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»Ist Ihnen eigentlich klar, dass wir hier ein Verbrechen begehen?« fragte Rogler. Er hatte seine Stimme absichtlich so gesenkt, daß sie gerade noch über einem Flüstern lag, obwohl kaum die Gefahr bestand, daß jemand sie belauschte. Es war wenige Minuten nach sechs. Der Frühstücksraum des Hotels war noch leer, abgesehen von einer verschlafen wirkenden Bedienung, die vor dem Büffet am anderen Ende des großen Zimmers stand und versuchte, nicht wieder einzuschlafen, während sie auf ihre Wünsche wartete.

»Sie übertreiben, wie üblich«, antwortete Franke mit einem Lächeln. Er nippte an seinem Kaffee, stellte die Tasse mit einer fast behutsamen Bewegung zurück und maß die Auswahl von Wurst- und Käsesorten auf der Platte vor sich mit dem Kennerblick eines Gourmets. In Anbetracht der frühen Stunde, fand Rogler, sah er geradezu unverschämt frisch und fröhlich aus. Dabei hatte er in der vergangenen Nacht allerhöchstens vier Stunden geschlafen - wie übrigens auch in der Nacht davor und in der davor.

»Ich weiß nicht, worüber Sie sich so aufregen, mein lieber Freund«, fuhr er fort, während er eine Scheibe Schwarzbrot dünn mit Butter bestrich und dann sorgsam drei verschiedene Wurstsorten darauf drapierte. »Sie haben allen Grund, zufrieden zu sein.«

»Womit?« fragte Rogler. »Mit dem Wissen, die ganze Welt an der Nase herumzuführen? Damit, daß ich Dutzende von Kollegen, die wirklich Besseres zu tun hätten, seit einer Woche damit beschäftige, Gespenster zu jagen?«

»So würde ich das nicht bezeichnen«, widersprach Franke. Er biß in sein Brot und schloß genießerisch die Augen, während er kaute. »Köstlich. Ihr Schweizer versteht etwas vom Essen, das muß man euch lassen. Und um auf Ihre Gespenster zurückzukommen: immerhin haben Sie und Ihre Kollegen in der letzten Woche mehrere seit Jahren gesuchte Kriminelle gefaßt, die hier in der Gegend untergetaucht waren. Von den gut zwei Dutzend kleineren Fischen ganz zu schweigen.«

»Sie wissen genau, was ich meine«, antwortete Rogler ärgerlich. »Es ist die Aufgabe der Polizei, Verbrechen zu verhindern oder aufzuklären. Nicht, welche zu konstruieren. Ich halte seit einer Woche fünfzig der besten Polizisten dieses Landes auf Trab - und Sie und ich, wir wissen ganz genau, daß die Terroristen, die sie jagen, überhaupt nicht existieren.«

»Aber ich habe Ihnen doch erklärt, warum wir das tun müssen«, seufzte Franke. »Wollten Sie der Öffentlichkeit wirklich die Wahrheit sagen? Wollen Sie ihnen tatsächlich erklären, daß wir keine Ahnung haben, was dem Zug in Wahrheit zugestoßen ist? Und daß wir nicht einmal garantieren können, daß es sich nicht wiederholt - vielleicht an einem anderen Ort und schlimmer?« Er schüttelte den Kopf, biß erneut in sein Brot und spülte mit einem Schluck Kaffee nach. »Glauben Sie mir, mein Freund, gegen die Panik, die dann ausbrechen würde, sind die paar verlorenen Arbeitsstunden Ihrer Kollegen ein Witz.«

Rogler schluckte seinen Ärger mühsam herunter. Er wußte gar nicht, was ihn mehr wurmte - der Umstand, daß Franke im Grunde recht hatte, oder der, daß er sich seit einer Woche einen Spaß daraus machte, ihn herumzukommandieren wie ein Lehrer einen Erstklässler, den er aufs Korn genommen hatte. Und dabei war Franke nicht einmal Schweizer.

Als er an jenem Tag vor nunmehr einer guten Woche ins Hotel zurückgekehrt war, da hatte er tatsächlich ein Schriftstück seiner vorgesetzten Dienststelle vorgefunden, die bestätigte, daß er Frankes Anweisungen in diesem Fall uneingeschränkt und ohne zu fragen Folge zu leisten hatte. Es war niemals Roglers Art gewesen, Befehlen blind zu gehorchen, ohne sich nach ihrem Sinn zu erkundigen. Er hatte es auch in diesem Fall versucht - und sich hinterher beinahe gewünscht, es nicht getan zu haben. Nachdem er fünf verschiedenen Leuten offenbar schmerzhaft genug auf die Zehen getreten war, hatte plötzlich das Telefon bei ihm geklingelt, und nach diesem Anruf war Rogler klar gewesen, daß Frankes Vollmachten tatsächlich absolut zu sein schienen. Wenn er von ihm verlangt hätte, auf einem Bein zweimal um den Lago Maggiore herum zu hüpfen, dann hätte er auch das tun müssen. Ohne zu fragen, warum. »Es gefällt mir trotzdem nicht«, maulte Rogler.

»Niemand verlangt von Ihnen, daß es Ihnen gefällt«, erwiderte Franke lächelnd. »Tun Sie Ihre Arbeit weiter so gut wie bisher, und wir sind alle zufrieden. Sehen Sie es von der positiven Seite: Sie haben endlich Gelegenheit, sich all der Subjekte zu entledigen, die Ihr wunderschönes Land zu nichts anderem mißbrauchen, als sich dem Zugriff ihrer heimatlichen Justizbehörden zu entziehen. Ich dachte immer, Polizisten wünschen sich eine solche Chance.«

»Das tun sie auch«, sagte Rogler. »Aber nicht für diesen Preis.«

Franke belegte sich ein zweites Brot und begann es mit ebenso großem Appetit wie das erste zu verzehren.

Rogler sah ihm eine Weile dabei zu, dann sagte er: »Bevor ich Sie frage, warum Sie hierher gekommen sind - wir hatten einen Handel, erinnern Sie sich?«

Franke zog fragend die linke Augenbraue hoch und kaute unbeeindruckt weiter.

»Sie haben mir versprochen, mir zu erzählen, was Sie herausfinden.«

»Sobald wir etwas herausgefunden haben, richtig«, bestätigte Franke. »Aber das ist noch nicht der Fall.«

»Und das soll ich Ihnen glauben?« Rogler machte eine Geste zum Fenster, das durch Zufall so lag, daß der Blick tatsächlich direkt auf den Gridone fiel. »Sie und Ihre Kollegen nehmen diesen Berg seit einer Woche Zentimeter für Zentimeter auseinander, und Sie haben noch nichts herausgefunden?«

»Eher Millimeter für Millimeter«, verbesserte ihn Franke und schüttelte abermals den Kopf. »Wir haben bisher tatsächlich nichts gefunden. Einige Anhaltspunkte, die meine erste Theorie zu bestätigen scheinen, aber noch nichts Konkretes.«

»Ich bin es gewohnt, mit Anhaltspunkten zu leben«, sagte Rogler gereizt.

Sein unübersehbarer Ärger schien Franke eher zu amüsieren. »Es scheint sich um eine Art ... Gravitationsanomalie zu handeln«, sagte er. »Mehr weiß ich auch noch nicht.«

»Gravitationsanomalie?« wiederholte Rogler. Anders als Franke anzunehmen schien, hatte er zumindest eine ungefähre Vorstellung, was er sich unter diesem Wort zu denken hatte. »Und was hat das mit dem zu tun, was dem Zug zugestoßen ist?«

»Wenn ich das wüßte, säße ich nicht hier, um zu frühstücken«, antwortete Franke lächelnd, »sondern wäre auf dem Weg nach Stockholm, um den Nobelpreis entgegenzunehmen.« Er wedelte mit seiner Kaffeetasse. »Glauben Sie nicht, daß ich kein Verständnis für Sie hätte, Herr Rogler. Ich weiß, daß der Druck, den die Öffentlichkeit auf Sie ausübt, ungeheuer sein muß. Aber Sie können sicher sein, daß die Art, in der Sie Ihre Arbeit tun, sehr aufmerksam beobachtet wird. Und daß es sich für Sie lohnt. Wenn das hier vorbei ist, werden Sie nie wieder kleine Trickbetrüger und Taschendiebe jagen müssen, das kann ich Ihnen versprechen.«

Eigentlich hätte Rogler nun schon wieder zornig werden müssen. Wenn es etwas gab, was ihn noch mehr in Rage brachte als der Versuch, ihn unter Druck zu setzen, dann war es der, ihn zu bestechen. Aber er schluckte seinen Ärger auch diesmal wieder herunter. Er würde herausfinden, was in diesem Berg wirklich vorging, und wenn Franke glaubte, es für alle Ewigkeiten vor ihm geheimhalten zu können, dann hatte er keine Ahnung, wozu ein Polizist, der sich einmal in einen Fall verbissen hatte, wirklich in der Lage war. Er hatte - selbstverständlich ohne Frankes Wissen - schon längst begonnen, Erkundigungen über ihn und vor allem den Berg einzuziehen, und er hatte ein paar Dinge herausgefunden, über die Franke bestimmt nicht sehr glücklich gewesen wäre.

