13

Obwohl Warstein sich mit aller Macht selbst davon zu überzeugen versucht hatte, daß ihre Tarnung gut war, hatte er das Gefühl, ununterbrochen angestarrt zu werden. Zum Teil war es sicher berechtigt. Niemand, der ihrem Wagen näher als fünf Meter kam, kam umhin, das abenteuerlich anmutende Gefährt mit offenem Mund anzustarren. Sie hatten zwar Glück gehabt, und es hatte nicht zu regnen begonnen, aber die Straßen waren noch naß genug gewesen, damit das hochspritzende Wasser ihren Tarnanstrich zumindest zum Teil wieder abgewaschen hatte. Das Ergebnis war eine ganz besondere Art von Camouflage, die dem Wagen das Aussehen eines frischlackierten Zebras gab, das in einen Eimer mit Nitroverdünnung gefallen war. Unauffällig waren sie jetzt jedenfalls nicht mehr. Aber vielleicht, dachte er sarkastisch, funktionierte der Trick ja auch anders herum. Franke würde kaum annehmen, daß sie so blöd waren, in einem derart auffälligen Gefährt durch die Gegend zu fahren.

»Ich möchte wissen, warum er nicht anruft.«

Angelika hatte vor einer halben Stunde den Platz mit ihm getauscht und saß nun neben Lohmann. Sie gab sich Mühe, möglichst gelassen zu erscheinen, aber es gelang ihr nicht im entferntesten. Sie war nervös, und man sah es ihr an. Sie hatte ein wenig Angst, und auch das sah man ihr an. Warstein und sie hatten das Gespräch vom Morgen nicht fortgesetzt, aber sie mußte seine Entschlossenheit spüren. Er war weder gewillt, dieses irrwitzige Unternehmen fortzusetzen, noch darüber zu diskutieren. Es war ein Fehler gewesen, überhaupt herzukommen, das wußte er nun. Sie hatten sich mit einem Gegner angelegt, dem sie nicht gewachsen waren, und zumindest er hätte es eigentlich besser wissen müssen.

»Vielleicht hat er Besseres zu tun«, sagte Lohmann. Er nahm den Blick von der Straße, lächelte ihr flüchtig zu und sah dann durch den Spiegel zu Warstein zurück, der es sich im hinteren Teil des Wohnmobils bequem gemacht hatte; soweit das in einem schaukelnden Wagen möglich war, der mit hundertdreißig Stundenkilometern über die Autobahn fuhr.

Warstein erwiderte seinen Blick finster, und Lohmann beeilte sich, seine Aufmerksamkeit wieder dem Straßenverkehr zuzuwenden. Aber er war nicht schnell genug, daß Warstein nicht das spöttische Glitzern in seinen Augen gesehen hätte. Kurz nachdem er mit Angelika den Platz getauscht hatte, hatte er aufgegeben. Auf dem kleinen Tischchen vor ihm stand eine leere Dose Bier, und eine zweite, ebenfalls schon halb geleerte hielt er in der rechten Hand. Mit der anderen kritzelte er sinnlose Linien und Umrisse auf ein Blatt Papier. Er zeichnete nicht, wie gestern abend, sondern beschäftigte einfach seine Hände. Auch er war nervös, aber seine Nervosität hatte ganz andere Gründe als die Angelikas. Anfangs hatte er sich selbst einzureden versucht, daß es an dem bevorstehenden Treffen mit Franke lag, aber das stimmte nicht. Im Gegenteil, er sah diesem beinahe gelassen entgegen. Er fürchtete Franke nicht mehr; jetzt, wo er aufgegeben hatte und es im Grunde schon vorbei war, gab es gar keinen Grund mehr dazu. Ja, er empfand nicht einmal mehr wirklichen Zorn. Seine neuerliche Reise hierher in die Schweiz war ein sinnloses Aufbegehren gewesen, ein Unterfangen, das von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen war, aber er hatte es trotzdem erst tun müssen, um das zu begreifen.

Nein, seine Unruhe kam von etwas anderem. Ein Gefühl, unterschwellig und trotzdem quälend, das Gefühl, daß ... irgend etwas geschehen würde oder vielleicht auch bereits geschah.

»Wohin fahren wir überhaupt?« fragte er. Er sprach langsam, und er registrierte mit einem sanften Gefühl des Erschreckens, daß seine Zunge bereits schwer zu werden begann. Bisher hatte er es immer als angenehm empfunden, daß er trotz des dreijährigen intensiven Trainings nur sehr wenig zu trinken brauchte, um die Wirkung des Alkohols zu spüren. Jetzt ermahnte er sich selbst zur Vorsicht, und obwohl er ahnte, daß auch dies den Weg aller guten Vorsätze gehen würde, stellte er die Bierdose demonstrativ auf den Tisch. Er brauchte einen klaren Kopf, wenn er mit Franke sprach, und was vielleicht noch viel wichtiger war - er brauchte ihn, solange sie noch nicht mit Franke gesprochen hatten. Lohmann hatte nicht noch einmal versucht, ihn von seinem Entschluß abzubringen, aber das stimmte Warstein eher mißtrauischer. Wenn er noch mehr trank oder gar einschlief, würde er die Chance garantiert nutzen, um Angelika in seinem Sinne zu beeinflussen.

»Nach Osten«, antwortete Lohmann - was Warstein schon wieder ärgerte. Schließlich war er nicht blöd.

»Und warum fahren wir nach Osten?« erwiderte er betont.

»Warum nicht?« sagte Lohmann. »Es ist unsere Richtung. Was wollen Sie? Ich nehme Ihrem Freund Franke nur ein Stück Weg ab - falls er uns wirklich entgegenkommt, heißt das.«

»Er ist nicht mein Freund«, sagte Warstein scharf.

