesicht erinnern.
»Was ... ist mit ihnen passiert?« flüsterte Angelika.
Warstein hätte ihr die Frage beantworten können. Er hatte all diese Männer schon einmal so dasitzen sehen, nicht so still, nicht in dieser unheimlichen Starre, aber auf die gleiche Art und Weise der Wirklichkeit entrückt. Aber er schwieg und überließ es Franke zu antworten.
»Nichts, Frau Berger«, sagte er. »Glauben Sie mir, wir haben ihnen nichts getan - ganz im Gegenteil. Sie sind in den letzten Tagen nach und nach hier eingetroffen, und wir haben weder versucht sie aufzuhalten, noch sie zu irgend etwas zu zwingen. Ich weiß nicht, was sie tun. Sie tun etwas, aber niemand kann sagen, was.«
»Sind das ... alle?« fragte Warstein. »Der ganze Bautrupp von damals?«
»Ja«, sagte Franke und schüttelte den Kopf. »Das heißt, alle die bisher angekommen sind. Soviel ich weiß, ist einer bei einem Unfall unterwegs ums Leben gekommen oder zumindest schwer verletzt worden. Auf zwei warten wir noch. Ich glaube nicht, daß sie es noch schaffen, so, wie es im Moment draußen aussieht. Aber wenn, würden sie zweifellos sofort hierherkommen und dasselbe tun - was immer es ist.«
Er sah Warstein fast flehend an, aber auch dies war eine der Antworten, die er ihm nicht geben konnte. Er wußte nicht, was diese Männer hier taten. Er hatte es auch damals nicht gewußt.
»Das ist unheimlich«, sagte Lohmann. »Als ... als ob sie eine Beschwörung vornehmen.«
Angelika fuhr bei diesen Worten sichtbar zusammen. Ihr Gesicht blieb vollkommen ausdruckslos, aber ihre Hände schlossen sich für eine Sekunde zu Fäusten. Warstein ergriff Franke am Arm und zog ihn ein paar Meter zur Seite, ehe er weitersprach. Vielleicht waren diese wenigen Augenblicke, die sie noch allein mit sich und ihrem Mann sein konnte, ein erbärmlicher Lohn für die Mühe, die sie auf sich genommen hatte, um hierher zu kommen, aber sie waren alles, was sie für sie tun konnten.
»Ich weiß nicht, ob es Ihnen etwas sagt«, begann Warstein, »aber ich habe das schon einmal gesehen. Damals im Tunnel. Als die Männer verschwanden. Als ich sie gefunden habe, saßen sie genauso da. Aber ich kann Ihnen nicht sagen, warum. Ich weiß auch nicht, was sie jetzt tun.«
»Sie scheinen sich in einer Art Trance zu befinden«, antwortete Franke. »Wir haben versucht sie aufzuwecken, aber es geht nicht. Wenn sie einen von ihnen gewaltsam aus dem Kreis lösen, beginnt er zu toben.« Er seufzte. »Ich hatte gehofft, daß Sie...« Wieder unterbrach er sich, schwieg einige Sekunden und wechselte dann mit sichtbarer Anstrengung das Thema.
»Kommen Sie, Warstein, ich zeige Ihnen den Rest. Vielleicht finden wir ja gemeinsam eine Lösung.« Er bedachte Angelika mit einem abschätzenden, sehr langen Blick, aber er schien wohl zu dem Schluß zu kommen, daß er sie gefahrlos mit den Männern allein lassen konnte, denn kurz darauf begann er, den Ring der auf dem Boden sitzenden Männer zu umkreisen, und gestikulierte Warstein zu, ihm zu folgen. Lohmann schloß sich ihnen unaufgefordert an, während Rogler an seinem Platz neben der Tür stehenblieb. Vielleicht nicht einmal, weil Franke es ihm vorher befohlen hatte. Seiner angespannten Haltung nach zu schließen machte ihm das, was er hier sah, schlicht und einfach angst.
»Das ist phantastisch«, sagte Warstein, während sie auf einen mit mannsgroßen grauen Kunststofftafeln abgeteilten Bereich der Höhle zugingen. »Wie um alles in der Welt haben Sie es geschafft, diese Anlage zu bauen, ohne daß es jemand gemerkt hat?«
»Und warum?« fügte Lohmann hinzu.