»Wie lange soll ich dieses Theater noch aufrechterhalten?«

»Um diesen Punkt zu klären, bin ich gekommen«, antwortete Franke. Er schenkte sich Kaffee nach und sah dabei auf die Uhr. »In einer Stunde holt mich ein Helikopter ab, der mich nach Genf bringt. Ich muß dort mit einigen Leuten reden. Ich weiß noch nicht genau, wann ich zurückkomme. Möglicherweise erst in ein paar Tagen. So lange werden Sie den Laden hier wohl oder übel allein schmeißen müssen.« Als ob ich das nicht die ganze Zeit über getan hätte, dachte Rogler verärgert. »Ich fürchte, wir müssen unser kleines Spiel noch einige Tage aufrechterhalten«, fuhr Franke fort. »Vielleicht noch eine Woche, möglicherweise sogar zwei.«

»Eine Woche!« krächzte Rogler. »Sind Sie verrückt geworden?«

»Vielleicht sogar länger«, sagte Franke noch einmal und vollkommen unbeeindruckt. Rogler starrte ihn nur an. Die sogenannte Sondereinheit, die er leitete, hatte auf Frankes Befehl hin schon jetzt die halbe Region lahmgelegt. Der Ausfall der Eisenbahnstrecke hatte ohnehin dafür gesorgt, daß Ascona und die nördliche Seite des Lago Maggiore nahezu im Chaos versunken waren, und was der Verkehr nicht schaffte, das taten Straßensperren, Polizeikontrollen und unerwartete Razzien in Hotels und Vergnügungsbetrieben, die sie fast regelmäßig durchgeführt hatten. Für Rogler war dies ein weiterer Beweis, daß es sich bei den Ereignissen im Gridone um mehr als eine Gravitationsanomalie handelte, wie Franke behauptete. Aber er wußte auch, daß er diese Farce nicht beliebig lange spielen konnte. Schon jetzt war jeder dritte Hotelgast in Ascona ein Journalist. Und wenn es eine Spezies auf diesem Planeten gab, die noch hartnäckiger als Polizeibeamte war, dann waren es Reporter, die eine Sensation witterten. Die Gerüchte, die Rogler gehört hatte, reichten von der Aufdeckung einer Verschwörung gegen die Schweizer Regierung bis hin zur Landung Außerirdischer auf dem Gridone. Natürlich war nichts davon ernstzunehmen. Aber es gab dieses alte Sprichwort von dem blinden Huhn, und wenn hunderttausend blinde Hühner herumhackten, dann mußte eines von ihnen früher oder später das richtige Korn finden. Rogler verspürte wenig Lust, die Antwort auf all seine Fragen in irgendeinem Boulevardblatt zu lesen, während er selbst noch damit beschäftigt war, Terroristen zu jagen, die es gar nicht gab. Er wollte eine weitere Frage stellen, aber in diesem Moment drang ein leises, zweifaches Piepsen aus Frankes Jacke. Franke setzte die Kaffeetasse ab, griff in die Tasche und zog ein kleines, transportables Telefon heraus. Er klappte es auf, hielt es ans Ohr und meldete sich. Das Gespräch, das folgte, dauerte kaum eine Minute. Frankes Anteil daran bestand aus wenigen, knappen Worten, aber es war nicht zu übersehen, daß ihn das, was er hörte, überaus zu beunruhigen schien. Schließlich schaltete er das Gerät wieder ab und steckte es ein, ohne sich auch nur verabschiedet zu haben.

»Ich fürchte, ich muß meine Pläne ändern«, sagte er. »Ich hätte gerne noch in Ruhe mit Ihnen zu Ende gefrühstückt und das eine oder andere besprochen, aber das muß warten.«

»Ärger?« fragte Rogler. Er war selbst ein wenig erstaunt, wie schadenfroh seine Stimme klang, aber Franke nahm es gar nicht zur Kenntnis. Er wirkte mit einem Male sehr fahrig.

»Nicht direkt«, antwortete er. »Aber es könnte welcher daraus entstehen.« Er stand auf. »Sie halten sich bitte an unsere Absprache, bis ich zurück bin«, sagte er, wie Rogler fand, vollkommen unnötig. Er war mittlerweile fast sicher, daß ein Gutteil seiner aufgesetzten Arroganz keinen anderen Grund hatte als den, ihn zu demütigen. Franke war ein Mensch, der es genoß, Macht zu besitzen - und noch mehr, andere diese Macht spüren zu lassen.

Er ging, ohne sich zu verabschieden. Rogler wartete, bis er das Zimmer verlassen hatte. Dann begann auch er zu frühstücken, und zu seiner eigenen Überraschung schmeckte es ihm sogar. Jetzt, wo Franke nicht mehr hier war, war auch sein Appetit zurückgekehrt.

Während der letzten zehn Minuten der Fahrt hatte Warstein innerlich Blut und Wasser geschwitzt, und seine Nervosität war mit jedem leisen Klacken gestiegen, mit dem der Taxameter um eine Ziffer weitersprang. Er hatte gewußt, daß der Franz-Josef-Strauß-Flughafen ein gutes Stück außerhalb der Stadt lag - aber nicht, wie weit wirklich. Und vor allem hatte er unterschätzt, wie sehr sich diese Entfernung auf dem Gebührenzähler eines Taxis niederschlägt. Die Anzeige näherte sich unerbittlich der magischen Vierundfünfzig-Mark-zwanzig-Grenze - magisch deshalb, weil dies genau die Summe war, die er in der Tasche hatte, nachdem er all seine Barschaft zusammengekratzt und jede einzelne Pfandflasche zurückgebracht hatte, die sich in seiner Wohnung fand. Er war sicher gewesen, damit zum Flughafen zu kommen und vielleicht sogar noch genug für ein Bier oder schlimmstenfalls einen Kaffee übrigzubehalten. Jetzt war er sicher, es nicht zu schaffen.

Er hätte auf seine innere Stimme hören sollen, dachte Warstein mißmutig, und Bergers Mappe samt jeder Erinnerung an sie und ihre Geschichte aus dem Fenster schmeißen. Laut genug war die Warnung schließlich gewesen. Wahrscheinlich hätte er es sogar getan, hätte der Zufall nicht seine Hand im Spiel gehabt - oder das, was er dafür hielt. Tief in sich hatte Warstein zwar schon zu diesem Zeitpunkt erkannt, daß es so etwas wie Zufall nicht gab, den Gedanken aber noch nicht weit genug verinnerlicht, um ihn wirklich zu akzeptieren.

Besagter Zufall hatte ihn ungefähr drei Stunden nach Bergers Weggang in Gestalt eines schmierigen kleinen Wiesels heimgesucht, das im Auftrag eines Inkassobüros an seine Tür hämmerte, um wieder einmal irgendwelche absurden Forderungen von seiner Exfrau geltend zu machen. Noch vor zwei Tagen hätte Warstein die darauf folgende häßliche Szene mit einem Achselzucken weggesteckt; schließlich hatte er genug Übung darin. Diesmal nicht. Der Geldeintreiber war wieder gegangen, wie all seine Kollegen vor ihm, und alle seine Drohungen hätten ihn im Grunde kaltlassen müssen - wer nichts hatte, dem konnte man nichts wegnehmen. Agnes wußte das so gut wie er. Schließlich hatte sie es oft genug versucht. Aber der Besuch hatte einen anderen, unerwarteten Effekt gehabt: er machte Warstein klar, daß Berger recht gehabt hatte. Sein Leben hatte sich in eine abwärts führende Schräge verwandelt, die kein Ende hatte, und die Fahrt darauf wurde immer schneller. Wenn es überhaupt noch einen Ausweg gab, dann war es ein Sprung zur Seite, ein Sprung über die Klippe und ins Ungewisse, der schlimmstenfalls auf die gleiche Weise enden konnte wie die Schußfahrt zuvor, nur etwas schneller. Berger hatte recht: er hatte nichts mehr zu verlieren. Gar nichts.

So hatte er schließlich noch einmal die Mappe mit den gesammelten Zeitungsausschnitten und Bemerkungen über den Gridone und die sonderbaren Vorfälle in seiner Umgebung aufgeschlagen, den Zettel mit ihrer Adresse herausgenommen, der auf der letzten Seite klebte, und sie von der Telefonzelle auf der anderen Straßenseite aus angerufen. Sie schien nicht einmal besonders überrascht. Vielleicht hatte sie damit gerechnet, daß er anrief. Sie hatten sich für den folgenden Morgen um halb sieben hier im Flughafen verabredet. Warstein hatte ganz automatisch zugesagt und sich ein bißchen zu spät daran erinnert, daß er kein Leben führte, in dem man eine solche Verabredung so ohne weiteres einhalten konnte. Doch der letzte Rest von Stolz, den er noch besaß, hatte ihn daran gehindert, sie ein zweites Mal anzurufen.

Warstein blickte wieder auf den Taxameter, stellte fest, daß die Anzeige die Fünfzig-Mark-Grenze überschritten hatte und beugte sich schweren Herzens vor, um dem Chauffeur auf die Schulter zu tippen. Ein Streit mit einem erbosten Taxifahrer, der sich um sein Fahrgeld geprellt fühlte, war das letzte, was er sich jetzt wünschte. »Sie können hier anhalten«, sagte er.

Der Fahrer tippte automatisch auf die Bremse und wollte den Blinker setzen, aber dann zog er die Hand wieder zurück und sah erst ihn, dann das schimmernde Stahl- und Glasgebirge des Flughafengebäudes in der Ferne an. Sie waren noch gute drei Kilometer davon entfernt, vielleicht weiter. »Sind Sie sicher?« fragte er. »Es ist nicht mehr weit, und...«

»Ich gehe den Rest zu Fuß«, sagte Warstein. »Ein bißchen frische Luft wird mir guttun. Es ist ein schöner Morgen.«

Der Taxifahrer maß ihn mit einem Blick, als zweifle er an seinem Verstand, lenkte den Wagen aber gehorsam an den rechten Straßenrand und beugte sich zur Seite, um den Taxameter abzuschalten. »Ganz wie Sie wollen«, sagte er. »Das macht zweiundfünfzigsechzig.«

Warstein zog sein Portemonnaie hervor, klaubte zwei zerknitterte Zehner heraus und begann das Silbergeld zu zählen, das die abgenutzte Geldbörse ausbeulte. Der Taxifahrer sah ihm einige Augenblicke kopfschüttelnd dabei zu, dann sagte er: »Ich verstehe. Es reicht nicht ganz, wie?«

»Ich fürchte, nein«, antwortete Warstein. Die Situation war ihm peinlich, viel peinlicher, als er selbst verstand. Er war es seit ein paar Jahren gewöhnt, ein solches Leben zu führen.

»Wieviel haben Sie denn?« fragte der Fahrer.

»Jedenfalls nicht genug«, erwiderte Warstein ausweichend.

»Na gut. Dann schütten Sie das ganze Gerumpel auf den Beifahrersitz. Ich zähle es später nach.« Noch während Warstein darüber nachdachte, was er von diesen Worten zu halten hatte, ließ er den Motor wieder an, wartete eine Lücke im Verkehr ab und fuhr weiter.

»Aber ich kann Sie nicht...«, begann Warstein.

»Das müssen Sie auch nicht«, unterbrach ihn der Fahrer. »Die drei Kilometer bringen mich nicht um, wissen Sie. Und es tut gut, einen ehrlichen Menschen zu treffen.« Er lachte, als er Warsteins verblüfften Gesichtsausdruck bemerkte. »Sie würden sich wundern, wenn Sie wüßten, wie viele rein zufällig erst hinterher merken, daß sie zuwenig Geld eingesteckt haben. Außerdem hätte ich sowieso bis zum Flughafen weiterfahren müssen, um zu wenden.«

Zumindest das war eine glatte Lüge, aber eine, für die Warstein dem Mann sehr dankbar war.

