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Im Inneren des Gridone. 18.15h. Wenigstens war es das vor einigen Sekunden noch gewesen. Jetzt war es 18.14h. Eindeutig. Der Zeiger hatte sich rückwärts bewegt.

Hauptmann Veith Rogler von der Kantonspolizei Tessin starrte verblüfft auf den verschnörkelten Zeiger, der sich gerade auf so unmögliche Weise bewegt hatte, klappte den Deckel der Taschenuhr zu, schüttelte sie ein paarmal und hielt sie dann ans Ohr. Er hörte nichts, ausgenommen vielleicht das feine Singen des Federwerkes, das seit beinahe einem Menschenalter seinen Dienst so präzise und zuverlässig getan hatte, wie man es von einer Schweizer Uhr erwarten konnte. Aber als er den Deckel wieder aufklappte und zum zweiten Mal auf das Zifferblatt sah, hatte sich das seltsame Bild nicht geändert.

Rogler sah blinzelnd auf das zerkratzte Glas hinunter, das im Licht der starken Taschenlampe funkelte und blitzte wie eine Mondlandschaft aus Kristall. Trotzdem konnte er deutlich sehen, wie sich der Zeiger weiterbewegte und nun 18.13h anzeigte.

Die Uhr lief rückwärts, kein Zweifel. Und das war einigermaßen komisch. Die silberne Taschenuhr war ein Erbstück seines Vaters, älter als Rogler selbst, der mit seinen mittlerweile knapp achtundvierzig Jahren auch schon alles andere als ein junger Mann war, und er hatte im Grunde schon lange damit gerechnet, daß sie endlich ihren Dienst quittierte. Schweizer Präzision oder nicht, selbst das robusteste mechanische Herz schlug nicht ewig. Es überraschte ihn nicht einmal besonders, daß es ausgerechnet jetzt geschah, denn Murpheys Gesetz zufolge passierten die Dinge ja immer im ungünstigsten aller denkbaren Augenblicke. Was ihn verwirrte, war die Art und Weise. Er hatte noch nie davon gehört, daß eine Uhr plötzlich rückwärts lief. Bisher hatte er nicht einmal gewußt, daß das überhaupt möglich war. Andererseits - er war kein Uhrmacher. Und er hatte im Moment auch wahrlich Wichtigeres zu tun, als sich den Kopf über die Marotten einer sechzig Jahre alten Taschenuhr zu zerbrechen.

Seufzend klappte Rogler die Uhr endgültig zu und versenkte sie in die Tasche seiner makellos gebügelten Uniformjacke. Genaugenommen war es nicht seine Jacke, sondern die eines Kollegen aus Ascona, dem ganz genau genommen auch dieser Fall hier zugestanden hätte - falls es sich überhaupt um eine polizeiliche Angelegenheit handelte.

Rogler bezweifelte dies ohnehin. Zum einen aus purem Ärger - er war nach Ascona gekommen, um Urlaub zu machen, der schließlich auch einem Beamten dann und wann zustand, allen dummen Witzen und Vorurteilen zum Trotz. Und neben allem anderen gab es noch einen großen Unterschied zwischen einem Fernseh- und einem richtigen Polizeibeamten: im allgemeinen bereitete es ihnen nicht unbedingt großes Vergnügen, im Urlaub mal eben noch einen Kriminalfall zu lösen.

Vor allem, wenn es keiner war. Rogler, der seit einer Viertelstunde frierend in einer dunklen, zugigen Höhle stand, fragte sich zum wiederholten Male, was er hier eigentlich tat. Dies war eine Geschichte für die Eisenbahnbehörde oder das Bauamt oder wer zum Teufel auch immer verantwortlich war, wenn mit einem Zug irgend etwas nicht stimmte, der in einem Tunnel festsaß.

In der Dunkelheit weit vor ihm tauchte ein Licht auf. Es war nicht sehr groß, und es wuchs auch kaum sichtbar heran, während es näherkam - das aber sehr rasch und begleitet von einem surrenden Geräusch, das Rogler veranlaßte, mit einem Schritt von dem Schienenstrang herunterzutreten, dem er vom Tunneleingang hierher gefolgt war. Er wußte natürlich, daß es übertrieben war, aber mit einem Mal hatte er die Vision eines unbeleuchteten Schnellzuges, der durch den Tunnel herangebraust kam und ihn überrollte.

Was nach einiger Zeit im Streulicht des einzigen Scheinwerfers schemenhaft sichtbar wurde, war dann allerdings kein Schnellzug, sondern die Neunziger-Jahre-Version einer Draisine: ein flaches, auf sechs wuchtigen Eisenrädern rollendes Gefährt, das an Stelle von einer Schwingkurbel nahezu lautlos von einem Elektromotor angetrieben wurde, der in einem rechteckigen Kasten in seiner Mitte untergebracht war. Auf der Plattform standen nur zwei Männer, obwohl sie bequem Platz für ein Dutzend geboten hätte. Der eine bediente die Kontrollen und brachte das Fahrzeug dicht vor Rogler zum Stehen, der zweite richtete eine Taschenlampe auf ihn und winkte.

Roglers Laune sank um einige weitere Grade, als das grelle Licht wie mit Nadeln in seine seit einer Viertelstunde an die Dunkelheit gewöhnten Augen stach. Geblendet hob er die Hand vor das Gesicht und versuchte, wenigstens so viel zu erkennen, um mit heiler Haut die Draisine zu erreichen und hinaufzusteigen. Die hilfreich ausgestreckte Hand des Mannes mit der Taschenlampe ignorierte er.

»Kommissar Rogler?« fragte der Mann. Für eine Sekunde richtete er den gebündelten Lichtstrahl direkt auf Roglers Gesicht, so daß dieser nun wirklich gar nichts mehr sah und eine Grimasse zog. Dann senkte er die Taschenlampe, die nun einen scharf begrenzten Kreis fast weißer Helligkeit auf den Boden zwischen ihm und Rogler zeichnete. Die Schwärze jenseits dieses Kreises schien dadurch eher noch tiefer zu werden.

