7

Ascona erstickte im Straßenverkehr. Eine nicht enden wollende Schlange von Autos quälte sich in beiden Richtungen durch die Stadt, vom See herauf in einer langgezogenen Kurve durch den historischen Stadtkern bis hinauf in die Berge und umgekehrt, vom Paß kommend durch den gebeutelten Ort bis hinunter zur Uferstraße, wo sich die Kette aus Metall, Lack und Glas manchmal für Stunden staute, so daß der ohnehin nur schleppend vorwärtskommende Verkehr vollends zum Erliegen kam.

Rogler mußte wieder an das denken, was er am Morgen zu Franke gesagt hatte, und er wiederholte den Satz in Gedanken mit Nachdruck: sie begingen ein Verbrechen, wenn schon nicht an seinen Kollegen und der gesamten Weltöffentlichkeit, so doch an dieser Stadt. Die Automobil-Katastrophe dort unten war eine direkte Folge der Gespensterjagd, zu der Franke ihn gezwungen hatte. Der Gridone-Tunnel war nicht irgendeine Eisenbahnstrecke, die man nach Belieben sperren und durch irgendeine Umleitung ersetzen konnte.

Rogler wollte vom Fenster seines Hotelzimmers zurücktreten, als sein Blick an einer Anzahl buntgekleideter Gestalten hängenblieb, die vergeblich versuchten, die Straße zu überqueren. Zu Zeiten wie jetzt, wenn der Verkehr rollte, konnte das zu einem lebensgefährlichen Unterfangen werden; und übrigens auch zu einem sehr langwierigen. Das war nicht sein Problem - schließlich war er kein Verkehrspolizist, aber der Anblick der abenteuerlich anmutenden Gestalten brachte ihn auf einen anderen Gedanken, der ihm nicht gefiel. Die Stadt wimmelte in den letzten Tagen nur so von exotischen Fremden, und nicht alle waren so harmlos wie die drei buntgekleideten Inder oder Pakistani da unten. Schlimmer waren die, die nicht auffielen, die Haifische und Wölfe im Goldfischkleid. Ihr verstärktes Auftreten war wie die Blechlawine dort unten eine direkte Folge ihres Tuns; seines und Frankes. Verbrechen zogen Verbrecher an, das war ein ehernes Gesetz, das Geltung hatte, solange es so etwas wie Kriminalistik gab. Und das war auch hier nicht anders. Er hatte versucht, es Franke zu erklären, aber der Deutsche hatte es entweder wirklich nicht verstanden, oder er hatte es nicht verstehen wollen: wenn er seine angebliche Spezialeinheit noch eine Woche lang weiter Staub aufwirbeln ließ, dann konnte es sein, daß er sie plötzlich wirklich brauchte. Sie hatten bereits jetzt mindestens einen international gesuchten Terroristen gefaßt, der eigens aus dem Nahen Osten angereist war, um nachzusehen, ob es außer dem Tunnel noch etwas in der Gegend gab, das sich lohnte, in die Luft gejagt zu werden. Zwei weitere Verdächtige hatten sie festgenommen und an die entsprechenden Behörden überstellt. Franke hatte ihn zu diesem Erfolg beglückwünscht, aber Rogler bekam Alpträume bei dem Gedanken, wie viele schräge Vögel sich noch in der Stadt herumtrieben, die sie nicht geschnappt hatten.

Rogler trat endgültig vom Fenster zurück und wandte sich wieder dem kleinen, mit Papieren, Notizzetteln und Akten überladenen Tischchen zu, an dem er die vergangenen drei Stunden gearbeitet hatte, ehe er aufgestanden und ans Fenster getreten war, um für einen Moment auf andere Gedanken zu kommen - was natürlich nicht funktioniert hatte. Der Tisch reichte längst nicht mehr aus. Die Papierstapel hatten ihre Ausläufer auf den Teppich, die Kommode und zwei oder drei Stühle geschickt und begannen bereits die unbenutzte Hälfte des Doppelbettes zu erobern. Der Wust schien jedesmal größer geworden zu sein, wenn er das Zimmer verließ und wieder zurückkam. Das war das Problem mit vorgetäuschter Arbeit, dachte er. Es dauerte gar nicht lange, und sie begann sich zu verselbständigen, bis sie schließlich zu echter Arbeit wurde. Er hatte diesen Punkt schon vor ein paar Tagen erreicht und überschritten. Selbst wenn Franke in dieser Minute hereinkäme und die ganze Farce für beendet erklären würde, würde er wahrscheinlich Wochen brauchen, um hier wirklich Schluß machen zu können. Sie hatten eine Lawine losgetreten mit dem, was sie getan hatten. Und Rogler fragte sich mit jeder Stunde mehr, warum eigentlich.

Frankes Erklärung, daß dies alles nötig war, um ihm und seinen Leuten Gelegenheit zu verschaffen herauszufinden, was wirklich im Gridone-Tunnel passiert war, hatte im ersten Moment einleuchtend geklungen - aber sie rechtfertigte längst nicht mehr den Aufwand, den sie mittlerweile trieben. Allein in den letzten drei Tagen waren fünf komplette Hundertschaften der Polizei auf der anderen Seite des Berges eingetroffen, dazu ganze Eisenbahnladungen voller Material und Gerätschaften. Was um alles in der Welt trieb dieser Franke dort? Rogler nahm zum wiederholten Male an diesem Tag eine bestimmte Mappe zur Hand, die ganz oben auf dem Papierwust lag. Er hatte sie so oft durchgeblättert, daß er ihren Inhalt auswendig kannte. Und doch hatte er mit jedem Mal mehr das Gefühl, etwas übersehen zu haben.

Der Inhalt der unauffälligen grauen Mappe hätte Dr. Gerhard S. Franke wahrscheinlich nicht besonders erfreut, denn er stellte nichts anderes als ein komplettes Dossier über ihn dar, angefangen von seiner Geburt vor mittlerweile fast sechzig Jahren bis hin zu der Rolle, die er beim Bau des Tunnels gespielt hatte. Es verwirrte Rogler. Irgend etwas am Lebenslauf dieses Mannes stimmte nicht, aber er konnte einfach nicht sagen, was es war.

Rogler begann in der Mappe zu blättern und die einzelnen Stationen von Frankes Werdegang Revue passieren zu lassen. Alles schien ganz normal: Schule, Studium und eine Promotion, die ihm - offenbar kräftig unterstützt von einem ebenso einflußreichen wie ehrgeizigen Vater - den Start zu einer glänzenden wissenschaftlichen Karriere geebnet hatte. Er hatte den größten Teil seines Lebens als Dozent und Professor an verschiedenen namhaften Universitäten in Deutschland verbracht, bis er schließlich irgendwann auf den Gedanken gekommen war, aus seinem Talent Kapital zu schlagen und in die Privatwirtschaft zu gehen - und warum auch nicht? Forschung und wissenschaftlicher Ruhm hin oder her, auch Geld bot gewisse Annehmlichkeiten, und wenn die Summen, die in seinen Unterlagen standen, stimmten, dann hatte er als Leiter des Tunnelbauprojektes annähernd genausoviel verdient wie in den zwanzig Jahren Lehrtätigkeit zuvor.

So weit, so gut.

Aber vor zweieinhalb Jahren, unmittelbar nach der Fertigstellung des Tunnels, hatte er plötzlich alles hingeschmissen und war wieder an die gleiche Universität zurückgegangen, die er einige Jahre zuvor nach einem Riesenkrach verlassen hatte. Rogler war kein Wissenschaftler. Er maßte sich nicht an, auch nur annähernd zu verstehen, was ein Mann wie Franke überhaupt tat. Aber das war auch nicht der Punkt. Was ihn störte war, daß ein solches Benehmen einfach nicht zu einem Mann wie Franke paßte.