Beinahe ebenso dankbar war er ihm dafür, daß sie auch den kurzen Rest der Fahrt ebenso schweigend zurücklegten und der Mann nicht versuchte, ihm ein Gespräch aufzudrängen; etwa mit der originellen Frage, ob er schon einmal bessere Zeiten erlebt hätte. Der Wagen fuhr vor einem der drei großen Haupteingänge vor, und Warstein bedankte sich mit einem stummen Händedruck bei seinem Wohltäter und stieg aus. Es war sehr warm, obwohl es noch früh war. Angesichts ihres Reisezieles hatte sich Warstein in einen Pullover und eine dicke Jacke gehüllt, aber nun begann er schon nach wenigen Augenblicken zu schwitzen. Sie hatten sich an keinem bestimmten Platz verabredet, was sich nun als Fehler zu erweisen schien. Mit Ausnahme seiner Bestimmung hatte der Franz-Josef-Strauß-Flughafen nichts mit seinem Vorgänger gemein. Er war mindestens doppelt so groß, und aus der anheimelnd kleinen, fast gemütlichen Halle war ein Labyrinth aus Glas, Marmor und verchromtem Stahl geworden, in dem es ihm unmöglich schien, einen einzelnen Menschen zu finden. Trotzdem mußte er nicht lange nach Berger suchen. Es verging nur eine kurze Zeit, bis er jemand seinen Namen rufen hörte. Als er sich herumdrehte, da sah er sie durch die Menschenmenge auf sich zuhasten. Sie trug das gleiche, helle Sommerkostüm wie am vergangenen Tag, und über die linke Schulter hatte sie eine leichte Reisetasche geworfen.

»Schön, daß Sie kommen«, sagte sie. »Ich hatte schon Sorge, daß Sie es sich doch noch anders überlegt haben könnten.«

»Der Weg war weiter, als ich dachte«, erwiderte Warstein verlegen. »Ich war noch nie hier. Ich bin früher nur von Riem aus geflogen.«

»Aber so lange ist das doch noch gar nicht...«, begann sie, brach ab und zuckte mit einem angedeuteten Lächeln die Schultern. »Stimmt, das hatte ich vergessen. Sie fliegen nicht gerne.«

»Sie wissen wirklich viel über mich«, sagte Warstein, der nicht ganz sicher war, ob ihm das gefiel.

»Ich habe Ihnen doch gesagt, daß mein Mann ein großer Fan von Ihnen war.«

»Vermessungstechniker haben keine Fans«, sagte er ruhig. »Nicht einmal ich.« Ehe sie noch mehr sagen und die Situation womöglich noch peinlicher machen konnte, fragte er: »Wo ist Ihr Freund?«

»Lohmann?«

Warstein lauschte einen Moment in sich hinein, aber dieser Name sagte ihm nichts. Zumindest schien es keiner von denen zu sein, mit denen er damals zu tun gehabt hatte. »Der Reporter, ja.«

Berger drehte sich herum, suchte einen Moment und deutete dann irgendwo nach links in das Gewühl aus Menschen. »Er wartet dort hinten auf uns.« Sie zögerte. »Da ist noch etwas, was ich Ihnen nicht gesagt habe.«

»Und was?«

»Ich ... ich habe ihm erzählt, daß wir alte Freunde sind«, sagte Berger. »Ich dachte, das wäre besser.«

»Wieso?«

»Hätte ich ihm die Wahrheit gesagt, wäre er wahrscheinlich nicht mitgekommen«, gestand sie. »Ihr Name ... war ihm nicht ganz fremd, wissen Sie.«

»Alte Freunde, so?«

»Wir sollten uns duzen«, sagte sie. »Nennen Sie mich Angelika - oder meinetwegen Angy, wenn Ihnen das lieber ist.« Ihre Augenbrauen zogen sich in übertrieben gespieltem Zorn zusammen. »Aber bitte nicht Geli. Das tun mir nur Leute an, die mich hassen.«

Gegen seinen Willen mußte Warstein lachen. Er wußte, daß sie keine Chance hatten, mit diesem Theater länger als eine Stunde durchzukommen. Aber das spielte keine Rolle. Wenn sie erst einmal im Flugzeug saßen, war es gleich. »Nur, wenn Sie mich Frank nennen«, erwiderte er.

»Das möchte ich nicht«, sagte sie. »Mein Mann heißt so. Ich ... ich käme mir irgendwie komisch dabei vor.«

Warstein gefiel die ganze Farce immer weniger, aber auf der anderen Seite war sie es auch nicht wert, endlose Diskussionen darum zu führen. »Angelika, gut«, sagte er. Obwohl Angy kürzer gewesen wäre und ihr wahrscheinlich besser gefallen hätte. Aber er hatte schon immer etwas gegen die zunehmende Veramerikanisierung seiner Muttersprache gehabt, und er sah keinen Grund, jetzt damit anzufangen.

Sie durchquerten die Halle. Lohmann lehnte lässig an einer Bar in der Nähe der Abfertigungsschalter, und er war Warstein auf Anhieb unsympathisch, obwohl er ihn im ersten Moment nur von hinten sah. Er war ein schlanker, sehr großer Mann in einem abgetragenen Jeansanzug und ungeputzten Schuhen. Sein Haar war für die Länge, in der er es trug, nicht gut genug gepflegt, und an seiner linken Hand prangte ein geschmackloser Siegelring. Er trug eine Fototasche über der Schulter, und neben seinem rechten Fuß stand ein Samsonite-Koffer. Als Angelika und Warstein neben ihm anlangten, stellte er sein Bierglas aus der Hand und maß Warstein mit einem langen, nicht besonders angenehmen Blick von Kopf bis Fuß. Obwohl er lässig an der Bar lehnte, überragte er ihn immer noch fast um Haupteslänge, was seinen Blick beinahe noch verächtlicher erscheinen ließ. »Sie sind also Warstein«, sagte er schließlich. Eine sonderbare Art der Begrüßung. »Der berühmte Frank Warstein. Ich habe Bilder von Ihnen gesehen. Trotzdem hätte ich Sie mir anders vorgestellt.«

»Das ist einer Menge Kollegen von Ihnen auch passiert«, erwiderte Warstein. Er fing einen warnenden Blick Angelikas auf, aber es fiel ihm schwer, sich zu beherrschen. Er war voreingenommen, was Journalisten anging, aber er war fast sicher, daß seine Vorurteile in diesem Fall zutrafen.

Lohmann lachte, aber Warstein sah ihm deutlich an, daß er die Worte sehr wohl genauso verstanden hatte, wie sie gemeint waren. Er mochte vielleicht unsympathisch sein, aber er war nicht dumm. »Jetzt, wo wir endlich alle zusammen sind, sollten wir aufbrechen«, sagte er. »Die Maschine startet in Kürze. Sie checken schon ein. Haben Sie Ihr Ticket?«

Bevor Warstein antworten konnte, öffnete Angelika ihre Handtasche und nahm eine Flugkarte heraus, die sie ihm reichte.

»Erster Klasse?« fragte er erstaunt.

»Geht alles auf Spesen«, sagte Lohmann. »Ich hoffe, der ganze Aufstand lohnt sich.«

Warstein verkniff es sich, darauf zu antworten. Er ergriff seinen Koffer, wartete, bis auch Lohmann und Angelika ihr Gepäck genommen hatten, und folgte den beiden.

Sie gehörten tatsächlich mit zu den letzten Passagieren, die an Bord gingen. Trotzdem betrat Warstein das Flugzeug sehr langsam und mit gemischten Gefühlen. Er war nie gerne geflogen, und der Weg über die Gangway war ihm noch nie so lang vorgekommen wie heute. Spätestens, wenn er den kunststoffüberdachten Tunnel hinter sich gebracht hatte und durch die Kabinentür trat, gab es kein Zurück mehr. Vorhin, unten in der Halle, auf dem Weg durch die Sicherheitskontrollen, ja, selbst jetzt noch, konnte er umkehren, sich einfach herumdrehen und nach Hause gehen, ganz egal, was Lohmann oder Angelika davon hielten. Er konnte sich immer noch einreden, daß es ein Fehler gewesen war, hierher zu kommen, und er im letzten Moment wieder zu klarem Verstand gelangt war. Wenn sie einmal in der Maschine saßen, einmal auf Schweizer Boden, ging das nicht mehr. Und er hatte vor nichts so sehr Angst wie davor, zum Gridone zurückzukehren. So wurden seine Schritte immer langsamer, und als er das kleine Rondell unmittelbar vor der Flugzeugtür betrat, blieb er vollends stehen. Lohmann, der vorausgeeilt war, bemerkte es gar nicht. Angelika blieb zwei Schritte vor ihm stehen und sah erschrocken zu ihm zurück. Sie sagte nichts, aber sie ahnte wohl, was in ihm vorging. Er sah eine der blau und weiß gekleideten Lufthansa-Stewardessen hinter ihr ungeduldig winken. Ihre fahrigen Gesten und ihr Blick straften ihr berufsmäßiges Lächeln Lügen, als sie sich an Angelika vorbeidrängte und auf ihn zutrat.

»Kann ich Ihnen helfen?«

Warstein schüttelte stumm den Kopf. Er spürte ihren Blick und ahnte, welchen Eindruck er auf sie machen mußte. Er hatte seinen besten Anzug angezogen, aber auch sein bester Anzug war schäbig, und seinem Gesicht war das Leben, das er seit drei Jahren führte, deutlich anzusehen. Ihre Berufsauffassung verbot es ihr, sich irgend etwas anmerken zu lassen, aber Warstein hatte genug Erfahrung im Umgang mit Menschen wie ihr, um zu wissen, was sie wirklich von ihm hielt.

»Ist alles in Ordnung?« fragte sie.

»Sicher«, antwortete er. Er versuchte zu lächeln, aber er war nicht sicher, ob es ihm gelang. »Ich war nur...« Er zuckte hilflos mit den Achseln. »Ich fliege sehr selten, wissen Sie? Ich wollte den Moment genießen.«

»Das verstehe ich. Aber Sie müssen jetzt trotzdem einsteigen. Wir starten pünktlich.«

Warstein ging weiter, machte einen Schritt an ihr vorbei und dann einen zweiten, der ihn ins Innere der Maschine trug. Die Entscheidung war gefallen. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Jetzt noch umzukehren, hätte wohl mehr Mut von ihm verlangt, als weiterzumachen.

Er steuerte den Sitz an, der auf seiner Bordkarte angegeben war, und genoß eine halbe Sekunde lang die erstaunten Blicke der Stewardeß, die ihn im Abteil der ersten Klasse Platz nehmen sah. Aber dieser kleine Triumph hielt gerade so lange, bis er in Lohmanns Gesicht sah und darauf die gleiche Mischung aus Verachtung und Hohn las wie schon unten in der Halle. Ihm war plötzlich klar, daß der Journalist ebenfalls eine Menge über ihn wußte; vermutlich mehr, als ihm recht war. Er fragte sich, ob von Angelika oder durch eigene Nachforschungen, und obwohl es eigentlich keinen Unterschied machte, wünschte er sich doch, daß letzteres der Fall sein möge. Wahrscheinlich war es auch so. Er war - wenn auch vor Jahren und wenn auch nicht sehr lange, so doch für eine Weile - eine Person des öffentlichen Interesses gewesen, und es fiel Männern wie Lohmann sicherlich nicht schwer, binnen kurzem alles über ihn in Erfahrung zu bringen, was er wissen wollte.