Lohmann wollte antworten, aber Angelika schnitt ihm das Wort ab. »Fangt nicht schon wieder an zu streiten«, sagte sie.

»Wir streiten nicht«, sagte Lohmann beleidigt. »Man hat mir eine Frage gestellt, und ich habe sie beantwortet.«

Angelika sagte nichts darauf, und auch Warstein zog es vor, sich in Schweigen zu hüllen - auch wenn er immer noch keine Antwort auf seine Frage bekommen hatte. Die Stimmung im Wagen war gereizt genug. Er mußte vorsichtig sein. Eine offene Konfrontation mit Lohmann war das letzte, was er jetzt wollte.

»Die zwei Stunden sind längst vorbei«, knüpfte Angelika an ihren unterbrochenen Gedanken an. Sie schüttelte den Kopf, nahm das Telefon aus seiner Halterung und drehte es ein paarmal in den Händen, als könne sie Frankes Anruf durch bloßes Anstarren herbeizwingen. Schließlich hängte sie das Gerät mit einem abermaligen Seufzen wieder zurück.

»Völlig sinnlos«, sagte Lohmann. »Das Ding ist tot. Und solange Franke es nicht von sich aus wieder einschaltet, bleibt es das auch.« Seine Stimme klang fast fröhlich. »Vielleicht hat er ja die Nummer verlegt.«

Angelika verdrehte die Augen. Sie sagte immer noch nichts, aber sie wandte sich demonstrativ zur Seite und starrte für die nächsten fünf Minuten wortlos aus dem Fenster.

Wie immer, wenn man auf etwas wartete, schien sich die Zeit zäh dahinzuquälen. Warstein warf in regelmäßigen Abständen einen Blick auf die Uhr im Armaturenbrett und auf den Tachometer. Sie kamen gut voran, viel besser, als er nach dem katastrophalen Beginn ihrer Reise auch nur zu hoffen gewagt hatte. Der Verkehr war zwar noch immer dicht; durch den Ausfall der direkten Eisenbahnverbindung wurde die Autobahn sicherlich doppelt so stark frequentiert wie normal. Aber sie waren bisher in keinen Stau geraten, und auch die Verkehrsmeldungen aus dem Radio sagten nichts davon.

»An der nächsten Raststätte müssen wir tanken«, sagte Lohmann nach einer Weile. Niemand antwortete, und nach einem weiteren, sekundenlangen Schweigen fügte er hinzu: »Und spätestens dann sollten wir zu einer Entscheidung kommen.«

»Was für eine Entscheidung?« fragte Warstein, obwohl sie alle wußten, wovon Lohmann sprach.

»Wie wir weitermachen«, sagte Lohmann. »Und ob wir weitermachen. Ich sage jetzt nichts mehr darüber, daß ich eine ganze Stange Geld und einen Haufen Zeit in den Sand gesetzt habe, nur weil ihr plötzlich kneift. Es ist eure Entscheidung. Aber ich habe sehr wenig Lust, noch mehr Geld und noch mehr Zeit zu opfern, nur um mir die verstopften Schweizer Autobahnen anzusehen.«

»Es gibt nichts weiterzumachen«, sagte Warstein. Eigentlich hatte er gar keine Lust mehr zu antworten. Es gab nichts mehr zu bereden. Alles, was er zu diesem Thema zu sagen hatte, war gesagt. Trotzdem fuhr er fort: »Ich dachte, das wäre klar. Wir sind hierhergekommen, um Angelika bei der Suche nach ihrem Mann zu helfen. Franke wird sie hinbringen.«

Lohmann lachte. »So naiv möchte ich auch einmal sein.« Er hob abwehrend die Hände, als Warstein auffahren wollte. »Schon gut, schon gut - ich habe doch gesagt, es ist eure Entscheidung. Aber habt ihr schon einmal darüber nachgedacht, was wir tun, wenn er nicht anruft?«

»Er wird anrufen«, behauptete Warstein.

»Wahrscheinlich«, sagte Lohmann. »Aber nur so zum Spaß: was, wenn er es sich überlegt hat oder sich aus irgendeinem anderen Grund nicht meldet. Immerhin hat er von zwei Stunden gesprochen. Mittlerweile sind mehr als drei vorbei.«

»Er ruft an«, beharrte Warstein.

»Gut.« Lohmann gab einen sonderbaren Laut von sich. »Er ruft an. Lassen wir es dabei.« Eine gute Minute verging, dann: »Und wenn nicht?«

»Er ruft an«, beharrte Warstein. Lohmann lachte, aber er stellte seine Frage kein drittes Mal. Die restliche Zeit, bis sie die Tankstelle erreichten, verlief in einem unangenehmen, nervösen Schweigen, das die Spannung zwischen ihnen eher noch vertiefte, statt sie zu mildern. Warstein atmete erst wieder auf, als sie in die Tankstelle einbogen und Lohmann den Wagen verließ.

»Er ist verdammt wütend«, sagte Angelika. Sie blickte Lohmann nach, wie er den Schlauch aus der Tanksäule löste und damit um den Wagen herumging. Warstein war vollauf damit beschäftigt, sich Sorgen zu machen. Sie waren nicht allein an der Tankstelle, und jeder, der näher als zwanzig Meter war, starrte den schwarzweiß gescheckten Wagen verblüfft an. Sie erregten Aufsehen. Mehr, als er bisher hatte zugeben wollen.