Wenn es ein Wort gab, das auf Dr. Franke zutraf, dann hieß es Egoismus. Franke war rücksichtslos, zynisch, und er ging buchstäblich über Leichen, um seine eigenen Interessen zu vertreten. Ein solcher Mann gab keinen gut dotierten Posten auf, um sich in einem Elfenbeinturm einzuschließen und sich wieder ganz der Forschung zu widmen. Es sei denn, dachte Rogler, es ging bei dieser Forschung um etwas, wovon er sich noch mehr Profit versprach.

Es war ihm nicht gelungen herauszufinden, was Franke in den letzten zweieinhalb Jahren getan hatte. Als Lehrer hatte er jedenfalls nicht mehr gearbeitet, aber das war auch alles, was er herausbekommen hatte.

Das Schrillen des Telefons riß ihn aus seinen Gedanken.

Rogler klappte die Mappe zu, warf sie achtlos auf den Tisch und grub den Apparat unter einem Papierstapel aus.

Er hob ab, als es zum dritten Mal klingelte, und meldete sich. »Rogler?«

»Herr Rogler, bitte entschuldigen Sie die Störung. Hier ist Gramer, der Manager. Ich ... hätte eine Bitte an Sie. Ich weiß, Sie wollten nicht gestört werden, aber wir haben hier ein kleines Problem, bei dem Sie uns helfen könnten. Ich wäre Ihnen wirklich sehr dankbar.«

»Nur zu«, sagte Rogler. Er war nicht verärgert über die Störung, sondern beinahe dankbar. Seine Gedanken begannen sich ohnehin im Kreise zu drehen. Vielleicht war eine Ablenkung jetzt genau das, was er brauchte. »Was kann ich für Sie tun?«

»Ich müßte Sie bitten, herunter zur Rezeption zu kommen«, sagte Gramer. Er klang nervös. »Es geht um ... einige Gäste, die Schwierigkeiten machen.«

»Warum rufen Sie nicht die Polizei?« fragte Rogler.

»Das haben wir natürlich versucht, aber Sie wissen ja, was in der Stadt los ist. Die Gendarmen sind völlig überlastet, und da wir Sie im Haus haben, dachte ich...«

Rogler seufzte. Vielleicht hätte er doch nicht so voreilig seine Hilfe anbieten sollen, dachte er. Er hatte nichts dagegen, für ein paar Minuten aus seinen fruchtlosen Grübeleien herausgerissen zu werden, aber er verspürte auch wenig Lust, sich mit ein paar randalierenden Jugendlichen auseinanderzusetzen oder irgendwelchen Touristen, denen der Service nicht paßte. Auf der anderen Seite konnte er Gramer auch verstehen. Er und seine angebliche Sondereinheit waren nicht ganz unschuldig daran, daß die örtliche Polizei hoffnungslos überlastet war und ihre eigentliche Arbeit nicht mehr schaffte.

»Also gut«, sagte er. »Ich komme herunter. Eine Minute.«

Er hängte ein, schlüpfte in seine Jacke und verließ das Zimmer. Auf dem Flur war es sehr ruhig, was nicht zuletzt daran lag, daß er und seine Mitarbeiter nahezu die gesamte Etage in Beschlag genommen hatten. Die beiden einzigen Zimmer, die sie nicht belegten, standen leer - und das in einem Moment, in dem Hotelbetten in Ascona praktisch mit Gold aufgewogen wurden. Schon aus diesem Grund war er wohl moralisch verpflichtet, Gramer zu helfen.

Vor dem Aufzug stand ein uniformierter Polizist, dessen einzige Aufgabe darin bestand, Rogler und seine Leute vor den Journalisten zu beschützen, die das Hotel belagerten, um auf irgendeine belanglose Bemerkung zu warten, die sie zu einer Sensation aufbauschen konnten. Rogler trat in den Lift und gab dem Mann einen Wink, ihm zu folgen. Im Moment war er ohnehin der einzige Bewohner dieser Etage. Die insgesamt neun Beamten, die zu seiner Verfügung abkommandiert waren, waren in der Stadt unterwegs und taten ihr Bestes, um das allgemeine Chaos noch zu vergrößern.

Aufgeregte Stimmen und Lärm schlugen ihnen entgegen, als sie das Erdgeschoß erreichten. Auf der anderen Seite der Halle drängten sich mindestens drei oder vier Dutzend Menschen, so daß er im ersten Moment nicht erkennen konnte, was überhaupt los war. Rogler bedeutete seinem Begleiter, dicht hinter ihm zu bleiben, und hielt nach Gramer Ausschau, während er sich der Menschenmenge näherte.

»Herr Rogler, Gott sei Dank, daß Sie kommen!« Gramer kam ihm händeringend entgegen. Der Mann war ein Nervenbündel. Das war er schon gewesen, als Rogler als ganz normaler Gast in einer ganz normalen Stadt hier geweilt hatte. Seit sich Ascona aber in ein Tollhaus verwandelt hatte, balancierte er ununterbrochen am Rande eines Nervenzusammenbruchs entlang. Und er machte ganz den Eindruck, als wäre es nun wirklich soweit. »Es tut mir unendlich leid, daß ich Sie belästigen muß, aber ich weiß einfach nicht, was ich tun soll.«

Rogler hob besänftigend beide Hände und versuchte, seine Stimme so ruhig wie nur möglich klingen zu lassen. »Was ist denn passiert?« fragte er. »Was bedeutet dieser Auflauf?«

»Es sind diese Wilden!« jammerte Gramer. »Ich habe wirklich nichts gegen Fremde, und ich akzeptiere auch ihre Sitten, so weit es möglich ist, aber das ... das geht einfach nicht mehr! Sehen Sie selbst.«

»Wilde?« fragte Rogler.

Gramer war viel zu nervös, um zu antworten. Heftig gestikulierend bahnte er für sich und Rogler einen Weg durch die Menge, bis der Grund für die allgemeine Aufregung vor ihnen lag.

Rogler riß erstaunt die Augen auf. Gramers Worte hatten ihn vorgewarnt, aber er hatte trotzdem nicht damit gerechnet, es tatsächlich mit Wilden zu tun zu haben. Doch ganz genau das war der Fall.

Sie waren zu fünft. Im ersten Moment glaubte Rogler, Mitgliedern irgendeines primitiven afrikanischen Volksstammes gegenüberzustehen, aber dann betrachtete er die gedrungenen Gestalten genauer - die breiten Nasen und wulstigen Lippen, das krause, drahtige Haar und die Färbung der Haut, die eher staubig-grau als wirklich schwarz war: die fünf Männer waren Aborigines, Angehörige der australischen Ureinwohner, die heute auf ihrem eigenen Kontinent eine ebenso klägliche Rolle spielten wie die nordamerikanischen Indianer in ihrem Land. Trotz der alles andere als sommerlichen Temperaturen waren sie fast nackt, dafür jedoch über und über bemalt; mit weißen Kreisen und Schlangenlinien, gezackten Mustern und bizarren Symbolen, die ihren ohnehin furchteinflößenden Gesichtern etwas noch Bedrohlicheres verliehen.

Das allein war jedoch nicht der Grund für Gramers Aufregung. Sie beruhte wohl eher auf der Tatsache, daß zwei der Aborigines direkt vor dem Hoteleingang auf dem Boden hockten und dabei waren, irgendeine verrückte Zeremonie zu vollziehen, bei der sie kleine Knochen und Holzsplitter auf den Boden warfen und dabei Worte in einer unverständlichen, hart klingenden Sprache murmelten. Die Situation entbehrte nicht einer gewissen Komik, aber zugleich beschlich Rogler auch ein sonderbares Gefühl, das er nicht richtig einordnen konnte. Was ihm und den anderen hier seltsam und bizarr vorkommen mochte, war für diese Männer ungemein wichtig, das spürte er. Und vielleicht nicht nur für sie. »Wo ist das Problem?« fragte er.