»Das war gar nicht so schwer«, antwortete er. »Das meiste sind natürliche Hohlräume, die wir einfach miteinander verbunden haben. So massiv dieser Berg von außen auch wirken mag - innen drin sieht er aus wie ein Schweizer Käse.« Er lächelte flüchtig über das Wortspiel. »Es gibt Hunderte solcher Höhlen. Daß wir während der Arbeiten am Tunnel nicht darauf gestoßen sind, ist ein kleines Wunder. Und der Rest...« Er zuckte mit den Schultern. »Sie waren doch dabei. Sie wissen, wie groß die Baustelle war. Es war nicht besonders schwer, ein paar hundert Kubikmeter Fels mehr aus dem Berg zu holen, ohne daß es auffällt.«
»Deshalb die Verzögerung am Schluß?« fragte Lohmann.
Franke nickte widerwillig, aber Warstein machte ein überraschtes Gesicht, so daß der Reporter in erklärendem Tonfall hinzufügte: »Der Tunnel wurde fast drei Monate nach dem geplanten Termin eröffnet. Sagen Sie bloß, das wußten Sie nicht.«
Nein, das hatte er tatsächlich nicht gewußt. Als der Tunnel offiziell fertiggestellt worden war, hatte sein Absturz längst eine Geschwindigkeit erreicht, die ihn sich nicht mehr für irgend etwas außerhalb seiner eigenen, zusammenbrechenden kleinen Welt interessieren ließ. Für den Gridone-Tunnel und alles, was damit zusammenhing, schon gar nicht. Davon hatte er nichts mehr wissen wollen.
»Und wozu dient die ganze Anlage nun wirklich?« wollte Lohmann wissen. Sie hatten die Trennwand erreicht, und anstelle einer Antwort deutete Franke auf eine schmale, von einem Aluminiumrahmen eingefaßte Tür. Seine Finger bewegten sich rasch und sicher über die Zifferntasten. Ein leises Summen erklang, und die Tür sprang einen Spaltbreit auf. Franke trat nicht sofort ein, sondern sah Warstein noch eine Sekunde lang durchdringend und mit undeutbarem Ausdruck an, ehe er die Tür aufschob und ihn mit einer Handbewegung aufforderte hindurchzutreten.
Die Anordnung sah vollkommen anders aus als seine eigene, aber er erkannte sie sofort, im gleichen Sekundenbruchteil, in dem er den abgesperrten Bereich hinter den Kunststoffwänden betrat. Sie war ungleich größer, eleganter und sicherlich technisch perfekter; wahrscheinlich um ein Vielfaches leistungsfähiger, trotzdem war es nichts anderes als...
»Mein Laser«, flüsterte er. Es war wie ein Schlag ins Gesicht. Er konnte in diesem Moment nicht einmal selbst sagen, was er empfand. Zorn? Enttäuschung? Wut? Sicher von allem etwas, aber da war noch mehr in ihm, ein Gefühl, das über alle diese Empfindungen weit hinausging. Es war nicht der Anblick der Apparatur allein, der ihn so heftig traf. Es war das Wissen darum, was er bedeutete.
»Ja«, sagte Franke. »Oder zumindest ein Gerät, das auf dem gleichen Prinzip beruht. Wir haben ein paar Verbesserungen vorgenommen, aber die Idee, die dahintersteckt, ist die gleiche.«
Warstein konnte nicht antworten. Seine Hände begannen zu zittern, und seine Kehle war plötzlich wie zugeschnürt. Für einen Moment schien sich die gesamte Höhle um ihn zu drehen. Er empfand nichts als Zorn, einen unbeschreiblichen, kalten Zorn, der kein Ventil fand.
»Einen Moment«, sagte Lohmann. »Soll das heißen, das ist Ihr Gerät?« Er deutete auf die Anordnung von Spulen, Linsen, Kristallen und Verstärkereinheiten, die einen Großteil des vorhandenen Platzes vor ihnen einnahm. Weder Warstein noch Franke reagierten in irgendeiner Weise auf die Frage, und so fuhr er nach ein paar Sekunden fort: »Dasselbe Gerät, das Ihnen damals vor Gericht das Genick gebrochen hat, als Franke behauptete, es hätte nicht funktioniert? Der Apparat, mit dem er Sie vor der ganzen Welt lächerlich gemacht hat?«
»Sie ... Sie haben es die ganze Zeit über gewußt«, murmelte Warstein. »Vom ersten Tag an, nicht wahr? Sie ... Sie verdammter -«
»Vermutet, nicht gewußt«, unterbrach ihn Franke. »Jedenfalls am Anfang. Aber es stimmt, ja. Ich wußte, daß in diesem Berg mehr sein mußte als Felsen und Erde.« Seine Stimme wurde leiser. »Den endgültigen Beweis habe ich erst gefunden, nachdem sie fort waren.«