»Er wird sich schon wieder beruhigen«, sagte er schließlich. »Irgendwie kann ich ihn sogar verstehen. Er hat wirklich eine Menge investiert - und wahrscheinlich hat er geglaubt, hinter der Story seines Lebens her zu sein.« Er zuckte die Schultern. »Berufsrisiko.«

»Um so weniger begreife ich, daß er so schnell aufgibt«, sagte Angelika.

»Tut er nicht«, behauptete Warstein. »Ich gehe jede Wette ein, daß er nicht nach Hause fährt, sondern versucht auf eigene Faust weiterzumachen, sobald wir weg sind. Aber das ist Frankes Problem. Ich bin sicher, er wird damit fertig.«

Angelika drehte sich im Sitz herum und sah ihn einen Moment lang auf eine sehr sonderbare Art an. »Und du?« fragte sie.

»Ich? Was meinst du?«

»Wirst du damit fertig?«

»Womit? Mit Franke?«

»Damit, aufzugeben.« Warstein sah ihr an, wie schwer es ihr fiel weiterzusprechen. Sie kramte umständlich eine Zigarette hervor und setzte sie in Brand, ehe sie weitersprach. Er spürte, daß es wichtig für sie war, mit ihm darüber zu reden.

»Du bist hergekommen, um etwas in Ordnung zu bringen. Ich weiß, du wolltest mir helfen, aber du bist auch deinetwegen hier. Das ist in Ordnung. Aber ich frage mich, ob es in Ordnung ist, daß du jetzt meinetwegen alles aufgibst.«

»Aufgeben? Was?« Warstein lachte bitter. »Es war von Anfang an eine idiotische Idee. Nicht von dir - von mir, meine ich. Man sollte wissen, wenn man verloren hat. Ich habe schon vor drei Jahren verloren. Du brauchst keine Schuldgefühle zu haben, wenn es das ist, wovor du dich fürchtest. Auf diese Weise wird wenigstens einem von uns geholfen.«

Angelika antwortete nicht darauf, und Warstein fragte sich selbst, ob das wirklich die Wahrheit war oder vielleicht nur eine Entschuldigung für seine eigene Feigheit. Er konnte weitermachen. Es war ganz leicht. Er mußte nur dieses verdammte Telefon nehmen, in hohem Bogen aus dem Fenster werfen, und die Entscheidung war gefallen.

»Ich hoffe, du hast recht«, sagte Angelika, »und es ist nicht nur ein Trick, und wir finden uns in einer gemütlichen Gefängniszelle wieder.«

»Kaum«, widersprach Warstein, diesmal tatsächlich aus Überzeugung. Er raffte sich zu einem Lächeln auf. »Außerdem bist du nicht die einzige, die etwas von dieser Reise hat. Lohmann bekommt seine Story so oder so, selbst wenn Franke ihn hochnimmt. Und ich werde endlich erfahren, was im Gridone wirklich vorgeht. Weißt du, nicht einmal Franke kann jetzt noch behaupten, daß das alles nur Zufälle sind, die nichts zu bedeuten haben. Außerdem glaube ich, daß er mich braucht.«

»Franke? Dich?«

Warstein nickte. »Da war etwas in seiner Stimme«, sagte er überzeugt. »Ich kenne ihn gut genug, weißt du? Er war ... nervös. Ich will nicht unbedingt sagen, daß er in Panik war, aber viel fehlte nicht mehr. Er will irgend etwas von mir, und er wird es nur bekommen, wenn er mir ein paar Fragen beantwortet.«

»Und das ist alles, was du willst?« fragte Angelika. Sie wirkte enttäuscht. »Was Saruter damals zu dir gesagt hat, zählt nicht mehr?«

»Ich sagte bereits - vielleicht war es nicht mehr als das sinnlose Gerede eines halbverrückten alten Mannes.«

»Ja, das sagtest du«, bestätigte Angelika, »aber du glaubst es selbst nicht. Bisher ist alles eingetroffen, was er vorausgesagt hat. Irgend etwas geschieht an diesem Berg. Die Welt ist in Unordnung geraten. Doch wir sind hier, und wir sind drei.«

»O ja«, erwiderte Warstein spöttisch. »Bonnie und Clyde mit Groucho Marx als Verstärkung.« Er schüttelte den Kopf und versuchte, den Hohn aus seinem Lächeln zu verbannen, als er sah, wie sehr er sie damit verletzte. »Sei vernünftig. Wir drei sind bestimmt nicht in der Lage, die Welt zu retten. Ich bin nicht Superman, du bist nicht Jane, und auch Lohmann fehlt noch eine ganze Menge zu einem He-Man - auch wenn er gerne so tut, als wäre er es.«

Angelika blieb ernst. »Es gibt keine Möglichkeit dich umzustimmen?«

»Doch«, antwortete Warstein. »Ihr könntet mich gemeinsam aus dem Wagen werfen und allein weiterfahren.«

»Witzig«, sagte Angelika mit einem säuerlichen Grinsen. Sie deutete auf Lohmann. »Was ist, wenn er recht hat und Franke nicht anruft?«

»Das wird er«, behauptete Warstein zum wiederholten Mal. Aber natürlich hatte er sich diese Frage auch schon gestellt - und er begann sich immer nervöser zu fragen, warum zum Teufel Franke tatsächlich noch nicht angerufen hatte. Die zwei Stunden waren mittlerweile zweimal um.

Unschlüssig griff er zum Telefon und löste es aus seiner Halterung. Wenn Franke das Gerät wenigstens nicht blockiert hätte, dann hätten sie ihn zurückrufen können, aber so?

Warstein stutzte. Das Gerät war nicht geschlossen. Die hintere Klappe stand millimeterweit offen.