Gramer rang hörbar nach Luft. »Sie halten den ganzen Betrieb hier auf«, japste er. »Niemand kommt mehr rein und niemand mehr raus. Sehen Sie doch selbst! Und sie gehen nicht weg!«

Es fiel Rogler immer schwerer, nicht zu lachen. Obwohl er Gramer durchaus verstehen konnte, wirkte er in seiner Verzweiflung fast komisch. Aber er hatte natürlich recht - die beiden Aborigines saßen unmittelbar vor der gläsernen Drehtür, die auf dieser Seite den einzigen Zugang zum Hotel darstellte. Und selbst wenn jemand versucht hätte, an ihnen vorbeizukommen, wäre er an den drei anderen Aborigines gescheitert, die einen engen Halbkreis um die beiden am Boden Sitzenden bildeten und mit finsteren Gesichtern dafür sorgten, daß niemand ihnen zu nahe kam. Roglers Lächeln erlosch schlagartig, als er sah, daß die Männer bewaffnet waren. Einer hielt einen kurzen Speer in der Hand, in den Gürteln der beiden anderen steckten lange Dolche mit gefährlich aussehenden, zweiseitig geschliffenen Klingen aus Stein.

»Soll ich Verstärkung anfordern?« fragte der Beamte, der ihn begleitet hatte.

Rogler dachte an das Bild der hoffnungslos verstopften Straße, das er vom Fenster seines Hotelzimmers aus gesehen hatte. Der Mann trug ein Funkgerät bei sich, aber selbst wenn er Verstärkung anforderte, würde sie wahrscheinlich eine Woche brauchen, um herzukommen. »Nein«, sagte er leise. »Aber passen Sie auf.«

Er trat einen Schritt auf einen der Aborigines zu. Der Mann straffte die Schultern und legte die Hand auf die Hüfte; ein kleines Stück neben dem Messergriff, aber gewiß nicht durch Zufall. »Nicht weiter«, sagte er. Seine Worte hatten einen seltsamen, dunklen Akzent, waren aber trotzdem klar zu verstehen.

»Sie sprechen unsere Sprache?« sagte Rogler überrascht. »Gut, das macht es leichter.« Er wies auf den Dolch des Mannes und die Hand daneben. »Lassen Sie das. Ich will nur mit Ihnen reden.«

Tatsächlich zog der Aboriginal die Hand nach einer Sekunde des Zögerns zurück, wich aber keinen Millimeter zur Seite.

»Was tun Sie hier?« fragte Rogler. »Sie können hier nicht einfach den Weg blockieren. Die Leute müssen vorbei.« Er sprach langsam und mit übertriebener Betonung, um auch wirklich verstanden zu werden, aber er kam sich ebenso hilflos wie albern dabei vor. Die Situation hatte etwas Groteskes. Nur, daß ihm kein bißchen mehr nach Lachen zumute war.

»Heiliger Mann«, sagte der Aboriginal. »Nicht stören. Heilige Zeit.«

»Hören Sie«, sagte Rogler seufzend. »Ich möchte die Sache in Ruhe mit Ihnen klären. Sie können hier nicht bleiben. Sie behindern all diese Leute hier, und das geht nicht.«

Jemand versuchte von außen durch die Drehtür zu treten, aber einer der Aborigines streckte rasch den Arm aus und hielt sie mit erstaunlicher Kraft fest. »Lassen Sie das!« sagte Rogler scharf. »Ich bin Polizeibeamter. Wenn Sie nicht freiwillig gehen, muß ich Sie gewaltsam wegbringen lassen. Bitte zwingen Sie mich nicht dazu.« Er machte eine Geste zu dem uniformierten Beamten neben sich. Der Mann trat gehorsam näher, aber er sah dabei nicht besonders glücklich aus. Die Vorstellung, sich mit drei noch dazu bewaffneten Eingeborenen anlegen zu sollen, schien ihm nicht besonders zu gefallen. Aber Rogler wußte, daß es so weit nicht kommen würde. Trotz ihres barbarisch anmutenden Äußeren strahlten die Aborigines eine sonderbare Friedfertigkeit aus.

»Der Heilige Mann darf nicht gestört werden«, fuhr der Aboriginal fort. »Die Geister werden zornig, wenn man ihr Gespräch mit den Menschen unterbricht.«

»Aber Sie können hier nicht bleiben«, antwortete Rogler geduldig. »Bitte - wir respektieren Ihre Sitten, aber Sie müssen auch unsere respektieren. Meinetwegen bleiben Sie hier, aber geben Sie wenigstens den Eingang frei.« Gramer ächzte, aber Rogler brachte ihn mit einem eisigen Blick zum Schweigen, bevor er überhaupt ein Wort sagen konnte.

Tatsächlich wandte sich der Aboriginal in seiner Muttersprache an die beiden Männer vor der Tür. Einer von ihnen antwortete mit einem einzelnen Wort, setzte aber zugleich sein sonderbares Tun fort. Die Knochen fielen klappernd zu Boden und bildeten ein willkürliches Muster. Für die beiden Aborigines schien es jedoch von großer Bedeutung zu sein, denn sie beugten sich plötzlich erregt vor und begannen aufgeregt und sehr laut miteinander zu palavern.

»Herr Rogler, bitte tun Sie etwas!« jammerte Gramer. »Ich verliere sonst den Verstand!«

Rogler beachtete ihn nicht. Er beobachtete aufmerksam die beiden Aborigines. Es war fast unmöglich, in ihren fremdartig geschnittenen Gesichtern zu lesen - und doch war er sicher, plötzlich eine große Besorgnis darauf zu erkennen, beinahe so etwas wie Angst. Vielleicht spürte er es auch nur.

Einer der Aborigines hob plötzlich den Blick und sah ihn direkt an. Er sagte etwas, das Rogler natürlich nicht verstand, aber die Worte bewirkten etwas in ihm, eine Reaktion nicht auf ihren Sinn, aber auf ihren Klang; etwas, das nicht sein Verstand, sondern etwas Tieferliegendes, viel Älteres ihm mitteilte. Es war eine Form der Kommunikation, die keine Worte brauchte, so wie es Dinge gab, die man nicht aussprechen mußte, um sie zu verstehen. Im Blick des alten Aboriginal war etwas ungemein Beunruhigendes, aber keine Drohung; nichts, was ihm angst gemacht hätte. Es kostete Rogler all seine Kraft, sich aus dem Bann dieser Augen zu lösen und herumzudrehen.

»Lassen Sie sie«, sagte er. »Sie werden gehen, sobald sie fertig sind.«

Gramer quietschte vor Entsetzen. »Aber um Himmels willen! Sie ... Sie können doch nicht -«

»Ich kann überhaupt nichts!« unterbrach ihn Rogler grob. Er spürte den Blick des Aboriginals noch immer im Rücken, und seine Berührung war wie Feuer, das etwas in ihm zu verbrennen schien. Er mußte sich mit aller Gewalt beherrschen, um Gramer nicht anzuschreien. »Was soll ich tun? Sie erschießen?«

»Aber das Hotel!« jammerte Gramer. »Unsere Gäste!«

»Lassen Sie die Leute durch die Hintertür raus, wenn es sein muß«, sagte Rogler. »Ich kann nichts machen. Ich bin sicher, es dauert nicht mehr lange.« Ohne ihn auch nur noch eines weiteren Blickes zu würdigen, stürmte er an dem völlig konsternierten Hotelmanager vorbei und trat in den Aufzug. Erst als sich die Tür hinter ihm geschlossen und die Kabine in Bewegung gesetzt hatte, atmete er erleichtert auf.

Er hatte Angst. Und er wußte nicht einmal, wovor.

Warstein hatte fast eine halbe Stunde unter der Dusche verbracht, aber selbst nachdem er sich gründlich frottiert und angezogen hatte, zitterte er noch vor Kälte. Dabei hatte er so heiß geduscht, daß er sich nicht gewundert hätte, wenn sein Rücken voller Brandblasen gewesen wäre, nachdem er aus der Kabine trat. Es nutzte nichts. Trotz des im Grunde viel zu warmen Pullovers und der Strickjacke, die er darübergeworfen hatte, liefen ihm eiskalte Schauer über den Rücken, und seine Hände zitterten so stark, daß er sie schließlich zu Fäusten ballte, um es zu unterdrücken.