»Noch immer Angst vorm Fliegen?« fragte der Journalist spöttisch, als er ungeschickt und mit leicht zitternden Fingern versuchte, seinen Sicherheitsgurt zu schließen.

»Ein wenig«, antwortete er. »Manche Dinge ändern sich eben nie.«

»Oder haben Sie Angst davor, zurückzukehren?« fuhr Lohmann fort.

»Wenn ich die hätte, wäre ich nicht hier, oder?« erwiderte Warstein scharf. Seine Feindseligkeit prallte von dem Journalisten ab, ohne Spuren zu hinterlassen.

»Das wird sich zeigen«, antwortete er. »Ich bin jedenfalls gespannt, wie Ihr Freund Doktor Franke reagiert, wenn er Sie wiedersieht.«

»Ich habe nicht die Absicht, ihn zu treffen.« Es gelang Warstein nicht ganz, den Schrecken aus seiner Stimme zu verbannen. Das war etwas, woran er noch gar nicht gedacht hatte, obwohl es auf der Hand lag. Wenn tatsächlich mit dem Gridone etwas nicht stimmte, wenn der Zwischenfall von letzter Woche wirklich kein Terroranschlag gewesen war, dann würden sie Franke in Ascona treffen, so sicher, wie der Teufel in der Hölle wohnte.

»Das wird sich wohl kaum vermeiden lassen«, sagte Lohmann. »Ich habe jedenfalls nicht vor, ihn ungeschoren davonkommen zu lassen. Nicht wenn das, was Ihre Freundin vermutet, die Wahrheit ist.«

»Was vermutet sie denn?« erkundigte sich Warstein kühl.

Lohmanns Augenbrauen rutschten ein Stück nach oben, und sein Grinsen wirkte plötzlich nicht mehr ganz so überheblich wie noch vor einer Sekunde. Er setzte zu einer Antwort an, und Warstein war sicher, daß seine nächsten Worte ihm bereits Anlaß gegeben hätten, schon jetzt den Streit vom Zaun zu brechen, auf den er tief in sich schon vom ersten Moment an ausgewesen war. Er wußte, daß er dem Journalisten gegenüber nicht fair war. Ganz egal, was er von Reportern hielt und welche Erfahrungen er mit ihnen auch gemacht hatte, sie waren nicht alle gleich. Aber er hatte nie vorgehabt, ihm eine faire Chance einzuräumen. Die Stewardeß kam und überzeugte sich davon, daß sie vorschriftsmäßig angeschnallt waren, und ihr Erscheinen erstickte den drohenden Streit im Keim. Für diesmal. Nachdem sie gegangen war, drehte Warstein demonstrativ den Kopf zur Seite und tat so, als sähe er konzentriert aus dem Fenster. Lohmann war klug genug, es dabei zu belassen. Vielleicht hatte er wenigstens für die Dauer des Fluges noch seine Ruhe.

Die Kabinentüren schlossen sich auf die Sekunde pünktlich, und aus dem bisherigen fernen Rauschen der Motoren wurde ein mächtiges Grollen, als sich der Airbus in Bewegung setzte und langsam auf die Startbahn hinausrollte. Warsteins Nervosität stieg, und obwohl sie jetzt eine Furcht war, die er kannte und von der er auch wußte, daß sie ebenso irrational wie unbegründet war, half ihm dieses Wissen kein bißchen, damit fertig zu werden.

Er hatte immer Angst vor dem Fliegen gehabt, schon seit er das erste Mal einen Fuß in ein Flugzeug gesetzt hatte. Er kannte all die kleinen psychologischen Tricks, die einem angeblich helfen, sie zu überwinden oder wenigstens zu mildern, aber bei ihm hatten sie nicht funktioniert; kein einziger davon. Selbst die zurückliegenden drei Jahre, in denen er einem Flugzeug nicht einmal nahegekommen war, hatten daran nichts geändert, sondern schienen es im Gegenteil eher schlimmer gemacht zu haben.

»Nervös?«

Warstein wandte den Blick zur Seite und begegnete Angelikas Lächeln. Es war völlig anders als das Lohmanns. Statt Überheblichkeit und Häme erkannte er darin nur den Versuch, ihm irgendwie zu helfen - oder wenn das schon nicht gelang, ihn wenigstens abzulenken.

»Ein bißchen«, gestand er.

»Dann solltest du nicht aus dem Fenster sehen«, sagte sie. »Warum machst du nicht einfach die Augen zu und stellst dir vor, in einem Bus zu sitzen?«

»Die Psychologen raten das genaue Gegenteil«, erwiderte Warstein. »Außerdem würde es nichts nutzen. Die Vorstellung, in einem Bus zu sitzen, der mit achthundert Stundenkilometern zehntausend Meter hoch durch die Luft rast, beruhigt mich nicht unbedingt.«

Sie blinzelte verdutzt, bis ihr klar wurde, daß er einen Scherz gemacht hatte, dann lachte sie, ein bißchen zu laut und ein wenig gekünstelt, aber es tat trotzdem gut. Es war lange her, daß es ihm gelungen war, jemanden zum Lachen zu bringen.

Die Maschine hatte die Startbahn erreicht, vollführte eine halbe Kehre und wurde schneller. Der schwarze Asphalt begann vor den Fenstern zu verschwimmen, und das Dröhnen der Turbinen wurde noch lauter. Warsteins Hände wurden feucht. Er klammerte sich mit aller Kraft an die Armlehnen, und sein Herz begann zu rasen. Das Flugzeug beschleunigte immer mehr und mehr und hob schließlich ab, kurz bevor es das Ende der Startbahn erreicht hatte. Die Landschaft stürzte unter ihnen in die Tiefe, dann kippte der ganze Himmel vor der Maschine zur Seite. Das Schicksal meinte es ausnahmsweise einmal gut mit Warstein. Er sah auf dieser Seite nicht, wie der Flughafen unter ihnen zusammenschrumpfte, sondern erkannte nur das strahlende Blau eines Firmaments, an dem sich nicht die winzigste Wolke zeigte. Als der Airbus weit genug in die Höhe geklettert war und wieder in waagerechten Flug überging, war die Welt unter ihnen bereits zu einem Muster aus ineinanderfließendem Grün und Braun geworden, das zu tief unter ihnen lag, als daß die rasende Geschwindigkeit noch sichtbar gewesen wäre. Warstein atmete vorsichtig auf. Um seine Flugangst zu überwinden, hatte er alles über Flugzeuge und das Fliegen gelesen, dessen er habhaft werden konnte, aber das hatte sich im nachhinein als Fehler herausgestellt. Das Wissen, daß der Start die mit Abstand gefährlichste Phase eines Fluges war, machte es nicht unbedingt leichter, ihn zu ertragen.

Obwohl das BITTE-ANSCHNALLEN-Licht über ihren Sitzen noch brannte, löste Lohmann plötzlich seinen Gurt, stand auf und nahm auf dem gegenüberliegenden Sitz Platz. »Nur zur Sicherheit«, sagte er, als er Warsteins fragenden Blick bemerkte. »Ich denke, es ist besser, wenn ich euch zwei Turteltauben im Auge behalte.«

»Auf welcher Seite stehen Sie eigentlich?« fragte Angelika feindselig.

»Auf meiner«, erwiderte Lohmann gelassen. »Immerhin kostet mich dieser Spaß eine Menge Geld. Und wenn er sich als Reinfall erweisen sollte, nicht nur das. Mein Chefredakteur war nicht besonders begeistert, als ich ihm von der Geschichte erzählt habe, das können Sie sich vielleicht vorstellen.«

»Sie haben ihm davon erzählt?« fragte Angelika erschrocken.

»Was denken Sie? Daß ich ein paar tausend Mark an Spesen und eine Woche Arbeitszeit einfach so riskieren kann? Wachen Sie auf, Schätzchen. So läuft es vielleicht in einer billigen amerikanischen Fernsehserie, aber nicht in Wirklichkeit.«

»Dann hören Sie auch endlich auf, sich so zu benehmen«, sagte Warstein.

»Das ist das erste vernünftige Wort, das ich heute von Ihnen höre«, antwortete Lohmann. Irgend etwas war mit ihm geschehen, seit sie das Flugzeug betreten hatten. Warstein gestand sich verwirrt ein, daß er Lohmann bisher entweder unter- oder völlig falsch eingeschätzt hatte. Er wirkte noch immer ein bißchen überheblich und arrogant, aber plötzlich sehr viel aufmerksamer und wacher als bisher.

»Also gut, ihr beiden. Die Falle ist zugeschnappt. Die Kiste rollt, dann können wir auch anfangen zu arbeiten. Wie wär's, wenn wir es zur Abwechslung einmal mit der Wahrheit versuchten?«

»Wie meinen Sie das?«

»Wie wäre es zum Beispiel damit«, fragte Lohmann. »Wie lange kennt ihr zwei euch schon? Einen Tag oder zwei?«

Falls es ein Schuß ins Blaue war, dann war es ein Volltreffer. Angelika fuhr so sichtbar zusammen, daß Lohmann schon hätte blind sein müssen, um es nicht zu sehen. Sie brauchte nur eine Sekunde, bis sie sich wieder in der Gewalt hatte, aber in dieser einen Sekunde sah sie so schuldbewußt aus, wie es nur möglich war.

»Unsinn«, sagte sie. »Wir -«

»Seit gestern«, sagte Warstein ruhig. »Woran haben Sie's gemerkt?«

»Ich wußte es schon vorher«, behauptete Lohmann. Warstein glaubte ihm. »Ihre kleine Freundin muß noch eine Menge lernen, zum Beispiel, daß es ziemlich schwer ist, einen Profi auf seinem eigenen Gebiet zu schlagen.«

»Einen professionellen Lügner, meinen Sie?«

»Sagen wir, jemanden, der davon lebt, Lüge von Wahrheit zu unterscheiden.« Lohmann lachte. »Ich sehe schon, wir verstehen uns. Wenn wir nicht aufpassen, dann werden wir am Schluß noch richtig dicke Freunde.«

»Die Gefahr besteht kaum«, murmelte Warstein.

»Wenn Sie mir nicht geglaubt haben, wieso sind wir dann überhaupt hier?« fragte Angelika.