»Der bin ich«, antwortete Rogler. Er gab sich Mühe, nicht allzu unfreundlich zu klingen. Letztendlich konnte der Mann nichts dafür, daß sein Urlaub an diesem Morgen mit einem energischen Klopfen an der Tür seines Hotelzimmers ein zumindest vorläufiges Ende gefunden hatte. »Und Sie sind...?«

»Lensing. Klaus Lensing - aber das müssen Sie sich nicht merken. Ich soll Sie nur abholen.«

Die Draisine setzte sich schon wieder in Bewegung und begann den Weg zurückzufahren, den sie gekommen war. Der Scheinwerfer an ihrem Ende erlosch, dafür glomm auf der anderen Seite ein blasses, gelbliches Licht auf, in dem der Schienenstrang rasch zu einem silbern verschwimmenden Schatten wurde. Rogler registrierte mit sanfter Überraschung, wie schnell das kleine Fahrzeug war. Der Tunneleingang schmolz schon nach Augenblicken zu einem verwaschenen Lichtfleck zusammen und verblaßte schließlich ganz. Rogler mußte ein Schaudern unterdrücken. Es war kalt hier drinnen, empfindlich kalt. Sein Atem erschien als feiner Dunst im Licht der Taschenlampe. Aber das war nicht der wirkliche Grund für den eiskalten Schauder, der ihm über Nacken und Rückgrat lief. Er hatte sich nie vor der Dunkelheit oder engen Räumen gefürchtet, aber hier, in diesem scheinbar endlosen, nachtschwarzen Stollen, begann er diese Furcht kennenzulernen.

Eigentlich nur, um diese irrationalen Gedanken nicht noch stärker werden zu lassen, fragte er: »Was ist passiert?«

»Hat man Ihnen das nicht gesagt?« fragte Lensing überrascht. Zugleich klang er beinahe enttäuscht, fand Rogler.

»Dann würde ich nicht fragen, oder?« Diesmal hatte er laut genug gesprochen, daß man ihm seinen Ärger anhörte, und er konnte sehen, wie Lensing zusammenfuhr. Um seinen Worten wenigstens im nachhinein noch ein wenig Schärfe zu nehmen, fügte er etwas leiser hinzu: »Nur, daß irgend etwas mit dem Zug nicht in Ordnung wäre. Nicht was. Der Kollege, der mich aus dem Hotel abgeholt hat, wußte nichts Genaues - oder wollte nichts sagen. Es ist einer von diesen deutschen Superzügen, nicht wahr?«

Lensing nickte. »Ein ICE 2000. Er fuhr zum ersten Mal durch den Tunnel. Eine Testfahrt, sozusagen, sowohl für den Zug als auch für den Tunnel selbst.«

»Testfahrt? Ich denke, der Gridone-Tunnel ist vor zwei Jahren eröffnet worden?«

»Vor drei, beinahe«, verbesserte ihn Lensing. »Aber es ist das erste Mal, daß ein solcher Zug hindurchfährt. Kennen Sie die neuen ICEs der Bundesbahn?« Rogler verneinte, und Lensing fuhr mit einer sonderbaren Grimasse fort: »Die reinsten Raumschiffe auf Schienen. Angeblich schaffen sie mehr als dreihundert Stundenkilometer. Bei voller Geschwindigkeit ist das Ding in zwei Minuten durch den Berg.«

»Und was ist schiefgegangen?« fragte Rogler.

»Das weiß ich nicht«, antwortete Lensing.

Rogler vermied es nachzuhaken. Die Draisine fuhr zwar mit deutlich weniger als dreihundert Stundenkilometern, aber sie würden trotzdem in wenigen Minuten am Unfallort sein - oder was immer geschehen war.

»Er sollte um 12.20h in Ascona eintreffen«, fuhr Lensing fort. »Sie hatten einen großen Bahnhof vorbereitet -«, er lächelte flüchtig über das Wortspiel, wurde aber sofort wieder ernst, als Rogler nicht darauf reagierte, »- aber der Zug kam nicht. Also haben sie versucht, ihn anzurufen. Als auch darauf keine Reaktion erfolgte, haben sie wohl einen Suchtrupp losgeschickt. Aber das ist nur das, was ich gehört habe.« Rogler sah ihn zweifelnd an, wodurch Lensing sich zu einem übertriebenen Kopfnicken genötigt fühlte. »Es ist so«, sagte er. »Ich habe den Zug bisher nicht einmal gesehen. Sie lassen niemanden an ihn ran. Ich fürchte, den letzten halben Kilometer werden sie zu Fuß gehen müssen.«

Rogler hatte genug Erfahrung im Umgang mit Lügnern, um zu wissen, wann jemand die Wahrheit sagte und wann nicht. Lensing sagte die Wahrheit - und wenn Roglers Gefühl ihm dies nicht schon bestätigt hätte, so wären der endgültige Beweis vielleicht die verstohlenen Blicke gewesen, die ihm der Mann an den Kontrollen der Draisine zuwarf. Die beiden wußten tatsächlich nichts; und sie platzten geradezu vor Neugier. Daher also die Enttäuschung in Lensings Worten. Statt ihm endlich sagen zu können, warum er eigentlich hier war, hatten sie gehofft, es von ihm zu erfahren.

»Sie sind von der Polizei in Zürich?« fragte Lensing unvermittelt.

»Bellinzona«, verbesserte ihn Rogler. »Aber sonst stimmt's, ja. Warum?«

»Es muß schon etwas verdammt Wichtiges sein, wenn sie einen Kriminalbeamten aus der Stadt kommen lassen«, sagte Lensing.

»Ich bin zufällig hier«, erinnerte ihn Rogler. »Eigentlich wollte ich hier nur Urlaub machen.« Ihm fiel zu spät ein, daß das dem Gedankenfluß, der offenbar hinter Lensings Stirn in Gang gekommen war, höchstens noch zusätzliche Nahrung gab. Die örtliche Polizei war zwar hauptsächlich auf Trickbetrüger, Taschendiebe und Heiratsschwindler spezialisiert und was sich sonst noch an einschlägigen ›Berufsgruppen‹ in einer Fremdenverkehrsmetropole wie Ascona herumtrieb. Aber auch sie überlegte es sich sicher dreimal, einen Mann wie ihn aus dem Urlaub zu holen und um Hilfe zu bitten. Es sei denn, irgend jemand hatte ihr befohlen, es zu tun.

»Vielleicht eine Bombendrohung oder ein Attentat?« vermutete Lensing. »Diese Terroristen schrecken ja heutzutage vor nichts zurück.«

»Vielleicht«, antwortete Rogler einsilbig. Er ersparte es sich, Lensing darüber aufzuklären, daß es sich ganz bestimmt nicht um einen terroristischen Akt handelte - in diesem Fall hätte man nicht ihn geholt. Allerdings ertappte er sich gleichzeitig dabei, mittlerweile wirklich neugierig auf das zu sein, was sie in der Dunkelheit dort vorne erwarten mochte. Vielleicht waren die Geschichten von Polizisten im Urlaub doch nicht ganz so an den Haaren herbeigezogen, wie er bisher angenommen hatte.

»Ist es noch weit?« fragte er.