Warstein kannte den Grund dafür. Er wußte auch, was er dagegen tun konnte. Es wäre ganz einfach. Die Minibar neben dem Fernseher war gut genug bestückt, um sowohl die Kälte zu vertreiben als auch seine zitternden Finger zu beruhigen. Fast eine Minute lang stand er da und starrte den kleinen braunlackierten Metallwürfel an, aber dann drehte er sich mit einem Ruck herum und verließ das Zimmer. Sie hatten sich für halb sieben zum Essen unten im Restaurant verabredet, und er mußte nicht schon mit einer Alkoholfahne dort ankommen.

Er war ein wenig enttäuscht von sich selbst, denn obwohl er ganz genau wußte, daß das nicht der Wahrheit entsprach, hatte er sich doch bisher stets eingeredet, von dem verdammten Zeug nicht abhängig zu sein. Er trank zwar regelmäßig, aber nicht viel, und er hatte geglaubt, damit aufhören zu können, wann immer er wollte. Aber das stimmte nicht. Wie so vieles, was er sich vorgemacht hatte. Vielleicht, versuchte er sich selbst zu überzeugen, hatte er sich auch schlichtweg eine Erkältung eingefangen. Verwunderlich wäre das jedenfalls nicht. Sie hatten eine halbe Stunde gebraucht, bis sie eine Telefonzelle fanden, von der aus sie ein Taxi rufen konnten, und um das Maß voll zu machen, hatten sie anschließend noch einmal gute zwanzig Minuten auf den Wagen gewartet; alles in allem mehr als eine Dreiviertelstunde, in der sie buchstäblich bis auf die Haut naßgeregnet waren. Warstein konnte sich nicht erinnern, in den letzten Jahren irgendwann einmal so gefroren zu haben wie in dieser Zeit. Wahrscheinlich konnten sie von Glück sagen, wenn sich keiner von ihnen eine Lungenentzündung oder Schlimmeres geholt hatte.

Das Restaurant war bereits gut besucht, obwohl es noch relativ früh war. Fast alle Tische waren besetzt, und das Klappern von Geschirr, die summenden Gespräche, die hin und her hastenden Kellner und die Gerüche erinnerten Warstein wieder daran, daß er an diesem Tag noch fast nichts gegessen hatte. Er entdeckte Angelika und Lohmann an einem Tisch vor dem Fenster. Angelika sah ihn im gleichen Moment wie er sie und winkte ihm zu, während Lohmann nur kurz den Blick hob und sich dann wieder in seine Notizen vertiefte, die er vor sich auf dem Tisch ausgebreitet hatte. Warstein bahnte sich vorsichtig einen Weg zu ihnen, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich.

»Hallo«, begrüßte ihn Angelika. »Wieder einigermaßen auf dem Damm?« Warstein antwortete mit einer Geste, die ebensogut ein Achselzucken wie ein Nicken sein konnte. Das letzte Stück Weg bis ins Hotel hatte er nur mit Mühe und Not geschafft. Er war so durchgefroren gewesen, daß er nicht einmal den Anmeldezettel hatte ausfüllen können. Angelika hatte nichts gesagt, aber ihre Blicke und vor allem diese Frage jetzt bewiesen, daß sie sich ernsthafte Sorgen um ihn gemacht hatte.

»Eine heiße Dusche und ein bißchen Ruhe tun manchmal Wunder«, sagte er.

»Und ein gutes Essen«, fügte Angelika hinzu. Sie schob ihm die Karte über den Tisch. »Wir haben schon bestellt, auch wenn es unhöflich ist. Aber ich sterbe vor Hunger.«

Warstein erging es nicht anders. Sein Magen knurrte so laut, daß es schon fast peinlich war, und er hielt sich nicht lange mit der Auswahl auf, sondern winkte den Ober herbei und bestellte Zürcher Geschnetzeltes und Rösti, was nicht einmal unbedingt sein Lieblingsessen war. Aber es war das erste, was ihm ins Auge fiel, und außerdem fand er es angemessen, eine Spezialität des Landes zu bestellen, in dem sie sich aufhielten.

»Einen Aperitif?« fragte der Ober, nachdem er Warsteins Bestellung notiert hatte. »Es wird einen Moment dauern - Sie sehen ja selbst, wir haben im Augenblick Hochbetrieb.«

»Einen Orangensaft, bitte«, antwortete Warstein. Angelika zog überrascht die Augenbrauen hoch, und auch Lohmann sah kurz von seinem Notizblock auf. Warstein beugte sich vor und versuchte, etwas von dem zu lesen, was der Journalist auf seinen Block kritzelte, aber es gelang ihm nicht. Lohmanns Handschrift war fast unleserlich; außerdem stand das Blatt auf dem Kopf. »Seid ihr schon zu irgendwelchen Erkenntnissen gelangt?« fragte er.

Angelika lächelte, aber Lohmann sah verärgert von seinem Block hoch und maß ihn eine Sekunde lang mit einem Blick, der Warsteins gute Laune entschieden dämpfte. »Zu Weltbewegendem vielleicht nicht«, sagte er. »Aber alles in allem würde ich diesen Tag trotzdem als Erfolg verbuchen - wenn wir einen Wagen hätten und nicht hier festsitzen würden.«

»So?« sagte Warstein überrascht.

Der Journalist klappte seinen Block zu und trank einen Schluck von dem Bier, das vor ihm stand. »Was Huerse erzählt hat, ist schon sehr interessant«, sagte er. »Schade, daß diese Xanthippe ausgerechnet im falschen Moment aufgetaucht ist; Ich bin fast sicher, daß wir noch mehr erfahren hätten.«

»Es klang aber auch reichlich phantastisch«, gab Angelika zu bedenken. »Ich meine, er ist ein sehr alter Mann. Und er war ziemlich verwirrt.«

»Gerade darum glaube ich ihm«, erwiderte Lohmann. »Ich weiß, daß alte Leute oft Unsinn reden. Aber nicht diese Art von Unsinn. So etwas denkt man sich nicht aus. Ich glaube, daß er es wirklich erlebt hat.«

Warstein pflichtete ihm mit einem Nicken bei. »Außerdem paßt es zu gut, um Zufall zu sein.«

»Wozu?« fragte Lohmann.

»Zu dem, was ich damals erlebt habe«, antwortete Warstein. »Erinnert ihr euch an das, was er als letztes gesagt hat? Daß seine Uhr stehengeblieben ist? Das gleiche ist mir damals auch passiert. Und nicht nur mir. Sämtliche Uhren, die mit im Tunnel waren, funktionierten danach nicht mehr. Einige liefen sogar rückwärts.«

»Rückwärts?« Angelika runzelte zweifelnd die Stirn. »Aber ist denn das überhaupt möglich?«

»Sicher«, antwortete Warstein. »Und das allein wäre nicht einmal etwas Besonderes. Es gibt eine ganze Anzahl natürlicher Erklärungen dafür - angefangen bei ganz simplem Magnetismus.«

»Aber das war nicht alles«, vermutete Lohmann.

Warstein zögerte. Plötzlich waren sie schon mitten drin in dem Gespräch, das er eigentlich heute gar nicht hatte führen wollen - so wenig wie an irgendeinem anderen Tag. Über das zu reden, was er damals erlebt hatte, hieße die Gespenster der Vergangenheit wieder zu wecken, und davor hatte er trotz allem immer noch Angst. »Nein«, sagte er schließlich.