»Weil Sie mich brauchen. Schätzchen«, antwortete Lohmann. »Sie haben jemanden gesucht, der Ihnen den Flug in die Schweiz bezahlt, nicht wahr? Und Ihnen in Ascona vielleicht hilft, die eine oder andere Schwierigkeit zu überwinden.«

»Und warum wollen Sie das tun?«

»Weil er dich braucht«, antwortete Warstein an Lohmanns Stelle. Angelika sah ihn verwirrt an, und Warstein fuhr mit nun kaum noch verhohlener Feindseligkeit in der Stimme fort: »Ohne dich wäre er nicht an mich herangekommen. Das ist doch so, oder?«

»Stimmt«, gestand Lohmann ungerührt. »Allerdings nur zum Teil. Ich habe die Geschichte mit den verschwundenen Männern überprüft. Sie scheint zu stimmen. Zwei von denen, die damals dabei waren, sind mittlerweile tot. Ein dritter hatte einen Unfall und sitzt vom Hals an abwärts gelähmt im Rollstuhl. Aber die anderen sind vor einer Woche alle spurlos verschwunden. Wenn das kein Grund für mich ist, der Sache nachzugehen...«

»Und Sie denken, ich wüßte, wo sie sind?«

»Sie waren damals dabei, oder?«

»Ja. Aber ich weiß sowenig wie Sie, was passiert ist.«

»Sehen Sie«, sagte Lohmann ruhig, »und genau das glaube ich Ihnen nicht.« Er hob die Hand, als Warstein auffahren wollte. »Verstehen Sie mich nicht falsch - ich denke nicht, daß Sie lügen. Ich hatte zwar mit der Berichterstattung damals nichts zu tun, aber ich habe die Geschichte ziemlich aufmerksam verfolgt. Irgend etwas ist damals passiert, und wenn es jemanden gibt, der herausfinden kann, was, dann sind Sie es. Ich möchte dabei sein, wenn das passiert.«

Vielleicht solltest du dir das nicht wünschen, dachte Warstein. Lohmanns Worte hatten irgend etwas in ihm berührt. Er wußte nicht, was, aber es war die gleiche Saite, die auch Angelika angeschlagen hatte, die gleiche verschüttete Erinnerung, die er vielleicht aus dem einzigen Grund nicht greifen konnte, weil er es immer noch nicht wirklich wollte. Er widersprach dem Journalisten nicht mehr, sondern lehnte sich wieder in seinem Sitz zurück und schloß die Augen. Als Lohmann ihn das nächste Mal ansprach, tat er so, als wäre er eingeschlafen. Der Aufstieg hatte sicherlich nicht das Letzte von ihm verlangt, aber doch eine Menge mehr an Kraft, als er vorher geglaubt hatte.

Tausendfünfhundert Meter, das hörte sich nicht überwältigend an, und die Strecke hatte auch nicht besonders weit ausgesehen, auf der Karte, die Hartmann ihm gezeigt hatte. Der Gridone - vielleicht mit Ausnahme der Gipfelregion - war sicherlich kein Berg, der irgendeine Art von Herausforderung für einen geübten Alpinisten dargestellt hätte. Selbst ein trainierter Wanderer wäre vor dem Weg hier herauf nicht zurückgeschreckt. Aber Warstein war weder das eine noch das andere. Er hatte die letzten beiden Jahre fast ausschließlich hinter seinen Computern und am Schreibtisch verbracht, und jede einzelne dieser Stunden hatte sich auf dem Weg hier herauf gerächt. Ihm waren bereits auf der halben Strecke Zweifel gekommen, ob es tatsächlich eine so kluge Idee war, hierher zu gehen. Mittlerweile waren die Zweifel verschwunden. Er wußte, daß es eine Schnapsidee gewesen war. Jeder einzelne Knochen im Leib tat ihm weh, seine Glieder fühlten sich an, als wären sie mit kleinen Bleikügelchen gefüllt. Und dabei hatten sie den ganzen Rückweg noch vor sich.

Warstein sah voller Neid zu Hartmann hoch, der zehn Meter vor ihm ging. Der grauhaarige Sicherheitsbeamte war alt genug, um sein Vater zu sein. Wenn er sich nicht im Dienst befand, dann bestand seine Lieblingsbeschäftigung darin, die verschiedenen Schweizer Biersorten durchzuprobieren und miteinander zu vergleichen. Außerdem war er Kettenraucher. Und trotzdem besaß er die Unverfrorenheit, nicht einmal eine Spur von Erschöpfung zu zeigen. Ganz im Gegenteil blieb er nur immer öfter stehen, damit Warstein nicht den Anschluß verlor und der Abstand zwischen ihnen nicht zu groß wurde. Warstein fragte sich, woher zum Teufel der Mann diese Energie nahm.

»Ist es noch weit?« fragte er keuchend, als Hartmann wieder einmal stehenblieb und, auf seinen Spazierstock gestützt, darauf wartete, daß er zu ihm aufschloß. Hartmann zog eine Karte aus der Jacke, faltete sie auseinander und sah sich aufmerksam in der Runde um, ehe er den Kopf schüttelte. Warstein war es ein Rätsel, was er auf dieser Karte erkannte. Für ihn sah jeder Meter hier aus wie der andere. Den markierten Weg, der bis an die Schneegrenze hinaufreichte, hatten sie schon vor einer Stunde verlassen.

»Nein. Eigentlich müßten wir schon da sein.«

»Sind Sie sicher, daß die Beschreibung stimmt?« Warstein dachte voller Wehmut an den kleinen Helikopter, der zum Fahrzeugpark der Baustelle gehörte. Mit der Maschine wäre es ein Hüpfer von zehn Minuten hier herauf gewesen. Aber nach allem, was er über den eigenartigen Kauz namens Saruter gehört hatte, hätten sie ihn garantiert vertrieben, wären sie mit dem lärmenden Ungeheuer geflogen. Außerdem hätte er Frankes Zustimmung gebraucht, um den Hubschrauber zu benutzen.

»Ganz sicher«, bestätigte Hartmann. »Ich war selbst noch nicht hier, aber unten im Dorf kennt ihn jeder. Wahrscheinlich hat er uns längst bemerkt und beobachtet uns.« Er warf einen langen Blick in die Runde, und sein Ausdruck war dabei der eines Kavallerie-Scouts, der genau weiß, daß er von den Apachen beschlichen wird, sie aber einfach nicht sehen kann.

»Gehen wir weiter«, seufzte Warstein. Es war ein Fehler gewesen, überhaupt stehenzubleiben, das sah er jetzt ein. Wenn man so erschöpft war wie er, dann kostete das Weitergehen solche Überwindung, daß es den kleinen Kraftgewinn durch die Pause wieder aufzehrte.

Hartmann schien Schwierigkeiten zu haben, seine Karte wieder zusammenzufalten. Für einen Moment kämpfte er fluchend mit einem Wust von Papier, der alles mögliche tat, nur nicht das, was er wollte, dann plötzlich legte sich das Blatt wie durch Zauberei zusammen und verschwand in seiner Jackentasche. »Scheißtechnik«, maulte er. »Warum kann der Kerl nicht in einer ganz normalen Straße in der Stadt leben, wie jeder andere vernünftige Mensch?« Warstein war nicht ganz sicher, ob dieser Tadel nicht ihm galt, deshalb zog er es vor, nichts dazu zu sagen. Hartmann würde sich hüten, ihn offen zu kritisieren, aber natürlich war ihm klar, wie wenig Hartmann insgeheim davon hielt, Saruter zu besuchen. Er hatte die Vernehmungsprotokolle wieder und wieder gelesen. Hartmann hatte seine Arbeit sehr gründlich getan; es gab nicht mehr viel, was er Saruter fragen konnte. Jedenfalls nichts, was den Weg hier herauf auch nur im entferntesten gerechtfertigt hätte.

Aber er war im Grunde auch nicht hier, um Saruter Fragen zu stellen. Das konnten Hartmann und seine Leute - und im Zweifelsfall die Polizei von Ascona - besser als er. Warstein hatte den verrückten Einsiedler nicht vergessen, obwohl es mehr als zwei Wochen her war, seit er ihn das letzte Mal gesehen hatte - weder ihn noch die unheimliche Art, auf die er ihn angestarrt hatte, bevor er den Tunnel betrat. Und das war der eigentliche Grund, warum er und Hartmann jetzt hier waren. Natürlich hatte er mit niemandem über seinen Verdacht reden können, aber tief in sich wußte er, daß Saruter mehr über die unheimlichen Geschehnisse in diesem Berg wußte als sie alle zusammen.

»Ich glaube, da vorne ist es.« Hartmann hob die linke Hand über das Gesicht, um die Augen zu beschatten und deutete mit der anderen nach vorn. Warsteins Blick folgte der Bewegung, aber es dauerte fast eine Minute, bis er sah, was Hartmann entdeckt hatte, denn erstens war das, was er mit da vorne bezeichnet hatte, noch gute anderthalb Kilometer entfernt, und zweitens war die kleine Berghütte so von Moos und anderen Kriechgewächsen überwuchert, daß sie praktisch unsichtbar wurde. Selbst bei genauerem Hinsehen konnte man kaum sagen, wo der Fels, gegen den sie gelehnt war, begann und Holz und Dachpfannen endeten. Sie war nicht besonders groß und verfügte nur über ein Fenster. Aus dem mit groben Schindeln gedeckten Dach streckte sich ein gedrungener Kamin hervor. Die Hütte selbst bestand aus versetzt angeordneten, mindestens dreißig Zentimeter dicken Baumstämmen, deren Fugen mit Mörtel verschmiert waren.

Warstein fragte sich, woher diese Baumstämme kamen. Er hatte auf dem ganzen Weg hier herauf nichts bemerkt, was dicker als sein Handgelenk gewesen wäre. »Erstaunlich«, murmelte er.

»Was?« Hartmann drehte sich halb zu ihm herum, ohne allerdings dabei stehenzubleiben. »Haben Sie es sich anders vorgestellt?«

»Ganz im Gegenteil.« Das kleine Gebäude entsprach so sehr seiner Vorstellung, wie die Hütte eines Einsiedlers auszusehen hatte, daß es schon fast lächerlich war. Es war alles vorhanden, um das Klischee zu erfüllen: vom säuberlich aufgeschichteten Holzstapel neben der Tür bis hin zu dem kleinen Toilettenhäuschen auf der windabgewandten Seite der Hütte. Sie waren noch zu weit entfernt, um es erkennen zu können, aber Warstein war sicher, daß Saruter ein kleines Herz in die Tür geschnitzt hatte.