»Zwei Kilometer«, antwortete Lensing. »Noch ein paar Minuten. Sehen Sie - dort vorne ist es schon.«

Rogler blickte in die Richtung, in die Lensing überflüssigerweise mit der Taschenlampe wies. Vor ihnen war es nicht mehr dunkel - was aber nicht hieß, daß er irgendwelche Einzelheiten erkennen konnte. Rogler erblickte ein Durcheinander aus tintenschwarzen, rechteckigen Schlagschatten und grellem Licht. Nach der fast vollkommenen Dunkelheit, die während der Fahrt und vorher geherrscht hatte, erschien es Rogler doppelt grell, so daß ihm Tränen in die Augen schossen.

Er wischte sie hastig fort und zwang sich, direkt in die blendende Helligkeit hineinzusehen; allerdings ohne Erfolg. Erst, als die Draisine langsamer wurde und das Hindernis näher kam, erkannte er, warum das so war: der liegengebliebene Zug wurde von mehreren großen Scheinwerfern angestrahlt, aber mindestens einer davon war herumgedreht worden, so daß sein Licht in den Tunnel fiel und eine undurchdringliche Barriere für neugierige Blicke bildete. Das Fahrzeug rollte aus, und Rogler sprang herunter, noch bevor es ganz zum Halten gekommen war. Lensing hatte nicht übertrieben. Sie hatten einen guten halben Kilometer vor dem Zug angehalten, und das Gehen auf dem mit grobem Schotter bestreuten Gleis erwies sich als äußerst mühsam. Er war noch immer so gut wie blind, aber er hörte jetzt Geräusche. Menschliche Laute und Maschinengeräusche: ein elektrisches Summen, das rhythmische Tuckern mehrerer Dieselmotoren, das Geräusch einer Kreissäge, vielleicht auch einer Schleifhexe. Irgendwo lief ein großer Kompressor.

Roglers Erregung wuchs. Seine Erfahrung in solcherlei Dingen beschränkte sich zwar - wie die der meisten Menschen - auf entsprechende Bilder in den Fernsehnachrichten oder Szenen aus einschlägigen Filmen, doch eines war trotzdem völlig klar: hier fand eine Bergung statt. Es konnte sich allerdings nicht um einen gewöhnlichen Unfall handeln, denn dann hätte man ihn nicht gerufen. Die ganze Geschichte wurde immer geheimnisvoller.

Er passierte die Lichtbarriere, konnte aber immer noch nicht viel erkennen; seine Augen waren geblendet, und etwas Großes, Rechteckiges verwehrte ihm den direkten Blick auf den Zug. Ein verschwommener Schatten trat ihm entgegen und zerfiel dann zu drei kleineren, einzelnen Umrissen.

»Kommissar Rogler, nehme ich an?«

Das beste wird sein, dachte Rogler gereizt, ich lasse es mir auf die Stirn tätowieren. In Leuchtbuchstaben, weil es hier drinnen so dunkel ist. »Sie nehmen richtig an. Und mit wem habe ich das Vergnügen?« Er wartete voller Ungeduld darauf, daß sich seine Augen an die veränderten Lichtverhältnisse anpaßten, aber es ging nur sehr langsam, so daß er das Aussehen der drei anderen im ersten Moment mehr erriet als erkannte und es ihm einigermaßen schwer fiel, die Namen den passenden Gesichtern zuzuordnen. Es kostete ihn den letzten Rest seiner ohnehin überstrapazierten Geduld, die Vorstellung über sich ergehen zu lassen.

Der Mann, der ihn zuerst angesprochen hatte, war allerhöchstens halb so alt wie er, aber ein wahrer Riese mit den Schultern eines Preisboxers und Händen, die aussahen, als zerbrächen sie manchmal zum Zeitvertreib Schaufelstiele. Er trug einen offenbar maßgeschneiderten grauen Anzug, der für diese Umgebung erstens völlig unpassend und zweitens viel zu dünn war. Er stellte sich als Horst Brenner vor und nannte irgendeinen Rang bei der staatlichen Eisenbahnbehörde, den Rogler sofort wieder vergaß, auch wenn er ihn angesichts von Brenners Alter ein wenig überraschte.

Auch die beiden anderen waren auf die gleiche, völlig unpassende Weise gekleidet: der, den Brenner als seinen Vorgesetzten und Kollegen Kurt Machen vorstellte, in einen Anzug, der offensichtlich vom gleichen Schneider stammte wie sein eigener, nur teurer war, der dritte Mann, ein gewisser Dr. Franke, über dessen Bedeutung sich Brenner vielsagend ausschwieg, sogar in Smoking, Rüschenhemd und Fliege. Da alle drei vor Kälte bibberten, ihre Gesichter hinter grauen Dampfschwaden verschwanden, immer wenn sie ausatmeten, und ihre Anzüge reichlich mitgenommen aussahen, wirkten sie in ihrem Aufzug ziemlich lächerlich. Sie mußten wohl zu dem ›großen Bahnhof‹ gehören, von dem Lensing gesprochen hatte.

»Also was ist passiert?« fragte Rogler mit einer Geste nach vorne, in die noch immer nicht klare Helligkeit hinein. Es lag nicht nur an seinen Augen, daß er den Zug nicht genau erkennen konnte. Unmittelbar vor dem ICE hatte ein dunkelrot lackierter S-Bahn-Triebwagen angehalten, so daß nur die äußeren Umrisse des viel größeren Schnellzuges zu erkennen waren. Davor und daneben bewegten sich Menschen: Polizisten, Feuerwehrleute, aber auch eine Menge Zivilisten in der gleichen, deplacierten Kleidung wie Brenner und seine beiden Begleiter.

Rogler begann auf den S-Bahn-Zug zuzugehen, ohne die Antwort auf seine Frage abzuwarten; er war auch sicher, daß er gar keine bekommen hätte. Und eine halbe Sekunde lang war er ebenfalls fast sicher, daß Brenner ihn aufhalten würde. Dann aber zuckte er nur andeutungsweise mit den Schultern und schloß sich ihm an. Die beiden anderen folgten ihm in geringem Abstand; allerdings erst, nachdem sie einen bezeichnenden Blick mit seinem hünenhaften Begleiter gewechselt hatten.

»Am besten, Sie sehen es sich selbst an.« Brenner antwortete schließlich doch, wenn auch mit gehöriger Verspätung und auf eine Art, die Rogler aufhorchen ließ.

»Ist es so schwer zu erklären?«

Brenner seufzte. »Tatsache ist, wir wissen es nicht«, sagte er.