»Endlich lassen Sie die Katze aus dem Sack«, sagte Lohmann. »Ich dachte schon, Sie fangen überhaupt nicht mehr davon an.«

»Das hatte ich eigentlich auch nicht vor«, sagte Warstein offen. Er deutete auf Angelika. »Ich bin nur ihretwegen hier. Nicht, um alte Geschichten wieder aufzuwärmen.«

»So furchtbar alt scheinen sie mir nicht zu sein«, erwiderte Lohmann. »Die Geschichte mit dem Zug ist gerade mal vier Wochen her. Und da waren auch noch ein paar andere Dinge.«

»Was für andere Dinge?« fragte Warstein.

Lohmann schüttelte den Kopf. »Nichts da. Sie sind dran.« Er wedelte mit beiden Händen. »Was ist damals passiert? Ich meine nicht den Blödsinn, der in den Zeitungen gestanden hat, sondern die Wahrheit.«

»Ich weiß es nicht«, gestand Warstein. »Eine Weile dachte ich, ich wüßte es, aber das stimmte nicht. Ich weiß nur, daß wir an irgend etwas gerührt haben, das wir nicht hätten wecken sollen.«

»Wenn Sie das genauso zu Franke gesagt haben, wundert es mich nicht, daß er Sie gefeuert hat«, erwiderte Lohmann. »Es klingt...«

»Verrückt?« schlug Warstein vor. »Ja, für eine ganze Zeit dachte ich das auch. Vielleicht bin ich es ja auch, wer weiß? Möglicherweise jagen wir Gespenstern nach.«

»Gespenster, die Tote hinterlassen?«

Warstein sah aus den Augenwinkeln, wie Angelika zusammenfuhr. Er drehte sich zu ihr herum und zwang sich zu einem Lächeln, das optimistischer ausfiel, als er sich eigentlich fühlte. »Ich glaube nicht, daß dein Mann in Gefahr ist«, sagte er. »Wenn der Berg ihn hätte haben wollen, dann hätte er ihn schon damals geholt.«

»Damit wären wir dann in der Abteilung Okkultes und andere Verrücktheiten angekommen«, sagte Lohmann. »Sie reden von diesem Berg, als wäre er ein lebendes Wesen.«

»Und wer sagt Ihnen, daß er es nicht ist?« gab Warstein ruhig zurück.

Lohmann lachte. »Natürlich«, sagte er. »Sie haben ihn gekitzelt, und jetzt fängt er an, sich zu kratzen, wie?« Aber sein Spott hatte keinen Biß. Seine Stimme klang eine Spur zu unsicher, um ihm den beabsichtigten Effekt nicht zu verderben.

»Es ist nichts Denkendes«, antwortete Warstein überzeugt.

»Ich denke, Sie wissen nicht, was es ist«, sagte Lohmann lauernd.

»Stimmt. Ich weiß nicht, was es ist, aber ich denke, ich weiß ziemlich genau, was es nicht ist«, erwiderte Warstein. Seltsam - plötzlich konnte er ganz ruhig über die Geschehnisse von damals reden. Es war, als hätte er, ohne es selbst überhaupt zu merken, eine unsichtbare Grenze überschritten. Es war ganz undramatisch geschehen und beinahe ohne äußeren Anlaß, aber irgendwie endgültig. Plötzlich fiel es ihm ganz leicht, über die Vergangenheit zu reden. Es erleichterte sogar.

»Und was ist es nicht?« fragte Lohmann. Warstein spürte, wie schwer es ihm fiel, noch halbwegs ruhig zu bleiben.

»Es ist kein Jemand«, sagte Warstein betont. »Aber auch kein Etwas.« Er mußte lächeln, als er den konsternierten Ausdruck auf Lohmanns Gesicht bemerkte. Seine Worte hörten sich alles andere als logisch an. Er befand sich in einem Dilemma: wie konnte er etwas erklären, was nicht zu erklären war?

»Aha«, sagte Lohmann.

Warstein lachte nun wirklich, aber nur für eine Sekunde, und es war ein Laut so völlig ohne Humor oder irgendwelche anderen Gefühle, daß in Angelikas Augen für einen Moment fast so etwas wie Angst aufblitzte. »Es ist schwer zu erklären«, sagte er, »ich weiß. Damals dachte ich, ich wüßte es, aber die Wahrheit ist, daß ich so wenig wie ihr weiß, was in diesem Berg vor sich geht. Vielleicht hat Franke sogar recht.«

»Womit?« Lohmann leerte sein Bier und bestellte in der gleichen Bewegung ein neues.

»Das weiß ich nicht«, gestand Warstein - ein Wort, das er in letzter Zeit sehr häufig benutzte, selbst für seinen Geschmack. »Aber er ist Physiker - und trotz allem ein verdammt guter. Wenn er nach einer Erklärung sucht, dann nach einer naturwissenschaftlichen.«

»Dafür, daß Uhren stehenbleiben und Dinge altern?«

»Warum nicht?« Er sah Angelika an. »Damals, als dein Mann und die anderen verschwanden, war es dasselbe. Uhren blieben stehen, und ich habe ein Telefongespräch gehört, das zwei Stunden alt war.«

»Und ihr alle wart für beinahe zwei Tage einfach verschwunden.« Lohmann tippte mit Zeige- und Mittelfinger auf seinen Block. »Ich habe die Berichte gelesen. Sie haben den Tunnel Zentimeter um Zentimeter abgesucht, und das mindestens ein Dutzend Mal. Niemand weiß, wo sie gewesen sind.«

»Ich auch nicht«, sagte Warstein. »Obwohl ich dabei war. Aber vielleicht müßte die Frage auch nicht lauten wo, sondern wann.«

»Das klingt ... ziemlich phantastisch«, sagte Lohmann. Das unmerkliche Stocken in seiner Antwort machte klar, daß er eigentlich etwas ganz anderes hatte sagen wollen.

»Nicht phantastischer als die Vorstellung, daß Menschen miteinander reden, die sich an entgegengesetzten Enden der Welt aufhalten«, antwortete Warstein. »Oder zum Mond fliegen und dort Spazierengehen.«

»Das ist ja wohl ein Unterschied«, protestierte Lohmann.

»Für uns«, antwortete Warstein. »Weil wir wissen, wie diese Dinge funktionieren. Menschen eines anderen Zeitalters würden schreiend davonlaufen, wenn sie einen Fernseher oder ein Bildtelefon sähen. Überdies wissen die meisten Menschen heute auch nicht, wie all diese Dinge funktionieren. Sie glauben es nur zu wissen, weil sie ständig damit umgehen. Wissen Sie, wie ein Telefon funktioniert? Ich meine, wissen Sie es wirklich?« Lohmann sah ihn nur eine Sekunde betroffen an, und Warstein fuhr mit einem Lächeln fort: »Sehen Sie? Wir sind gar nicht so weit von den Zauberern und Schamanen des Mittelalters entfernt, wie die meisten glauben. Computer, Fernseher, Autos, Mikrowellenherde, Taschenrechner ... es ist eine Art Zauberei.«

»Nur daß wir verstehen, wie sie funktioniert«, warf Angelika ein. »Ein paar von uns.«

»Irrtum«, antwortete Warstein. »Die meisten sogenannten Wissenschaftler wissen es auch nicht. Sie wissen, was passiert, wenn sie etwas Bestimmtes tun. Kausalität. Die Regeln von Ursache und Wirkung, das ist es, was sie bis zur Perfektion beherrschen. Aber wenn du wirklich hinter die Dinge schaust, dann wirst du feststellen, daß sie in den allermeisten Fällen auch nicht wissen, was sie tun.«

»Und das sagt ein Wissenschaftler?«

»Ein Ex-Wissenschaftler«, verbesserte Warstein sie. »Außerdem: nur ein Wissenschaftler hat das Recht, so über Wissenschaftler zu reden.«

Lohmann unterbrach ihn mit einer Handbewegung. »Stop«, sagte er. »Das Ganze wird mir langsam zu metaphysisch. Wir sollten allmählich auf den Boden der Tatsachen zurückkehren und uns über Fakten unterhalten.«

»Sie wollten es wissen, oder?«

»Ja, aber vielleicht nicht ganz so ausführlich«, maulte Lohmann. Er sah ungeduldig auf. »Wo zum Teufel bleibt das Essen?«

Er wirkte regelrecht erschrocken, dachte Warstein, nicht einfach nur genervt, wie er tat. Warstein konnte ihn verstehen; das Gespräch begann sich in eine Richtung zu entwickeln, die ihm nicht behagte. Wie die meisten Menschen verstand er nicht wirklich, wovon Warstein sprach, aber er spürte instinktiv auch, daß es mehr war als leere Worte, mehr als bloße Spekulation über etwas, was sein konnte oder auch nicht. Das, worüber sie sprachen, hatte Substanz, wenn auch vielleicht von einer Art, die sich ihrem rationalen Begreifen entzog. Lohmann und wohl auch Angelika spürten es, und er selbst wußte es. Er fragte sich, was Lohmann wohl gesagt hätte, hätte er ihm von seinem zweiten Gespräch mit Saruter erzählt. Vielleicht sollte er es tun. Vermutlich hielt ihn Lohmann ohnehin für verrückt.