»Ich habe Ihnen gesagt, daß er ein komischer Kauz ist«, fuhr Hartmann fort. Warstein registrierte mit einer Art grimmiger Zufriedenheit, daß auch sein Atem jetzt nicht mehr ganz so ruhig und gleichmäßig ging wie bisher. »Erwarten Sie nicht zuviel von ihm. Das meiste, was er auf meine Fragen geantwortet hat, war haarsträubender Unsinn.«

»Vor allem schien er ein ziemlich zäher Kauz zu sein«, sagte Warstein schwer atmend. »Wie alt ist er, haben Sie gesagt?«

»Ganz genau weiß das niemand. Einige behaupten, so alt wie dieser Berg.« Er lachte, aber es geriet zu einer Grimasse, als er Warsteins erschrockenen Blick bemerkte. »Auf jeden Fall ziemlich alt. Mindestens achtzig.«

»Großer Gott, und er marschiert diese Strecke jeden Tag nur zum Vergnügen!« keuchte Warstein. »Wenn ich auch nur noch einen Kilometer gehen muß, bekomme ich garantiert einen Herzinfarkt!«

»Diese alten Naturburschen sind manchmal wirklich zäh«, bestätigte Hartmann. »Aber das müssen sie wohl auch sein - sonst wären sie nicht so alt geworden.« Sie näherten sich dem Haus. Warstein sah ab und zu zum Fenster hinauf und versuchte, eine Bewegung dahinter zu erkennen. Aber in der kleinen Hütte zeigte sich kein Lebenszeichen.

»Was machen wir, wenn er nicht da ist?« fragte Hartmann. Warsteins Blicke waren ihm nicht entgangen.

»Warten«, antwortete Warstein. »Ganz egal, wie lange es dauert. Ich habe keine Lust, den ganzen Weg umsonst gemacht zu haben.«

In Hartmanns Augen stand deutlich die Frage geschrieben, warum sie ihn überhaupt gemacht hatten. Aber er verbiß es sich, sie laut auszusprechen, und so legten sie den Rest des Weges schweigend zurück. Warstein klopfte, aber er war viel zu erschöpft, um lange auf eine Antwort zu warten; da die Tür nicht verschlossen war, traten sie nach kurzem Zögern ein.

Das Innere der Hütte bestand aus einem einzigen, allerdings überraschend großen Raum, so daß sie sofort erkennen konnten, daß Saruter tatsächlich nicht zu Hause war. Müde wankte Warstein zu dem einfachen Holztisch, der zusammen mit den dazugehörigen Stühlen und dem wuchtigen Kamin fast die Hälfte des vorhandenen Platzes hier drinnen beanspruchte. Die Erschöpfung legte sich wie eine Decke aus Blei über ihn, aber nun war es eine angenehme, wohltuende Erschöpfung, wie nach einer schweren Arbeit, die man zu Ende gebracht hatte. Er würde nie wieder im Leben einen Schritt gehen, sondern einfach hier sitzen bleiben, bis er selbst achtzig und zu Stein geworden war. Warstein genoß eine ganze Weile einfach das Gefühl, nicht mehr laufen zu müssen, ehe er die Augen wieder öffnete und sich im Inneren der Hütte umsah. Durch das einzige Fenster fiel nicht besonders viel Licht herein, aber es reichte immerhin, ihn erkennen zu lassen, daß sein erster Eindruck richtig gewesen war: das Gebäude war innen tatsächlich größer als außen. Es hatte nur drei Wände aus Holz. Die Rückseite bestand aus massivem Fels, und Saruter - oder wer immer dieses Haus gebaut hatte - hatte gute anderthalb Meter aus der Wand herausgemeißelt, um mehr Wohnraum zu gewinnen.

Der Anblick war so bizarr, daß Warstein sogar seine Müdigkeit vergaß und aufstand, um in den hinteren Teil des Raumes zu gehen. Die Wand war vollkommen gerade und so glatt, daß sie fast aussah wie mit Kunststoff beschichtet. Warstein hob die Hand und berührte den Stein, im ersten Moment so zaghaft, als wäre es eine Herdplatte, von der er nicht sicher war, ob jemand sie eingeschaltet hatte oder nicht. Der Stein fühlte sich an wie ganz normaler Stein. Wie auch sonst? Was hatte er eigentlich erwartet?

»Verrückt«, murmelte er.

»Was?« fragte Hartmann.

»Das da.« Warstein deutete auf die Felswand und drehte sich zu Hartmann um. »Er hat fast zwei Meter aus der Wand herausgemeißelt.«

»Um mehr Platz zu gewinnen, sicher«, antwortete Hartmann. »Was ist daran so erstaunlich?«

»Daß das hier stahlharter Granit ist«, sagte Warstein. »Meinen Sie nicht, daß es wesentlich einfacher gewesen wäre, die zwei Meter draußen anzubauen?«

»Oh«, sagte Hartmann. Er sah für einen Moment ziemlich verwirrt aus, dann konnte Warstein regelrecht sehen, wie er den Gedanken abschüttelte. »Also, was machen wir?« fragte er. »Saruter ist nicht da.«

»Er wird schon kommen«, antwortete Warstein unwillig. Er mußte sich beherrschen, damit seine Enttäuschung, möglicherweise völlig umsonst hierhergekommen zu sein, sich nicht zu sehr gegen Hartmann richtete.

»Das kann dauern«, gab Hartmann zu bedenken. »Ich meine - hier oben geht man nicht mal eben zum nächsten Zigarettenautomaten oder zur Post. Vielleicht kommt er heute gar nicht wieder.«

»Unsinn!« antwortete Warstein. »Er hätte die Tür abgeschlossen, wenn er für länger weggegangen wäre, oder?«

Hartmann trat wortlos zur Tür und öffnete sie, und Warstein sah, was er meinte. Die Tür hatte nicht einmal ein Schloß.

»Wie lange können wir warten?« fragte er. »Um noch im Hellen zurück zur Baustelle zu kommen, meine ich.«

Hartmann sah auf die Uhr und maß dann Warstein mit einem Blick, als versuche er seine Verfassung einzuschätzen. »Eine Stunde«, sagte er schließlich. »Allerhöchstens.«

Eine Stunde nur? Warstein war enttäuscht. Selbst wenn sie Saruter sofort angetroffen hätten, wäre eine Stunde kaum genug gewesen. Sie mußten sehr viel länger für den Aufstieg gebraucht haben, als er zuvor angenommen hatte. »Dann warten wir solange«, entschied Warstein. »Ich brauche sowieso eine Pause. Wenn ich jetzt sofort wieder los muß, trifft mich der Schlag.«

Hartmann klappte seinen Rucksack auf und zog eine silberfarbene flache Flasche heraus, aus der er selbst einen kräftigen Schluck nahm, ehe er sie Warstein hinhielt.

»Alkohol? Wollen Sie mich umbringen?«

»Das ist kein Alkohol«, antwortete Hartmann ernsthaft. »Das ist ein uralter keltischer Zaubertrank.« Er schraubte die Flasche zu und verstaute sie wieder in seinem Rucksack. »Trinken Sie eigentlich nie?«

»Selten. So gut wie nie, stimmt.«

»Und Sie rauchen auch nicht. Haben Sie überhaupt irgendwelche Laster?«

»Wenige«, antwortete Warstein widerwillig. Er wünschte sich, Hartmann würde sich nicht ganz so verpflichtet fühlen, ihn zu unterhalten. Wenn es etwas gab, was er noch mehr haßte als Alkohol und Tabak, dann war es Small talk.

»Muß langweilig sein«, sagte Hartmann. Warstein tat ihm nicht den Gefallen, erneut darauf zu antworten, sondern ging wieder in den hinteren Teil der Hütte, die sich eigentlich schon im Inneren des Berges befand. Etwas an dieser Wand faszinierte ihn, ohne daß er genau sagen konnte, was. Mehrere Minuten lang stand er einfach da und sah den glatten Felsen vor sich an, ehe er sich, ohne ihn anzusehen, an Hartmann wandte.

»Sie haben doch eine Lampe dabei, oder?«

»Sicher.«

»Geben Sie sie mir.«

Hartmann reichte ihm eine Taschenlampe, und Warstein schaltete sie ein und ließ den kräftigen Strahl über die Wand vor sich gleiten.

Die Linien waren nicht kräftiger als die unten im Stollen, aber sie wirkten stärker, weil sie weitaus kürzer waren, und vor allem - sie waren unbeschädigt. Dieses Bild hier ergab einen Sinn. Er konnte nicht sagen welchen, und er versuchte auch erst gar nicht, es herauszufinden, aber der bloße Anblick der Zeichnung machte ihm klar, daß es sich um mehr handelte als das sinnlose Gekritzel eines alten Mannes.

»Interessant«, sagte Hartmann. Er war neben ihn getreten und folgte dem wandernden Lichtstrahl. »Was mag das sein?«

»Es ist das gleiche wie...« Warstein sprach nicht weiter. Um ein Haar hätte er gesagt: wie unten am Vortrieb. Aber das hätte wenig Sinn gehabt. Niemand außer ihm hatte die Linien im Fels gesehen. Und als er nach einer Woche in den Berg zurückgekehrt war, da waren sie natürlich verschwunden gewesen; samt der Felswand, auf der sie sich befunden hatten.

»Wie was?« fragte Hartmann.

»Nichts«, antwortete Warstein. »Ich dachte, es würde mich an etwas erinnern. Aber ich habe mich getäuscht.«

»Es sieht irgendwie magisch aus«, sagte Hartmann.

»Magisch?« Warstein fragte sich selbst, warum er beim Klang dieses Wortes eigentlich so erschrak. »Wie meinen Sie das?«

»Na ja, wie diese Felsbilder, die man manchmal sieht.« Hartmann machte eine ebenso komplizierte wie sinnlose Geste, von der er wohl glaubte, sie passe zu diesem Begriff. »Bilder, wie sie diese Medizinmänner malen. Sie wissen schon. Schamanen und so.«

»Ich verstehe«, sagte Warstein. Hartmanns Erklärung machte es nicht besser. Plötzlich spürte er das gleiche, irrationale Unbehagen wie vor zwei Wochen im Tunnel.

Hartmanns Interesse an der Zeichnung erlahmte ebenso rasch, wie es gekommen war. Er ließ Warstein wieder allein, und nur einen Moment später verrieten eindeutige Geräusche, daß er offensichtlich dabei war, die Hütte zu durchsuchen. Warstein gefiel das nicht, aber er war vom Anblick der Zeichnung immer noch viel zu fasziniert, um sich davon losreißen zu können. Das Bild war viel kleiner als das unten im Berg, aber vielleicht gerade deshalb um so faszinierender. Die Linien waren auf eine kaum in Worte zu fassende Weise gewunden und gedreht. Wenn man lange genug hinsah, dann schienen sie sich zu bewegen. Und wenn man zu lange hinsah, bekam man Kopfschmerzen. »Das ist ja ein Ding«, sagte Hartmann hinter ihm. »Ein Einsiedler mit einem Farbfernseher!«

»Ja, aber ich benutze ihn selten. Batterien sind teuer, und hier oben nicht leicht zu bekommen.«

Warstein und Hartmann drehten sich im gleichen Moment zur Tür; Hartmann sehr viel schneller und so hastig, daß er irgend etwas umwarf, das klappernd zu Boden fiel. Das Geräusch verriet, daß es nicht zerbrach.