»Was ist?« fragte Angelika. Offensichtlich sah man ihm seine Überraschung deutlich an.

Statt einer Antwort drehte Warstein den kleinen Handapparat herum und öffnete die Klappe. Was er sah, war genau das, was er im Grunde hätte erwarten können.

»Was hast du?« fragte Angelika noch einmal. »Stimmt etwas nicht?«

»Das kann man wohl sagen«, antwortete Warstein. »Die Codekarte ist weg.«

»Die was?« fragte Angelika.

»Du brauchst eine Art Scheckkarte, um diese Geräte zu betreiben«, sagte Warstein. »Sie ist weg.«

»Du ... du meinst, Lohmann hat -«

»Ja, Lohmann hat«, erwiderte Warstein betont. Er versuchte vergeblich, Zorn zu empfinden. Wenn er überhaupt wütend war, dann auf sich, daß er nicht von selbst darauf gekommen war. »Deshalb hat er nicht mehr versucht, uns umzustimmen. Er wußte ganz genau, daß Franke nicht mehr anrufen würde.«

»Vielleicht hat er sie ja noch«, sagte Angelika. »Oder wir können irgendwo eine neue besorgen.«

»Das würde nichts nutzen.« Warstein hängte das Gerät seufzend wieder zurück. »Du brauchst zusätzlich eine Codenummer, um den Apparat wieder einzuschalten. Eine Diebstahlsicherung, damit nur der rechtmäßige Besitzer etwas damit anfangen kann.«

»Im Klartext: Franke kann uns gar nicht anrufen«, sagte Angelika.

»Wahrscheinlich versucht er es seit zwei Stunden ununterbrochen«, sagte Warstein. Und ebenso wahrscheinlich, fügte er in Gedanken hinzu, ist er längst zu dem Schluß gekommen, daß wir nicht mit ihm reden wollen und es lieber auf die harte Tour zu Ende bringen.

»Dieser Idiot«, sagte Angelika.

»Wenn überhaupt, dann bin ich der Idiot«, seufzte Warstein. »Ich hätte mir denken können, daß Lohmann nicht so einfach klein beigibt. Ich an seiner Stelle hätte vermutlich nichts anderes getan.« Plötzlich hatte er Lust, irgend etwas zu zerschlagen. Sein Zorn, der nun doch da war, brauchte ein Ventil.

Angelika sah die ganze Sache eher von der praktischen Seite, denn sie fragte: »Und was nun?«

»Was bleibt uns schon übrig?« fragte Warstein zornig. »Wir fahren weiter, wie wir es geplant hatten. Früher oder später wird er uns schon finden. Oder wir ihn.«

Angelika antwortete nicht, und Warstein ertappte sich bei dem Gedanken, ob sie tatsächlich so zornig über Lohmanns Verrat war, wie sie tat, oder ihre Entrüstung nur vortäuschte. Aber eigentlich spielte das keine Rolle; abgesehen davon vielleicht, daß dieser Gedanke verdächtig an Paranoia grenzte.

Lohmann hatte fertig getankt und verschwand im Kassenhäuschen, um zu zahlen. Warstein starrte ihm wütend nach. Er gab weiter sich selbst den Großteil der Schuld, denn er war ein gutgläubiger Narr gewesen, Lohmann auch nur eine Sekunde aus dem Auge zu lassen.

»Vielleicht ist es gut so«, sagte Angelika. »Wahrscheinlich hätte uns Franke doch nur eine Falle gestellt.« Sie klang nervös - vermutlich war sie insgeheim erleichtert über das, was Lohmann getan hatte, aber wahrscheinlich hatte sie auch ein schlechtes Gewissen, ihm gegenüber. Warum mußte immer alles so kompliziert sein?

Er wartete schweigend, bis Lohmann zurückkam. Seine Blicke mußten wohl Bände sprechen, denn der Journalist stockte noch im Einsteigen mitten in der Bewegung und sah erst ihn, dann Angelika und schließlich wieder ihn stirnrunzelnd an.

»Was ist denn mit euch los?« fragte er. »Ihr seht aus, als...«

»...als wären wir dämlich?« fiel ihm Warstein ins Wort. »Das muß wohl so sein.«

»Ich verstehe kein Wort«, sagte Lohmann. Er zog die Tür hinter sich zu, steckte den Schlüssel wieder ins Schloß und drehte sich abermals zu Warstein um. »Und wie kommen Sie zu dieser sensationellen Erkenntnis?«

»Wenn ich es nicht wäre, hätte ich Ihnen keinen Sekundenbruchteil lang vertraut«, sagte Warstein. »Meinen Glückwunsch. Sie haben mich wirklich reingelegt. Für eine Weile habe ich tatsächlich geglaubt, Sie würden mit offenen Karten spielen.«

Lohmann versuchte erst gar nicht, irgend etwas zu leugnen. Er zuckte nur mit den Schultern, wandte sich um und startete den Motor.

Warstein beugte sich vor und drehte den Zündschlüssel wieder herum. »Was soll das?« fragte Lohmann verärgert.

»Damit kommen Sie nicht durch«, antwortete Warstein. Hatte er gerade tatsächlich geglaubt, nicht zornig auf Lohmann zu sein? Das war wohl ein Irrtum gewesen. Er war so wütend, daß er sich plötzlich mit aller Macht zusammenreißen mußte, um nicht mit Fäusten auf ihn loszugehen.