»Ich habe auch keine detaillierte Erklärung erwartet«, sagte Rogler geduldig. »Ein kleiner Tip würde mir schon reichen. Ein Unfall, technisches Versagen, eine Entfüh...« Sie hatten den Triebwagen erreicht. Brenner trat vom Gleis herunter und einen Schritt zur Seite, und Rogler, der die Bewegung mitmachte, blieb der Rest seiner Frage im wahrsten Sinne des Wortes im Halse stecken.

Der ICE stand, von einem Dutzend großer Scheinwerfer in schon fast unangenehm helles Licht getaucht, zwanzig oder dreißig Meter hinter dem Triebwagen. Eine nicht näher zu schätzende, aber große Anzahl von Menschen bewegte sich rings um ihn herum, die meisten in den schweren Lederjacken und Helmen der Feuerwehr, und viele mit schwerem Gerät ausgestattet, wie man es bei der Bergung eines verunglückten Fahrzeuges wie diesem benötigte. Weiter hinten am Heck des ICE stoben blaue Funken hoch, begleitet vom schrillen Kreischen einer Trennscheibe, Befehle wurden gerufen, ein hektisches Hämmern und Klingen erfüllte den Tunnel, und es roch nach verbranntem Metall und durchgeschmorten Isolationen. Ein zweiter Triebwagen hatte auf dem Nebengleis angehalten, und aus den offenstehenden Türen luden Feuerwehrleute Kisten mit Werkzeugen und Material; andere trugen in weiße Tücher gehüllte Körper aus dem ICE heraus und verluden sie im hinteren Teil des kleineren Zuges. Rogler mußte nicht unter diese Tücher sehen, um zu wissen, was sie verhüllten. Ein bitterer Geschmack begann sich in seinem Mund auszubreiten. »Wie viele sind tot?« fragte er.

»Alle, fürchte ich. Wir haben noch nicht alle Leichen geborgen, aber es gibt wohl keine Chance, daß wir noch Überlebende finden. Vierunddreißig, Passagiere und Zugpersonal zusammengerechnet.« Es war nicht Brenner, der antwortete, sondern der Mann im Smoking, der Rogler als Dr. Franke vorgestellt worden war. Seine akzentfreie Aussprache identifizierte ihn als Deutschen.

Lensing hatte ja erzählt, daß auch eine Abordnung der deutschen Bundesbahn nach Ascona gekommen war, um das große Ereignis zu feiern. Wahrscheinlich hatten sie es sich etwas anders vorgestellt, dachte Rogler bitter.

Er ging langsam weiter. Sein Blick glitt hilflos über die stromlinienförmigen Flanken des Schnellzuges, und ein sonderbares Gefühl von Unwirklichkeit begann sich in ihm breit zu machen. Er versuchte erst gar nicht zu verstehen, was hier passiert war, und erstaunlicherweise war er nicht einmal besonders erschrocken.

Vielleicht lag es daran, daß der Anblick einfach zu bizarr war, um von einem an Fakten und Logik gewöhnten Polizistengehirn wie dem Roglers auf Anhieb verarbeitet werden zu können. Von jedem anderen wahrscheinlich auch nicht. Der ICE glich tatsächlich ein ganz kleines bißchen dem, als was Lensing ihn bezeichnet hatte: einem Raumschiff auf Schienen. Das futuristische Design und die gedrungene, trotzdem elegante Form weckten Assoziationen von mit Schnelligkeit gepaarter Kraft, und genau das war es auch, was diese Maschine darstellte: das Schnellste und Komfortabelste, was sich jemals auf Schienen bewegt hatte.

Jedenfalls war sie das einmal gewesen. Jetzt...

Nein, es gelang Rogler nicht, mit einem einzelnen Wort zu beschreiben, was diesem Zug zugestoßen war. Er war zerstört, eindeutig, und wenn er bedachte, daß die Katastrophe immerhin das Leben aller seiner Insassen gefordert hatte, so mußte es sich um ein wirklich schlimmes Unglück gehandelt haben. Trotzdem wäre das Wort Zerstörung nicht richtig gewesen, denn der Zug war eigentlich nicht zerstört. Genaugenommen war er nicht einmal wirklich beschädigt. Aber er sah aus, als wäre er geradewegs durch die Hölle gefahren.

Das ehemals silbern funkelnde Metall und die gewölbten Fenster waren blind geworden. Die einst auf Hochglanz polierten Flanken waren grau und unansehnlich; an vielen Stellen war der Lack gerissen und blätterte ab, das Metall, das darunter zum Vorschein kam, rostig. Die blauen, goldenen und weißen Zierstreifen an den Seiten des Zuges, die den Eindruck von Eleganz und Geschwindigkeit noch verstärkt hatten, waren nur noch zu erahnen. Die gesamte elektrische Anlage mußte ausgefallen sein, denn hinter den blind gewordenen, vielfach gesprungenen Scheiben war das geisterhafte Huschen von Taschenlampen und Handscheinwerfern zu erkennen.

»Mein Gott!« flüsterte Rogler. »Was ist hier passiert?«

Es war keine Frage von der Art, auf die er eine Antwort erwartet hätte, und natürlich bekam er auch keine - und selbst wenn, hätte er sie vermutlich nicht einmal gehört. Der Anblick des Zuges erschütterte ihn bis ins Innerste. Er erschreckte ihn nicht, er machte ihm auch keine Angst, aber er weckte etwas in ihm, das schlimmer war als Furcht. Sein Herz schlug plötzlich langsamer, aber so schwer, daß er jeden einzelnen Schlag bis in die Fingerspitzen fühlte, und seine Sinne schienen mit einem Male mit dem Vielfachen ihrer normalen Schärfe zu arbeiten. Er sah, hörte, roch und empfand alles mit einer nie gekannten, schon fast quälenden Intensität.

Und dann, ganz plötzlich, wußte er die Antwort auf seine eigene Frage. Er wußte, was diesem Zug zugestoßen war.

Er war alt.

Es war so deutlich, daß er sich verblüfft fragte, wie er es auch nur eine Sekunde lang hatte übersehen können. Rogler wußte, daß die ICE 2000 der Bundesbahn erst vor einem halben Jahr in Dienst gestellt worden waren, und dieser Zug hier war mit Sicherheit das neueste Modell dieser Serie, wahrscheinlich erst vor ein paar Tagen aus der Fabrik gerollt, um seine Jungfernfahrt durch den Gridone-Tunnel anzutreten. Aber so, wie er hier stand, tot, mit blinden Augen, in einen Panzer aus steinhart verkrustetem Staub eingehüllt und von Rost und Korrosion zerfressen, sah er aus, als wäre er mindestens hundertmal so alt. Was dieses riesige Stahltier getötet hatte, waren keine Terroristen gewesen oder eine Laune der Natur oder des Zufalls, sondern der älteste Feind des Menschen, und zugleich der einzige, den er vielleicht nie würde besiegen können: die Zeit. Brenner und die beiden anderen ließen ihm hinlänglich Zeit, das Unglaubliche zu verarbeiten. Vielleicht war das nicht einmal der einzige Grund, warum sie wie er minutenlang schweigend dastanden und den Zug anstarrten. Obwohl sie schon seit Stunden hier waren, schien der Anblick sie ebenso zu schockieren wie ihn. Es gab Dinge, die jedes Mal aufs neue so schrecklich waren wie beim allerersten Mal, und der Anblick des ICE gehörte dazu.