Was ihn davon abhielt, es wirklich zu tun, war die Ankunft ihres Essens. Nicht nur Warsteins Magen meldete sich mit Nachdruck zu Wort; sie alle drei hatten seit dem frühen Morgen nichts mehr zu sich genommen, und so konzentrierten sie sich die nächsten zehn Minuten auf nichts anderes als ihr Essen. Besonders Warstein genoß es in vollen Zügen, und es war längst nicht nur sein Hunger, den er stillte. Für Lohmann und Angelika mochte es ganz selbstverständlich sein, in einem Restaurant zu sitzen und ihre Mahlzeit zu verzehren, aber für ihn war es ein Teil eines Lebens, durch dessen Maschen er irgendwann vor drei Jahren gefallen war und das er schon für immer verloren geglaubt hatte. Es war wie eine Rückkehr in eine Welt, deren Türen hinter ihm zugefallen waren, Türen, die nur auf einer Seite Griffe besaßen; auf der, die ihm nicht zugänglich war.

»Das Essen ist gut«, lobte Angelika nach einer Weile. Das war es nicht einmal. Es war bestenfalls durchschnittlich, aber sie versuchte auch nur, das Gespräch wieder in Gang zu bringen. Anders als Warstein schien sie das Schweigen als unangenehm zu empfinden.

»Es ist erträglich, mehr aber auch nicht«, sagte Lohmann. Er trank wieder von seinem Bier; dem dritten, seit Warstein heruntergekommen war.

Und er glaubte von sich, daß er zuviel trank?

»Damit ist es immer noch besser als Sie«, sagte Warstein. Angelika sah überrascht von ihrem Teller auf, und auch Lohmann verwirrte dieser plötzliche Angriff sichtlich.

»Wie?«

»Sie gehen mir auf die Nerven, Lohmann«, sagte Warstein feindselig. »Ist das Ihre Masche, oder sind Sie tatsächlich so negativ?«

Der Journalist sah ihn eine ganze Weile nur wortlos an, dann schüttelte er den Kopf, richtete sich ein wenig auf und winkte den Kellner herbei. »Bringen Sie noch zwei Bier«, sagte er.

»Für mich nicht.«

»Doch, für ihn auch.« Lohmann bedeutete dem Ober zu gehen und sprach erst weiter, als dieser außer Hörweite war. »Jetzt hören Sie mir mal zu«, sagte er, nicht einmal besonders laut, aber in einem Ton, den Warstein bisher noch nicht bei ihm erlebt hatte. »Ich weiß, daß Sie ... sagen wir, Ihre Probleme mit dem Alkohol haben. Sie haben heute noch keinen Tropfen angerührt, stimmt's?«

»Ich wüßte nicht, was Sie das angeht.«

»Eine Menge. Es ist Ihre Sache, wenn Sie saufen, und es ist auch Ihre Sache, wenn Sie sich entschließen, damit aufzuhören. Aber bitte nicht jetzt. Wenn wir wieder zu Hause sind, können Sie tun und lassen, was Sie wollen. Aber jetzt ist wirklich nicht der passende Moment, um mit einer Entziehungskur anzufangen. Wenn wir auch nur ein bißchen von dem finden, was ich glaube, dann kann ich verdammt noch mal kein Nervenbündel neben mir gebrauchen, das mir bei jedem schrägen Blick an die Kehle geht.«

»Ich glaube kaum, daß Sie das -«

»Bitte!« unterbrach sie Angelika. »Hört auf zu streiten. Davon hat doch niemand etwas.«

»Und warum nicht?« fragte Lohmann grinsend. »So ein kleiner Streit dann und wann ist doch etwas Feines.«

»Heben Sie es sich für Franke auf«, knurrte Warstein. Aber zugleich warf er Angelika einen beinahe dankbaren Blick zu. Sie hatte natürlich recht - sie brauchten ihre Energie wahrlich für andere Dinge. Und irgendwie hatte wohl auch Lohmann recht - auch wenn ihm das nicht behagte.

»Franke!« Lohmann machte ein abfälliges Geräusch. »Das wird allmählich zur Manie bei Ihnen, wie? Sie scheinen ja eine Heidenangst vor diesem Mann zu haben.«

»Ich begehe nur nicht den Fehler, ihn zu unterschätzen«, erwiderte Warstein. »Immerhin hat er uns schon genug Ärger bereitet. Und ich glaube nicht, daß das schon alles war.«

»Da sind wir wohl ausnahmsweise einmal einer Meinung«, bestätigte Lohmann. »Aber ich bin auch nicht ganz wehrlos. Sobald die Redaktion morgen früh wieder besetzt ist, werde ich ein paar Telefongespräche führen, und dann wird sich Ihr Dr. Franke wundern.«

Warstein ersparte es sich, darauf zu antworten. Lohmann war, was er nun einmal war: ein überheblicher Narr. Das Schlimme war vielleicht nicht einmal, daß er Franke nach wie vor unterschätzte. Was ihm allmählich ernsthafte Sorgen zu bereiten begann, war, daß er das Ganze offensichtlich noch immer als eine Art großes Spiel betrachtete, bei dem es im Endeffekt um nicht mehr als eine Story für seine Zeitung ging.

Jemand trat an ihren Tisch. Warstein sah auf und erwartete, den Kellner zu sehen, der das bestellte Bier brachte. Aber es war nicht der Kellner. Vor ihnen stand ein grauhaariger Mann undefinierbaren Alters, der Lohmann und ihn abwechselnd ansah. Warstein mußte nur einen einzigen Blick in sein Gesicht werfen, um zu wissen, daß schon wieder etwas Unangenehmes auf sie zukam. »Herr Lohmann?« fragte er. Offenbar wußte er nicht genau, an wen von ihnen er sich überhaupt wenden sollte.

»Ja?«

»Bitte entschuldigen Sie. Mein Name ist Kerner. Ich bin der Geschäftsführer. Ich fürchte, es gibt da ein kleines Problem.«

»Was für ein Problem? Wir haben uns nicht über das Essen beschwert.« Kerner lächelte flüchtig, aber seine Augen blieben ernst. Er wirkte ... ja, dachte Warstein: verlegen.