»Dann haben Sie die ganze Zeit über gelogen«, murmelte Warstein. »Sie wußten, daß ich recht habe, und Saruter auch. Verdammt noch mal, er hat es Ihnen sogar ins Gesicht gesagt, in meinem Beisein, und ich Idiot habe nicht begriffen, was er meint. Warum, Franke? Worauf waren Sie aus? Wollten Sie den ganzen Ruhm für sich haben, oder haben Sie einfach den Gedanken nicht ertragen, daß es hier etwas gibt, was Sie nicht erklären können?«
»Vielleicht«, antwortete Franke, ohne zu erklären, welcher der beiden Fragen diese Antwort galt. »Ich glaube nicht, daß das jetzt noch eine Rolle spielt, oder?« Ein flüchtiger Ausdruck von Trotz erschien auf seinem Gesicht und verschwand wieder. »Ihre Erfindung funktioniert, Warstein. Besser als Sie selbst je gewußt haben. Die Ergebnisse waren nicht falsch. Falsch waren nur die Fragen, die wir zu den Antworten gestellt haben, die uns das Gerät lieferte.«
»Also haben Sie etwas in diesem Berg gefunden«, sagte Lohmann. »Und Sie haben Warstein ins offene Messer laufen lassen, damit Sie in aller Ruhe weitermachen und den ganzen Ruhm für sich einheimsen konnten.«
Franke bedachte ihn mit einem verächtlichen Blick. »Sie wissen ja überhaupt nicht, worüber Sie da reden, Sie Dummkopf«, sagte er. »Ja, ich habe etwas entdeckt. Dieses Gerät hat es entdeckt, um genau zu sein. Und? Vielleicht war es ein Fehler, aber ich dachte, es wäre die Chance meines Lebens. Das, wovon jeder Wissenschaftler träumt. Etwas Neues zu entdecken. Etwas ganz Großes. Etwas zu sehen, was vor mir noch niemand gesehen hat. Falsch oder nicht, es tut mir nicht leid. Ich würde es wieder tun, wenn ich noch einmal vor der Entscheidung stünde.«
Lohmann atmete hörbar ein. »Das ist...«
»...genau dasselbe, weswegen Sie hier sind, Lohmann«, fiel ihm Warstein ins Wort. Er fragte sich, warum er eigentlich Franke verteidigte, ausgerechnet Franke, der mit dem, was er getan hatte, nicht nur sein, sondern vielleicht das Leben unzähliger Menschen in Gefahr gebracht hatte. Aber zugleich kannte er auch die Antwort auf diese Frage: weil er ihn verstehen konnte. Vielleicht hätte er an seiner Stelle nicht anders gehandelt. Die Verlockung war einfach zu groß gewesen.
»Aber wie haben Sie es entdeckt?« fuhr er fort, wieder an Franke gewandt. »Ich ... ich habe die Meßergebnisse hundertmal überprüft, ohne -«
»Ich habe sie gefälscht«, sagte Franke ruhig.
»Sie?«
»Nicht alle Hacker sind vierzehn Jahre alt und haben Akne und dicke Nickelbrillen«, antwortete Franke beleidigt. »Außerdem habe ich die Anlage eingerichtet, vergessen Sie das nicht. Der Computer hat Ihnen nur das erzählt, was ich ihm erlaubt habe.«
»Und was hat er wirklich gefunden?« fragte Warstein.
Franke starrte ihn an, schwieg. Nach einer kleinen Ewigkeit, wie es schien, senkte er den Blick und antwortete mit leiser, fast tonloser Stimme. »Ich weiß es nicht. Noch vor zwei Tagen hätte ich geglaubt, die Antwort zu kennen, aber jetzt... Ich weiß es einfach nicht, Warstein. Es sah nach einem Schwarzen Loch aus, einem winzigen Black Hole, das irgendwo in diesem Berg gefangen sein mußte. Sie kennen die Theorie, nach der es sie im Grunde überall geben kann.«
»Und Sie haben geglaubt, hier ein Black Hole gefunden zu haben«, vermutete Warstein. Er konnte Franke nicht einmal wirklich böse sein.
»Ich war sicher«, korrigierte ihn Franke. »Hundertprozentig sicher. Alles sah danach aus - es sieht noch danach aus. Jetzt mehr denn je.«
»Einen Moment«, mischte sich Lohmann ein. »Ich verstehe Sie richtig, ja? Sie wollen uns weismachen, das alles hier, diese ganze Anlage, die Millionen gekostet haben muß, diese ganze Geheimniskrämerei - von dem, was Sie Warstein angetan haben, einmal ganz zu schweigen -, Sie haben das alles nur veranstaltet, weil Sie der Meinung waren, irgendeine verrückte wissenschaftliche Theorie beweisen zu können?«
Franke starrte ihn an. »Wo haben Sie diesen Idioten eigentlich aufgetan, Warstein?« fragte er.