Schließlich war es Rogler, der als erster seine Lähmung überwand. Während er sich zu den anderen herumdrehte, ließ er seinen Blick rasch und prüfend über ihre Gesichter gleiten. Brenner wirkte schlicht und einfach entsetzt und auf eine Weise erschüttert, die sich ebensowenig wie Roglers eigene Gefühle in Worte fassen ließ. Er hatte Angst. Er war fast verrückt vor Angst; ebenso wie Machen, der vor lauter Nervosität nicht mehr stillstehen konnte und unentwegt von einem Fuß auf den anderen trat. Er hatte eine Rolle Pfefferminzbonbons aus der Tasche genommen und wickelte eines nach dem anderen aus der Silberfolie, ohne sie jedoch in den Mund zu nehmen. Frankes Gesicht schließlich wirkte wie aus Stein gemeißelt, aber das bedeutete keineswegs, daß ihn der Anblick kaltgelassen hätte, sondern allerhöchstens, daß er sich ein wenig besser in der Gewalt hatte als die beiden anderen. Rogler war nicht sicher, ob er ihm dadurch unbedingt sympathischer wurde.

»Ich glaube, ich verstehe jetzt, was Sie meinen«, murmelte er.

»So?« sagte Franke leise. »Das glaube ich nicht.«

Normalerweise hätte Rogler diese Art der Antwort verärgert. Jetzt machte sie ihn nur hellhörig. Er war es gewohnt, mehr aus den Worten seiner Gesprächspartner herauszuhören, als diese meistens ahnten; und er hatte dabei eine ziemlich große Trefferquote. Was er aus Frankes Antwort schloß, war zweierlei: erstens, daß der Deutsche ihn insgeheim verachtete (was Rogler nicht weiter störte - daran war er gewöhnt), und zweitens, daß er mehr wußte, als er zugab. Vielleicht nicht einmal viel, aber er wußte etwas.

Sie gingen weiter, sehr viel langsamer als nötig gewesen wäre, trotzdem aber fast schneller als Rogler lieb war. Er begann sich immer unwohler zu fühlen, je näher sie dem Zug kamen. Der tote Stahlkoloß schien eine Art körperloser Kälte auszustrahlen, die Roglers Unbehagen immer stärker werden ließ. Er sah immer mehr Anzeichen von Alter und Verfall, je weiter sie sich dem Zug näherten. Die großen Eisenräder waren so verrostet, daß sich Rogler kaum vorstellen konnte, wie sie sich überhaupt hatten bewegen können. Ein Spinnennetz von Rissen und Sprüngen überzog die Scheinwerfer an der abgeschrägten Vorderseite, und auch die linke Seite des Triebwagenfensters war geborsten; der ganze Zug sah dadurch asymmetrisch aus. Der Eindruck, den er von weitem gehabt hatte, war richtig gewesen. Die Farben waren zwar verblaßt, aber der lichtschluckende graue Schleier, der den gesamten Zug bedeckte, war nichts anderes als Staub, der im Laufe von Jahrhunderten zu einer fast fingerdicken Kruste zusammengebacken war.

»Wie sieht es drinnen aus?« fragte Rogler. Franke machte eine einladende Geste auf die Lok. Die Tür an der linken Seite stand offen, dahinter glomm das blasse Licht eines Scheinwerfers, dessen Kabel sich aus der Tür heraus und in den Triebwagen auf dem anderen Gleis ringelte. Jemand hatte eine Aluminiumleiter gegen den Zug gelehnt, und als Rogler an ihr emporblickte, wußte er auch, warum. Die verchromten Handgriffe neben der Tür waren verschwunden. An ihrer Stelle gähnten zwei ausgezackte rotbraune Wunden.

»Seien Sie vorsichtig«, sagte Franke, während Rogler die Leiter hinaufzusteigen begann. »Fassen Sie nichts an.«

Rogler ersparte sich den Hinweis, daß er Polizist war und wußte, wie er sich in einer solchen Situation zu verhalten hatte. Aber er schrieb Franke in Gedanken zwei weitere Minuspunkte an. Irgendwie wurde ihm der Deutsche dadurch beinahe sympathischer. Er hatte ihn von Anfang an nicht besonders gemocht, und der Umstand, daß sich seine Vorurteile zu bestätigen schienen, erfüllte ihn mit einer gewissen Befriedigung.

Das Innere der Lok entsprach nicht Roglers schlimmsten Befürchtungen - es übertraf sie bei weitem. Dabei hielten sich die Zerstörungen hier in erstaunlichen Grenzen. Das Führerhaus, das im übrigen überraschend groß und komfortabel konzipiert war, schien nahezu unbeschädigt. Aber wenn der Zug von außen alt ausgesehen hatte, dann mußte er für das, was er hier sah, ein neues Wort erfinden.

Die Scheiben waren so schmutzig, daß man nicht mehr hindurchsehen konnte. Der hell erleuchtete Tunnel draußen war verschwunden, nur hier und da drang noch ein blasser Schimmer durch einen Kratzer oder einen Riß. Unmittelbar über dem Leitstand hatte jemand offensichtlich versucht, eine Stelle frei zu wischen. Ohne Erfolg. Der Staub, der sich als schlieriger grauer Film über jeden Quadratzentimeter hier drinnen gelegt hatte, schien tatsächlich zur Härte von Beton erstarrt zu sein.

Vielleicht war das das Unheimlichste überhaupt. All diese technischen Wunderwerke, die Computer und Apparate, die Sensoren und Meßgeräte schienen versteinert. Rogler hatte plötzlich das absurde Gefühl, sich im Inneren eines prähistorischen Computers zu befinden. Sie hatten eines von Dänikens Raumschiffen ausgegraben, nach fünf- oder auch zehntausend Jahren, die es im bolivianischen Dschungel gelegen hatte. Es war ein ebenso irrwitziger wie angstmachender Gedanke. Rogler wäre fast wohler gewesen, tatsächlich Anzeichen von gewaltsamer Zerstörung vorzufinden.