»Es geht um Ihre Kreditkarte. Wie es aussieht, ist unserem Empfangschef bei der Anmeldung ein bedauerlicher Irrtum unterlaufen.«

»Was für ein Irrtum?« fragte Lohmann betont. »Ist irgend etwas mit meiner Karte nicht in Ordnung?«

»Ich fürchte«, bestätigte Kerner. »Sie ist nicht gedeckt.«

»Aber das ist doch lächerlich!« antwortete Lohmann. Er sprach so laut, daß einige der anderen Gäste an den Tischen ringsum die Köpfe hoben, was Kerner sichtbar peinlich war. »Natürlich ist sie gedeckt. Außerdem hat Ihr Mann sie vorhin geprüft. Was soll der Unsinn?«

»Ich sage ja, daß uns wohl ein Irrtum unterlaufen ist.« Kerner begann mit den Händen zu ringen. Er war sehr nervös. »Sie hatten uns gebeten, einen Mietwagen für Sie zu besorgen, und dazu mußten wir eine neuerliche Prüfung vornehmen. Bedauerlicherweise hat die Eurocard-Zentrale in Frankfurt uns die Deckung verweigert.« Er legte das kleine, goldfarbene Plastikkärtchen vor Lohmann auf den Tisch und trat hastig wieder zurück. »Es tut mir sehr leid, aber unter diesen Umständen werden Sie Verständnis haben, wenn ich Sie bitte, von einer Übernachtung in unserem Hotel abzusehen.«

»Wie bitte?« Lohmanns Gesicht verlor deutlich an Farbe. »Im Klartext, Sie werfen uns raus?«

»Ich bitte Sie!« Kerner machte eine nervöse Bewegung, leiser zu reden. »Selbstverständlich können Sie in Ruhe Ihr Essen beenden - das übrigens auf unsere Kosten geht. Wie gesagt: hätte unser Angestellter die Prüfung gleich ordnungsgemäß vorgenommen, wäre uns allen diese peinliche Situation erspart geblieben. Ich muß mich noch einmal dafür entschuldigen.«

»Sie glauben doch nicht, daß Sie damit durchkommen?« antwortete Lohmann drohend. »Die Karte ist in Ordnung, und das wissen Sie so gut wie ich.«

Er hatte in sehr scharfem Ton gesprochen, und beinahe noch lauter als bisher, aber Kerners Reaktion fiel ganz anders aus, als er vielleicht geglaubt hatte. Statt sich entsprechend eingeschüchtert zu zeigen, wirkte er plötzlich beinahe erleichtert. Von seiner Verlegenheit war mit einem Male keine Spur mehr zu bemerken.

Bisher war ihm die Situation äußerst unangenehm gewesen, doch indem Lohmann aggressiv wurde, hatte dieser ihm unabsichtlich einen Gefallen getan. Mit dieser Reaktion fertig zu werden, war sein Job.

»Wie gesagt, ich bedauere das Versehen und entschuldige mich dafür«, antwortete er, plötzlich in völlig verändertem Ton; kühl und auf eine Art, die die Worte zu einer Farce degradierten. »Überdies steht es Ihnen natürlich frei, selbst bei Ihrer Bank anzurufen und die Angelegenheit zu klären.« Er deutete auf die Kreditkarte, dann auf eine Tür am anderen Ende des Raumes. »Mein Büro und mein Telefon stehen zu Ihrer Verfügung. Aber ich muß darauf bestehen, daß Sie das Hotel verlassen, sobald Sie Ihre Mahlzeit beendet haben. Ich habe bereits veranlaßt, daß Ihr Gepäck heruntergebracht wird.«

Lohmann stand so hastig auf, daß sein Stuhl umgekippt wäre, hätte er ihn nicht festgehalten. »Ganz wie Sie wollen!« sagte er. »Ich werde anrufen, aber nicht nur in Frankfurt, darauf können Sie sich verlassen. Sie werden sich noch wünschen...«

»Hören Sie auf«, unterbrach ihn Warstein. Lohmann fuhr mit einer abrupten Bewegung herum, und der Zorn in seinem Blick drohte sich nun auf ihn zu entladen, aber Warstein wandte sich bereits an Kerner. »Es ist in Ordnung«, sagte er müde. »Wir gehen. Bitte entschuldigen Sie das Versehen.«

Kerner atmete sichtbar auf, aber er beging trotzdem nicht den Fehler, Lohmann Gelegenheit zu einer neuerlichen Attacke zu geben, sondern entfernte sich hastig.

»Es ist in Ordnung?« ächzte Lohmann. »Sind Sie wahnsinnig geworden? Der Kerl...«

»...kann nichts dafür«, fiel ihm Warstein ins Wort. »Begreifen Sie immer noch nicht, was hier gespielt wird?«

Lohmanns Gesichtsausdruck machte deutlich, daß er es sehr wohl begriff. Schließlich war er nicht dumm. Trotzdem sagte er: »Nein. Warum erklären Sie es mir nicht?«

»Sie können meinetwegen telefonieren, aber das ist reine Zeitverschwendung.« Warstein deutete auf die Kreditkarte. »Das Ding da ist garantiert nichts mehr wert.« Er seufzte tief. »Vielleicht verstehen Sie jetzt, was ich gemeint habe, als ich über Franke sprach. Ich würde sagen, es steht zwei zu null für ihn.«

»Langsam jetzt. Gaaaanz vorsichtig! Da sind höchstens noch zwanzig Zentimeter!«

Ralgert zog eine Grimasse. Er wußte mittlerweile wirklich nicht mehr, was ihn nervöser machte - die Millimeterarbeit, die er mit der schweren Baumaschine vollbringen mußte, oder die unqualifizierten Kommentare Herles, der neben ihm von einem Fuß auf den anderen hüpfte und insgeheim wahrscheinlich schon darauf wartete, daß er irgendwo aneckte.

Die Gefahr bestand durchaus - oder hätte bestanden, hätte ein anderer als Ralgert am Steuer des fünf Tonnen schweren Räumers gesessen. Er hatte verflucht wenig Platz. Aber er war auch verflucht gut. Ralgert bekam nicht umsonst Überstunden bezahlt, während seine Kollegen herumstanden und Däumchen drehten. Der Abschnitt, an dem sie seit einer Woche arbeiteten, war der schwierigste der ganzen Strecke - einen Meter zu weit nach rechts, und eine halbe Tonne Felsen und Geröll würden den Abhang hinunterpoltern und auf den nächsten fünfhundert Metern alles kurz und klein schlagen, was sich ihnen in den Weg stellte - inklusive der Fangzäune, die sie errichtet hatten. Niemand machte sich da etwas vor: die Stahlgitter hatten nur symbolischen Wert. Nichts auf der Welt konnte einen Felsbrocken von einer halben Tonne aufhalten, der einmal wirklich ins Rutschen kam. »Vorsicht jetzt. Du hast es gleich!«

Herle sprang rückwärts gehend um die Maschine herum und fuchtelte dabei mit beiden Armen. Offensichtlich hielt er sich für einen Lotsen, der ein Flugzeug einwinkte. Was Ralgert anging, so hielt er Herle einfach für einen Trottel, wenn auch einen, der aus den besten Absichten heraus handelte. Und übrigens auch nur, weil er es wußte, der Räumer war schwer genug, um schon bei der winzigsten Unachtsamkeit seines Fahrers enormen Schaden anzurichten. Außer dem Abhang auf der einen Seite gab es eine leicht abfallende Böschung auf der anderen, an deren Fuß eine Anzahl LKW und kleinerer Baumaschinen abgestellt war.

Aber Ralgert hatte nicht vor, eine Unachtsamkeit zu begehen. Er betätigte Kupplung, Bremse und Gas mit der Geschicklichkeit eines Virtuosen, der auf seinem Instrument spielt, so daß sich der tonnenschwere Stahlkoloß buchstäblich millimeterweise vorwärtsbewegte, während der Schuttberg vor der Schaufel allmählich größer wurde. Zugleich amüsierte er sich insgeheim über die Vorstellung, Herle mit den schweren Raupenketten über die Zehen zu fahren - dann hätte der Bursche wirklich Grund, herumzuhüpfen wie ein Indianer beim Regentanz. Er würde...

Der Motor ging aus. Der Räumer kam mit einem so plötzlichen Ruck zum Stehen, daß Ralgert in seinem Sitz nach vorne rutschte und sich hastig am Lenkrad festklammerte. Zugleich erloschen auch die Scheinwerfer des schweren Fahrzeuges.