»Womit?« fragte Lohmann ruhig. »Damit, daß ich versuche, Sie zur Vernunft zu zwingen?«

»Vernunft? Sie -«

»Sie glauben doch nicht wirklich, daß Frankes Angebot ernst gemeint war«, unterbrach ihn Lohmann. »Wenn ja, dann sind Sie noch naiver, als ich dachte. Der Kerl stellt Ihnen eine geradezu lächerlich durchsichtige Falle, und Sie beschweren sich auch noch, daß ich Sie daran hindere hineinzutappen?«

»Es reicht, Lohmann«, sagte Warstein. Seine Stimme zitterte. Es fiel ihm immer schwerer, sich zu beherrschen. »Ich habe endgültig die Nase von Ihnen voll. Ich bin nicht hier, um James Bond zu spielen.«

»Bei Ihnen würde es auch höchstens zu einem Inspektor Clouseau reichen«, erwiderte Lohmann trocken. »Was wollen Sie? Ich habe Ihnen vermutlich den Hals gerettet!«

»Hören Sie auf!« brüllte Warstein. »Noch ein Wort, und...«

»Und?« Lohmann lachte geringschätzig. »Was dann? Wollen Sie mich verprügeln? Nur zu. Tun Sie sich keinen Zwang an, wenn es Sie erleichtert.« Hinter ihnen erscholl ein langgezogenes Hupen. Lohmann warf einen raschen Blick in den Rückspiegel und startete dann den Motor neu. »Ich mache besser die Tanksäule frei«, sagte er, »bevor wir noch mehr Aufsehen erregen. Keine Sorge - wir fahren nur ein paar Meter. Danach bin ich gerne bereit, Ihnen Satisfaktion zu gewähren. Haben Sie Ihre Sekundanten schon gewählt?« Noch ein Wort, dachte Warstein, noch ein einziges Wort in dieser Art, und er würde Lohmann das blöde Grinsen aus dem Gesicht schlagen. Und wenn es das letzte war, was er tat. Aber er hinderte ihn trotzdem nicht daran, den Wagen wegzusetzen.

Lohmann steuerte den Wagen in eine abseits gelegene Parkbucht, drehte den Schlüssel wieder herum und wandte sich dann fast gemächlich Warstein zu. Er lächelte noch immer, aber in dem Spott in seinen Augen war auch unübersehbare Vorsicht; und vielleicht sogar so etwas wie Angst. Vielleicht spürte er, daß er zu weit gegangen war.

»Seien Sie vernünftig, Warstein«, sagte er. »Okay, ich gebe zu, ich hätte das vielleicht nicht tun sollen. Aber ich habe es nun mal getan, und ich glaube nach wie vor, daß ich recht habe.«

»Ach, glauben Sie das?«

»Verdammt noch mal, ich weiß es«, antwortete Lohmann erregt. »Überlegen Sie doch selbst! Selbst wenn Sie recht haben und Frankes Vorschlag wirklich ernst gemeint war, beweist das doch nur, daß hier etwas nicht stimmt!«

»So?«

»Ja, so!« Auch Lohmann klang jetzt erregt. »Denken Sie nach! Dieser Mann hat nichts unversucht gelassen, Sie fertigzumachen. Er hat Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um Sie und Ihre Freundin von Ascona und dem Gridone fernzuhalten. Und plötzlich bietet er Ihnen aus heiterem Himmel an, alles zu bekommen, was Sie wollen. Was glauben Sie wohl, warum er das tut?« Er legte die flache Hand unter das Kinn. »Vermutlich, weil ihm das Wasser bis hier steht. Irgend etwas ist hier faul!«

»Das einzige, was hier nicht stimmt, sind Sie!« antwortete Warstein zornig. Eine leise, innere Stimme begann ihm zuzuflüstern, daß Lohmann vielleicht recht hatte, aber er weigerte sich, auf sie zu hören. Er war wütend, und er wollte wütend sein. »Ich hätte mich nie mit Ihnen einlassen sollen. Und ich werde es auch nicht weiter tun.«

»So? Und was haben Sie vor? Wollen Sie aussteigen und per Anhalter weiter nach Ascona fahren? Nur zu. Ich hindere Sie nicht.« Er griff in die Jackentasche. »Ich gebe Ihnen sogar Fahrgeld, wenn Sie wollen. Und ein paar Münzen fürs Telefon, um Ihren Busenfreund Franke anzurufen. Falls Sie wissen, wie Sie ihn erreichen, heißt das.«

»Hört auf!« sagte Angelika laut.

Warstein fuhr zornig herum - aber ihre Worte hatten nicht nur den Zweck, ihren Streit zu schlichten. Sie hatte sich vorgebeugt und streckte die Hand nach dem Radio aus. Sie hatten den Apparat die ganze Zeit über laufen lassen, um die regelmäßigen Verkehrsnachrichten zu hören, aber die Lautstärke fast ganz heruntergedreht. Jetzt stellte Angelika es mit einem Ruck wieder lauter. »...noch keine genauen Angaben über die Anzahl der Opfer vor«, verstand Warstein. »Wir schalten jetzt direkt zu unserem Korrespondenten nach Mailand, von dem wir uns einen ersten Bericht über das Ausmaß der Katastrophe erhoffen.«

»Was ist denn das?« fragte Lohmann.

»Still!« Angelika machte eine hastige Handbewegung und stellte den Apparat noch lauter.

»Hier ist Werner Roskamp live aus Mailand«, hörten sie. Die Verbindung war schlecht. Die Stimme des Journalisten war von zahlreichen Störgeräuschen überlagert, aber Warstein glaubte trotzdem, im Hintergrund aufgeregte Stimmen und ein allgemeines Durcheinander wahrzunehmen. »Auch hier weiß man momentan noch nichts Genaues«, fuhr der Radioreporter fort. »In einer ersten Stellungnahme der zuständigen Behörden hieß es vor zehn Minuten, daß die Rettungsarbeiten gerade angelaufen sind. Im Augenblick kann man wie gesagt noch nichts sagen, aber ich persönlich fürchte, daß wir es hier mit einer der größten Katastrophen der zivilen Luftfahrt zu tun haben, die sich in den letzten zehn Jahren ereignet hat.«

»Was genau ist denn überhaupt geschehen?« fragte die erste Stimme wieder.