Er hörte ein Geräusch hinter sich und erkannte Franke, der schnaufend die Leiter hinaufgestiegen kam und sich unter der Tür aufrichtete. Brenner und Machen waren draußen stehengeblieben und unterhielten sich leise.

Rogler deutete auf die staubüberkrusteten Geräte hinter sich. »Gibt es so etwas wie einen Fahrtenschreiber oder ein Bordbuch?« fragte er.

»Beides«, antwortete Franke, »und das gleich mehrfach. Jedes Wort, das hier drinnen gesprochen wird, wird elektronisch aufgezeichnet, ebenso wie jede Schaltung und jeder Handgriff, den der Lokführer oder der Computer vornehmen. Der Zug hat eine Black Box - genau wie ein Flugzeug.«

»Das heißt, Sie können feststellen, was hier passiert ist?«

»Nein«, antwortete Franke.

»Aber gerade haben Sie gesagt...«

»...daß dieser Zug das Modernste ist, was es jemals auf dieser Seite des Pazifiks gegeben hat«, unterbrach ihn Franke mit einem leicht schiefen Grinsen. »In diesem Fall dürfte sich das leider als Bumerang erweisen.« Er wies mit einer Kopfbewegung auf eine Anordnung nebeneinanderliegender Tastaturen und Bildschirme. »Ich werde mich hüten, hier irgend etwas anzufassen. Wir haben einige unserer Spezialisten angefordert, die sich darum kümmern werden. Aber ich gehe jede Wette ein, daß sie nichts finden.« Er seufzte. »Alles wird elektronisch gespeichert; auf Festplatte oder Speicherchip abgelegt. Aber so, wie es hier aussieht, hat die Anlage keinen Strom mehr. Der Generator ist ausgefallen.«

»Und es gibt keine Batterien?«

»Es gab sie«, bestätigte Franke. »Ich habe sie mir angesehen. Sie sind nicht nur leer, sie sind praktisch nicht mehr vorhanden. Wußten Sie, daß eine Batterie sich in Nichts auflöst, wenn man sie nur lange genug stehenläßt?«

»Wie lange?« hakte Rogler nach.

Franke zögerte. »Die Siliziumzellen in diesen Geräten hier?« Er zuckte mit den Achseln. »Fünfhundert Jahre? Vielleicht auch nur zweihundertfünfzig - wer weiß? Niemand hat es je ausprobiert, wissen Sie? Natürlich werden sich unsere Spezialisten jede Schraube hier drinnen einzeln vorknöpfen, aber Sie sollten sich besser keine allzugroße Hoffnung machen, daß das etwas bringt.«

Die hatte Rogler ohnehin nicht gehabt; nicht nach dem, was er gesehen hatte. Man mußte nichts von Technik verstehen, um zu erkennen, wenn etwas unwiderruflich kaputt war.

Allein mit Franke begann er sich unbehaglich zu fühlen und sah wieder zum Eingang. Die beiden anderen standen noch immer neben dem Gleis und redeten. Sie machten keine Anstalten, zu ihnen hereinzukommen.

Franke registrierte seinen fragenden Blick und schüttelte den Kopf. »Nur wir beide«, sagte er. »Was wir zu besprechen haben, geht nur Sie und mich etwas an - jedenfalls im Moment.«

»Sie wissen also doch, was hier passiert ist«, sagte Rogler.

»Nein«, antwortete Franke. Er sah ihm dabei fest in die Augen, und diesmal fiel es Rogler schwer, ihm nicht zu glauben. »Aber es gibt ein paar ... nennen wir es Theorien. Ziemlich wilde Theorien, wie ich zugeben muß. Man soll den Gerüchten nicht noch neue Nahrung geben, nicht wahr?«

»Was für Theorien?« fragte Rogler.

»Sie würden sie nicht verstehen«, antwortete Franke. Er lächelte für eine Sekunde und fügte dann hastig und mit einer wedelnden Handbewegung hinzu: »Ich wollte Sie nicht beleidigen. Aber ich verstehe sie selbst nicht. Wenn ich versuchen würde, es Ihnen zu erklären, würde ich wahrscheinlich nur Unsinn reden.«

Das wiederum verstand Rogler sehr gut. Wenn irgendeine wissenschaftliche Theorie existierte, um den Umstand zu erklären, daß ein kompletter Eisenbahnzug binnen weniger Stunden um mindestens ebensoviele Jahrhunderte altert, dann gab es wahrscheinlich auf der ganzen Welt nur drei Leute, die sie verstanden - und dazu gehörte er ganz gewiß nicht. Er mußte die Antwort auf all diese Fragen im Grunde auch jetzt noch gar nicht haben. Seine Art, die Dinge anzugehen, war anders. Rogler hatte es sich angewöhnt, nicht immer sofort nach einer Erklärung zu fragen, sondern sich zuerst die Fakten anzusehen, ganz gleich, wie eindeutig oder verwirrend sie auch sein mochten. Aber sein Ärger auf Franke war mittlerweile einfach zu groß, als daß er ihn noch vollständig unterdrücken konnte.

»Beantworten Sie mir eine Frage, Doktor Franke«, sagte er, wobei er den akademischen Titel seines Gegenübers so übermäßig betonte, daß er schon fast einer Beleidigung gleichkam. »Wenn Sie glauben, daß ich von all dem hier doch nichts verstehe, und wenn Sie - wie ich übrigens auch, nebenbei bemerkt, der Meinung sind, daß das hier kein Fall für die Polizei ist, was tue ich dann überhaupt hier?«

Sein herausfordernder Ton schien Franke zu amüsieren. »Sie enttäuschen mich nicht, Rogler«, sagte er. »Sie scheinen wirklich so gut zu sein, wie man behauptet. Das gibt mir Grund zu der Hoffnung, daß Sie auch verstehen werden, warum ich darum gebeten habe, mit jemandem wie Ihnen reden zu können.«

»Jemandem wie mir?«

»Einem Polizisten«, antwortete Franke. »Einem guten Polizisten. Man hat mir versprochen, den besten Mann zu schicken, der in der Kürze der Zeit greifbar ist. Sind Sie es?«

»Ich denke schon«, antwortete Rogler. Falsche Bescheidenheit hatte nie zu seinen Fehlern gehört. Er war gut, und er wußte es. »Aber ich bin nicht sicher, ob ich der richtige Mann für das hier bin. Vielleicht hätten Sie lieber nach Erich von Däniken schicken sollen. Oder Butlar.«

Franke zog die linke Augenbraue hoch; ob als Reaktion auf seinen sarkastischen Ton oder aus Verwunderung darüber, daß ihm diese Namen so glatt von den Lippen kamen, vermochte Rogler nicht zu sagen. Er griff in die Jackentasche, zog Zigaretten und Feuerzeug heraus und begann zu rauchen, ehe er antwortete. Rogler bot er keine Zigarette an.