»Was ist los?« rief Herle nervös. »Ist was passiert?«

Ralgert beachtete ihn gar nicht. Er starrte verblüfft auf seine Armaturen, auf denen tatsächlich etwas los war - nämlich der Teufel. Die verschiedenen Kontrollichter blinkten wie ein amerikanischer Weihnachtsbaum. Der Drehzahlmesser stand am Anschlag, und die Anzeige der Hydraulik hüpfte zwischen Null und Maximum hin und her, und obwohl der Motor nicht mehr lief, behauptete der Tachometer, daß das Fahrzeug mit Höchstgeschwindigkeit fuhr. Ein Scheinwerfer blieb tot, der andere gab sinnlose, immer schneller werdende Blinkzeichen.

»He, Ralgert - was ist denn?« rief Herle. Er klang noch nervöser als sonst.

»Ich hab keine Ahnung«, gestand Ralgert. »Die gesamte Elektronik spinnt.« Er blickte die Instrumente noch eine Sekunde hilflos an, dann beugte er sich rasch vor und zog den Zündschlüssel ab. Sicher war sicher. Der Räumer war eine zuverlässige, gutmütige Maschine, aber er besaß auch genug Kraft, um einen kleinen Berg einzuebnen. Ralgert sprang mit einem kraftvollen Satz von der Maschine und verdrehte die Augen, als ihm Herle, noch immer aufgeregt und mit beiden Armen fuchtelnd, entgegenkam.

»Was ist passiert? Ist irgendwas kaputt?«

»Bin ich Elektriker?« fragte Ralgert mißgelaunt. »Natürlich ist irgendwas kaputt, das siehst du doch selbst, oder?« Er deutete auf das hektisch blinkende Licht am vorderen Ende des Fahrzeuges und in der gleichen Bewegung auf Herles Funkgerät.

»Ruf den Boß an, damit er einen Monteur schickt. Für heute ist Feierabend.« Herle machte nur ein dummes Gesicht, und Ralgert mußte sich beherrschen, um seinen Ärger nicht zu deutlich werden zu lassen. Auch wenn es vielleicht nur eine Kleinigkeit war, so bedeutete das doch, daß die Maschine für den Rest der Schicht ausfiel, was wiederum zur Folge hatte, daß sie ihr Pensum heute nicht schafften. Und möglicherweise nicht nur heute, sondern für den Rest der Woche. Ade Prämie. Den Hunderter, den er schon so gut wie in der Tasche gehabt hatte, konnte er vergessen.

»Nun mach schon!« sagte er. »Ich hab keine Lust, die halbe Nacht hier herumzustehen.«

Herle griff beinahe hastig nach dem Walkie-talkie an seinem Gürtel und schaltete es ein. Nichts geschah. Das kleine Licht auf der Oberseite des Gerätes leuchtete zwar auf, aber das war auch alles. Ralgert und Herle hörten nicht einmal das statische Rauschen, das normalerweise jedes Gespräch begleitete. »Das verstehe ich nicht«, murmelte Herle. Er schüttelte das Gerät ein paarmal, schaltete es aus und befestigte es wieder an seinem Gürtel. Sein Blick ging zu dem Räumer. Der Scheinwerfer hatte aufgehört, Morsezeichen zu geben, dafür leuchteten die Bremslichter jetzt abwechselnd auf.

»Langsam wird mir die Sache unheimlich«, sagte er. »Los komm, wir verschwinden.«

Ralgert erhob keine Einwände. Unter normalen Umständen hätte er über eine solche Bemerkung allenfalls gelacht, aber Herle hatte recht: hier stimmte etwas nicht. Die Sache war unheimlich. Ralgert mußte plötzlich voller Unbehagen an die Geschichten denken, die man sich über den Tunnel erzählte, den sie auf der anderen Seite des Berges gegraben hatten. Mit einem Ruck drehte er sich um und ging los, und sie hatten gerade zwei Schritte gemacht, als der Motor des Räumers ansprang und eine gewaltige Rauchwolke ausstieß. Ralgert blieb stehen, hob die Hand und blickte vollkommen fassungslos auf den Zündschlüssel, den er noch immer darin hielt.

»Was...« Der Rest von Herles Worten ging in einem metallischen Kreischen unter. Hellblaue, gleißende Blitze hüllten für eine Sekunde das Fahrzeug in ein Gitternetz dünner, tausendfach verästelter Linien, und plötzlich stank die Luft so durchdringend nach verschmortem Gummi und brennendem Lack, daß Ralgert und Herle automatisch einige Schritte zurückwichen - was ihnen vermutlich das Leben rettete, denn in der nächsten Sekunde explodierte der Tank des Fahrzeuges mit einem ungeheuren Knall. Flammen und rotglühende Trümmerstücke flogen in alle Richtungen davon. Etwas streifte Ralgerts Arm, zerfetzte sein Hemd und hinterließ einen blutigen Kratzer auf seiner Haut, aber sie wurden beide wie durch ein Wunder nicht ernsthaft verletzt.

Ralgert preßte die Hand auf die Schulter und spürte warmes Blut zwischen den Fingern, aber irgendwie erreichte der Schmerz sein Bewußtsein nicht wirklich. Was er sah, das war einfach zu phantastisch, als daß er noch irgend etwas anderes hätte wahrnehmen können.

Der Tank des Räumers enthielt beinahe zweihundert Liter Dieselkraftstoff. Die Maschine hätte brennen müssen wie eine Fackel, und für eine oder zwei Sekunden tat sie das auch. Aber nicht länger. Plötzlich erloschen die Flammen - nein, verbesserte sich Ralgert in Gedanken. Sie erloschen nicht. Sie waren ganz einfach nicht mehr da, von einem Sekundenbruchteil auf den anderen, so als betrachte er einen Film mit einem unsauberen Schnitt. Die Flammen, die blauen Blitze, der Gestank, alles war fort, und die schwere Baumaschine stand da, als wäre nichts geschehen. Nur ihre geschwärzte Flanke und der zerfetzte Tankdeckel zeugten noch von der Katastrophe.

»Mein Gott, was war denn das?« Herle wollte auf den Räumer zutreten, aber Ralgert hielt ihn mit einer raschen Bewegung zurück. Irgend etwas Unheimliches ging hier vor, und es war längst noch nicht zu Ende.

In den Baracken und Wohnwagen einen halben Kilometer hinter ihnen gingen plötzlich überall Lichter an. Türen wurden aufgerissen, aufgeregte Stimmen wehten durch die Nacht zu ihnen. Die Explosion war gehört worden. Gestalten begannen in ihre Richtung zu rennen, und Ralgert hörte, wie ein Motor angelassen wurde.

Ralgert sah nicht einmal hin. Es war ihm unmöglich, den Blick von dem Räumer zu lösen, mit dem eine unheimliche Veränderung vor sich ging. Das Fahrzeug schmolz. Zumindest war das Ralgerts allererster Eindruck, auch wenn er praktisch im gleichen Moment schon begriff, daß das nicht sein konnte. Sie standen allerhöchstem fünf Meter von der Maschine entfernt. Eine Hitze, die groß genug war, diesen Stahlkoloß zum Schmelzen zu bringen, hätte Herle und ihn auf der Stelle getötet. Trotzdem: der Räumer sank in sich zusammen wie ein Modell aus Wachs, das zu lange in der Sonne gestanden hatte. Der massive Stahl verformte sich, als wäre er nicht mehr in der Lage, sein eigenes Gewicht zu tragen. Die Ketten zerliefen. Das Chassis sank zuerst auf der rechten, dann auf der linken Seite zusammen, flüssiger Stahl tropfte zu Boden und bildete bizarre Formen, und selbst die tonnenschwere Schaufel begann zusammenzusacken wie ein Spielzeug aus aufgeweichtem Papier.

Als die ersten Männer bei Herle und Ralgert anlangten, war von dem Räumer nicht mehr übrig als ein Klumpen aus verformtem, gelbem Metall.

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