Er hatte nicht einmal gemerkt, daß die Tür aufgegangen war - was möglicherweise daran lag, daß die Gestalt, die im Rahmen erschienen war, ihn fast vollkommen ausfüllte. Warstein konnte Saruter nur als Schatten erkennen, aber der Umriß, den er sah, war nicht der eines alten Mannes. Es war schwer, das Alter eines Menschen zu erraten, dessen Gesicht man nicht erkennen konnte, aber hätte irgend jemand ihm erzählt, daß das da vor ihm der Schatten eines Achtzigjährigen sei, hätte er lauthals gelacht.

»Stellen Sie das hin, Sie ungeschickter Mensch«, sagte Saruter. Es klang nicht einmal wirklich erbost. »Oder nein, lassen Sie es. Es ist besser, wenn Sie nichts mehr anfassen.«

»Es tut mir leid«, sagte Hartmann verlegen. »Bitte entschuldigen Sie unser Eindringen. Aber die Tür war offen, und -«

»Ich brauche keine Schlösser«, unterbrach ihn Saruter. »Wer hier heraufkommt, ist entweder ein Freund oder in Not. Es wäre ein Verbrechen, die Tür zu verriegeln.« Er trat endlich vollends ein und schloß die Tür hinter sich, und im gleichen Moment wurde er auch optisch zu einem alten Mann. Das Zwielicht warf graue Schatten über sein Gesicht und ließ die zahllosen Runzeln und Falten darin noch tiefer erscheinen. Für eine Sekunde sah er nicht aus wie achtzig, sondern wie achthundert.

»Allerdings habe ich nicht mit Leuten wie Ihnen gerechnet«, fuhr Saruter fort. »Ist es da, wo Sie leben, üblich, in die Häuser anderer einzudringen und ihre Sachen zu durchwühlen?«

»Bitte, wir wollten Ihnen nicht zu nahe treten«, mischte sich Warstein ein. »Ich entschuldige mich für -«

Er verstummte, als Saruter sich herumdrehte und ihn zum ersten Mal direkt ansah. Seine Augen. Jetzt wußte er, was es ihm vom ersten Moment an so schwer gemacht hatte, seinen Blick zu ertragen. Es waren seine Augen. Etwas damit. Etwas darin.

»Ich wußte, daß du kommst«, sagte Saruter. »Ich wußte nicht wann, aber ich wußte, daß du kommen würdest.«

Warstein war ihm nie so nahe gewesen, und er dankte Gott dafür. Was aus der Entfernung unangenehm war, war aus der Nähe beinahe unerträglich. Seine Kehle war plötzlich so trocken, daß er keinen Laut hervorbrachte.

»Das war nicht besonders schwer zu erraten«, sagte Hartmann spöttisch. »Ich habe ihm gesagt, daß Sie mit ihm reden wollten.«

»Ich wollte zu dir kommen, aber sie haben mich nicht gelassen«, sagte Saruter.

»Stimmt das?« fragte Warstein.

»Er wollte mit Ihnen reden, aber sie waren noch im Krankenhaus. Als Sie zurückkamen, ergab sich keine Gelegenheit.«

Warstein konnte sich ungefähr denken, wer dafür verantwortlich war, daß sich keine Gelegenheit ergeben hatte, mit dem Einsiedler zu sprechen. Aber jetzt war wirklich nicht der Moment, sich über Franke zu ärgern. Außerdem: er war hier, oder?

»Es ist gut«, sagte Saruter. Er machte sich nicht einmal die Mühe, Hartmann anzusehen. »Du hast deine Aufgabe erfüllt. Du kannst jetzt gehen.«

Hartmann war so verdutzt, daß er im allerersten Moment nicht einmal antworten konnte. Schließlich lachte er. »Mir ist bisher gar nicht aufgefallen, daß Sie so viel Humor haben. Ich werde ganz bestimmt nicht gehen und -«

»Tun Sie, was er sagt«, unterbrach ihn Warstein. »Gehen Sie zurück zur Baustelle.«

»Das meinen Sie nicht ernst«, protestierte Hartmann. Er deutete auf Saruter. »Überlegen Sie es sich. Ich habe ihn während des Verhörs ziemlich hart angefaßt, vielleicht hält er es für eine gute Gelegenheit, es Ihnen heimzuzahlen.« Warstein antwortete nicht einmal darauf. Wäre Saruter irgendein anderer gewesen als der, der er nun einmal war, hätte er Hartmanns Sorge durchaus verstanden; vielleicht sogar geteilt. Achtzig Jahre oder nicht, der Mann war ein Riese, und er war ganz bestimmt stärker als er, Warstein.

Trotzdem sagte er: »Es ist alles in Ordnung, Hartmann. Ich glaube kaum, daß Sie sich Sorgen machen müssen.«

Hartmann wechselte ein letztes Mal die Taktik. »Sie finden den Weg zurück allein doch gar nicht«, sagte er. »Und wenn es dunkel ist und Sie dann noch dort draußen sind...«

»Ich werde ihn zurückbringen«, sagte Saruter. »Und nun geh.«

»Ich denke nicht daran!« begehrte Hartmann auf. »Ich...«

»Bitte tun Sie, was er sagt«, fiel ihm Warstein ins Wort; nicht einmal sehr laut, aber doch in so nachdrücklichem Ton, daß Hartmann ihn einige Sekunden lang verdutzt ansah, ehe er überhaupt seine Fassung wiederfand.

»Ich bin für Ihre Sicherheit verantwortlich«, sagte er schließlich. Es klang nicht mehr sehr überzeugt.

»Wenn wir uns auf dem Gelände der Baustelle befinden, ja«, sagte Warstein. »Und wenn Sie im Dienst sind. Beides ist im Moment nicht der Fall.«

Hartmanns Lippen wurden zu einem blutleeren Strich in seinem Gesicht. Es tat ihm wahrscheinlich schon hundertmal leid, daß er Warstein hier heraufgeführt hatte, und Warstein seinerseits bedauerte, daß er so unwirsch zu ihm sein mußte. Er hoffte inständig, daß der Sicherheitsbeamte ihn nicht zwang, noch gröber zu werden.

Um die Situation ein bißchen zu entspannen, rang er sich ein Lächeln ab und sagte: »Gehen Sie ruhig. Keine Sorge - Franke erfährt kein Wort von mir.«

»Wenn Sie zurückkommen, ja.«

»Wenn ich nicht zurückkomme, kann ich es ihm auch nicht sagen, oder?« Hartmann sagte nichts mehr. Schweigend und mit abgehackten, übertrieben wuchtigen Bewegungen schulterte er seinen Rucksack und stiefelte hinaus, allerdings nicht, ohne Saruter einen so drohenden Blick zuzuwerfen, unter dem selbst die Eiskappe des Gridone geschmolzen wäre. Er verzichtete darauf, die Tür hinter sich zuzuknallen, als er ging - aber wahrscheinlich nur, weil sie dazu einfach zu schwer war.

Warstein trat ans Fenster und sah ihm nach, bis er verschwunden war. Als er sich wieder zu Saruter umdrehte, geschah etwas Unheimliches: er schirmte mit seinem eigenen Körper das meiste Licht ab, das durch das Fenster hereindrang, und in der künstlichen Dämmerung hier drinnen konnte er den sonderbaren Alten wieder nur als Schemen erkennen. Und wieder - und viel deutlicher diesmal - hatte er das Gefühl, einem jungen Mann gegenüberzustehen. Nein, nicht jung. Das war das falsche Wort. Zeitlos. Das war es. Saruter war nicht jung, aber er war auch nicht alt. Er war ... irgend etwas dazwischen, wofür es kein Wort gab.

Warstein machte einen Schritt zur Seite, und das hereinströmende Sonnenlicht zerstörte den Zauber des Augenblickes, worüber Warstein nicht unbedingt unglücklich war.

Er räusperte sich mehrmals, um seine Verlegenheit zu überspielen. »Nehmen Sie es Hartmann nicht übel«, sagte er. »Er macht sich nur Sorgen um mich.«

»Er ist ein guter Mann«, sagte Saruter; auf eine Weise, die Warstein klarmachte, daß das Thema damit für ihn erledigt war. Er setzte sich und machte eine einladende Geste zu Warstein, das gleiche zu tun, aber Warstein blieb stehen. Er machte nur einen Schritt zur Seite, um das Fenster vollends freizugeben.

Sehr viel heller wurde es dadurch nicht. Offenbar herrschte hier drinnen immer Zwielicht, selbst jetzt, wo die Sonne direkt ins Fenster schien. Warstein versuchte lieber gar nicht erst, sich vorzustellen, was es heißen mußte, sein ganzes Leben im Zwielicht zu verbringen. Er selbst würde nach zwei Tagen in dieser Gruft Depressionen bekommen.

Saruter blickte ihn weiter an. Er sagte nichts, aber sein Blick hatte etwas ... ja, beinahe Sezierendes. Es war Warstein längst nicht mehr nur unangenehm, von ihm angestarrt zu werden. Er glaubte beinahe körperlich zu fühlen, wie dieser Blick bis in die tiefsten Tiefen seiner Seele reichte und seine geheimsten Gedanken erriet; Dinge sah, die nicht einmal er selbst über sich wußte, und die ihn erschreckt hätten, hätte er sie gewußt.

Er hatte gehofft, daß Saruter von sich aus das Gespräch eröffnen würde, aber selbstverständlich tat er ihm diesen Gefallen nicht. Warstein fühlte sich hilflos. Er hatte sich hundert Fragen zurechtgelegt, aber nun war sein Kopf wie leergefegt. Schließlich hob er die Hand und deutete auf die Rückseite der Hütte. »Das ist ... phantastisch«, sagte er stockend. »Haben Sie das gemacht?«

Saruter fragte nicht einmal, was er meinte: das Bild oder die zwei Meter, die irgend jemand mit den Fingernägeln aus dem Fels gekratzt hatte. Er sagte einfach nur: »Ja.«

Wieder wartete Warstein vergeblich darauf, daß er von sich aus weitersprach. Als klarwurde, daß das nicht geschehen würde, löste er sich von seinem Platz am Fenster und ging an Saruter vorbei. Er hätte vielleicht nicht seine rechte Hand dafür ins Feuer gelegt, aber als er die Taschenlampe einschaltete, da war er doch fast sicher, daß das Bild nicht mehr dasselbe war wie vorhin.

»Es ist das gleiche wie ... wie im Tunnel«, sagte er stockend. Selbst jetzt fiel es ihm noch schwer, die Worte auszusprechen.

Indem er es tat, verlieh er dem Gedanken mehr an Wahrhaftigkeit.