»Gerade um uns vor solchen Leuten zu schützen, sind Sie hier, Herr Rogler«, sagte er dann. »Kommen Sie - ich möchte Ihnen etwas zeigen.«

Er schnippte seine eben erst angezündete Zigarette aus der Tür - sie hätte um ein Haar Machen getroffen, der sich mit einem hastigen Schritt in Sicherheit brachte und Franke einen vorwurfsvollen Blick nachschickte - und trat auf eine schmale Tür am hinteren Ende der Fahrerkabine zu. Rogler erlebte eine Überraschung, denn die Tür begann vor ihm zur Seite zu gleiten, wenn auch mit einem erbärmlichen Quietschen und alles andere als schnell - aber sie öffnete sich. Die Erklärung für dieses kleine Wunder gewahrte er jedoch schon im nächsten Augenblick. Auf dem Gang direkt dahinter stand eine Autobatterie, von der sich zwei daumendicke Kabel zur Wand hinaufringelten.

»Deutsche Wertarbeit«, erklärte Franke grinsend, als er sein Stirnrunzeln bemerkte. »Ein bißchen Strom, und alles funktioniert wieder. Sogar nach zehntausend Jahren noch.«

Rogler tat ihm nicht den Gefallen, auf den Scherz zu reagieren. Ihm war nicht nach Lachen zumute. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, Entsetzen zu empfinden. Staub, Alter und Zerfall waren hier ebenso allgegenwärtig wie im Führerhaus der Lok, vielleicht noch mehr, denn das vergleichsweise winzige Führerhaus war sicher gleich nach der Katastrophe verlassen worden. Die beiden Waggons nicht. Und die gewaltsame Zerstörung, nach der er dort vergeblich gesucht hatte - hier sah er sie. Mehr sogar, als ihm lieb gewesen wäre.

Das Innere der beiden Waggons bestand fast vollständig aus Glas oder transparenten Kunststoffmaterialien, und es waren genug Scheinwerfer hereingebracht worden, um den Zug bis zum jenseitigen Ende überblicken zu können. Die beiden Wagen glichen einem Schlachtfeld. Die Sitzpolster waren zerfetzt, einige Sessel samt ihrer Halterung aus dem Boden gerissen worden. Fast alle Trennwände waren zerborsten. Mehrere Fenster waren zerschlagen, und Roglers geübter Polizistenblick verriet ihm sofort, daß es von innen geschehen war, nicht etwa, um der Rettungsmannschaft Einlaß zu gewähren. An vielen Stellen war die Wandverkleidung auf- oder gleich ganz heruntergerissen, und etwa auf halber Höhe des Zuges gähnte ein fast mannsgroßes Loch in der Decke, in dem die rostigen Stahlträger der Rumpfkonstruktion sichtbar wurden. Und auch hier lag über allem eine graue, spröde Schicht aus zu Stein gewordenem Staub.

»Was hier geschehen ist, kann ich Ihnen sagen«, sagte Franke leise. »Panik. Am Schluß haben sie sich wohl gegenseitig umgebracht. Kommen Sie.«

Im hinteren Teil des Wagens herrschte hektische Betriebsamkeit. Es mußte ein gutes Dutzend Männer sein, das damit beschäftigt war, die Trümmer zu sichten und zumindest den kläglichen Versuch zu unternehmen, so etwas wie Ordnung zu schaffen. Die Spuren ihres Tuns waren auch im vorderen Teil der Wagen deutlich zu erkennen - offensichtlich hatte sich die Bergungsmannschaft von der Lok aus nach hinten vorgearbeitet, denn nicht alle Zerstörungen waren alt, wie Rogler erkannte, während er Franke folgte. Er sah zerbrochenen Kunststoff und Glassplitter, hier und da die charakteristischen Spuren eines Schweißbrenners, und einmal etwas, das ihm einen so eisigen Schauer über den Rücken laufen ließ, daß er hastig wegsah: der Panzer aus verkrustetem Staub war aufgebrochen, und das, was man herausgeholt hatte, hatte eindeutig die Umrisse eines menschlichen Körpers gehabt.

Franke bedeutete ihm mit einer Geste, dicht bei ihm zu bleiben und nichts zu sagen, während sie sich dem Bergungstrupp näherten. Die Männer waren damit beschäftigt, das zusammengestauchte Metallgerippe einer Sitzbank auseinanderzuschweißen, das den Durchgang zum hinteren Drittel des Wagens blockierte. Darunter lag etwas Dunkles von bizarrer und gleichzeitig erschreckend vertrauter Form.

Es war eine Leiche. Rogler hatte den Anblick erwartet, vor allem nach Frankes geheimnisvollem Benehmen, und trotzdem schockierte er ihn. Nicht nur, weil der Anblick eines Toten auch zu jenen Dingen gehörte, an die man sich nie wirklich gewöhnen konnte - ganz im Gegenteil hatte Rogler manchmal das Gefühl, daß es schlimmer wurde, mit jeder Leiche, die er sah -, sondern weil der Mann nicht einfach nur tot war. Er war mumifiziert.

Vor ihnen lag ein braunes, verschrumpeltes Etwas, dessen rissige Haut sich wie Fetzen trockener Tapete vom Schädel abzuschälen begonnen hatte, der überdies eingedrückt und offensichtlich gewaltsam zertrümmert worden war. Der rechte Arm, der in den fadenscheinigen Resten einer Anzugjacke steckte, war gebrochen. Der linke Arm und der Rest des Körpers waren vom Gürtel an abwärts noch unter den Trümmern der Sitzbank begraben, aber Rogler zweifelte nicht daran, daß sie keinen wesentlich anderen Anblick boten.

Während Rogler noch mit seinem revoltierenden Magen kämpfte, beugte sich Franke vor und griff in die Jackentasche des Toten. Der Anzugstoff zerfiel unter seinen Fingern zu schmierigem Staub, aber als er sich aufrichtete, hielt er etwas Zerfleddertes in der Hand, das Rogler erst beim zweiten Hinsehen als Brieftasche identifizierte; genauer gesagt, etwas, das einmal eine Brieftasche gewesen war.