»He!« protestierte Lohmann. »Seien Sie vorsich...« Warstein unterbrach ihn mit einer besänftigenden Geste, die gleichermaßen ihm wie auch Franke galt.
»Wir reden hier nicht über eine wissenschaftliche Theorie, Lohmann«, sagte er.
»Sondern?«
»Über die Lösung aller Probleme dieser Welt, Sie Trottel«, sagte Franke abfällig. »Ich glaube nicht, daß Sie es wirklich verstehen, aber versuchen Sie es wenigstens.«
»Was?« fragte Lohmann. Seine Augen funkelten zornig.
»Franke hat recht«, sagte Warstein rasch. »Es ist im Grunde ganz einfach - zumindest, was die Idee angeht, verstehen Sie? Bisher weiß niemand wirklich, was ein Schwarzes Loch ist und was es bewirkt. Aber wenn es existiert, dann ist es die wahrscheinlich stärkste Energiequelle dieses Universums. Wenn es irgend jemandem gelänge, die Kräfte, die selbst in einem winzigen Black Hole gefangen sind, nutzbar zu machen, würde das das Ende sämtlicher Energieprobleme dieses Planeten bedeuten - und zwar für alle Zeiten.«
Lohmann schwieg einen Moment. Schließlich nickte er auf eine Art und Weise, die Warstein klarmachte, daß er zumindest anfing zu begreifen. »Sie meinen -«
»Ich meine«, fiel ihm Franke ins Wort, »das Ende aller Armut auf dieser Welt. Kein Mensch müßte mehr hungern. Wenn es in diesem Berg ein Black Hole gibt und wir es anzapfen könnten, dann hätten wir eine praktisch unversiegbare Energiequelle gefunden.«
»Und Sie haben sie entdeckt«, fügte Lohmann spöttisch hinzu. »Franke Messias, wie?« Er lachte. »Aber es hat nicht geklappt, oder?«
Zu Warsteins Überraschung blieb Franke ruhig. »Ich war völlig sicher«, sagte er.
»Und jetzt sind Sie es nicht mehr?« fragte Warstein.
»Ich habe gewisse Schwierigkeiten, Raumkrümmung und Schwarze Magie in Zusammenhang zu bringen«, gestand Franke. »Sie nicht?«
»Vielleicht ist der Unterschied nicht so groß, wie Sie glauben«, antwortete Warstein. »Es gibt manchmal mehr als einen Weg, etwas zu tun.«
»Dann nennen Sie ihn mir!« verlangte Franke. »Es spielt keine Rolle, ob ich Ihnen glaube oder nicht. Meine Lösung hat versagt - vielleicht hilft Ihre.«
»Aber ich habe keine«, sagte Warstein betont.
»Sie sind hier«, beharrte Franke. »Erzählen Sie mir nicht, daß Sie grundlos gekommen sind. Sie müssen etwas wissen.«
»Glauben Sie, ich würde es Ihnen verschweigen?«
»Nein«, antwortete Franke. »Natürlich nicht. Aber da muß noch etwas sein. Etwas, das wir alle übersehen haben. Vielleicht etwas, was Ihnen der alte Mann erzählt hat. Hat er Ihnen nichts gegeben? Nichts gesagt oder erklärt?«
»Nichts, was Sie nicht wüßten«, antwortete Warstein traurig. Ein Gefühl tiefer Resignation begann sich in ihm auszubreiten. Während der ganzen Zeit hatte er niemals wirklich über diese Frage nachgedacht. Er hatte sich einfach darauf verlassen, daß sie schon wissen würden, was zu tun war, sobald sie das Ziel ihrer Reise endlich erreicht hatten. Aber die göttliche Erleuchtung, auf die er wartete, kam nicht, und sie würde auch nicht kommen.
»Also können Sie überhaupt nichts mehr tun?« fragte Lohmann. »Sie wollen mir erzählen, daß Sie all das hier nur aufgebaut und hergebracht haben, um jetzt tatenlos zuzusehen, wie die Welt vor die Hunde geht? Ist es das, was Sie uns erzählen wollen?«
»Nein«, antwortete Franke. Er klang sehr müde. »Eine Möglichkeit gibt es vielleicht noch.«
»Und welche?« fragte Lohmann.
Diesmal dauerte es fast eine Minute, bis Franke antwortete; eine Zeitspanne, in der er einfach dastand und Warstein anstarrte. Aber zugleich schien sein Blick auch direkt durch ihn hindurchzugehen und sich auf einen Punkt irgendwo in der Unendlichkeit zu fixieren, und was Warstein in dieser Zeit in seinen Augen sah, das war schlimmer als die Furcht, die er bisher darin gelesen hatte.
»Kommen Sie, meine Herren«, sagte er.