»Es ist ähnlich«, verbesserte ihn Saruter. »Nicht das gleiche.« Als Warstein sich zu ihm herumdrehte, mußte er sich beherrschen, um die Lampe nicht eingeschaltet zu lassen und den Strahl auf ihn zu richten. Aber diesmal war seine Nervosität unbegründet. Die hünenhafte Gestalt, die auf der anderen Seite des selbstgezimmerten Tisches saß, war kein Gespenst aus den Dimensionen jenseits der Zeit. Es war einfach nur ein alter Mann.

»Stammt die Zeichnung dort auch von Ihnen?« fragte er.

Saruter lachte. Es war ein sehr gutmütiger, warmer Laut, der trotzdem etwas von der spröden Härte der Berge hatte, in denen er seit dem Tag seiner Geburt lebte. »Wie könnte ich das? Ich bin kein Zauberer. Eure Maschine kann sich in den Berg hineinfressen. Ich kann das nicht.« Er deutete mit beiden Händen auf die Wand hinter Warstein, dann breitete er sie aus und drehte die Handflächen nach oben.

»Die Kraft dieser Hände und ein ganzes Leben wären nötig, um dies zu schaffen. Wie lange würde deine Maschine dazu brauchen?«

Warstein hatte plötzlich das absurde Gefühl, sich verteidigen zu müssen. »Es ist nicht meine Maschine«, sagte er. Als Saruter nicht darauf reagierte, drehte er sich noch einmal herum, maß die Wand einige Sekunden lang abschätzend und sagte dann: »Wenige Stunden. Sicher weniger als einen halben Tag.«

»Ein halber Tag«, Saruter klang traurig und irgendwie resignierend, »um die Arbeit eines Lebens zu tun.«

»Und das macht Sie zornig?«

»Traurig«, sagte Saruter. »Es ist eine solche Vergeudung. So viel Energie und Lebenszeit, nur damit eure Straßen noch schneller und eure Wege noch kürzer werden.«

»Ich führe diese Art von Diskussion nicht«, sagte Warstein. »Damit habe ich schon vor langer Zeit aufgehört. Sie sind nichts als Verschwendung ... von Energie und Lebenszeit.«

»Warum bist du dann gekommen?«

»Warum sind Sie gekommen?« gab Warstein zurück. Allmählich fand er wenigstens einen Teil seiner gewohnten Fassung wieder. Er war weit davon entfernt, Saruter auch nur mit einem Teil seiner normalen Selbstsicherheit gegenüberzutreten, aber zumindest hatte er nicht mehr das Gefühl, auf einer Eisscholle zu stehen, die auf einem kochenden Ozean auf einen Abgrund zuschoß.

»Ich?«

»Zur Baustelle«, antwortete Warstein, obwohl Saruter ganz genau wußte, wovon er sprach. »Nicht erst an jenem Abend. Vorher. Ich selbst habe Sie ein halbes Dutzend Mal gesehen, und die Männer haben erzählt, daß Sie fast jeden Abend da waren.«

»Für eine Weile, ja.«

»Sie haben diesen langen Weg zur Baustelle hinunter und wieder hier herauf gemacht, und das jeden Tag?« vergewisserte sich Warstein. Er hatte keinen Grund, an Saruters Worten zu zweifeln, aber es erschien ihm trotzdem fast unglaublich. »Warum?«

»Weißt du das nicht?«

»Ich möchte es gerne von Ihnen hören«, erwiderte Warstein ausweichend. Tatsache war, daß Warstein es tatsächlich nicht wußte. Er hatte geglaubt, es zu wissen, aber jetzt war er nicht mehr sicher.

»Die Männer erzählen, daß Sie nie ein Wort gesagt haben«, fuhr er fort. »Ich meine, Sie haben nie Plakate geschwenkt oder ... oder Parolen gerufen oder versucht, den Männern ins Gewissen zu reden oder sonst etwas.«

»Du meinst, Kabel durchgeschnitten, Schrauben losgedreht oder mich auf den Schienen angekettet?«

Warstein lächelte. »Zum Beispiel.«

»Was hätte das genutzt?« fragte Saruter.

»Nichts«, sagte Warstein. »Aber wieso haben Sie überhaupt nichts gesagt? Ich meine, was nutzt es, ein Anliegen zu haben und niemandem davon zu erzählen?«

»Aber wozu? Was hätte es geändert?«

»Nichts«, gestand Warstein abermals, aber diesmal nicht mit einem Lächeln, sondern nach einem hörbaren Zögern. Saruter hatte recht - es hätte nicht nur nichts geändert, sondern es höchstens schlimmer gemacht. Der Alte hatte niemanden gestört, und solange er nur einfach dagestanden und nichts gesagt hatte, hatte man ihn gewähren lassen. Hätte er getan, was Warstein vorschlug, hätte man ihn schon am zweiten Tag davongejagt.

»Außerdem - ich habe erreicht, was ich wollte.«

»Und was ... war das?« fragte Warstein.

Saruter stand auf. »Komm mit«, sagte er, während er zur Tür ging. »Ich will dir etwas zeigen.«

Warstein folgte ihm aus dem Haus. Der Einsiedler war neben der Tür stehengeblieben, und zum ersten Mal überhaupt sah er sein Gesicht im hellen Sonnenlicht. Es wirkte viel weniger alt als eher verwittert; eine Skulptur, die roh aus sprödem Granit herausgemeißelt und ein Menschenalter lang Wind und Regen ausgesetzt worden war. Er war nicht nur breitschultriger und massiger als Warstein, sondern auch ein gutes Stück größer, und er hatte erstaunlich volles, weißes Haar, das lang bis auf seine Schultern herabfiel. Kein Bart.

Saruter ließ Warsteins Musterung eine ganze Weile über sich ergehen, ehe er sich herumdrehte und mit dem ausgestreckten Arm nach Norden wies. »Schau hin«, sagte er. »Und sag mir, was du siehst.«

Warsteins Blick folgte der Richtung, die der Alte ihm wies. Der Anblick war tatsächlich überwältigend. Weit vor ihnen erhob sich der schneegekrönte Gipfel des Basodino, flankiert von dem niedrigeren, aber ungleich wuchtigeren Madone auf der rechten und den fast filigranen Eiskonturen des Porcarescio auf der anderen Seite. Dahinter strebten andere steinerne Kolosse in die Höhe, im Dunst der Entfernung mehr zu erahnen als zu erkennen; Berge, deren Namen er einmal gewußt und wieder vergessen hatte. Es spielte auch keine Rolle, denn es waren Namen, die Menschen ihnen gegeben hatten und die nur für Menschen von Belang waren. Diese Berge waren älter als die Menschen, älter als das Leben auf dieser Welt, und während Warstein noch dastand und nach Norden sah, wurde ihm dies zum ersten Mal wirklich bewußt.

»Verstehst du es?« fragte Saruter.

Warstein nickte. Der Anblick und der Moment hatten etwas Heiliges. Er stand einfach da und sah die Berge an, und zum ersten Mal im Leben wurde ihm bewußt, wie kostbar jeder einzelne Moment war, ganz egal, wie großartig oder auch banal er sein mochte, denn er war einmalig, jede Sekunde anders, und jede unwiederbringlich, war sie einmal verstrichen. Warstein begriff etwas vom Wesen der Zeit, in diesem Moment, etwas, das er niemals wirklich in Worte fassen konnte, das sein Leben aber grundlegender verändern sollte als irgend etwas zuvor.

»Es ist nicht richtig, was ihr tut«, sagte Saruter. »Die Berge sind alt. Sie waren schon da, bevor es Menschen auf dieser Welt gab, und sie werden noch da sein, lange nachdem wir von diesem Planeten verschwunden sind. Manche glauben, daß sie leben. Glaubst du das auch?«

Warstein war nicht sicher, ob er verstand, was Saruter meinte. »In einem gewissen Sinne ... vielleicht«, sagte er ausweichend.

»Alles lebt, in einem gewissen Sinne«, antwortete Saruter. »Die Erde, die Blumen, das Gras ... selbst die Wolken am Himmel. Aber das habe ich nicht gemeint.«

»Was dann?«

Saruters Blick ließ ihn wieder los, und er sah in die gleiche Richtung wie Warstein. Sein Gesicht lag nun halb im Schatten und halb im Licht; zur Hälfte das eines alten und zur anderen das eines jungen Mannes.

»Manche von euren Wissenschaftlern«, begann er, »glauben, daß die Bibel recht hat, und das Leben tatsächlich in einem Klumpen Lehm begann. Es heißt, daß Lehm über eine ganz besondere kristalline Molekularstruktur verfügt, in der Leben auch ohne organische Zusätze entstehen kann.«

Das waren ganz bestimmt nicht die Worte, die Warstein von einem achtzigjährigen Einsiedler erwartet hätte, der in einer Blockhütte unter dem Gipfel des Gridone hauste. Aber zugleich waren sie auch so faszinierend, daß er nicht anders konnte, als gebannt weiter zuzuhören.

»Wenn das so ist, warum soll es bei ihnen nicht ähnlich sein? Sie könnten leben. Sie könnten ein Bewußtsein und sogar ein eigenes Ego haben, jeder einzelne. Und doch würden wir es niemals bemerken. Wie soll man mit einem Geschöpf in Verbindung treten, dessen Gedanken ein Menschenalter währen? Wie mit einer Intelligenz reden, die so fremd ist, daß wir sie nicht einmal als lebende Kreatur erkennen?«

»Ist es das, was Sie mir sagen wollen?« fragte Warstein. »Daß wir sie ... geweckt haben?«

Saruter lächelte. »Es ist nur eine Theorie. Nicht einmal eine besonders originelle.«

»Aber wir haben ... etwas geweckt?« fragte Warstein stockend. »Irgend etwas war in diesem Berg, nicht wahr? Was war es?«

»Es mußte geschehen, früher oder später«, antwortete Saruter. Er sah noch immer nach Norden. Die alte Hälfte seines Gesichtes schien nun vollends zu Stein geworden zu sein. Seine Stimme war ein tonloses Flüstern, das von kommendem Unheil kündete. »Die Kelten waren stark, doch nichts hält ewig.«

»Was?« fragte Warstein. »Was ist es, Saruter? Was ist in diesem Berg?«

»Du wirst es erkennen, wenn die Zeit gekommen ist«, sagte Saruter.

»Warum sagen Sie es mir nicht?« fragte Warstein.

»Das wäre zwecklos. Die Zeit ist noch nicht reif. Aber du wirst es erkennen, wenn es soweit ist. So, wie es dich erkennen wird.«

»Es? Welches es?«

»Du wirst es wissen, sobald es notwendig ist«, erwiderte Saruter. Und das war das letzte, was Warstein an diesem Tag von ihm erfuhr.

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