Franke klappte sie vorsichtig auf. Das Leder zerbröselte unter seinen Fingern, zusammen mit dem größten Teil dessen, was diese Brieftasche einmal enthalten hatte. Alles, was übrig blieb, waren drei schmale, unterschiedlich große Plastikkärtchen. Es waren eine Scheckkarte, ein in Plastik eingeschweißter Presseausweis und ein deutscher Bundespersonalausweis. Die eingeprägte Schrift war noch deutlich zu erkennen, aber das Foto war bis zur Unkenntlichkeit verblaßt und zeigte nur noch einen schwarzen Fleck. Gerade dadurch erhielt es wieder eine grausige Ähnlichkeit mit dem Gesicht seines Besitzers. Roglers Magen hörte auf zu revoltieren. Er hüpfte jetzt wie ein Gummiball in seinem Leib auf und ab und versuchte in seine Kehle zu gelangen. »Matthias Stein«, las Franke vor. »Geboren 15.7.63 in Berlin. Sehen Sie - und wir hatten vor ein paar Jahren eine Diskussion in der Öffentlichkeit, ob diese neuen Personalausweise tatsächlich fälschungssicher sind. Wenn das nicht der Beweis ist...«

Rogler hämmerte sich vergeblich ein, daß Frankes überhaupt nicht komische Witze wahrscheinlich nur seine Art waren, mit der Hysterie fertig zu werden. Es änderte nichts: er hatte plötzlich Lust, diesem eingebildeten Idioten die Faust ins Gesicht zu schlagen. Mit dem letzten Rest seiner Selbstbeherrschung drehte er sich herum und entfernte sich ein paar Schritte. Franke war zumindest jetzt taktvoll genug, ihm nicht sofort nachzukommen, sondern ihm ein paar Sekunden zu gewähren, um seine Fassung wiederzufinden.

»Ich kannte Stein«, sagte Franke. Er wirkte jetzt sehr ernst, und als Rogler sich nach ein paar Sekunden widerwillig zu ihm herumdrehte, da erblickte er zum ersten Mal auch in seinen Augen das gleiche Entsetzen, mit dem er selbst zu kämpfen hatte, seit sie den Zug betreten hatten.

»Ich habe noch vor ein paar Tagen mit ihm zu Abend gegessen.« Frankes Gesicht umwölkte sich. »Ich kannte die meisten von denen, die hier ... die mit dem Zug gefahren sind. Einer oder zwei waren Freunde von mir.«

»Das tut mir leid«, sagte Rogler. Es war ehrlich gemeint, und Franke schien zu spüren, daß es nicht nur eine leere Floskel war, denn er lächelte dankbar.

»Um ein Haar wäre ich auch hier drinnen gewesen«, fuhr er fort. »Eigentlich ist es nur ein Zufall, daß ich mich dann doch entschlossen habe, den Zug in Ascona in Empfang zu nehmen.«

»Danken Sie dem Schicksal«, sagte Rogler ernst. »Sie wären jetzt auch tot. Und wenn es Ihnen hilft: ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um herauszufinden, was hier...«

»Das brauchen Sie nicht«, unterbrach ihn Franke. Die Spur menschlicher Regung, die für einen Moment durch seine Yuppie-Fassade hindurchgeschimmert hatte, erlosch wieder. »Und ich fürchte, das können Sie auch nicht. Kommen Sie - gehen wir ein Stück nach vorne.«

Sie entfernten sich weit genug vom hinteren Teil des Zuges, um zuverlässig außer Hörweite des Bergungspersonals zu sein. Erst dann sprach Franke weiter. »Ich bin kein Kriminalist, aber ich denke, es ist ziemlich klar, was hier passiert ist. Der arme Teufel hat wahrscheinlich noch Glück gehabt, daß ihm jemand den Schädel eingeschlagen hat. Die meisten sind wahrscheinlich elend verhungert.«

»Wie?« fragte Rogler überrascht.

»Das Bordrestaurant«, antwortete Franke. »Es war frisch bevorratet, als der Zug losfuhr. Essen und Trinken für dreihundert Gäste - zehnmal soviel, wie an Bord waren. Ich habe es mir angesehen: es ist kein Krümel mehr da. Ich weiß, es klingt verrückt, aber sie sind einfach verhungert.« Er wies auf die zertrümmerten Fenster. »Zwei oder drei scheinen auch hinausgesprungen zu sein. Wir haben bisher eine Leiche gefunden, ungefähr hundert Meter weiter hinten im Tunnel. Nach den anderen suchen wir noch. An der einen, die wir gefunden haben ... soweit das überhaupt noch feststellbar ist, war so ziemlich jeder einzelne Knochen zerbrochen. So sieht jemand aus, der bei dreihundert Stundenkilometern aus einem fahrenden Zug springt.« Er schwieg eine Sekunde. »Kein sehr schöner Tod. Aber wenigstens ein schneller.«

Rogler versuchte vergeblich, sich vorzustellen, welche unfaßbaren Szenen sich hier abgespielt haben mochten. Wenn Franke recht hatte, dann hatten sie am Schluß um jeden Krümel Brot erbittert gekämpft. Er war sehr froh, daß seine Phantasie nicht ausreichte, die Bilder heraufzubeschwören, die dieser Wagen gesehen hatte.

Aus keinem anderen Grund als dem, dem Grauen zu entrinnen, das ihn zu übermannen drohte, zwang er sich, wieder zu der Frage zurückzukehren, die Franke immer noch nicht beantwortet hatte: »Was genau wollten Sie mir zeigen, Doktor Franke?«

»Das alles hier«, antwortete Franke. »Ich hoffe, daß Sie mich jetzt besser verstehen. Es wird Ihnen helfen, Ihre Arbeit noch besser zu tun.«

»Was für eine Arbeit?« fragte Rogler. »Das hier ist eine Aufgabe für...«

»Die Zeit hat nicht gereicht, um es vorher zu erledigen«, unterbrach ihn Franke, »aber wenn Sie nachher in Ihr Hotel zurückkehren, werden Sie ein Telegramm Ihrer Dienststelle vorfinden, das Sie zum Leiter der Sonderkommission Gridone macht. Sie werden eng mit mir und einigen anderen Leuten zusammenarbeiten, die sich noch auf dem Weg nach Ascona befinden.«

»Was für eine Sonderkommission?« fragte Rogler mißtrauisch.

»Die Kommission, die versuchen wird, die Gruppierung zu ermitteln, die für diesen fürchterlichen Terroranschlag verantwortlich ist, selbstverständlich.«

»Terroranschlag?« wiederholte Rogler ungläubig. Er starrte Franke an. »Sind Sie verrückt? Das hier war kein Terrorakt!«

»Natürlich nicht«, antwortete Franke lächelnd. »Aber Sie und Ihre Männer, Herr Rogler, werden uns dabei helfen, es zu einem zu machen.«

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