»Ja, auch das weiß man noch nicht hundertprozentig«, erwiderte der Journalist. »Nach allem, was ich gehört habe, befand sich die Boeing 747 der Alitalia auf dem Landeanflug nach Mailand, als der Pilot plötzlich Schwierigkeiten mit seinen Instrumenten meldete. Einen Augenblick später ist die Verbindung dann wohl abgebrochen, und kurz darauf verschwand die Maschine von den Radarschirmen. Es gibt - allerdings bisher unbestätigte - Meldungen, nach denen die Maschine in den Lago Maggiore gestürzt sein soll, aber wie gesagt: das sind bisher nur Gerüchte. Ich bleibe auf jeden Fall hier vor Ort und melde mich sofort wieder, sobald es Neuigkeiten gibt.«

»Dann wollen wir hoffen, daß sich diese Gerüchte nicht bestätigen«, sagte der Radiosprecher. »So weit, meine Damen und Herren, unser erster Bericht von der Flugzeugkatastrophe im Tessin. Wir unterrichten Sie laufend weiter über die Entwicklung und schalten nun zurück auf unser aktuelles Programm.«

Angelika und Warstein starrten sich betroffen an. »Der ... der Lago Maggiore?« murmelte Angelika. Ihre Stimme klang flach, beinahe ausdruckslos. »Das ist...«

»Ascona«, sagte Warstein. »Großer Gott.«

Lohmann startete den Motor. »Es geht los. Fahren wir. Streiten können wir uns auch unterwegs.«

»Es hat vor zwei Stunden angefangen!« schrie der Soldat. Obwohl er aus Leibeskräften brüllte, hatte Rogler Mühe, seine Worte zu verstehen. Im Grunde rekonstruierte er den Satz nur aus den wenigen Fetzen, die er durch das Heulen des Sturmes hindurch aufschnappte. Er hatte Mühe, sich seine Überraschung nicht allzu deutlich anmerken zu lassen. Rogler hatte wenig Erfahrung im Erkennen militärischer Insignien und Rangabzeichen - aber er mußte sich schon sehr täuschen, wenn der grauhaarige Soldat, mit dem Franke umsprang wie mit einem begriffsstutzigen Sextaner, nicht ein ausgewachsener Vier-Sterne-General war.

»Genau vor zwei Stunden?« schrie Franke zurück.

Der General schüttelte den Ärmel seines makellos gebügelten Tarnanzuges hoch und sah eine Sekunde lang stirnrunzelnd auf die Uhr. »Ziemlich«, schrie er. »Ganz genau kann ich es nicht sagen. Die beiden Männer, die hier postiert waren, sind verschwunden. Aber zwischen ihrer letzten Meldung und der der Hubschrauberbesatzung lagen nur knapp drei Minuten. Irgendwann in dieser Zeit eben.«

Franke machte ein besorgtes Gesicht. Er setzte dazu an, eine weitere Frage zu stellen, blickte aber dann nur kurz in den kreisrunden, fast einen Kilometer durchmessenden Schacht hinunter und machte eine Kopfbewegung in die entgegengesetzte Richtung. Ihre Bedeutung war klar. Das Heulen der aufgewirbelten Luftmassen machte jede Verständigung so gut wie unmöglich. Und es gab nichts, was sie unbedingt hier besprechen mußten. Rogler war insgeheim sogar ganz froh, aus der unmittelbaren Nähe dieses ... Dinges verschwinden zu können. Der Anblick des schwarzen, licht- und luftverschlingenden Abgrundes erfüllte ihn mit einer Art von Furcht, die er selbst noch nicht ganz hatte verarbeiten können.

»Schade, daß wir nicht genauer wissen, wann es angefangen hat«, sagte Franke, während sie geduckt auf den gut fünfhundert Meter entfernt wartenden Helikopter zugingen. »Nehmen Sie Verbindung mit dem NATO-Hauptquartier auf; und wenn das nichts bringt, mit den Amerikanern. Vielleicht kann irgendein Satellit genauere Daten liefern.«

Der General sprach etwas in ein kleines Diktiergerät, das er in der rechten Hand trug. Franke schritt schneller aus, so daß er und Rogler plötzlich Mühe hatten, mit ihm mitzuhalten. Sie hatten bereits die halbe Strecke zum Helikopter hinter sich gebracht, aber das Brüllen des Orkanes hatte nicht merklich nachgelassen. Im Gegenteil: Rogler hatte das Gefühl, es wäre lauter geworden.

Er war sehr verwirrt - und überaus erschrocken. Das lag nicht allein an dem, was er gerade gesehen hatte. Da waren dieser General, dieser Hubschrauber und Soldaten, überall Soldaten. Plötzlich schien alles anders. Rogler fühlte sich in diesem Moment wie Franke am Morgen desselben Tages: Von einem Augenblick auf den anderen stimmte keine seiner Theorien mehr.

Sie bestiegen den Hubschrauber, und der Pilot startete die Turbine, noch ehe sich die Kabinentür ganz hinter ihnen geschlossen hatte. Die Maschine hob nach wenigen Augenblicken ab.

Franke wandte sich an den General. »Fragen Sie den Piloten, ob er genau über den Schacht fliegen kann«, sagte er. »Aber er soll kein Risiko eingehen.« Der General beugte sich vor und begann halblaut mit einem der beiden Hubschrauberpiloten zu reden. Der Mann sah wenig begeistert aus, das erkannte Rogler deutlich; aber nach einigen Sekunden nickte er trotzdem.

»Okay. Aber es kann ein bißchen holperig werden. Schnallen Sie sich besser an.« Der General ging mit gutem Beispiel voran und ließ den Verschluß des Sicherheitsgurtes einschnappen, und auch Rogler und Franke schnallten sich auf den Sitzen fest. Die Maschine stieg gute tausend Meter nahezu senkrecht in die Höhe, ehe der Pilot ihre Nase herumdrehte und den Helikopter mit äußerster Vorsicht auf den kreisförmigen Ausschnitt schwärzester Finsternis unter ihnen zusteuerte.

Rogler konnte einen Schauder der Furcht nicht mehr unterdrücken, als er aus dem Fenster sah. Seltsamerweise wirkte der Abgrund aus der Distanz betrachtet viel unheimlicher und bizarrer als aus der Nähe. Dort unten war er einfach nur ein Loch gewesen, das da gähnte, wo eigentlich massives Felsgestein sein sollte. Von hier oben aus... Es war nicht einfach nur ein Loch im Boden. Aus der Luft betrachtet, konnte man sehen, daß der Schacht tatsächlich kreisrund war und so senkrecht in die Erde hineinführte, als wäre er mit einem Präzisionswerkzeug gebohrt worden. Seine Wände waren vollkommen glatt - soweit Rogler dies beurteilen konnte -, sie waren nicht wirklich zu sehen. Sein Blick hätte von hier aus weit in die Tiefe reichen müssen, denn die Sonne stand nahezu senkrecht über dem Abgrund. Aber irgend etwas schien ihr Licht aufzusaugen. Der Schacht konnte fünfzig oder auch fünfzigtausend Meter tief sein. Und irgendwie spürte er, daß selbst diese Schätzung noch zu gering war.

Er spürte noch mehr, aber es gelang Rogler nicht, das, was er beim Anblick dieses Schachtes empfand, wirklich zu artikulieren. Er machte ihm angst, aber aus Gründen, die er nicht erfassen konnte. Da war die normale Angst jedes Menschen vor der Tiefe, die Angst vor dem Sturz und dem Tod und die ebenso normale Furcht vor dem Unbekannten und den Gefahren, die sich darin verbergen mochten. Aber unter diesen uralten Instinkten lauerte noch etwas. Er versuchte, dieses andere Gefühl zu ergründen, doch allein dieser Versuch wurde mit einem solchen Schrecken belohnt, daß er seine geistigen Fühler rasch wieder zurückzog.

»Unheimlich, nicht?« sagte Franke, als sich Rogler vom Fenster abwandte und ihre Blicke sich begegneten.

Rogler nickte. »Ja. Wie ein Loch in der Wirklichkeit.« Eine sonderbare Formulierung. Er wußte selbst nicht, warum er sie gewählt hatte. Aber Franke widersprach nicht, und er lachte auch nicht. »Warum ... warum ist es so wichtig, den genauen Zeitpunkt zu kennen?« fragte Rogler - eigentlich gar nicht, weil ihn diese Frage wirklich interessierte, sondern nur, um überhaupt etwas zu sagen. Er hatte plötzlich das Gefühl, das Schweigen nicht mehr ertragen zu können.

»Das Flugzeug«, antwortete Franke. »Es ist vor ziemlich genau zwei Stunden abgestürzt.«

»Sie meinen, der Absturz hat etwas mit ... damit zu tun?«

»Ich habe keine Ahnung«, gestand Franke. Er sah sehr unglücklich aus. Und sehr verängstigt. Tatsächlich schien er mehr Angst zu haben als Rogler, obwohl er doch ungleich besser wissen mußte, mit was für einer Art von Phänomen sie es zu tun hatten. Aber vielleicht war das ja auch der Grund für seine Furcht. »Und ehe sie fragen«, fuhr er fort, wobei er den Blick weiter gebannt in die Tiefe gerichtet hielt, »ich habe nicht die geringste Ahnung, was das ist. Geschweige denn, wo es herkommt.«

»Irgendwo wird eine riesige Höhle zusammengestürzt sein«, sagte Rogler. »Ein unterirdisches Erdbeben in ein paar Kilometern Tiefe - falls es so etwas gibt, meine ich.«

Franke sah ihn flüchtig an, und auf eine Weise, die deutlicher als jedes gesprochene Wort sagte, was er von seiner Vermutung hielt. Aber zu Roglers Überraschung nickte er plötzlich doch. »Das wäre eine Erklärung«, sagte er. »Vielleicht sogar für den Sturm. Wenn der Hohlraum groß genug ist, und der Luftdruck dort unten viel niedriger als hier...«

Doch auch in Roglers Ohren klang das alles andere als überzeugend. Schon eher schien es etwas zu sein, womit sich Franke selbst zu beruhigen versuchte - was ihm sichtlich nicht gelang.

»Können wir etwas tiefer gehen?« wandte er sich an den General. Der Soldat sah ihn einen Moment lang fast bestürzt an, aber dann gab er seine Bitte an den Piloten weiter. Die Maschine begann an Höhe zu verlieren, beschleunigte aber auch gleichzeitig und kreiste nun in enger werdenden Spiralen über dem Loch, statt still in der Luft zu hängen. Allmählich, unendlich behutsam, wie es Rogler schien, sanken sie tiefer.

Es nutzte nichts. Unter ihnen gähnte immer noch ein bodenloser Abgrund, der gar nicht wirklich tiefer in die Erde hineinzuführen schien, sondern vielmehr... Er wußte es nicht. Oder vielleicht doch - aber der Gedanke war einfach zu bizarr, als daß er sich auch nur gestattete, ihn zu artikulieren.

»Verrückt«, murmelte er.

Franke sah ihn scharf an. »Was?«

»Nichts.« Rogler versuchte zu lachen, aber es mißlang kläglich. »Vergessen Sie es.«

»Verrückter als das da kann kaum noch etwas sein«, erwiderte Franke mit einer Geste nach unten. »Nur keine Hemmungen.«

Die Worte stellten keine Bitte dar, sondern einen Befehl. Trotzdem zögerte Rogler noch einige Sekunden, der Aufforderung zu folgen. »Ich ... ich dachte gerade, daß es aussieht, als ob es...« Er lachte nervös und wich Frankes Blick aus. »...als ob es nirgendwo hinführt.«

»Vielleicht tut es das auch«, murmelte Franke.

Die Stimme des Piloten, die aus einem Lautsprecher über ihren Köpfen drang, hinderte Rogler daran zu antworten. »Tiefer kann ich nicht gehen«, sagte er. »Es ist hier schon ziemlich riskant. Die Turbulenzen werden immer stärker. Es wäre besser, wenn wir nicht zu lange blieben.«

»Nur einen Moment noch«, bat Franke. Er sah den General an, der wiederum eine entsprechende Geste zu dem Mann hinter dem Steuerknüppel machte, und blickte dann wieder konzentriert aus dem Fenster. Rogler fragte sich, was er dort unten sah, das ihm und den anderen offensichtlich verborgen blieb. Aber eigentlich wollte er es gar nicht wissen.

Lohmann schüttelte sich wie ein nasser Hund, als er in den Wagen zurückkam; zusammen mit einem Schwall eisiger Kälte und klammer Feuchtigkeit, die das ihre dazu taten, die Atmosphäre im Wagen noch ungemütlicher zu gestalten - falls dies überhaupt noch möglich war, hieß das.

»Nun?« fragte Angelika.

Lohmann zog die Tür hinter sich zu und wischte sich eine nasse Strähne aus der Stirn, ehe er antwortete. »Sieht nicht gut aus. Ich fürchte, auf diesem Weg kommen wir nicht weiter. Sie haben den Simplon gesperrt.«

Angelikas Blick machte deutlich, daß ihr das nichts sagte.

»Der Tunnel«, erklärte Warstein. »Die einzige andere Verbindung nach Ascona auf dieser Seite der Berge. Es sei denn, wir machen einen gewaltigen Umweg und fahren über Bellinzona und Locarno. Aber das dauert bis morgen mittag. Mindestens.«

»Stimmt«, sagte Lohmann. »Oder zurück und über die italienische Strecke. Aber die ist genauso lang. Wenn nicht länger. Außerdem wäre spätestens am See Schluß. Die Straße am Lago Maggiore ist normalerweise schon hoffnungslos verstopft. Im Moment ist da garantiert kein Durchkommen.« Er zog eine Grimasse. »Hat irgend jemand eine Idee, wie es jetzt weitergehen soll? Ich bin für jeden Vorschlag dankbar.«

»Das Problem hätten wir nicht, wenn Sie nicht -«, begann Warstein.

»Bitte nicht schon wieder«, unterbrach ihn Angelika. »Das bringt uns im Moment wirklich nicht weiter.«

Damit hatte sie natürlich recht, und Warstein spürte sogar, daß sie ihm nicht ins Wort gefallen war, um Lohmann beizustehen, sondern einzig, um eine Fortsetzung des Streites zu vermeiden, der den ganzen Tag über zwischen ihnen geschwelt hatte. Trotzdem fühlte er sich auf eine absurde Weise von ihr verraten. Beleidigt drehte er sich herum und blickte aus dem Fenster. Lohmann zündete sich eine Zigarette an und hielt Angelika die offene Packung hin. Zu Warsteins Überraschung lehnte sie jedoch mit einem Kopfschütteln ab. »Danke«, sagte sie. »Ich glaube, ich lege eine kleine Pause ein. Ich hatte heute schon zu viel.«

Dem konnte Warstein nur zustimmen. Die Luft im Wagen war zum Schneiden dick, und seit zwei oder drei Stunden hatte er leichte, aber sehr penetrante Kopfschmerzen. Nicht, daß er Angelikas Nervosität nicht verstehen konnte. Sie alle waren nervös, und sie hatten Grund dazu.

Lohmann schnippte seine Asche auf den Boden und begann im Handschuhfach zu kramen, bis er eine Karte fand. »Wir haben drei Möglichkeiten«, sagte er nach einigen Sekunden. »Wir können weiterfahren und es tatsächlich über Locarno versuchen, oder wir kehren um und fahren von der italienischen Seite heran. Aber das dauert.«

»Wir kommen nie um den See herum«, antwortete Warstein. »Das haben Sie gerade selbst gesagt.«

Lohmann grinste, blies eine Qualmwolke in seine Richtung und antwortete: »Wer spricht von herumfahren? Ein See besteht gewöhnlich aus Wasser. Und auf Wasser fahren Schiffe. Wir könnten eines mieten und versuchen, den Lago Maggiore direkt zu überqueren. Allerdings weiß ich nicht, ob das im Moment überhaupt möglich ist.« Er deutete auf das Radio, das den ganzen Tag Meldungen über den Flugzeugabsturz und die Bergungsarbeiten gebracht hatte. Der Sender hatte sich über Details beharrlich ausgeschwiegen, aber es gehörte nicht besonders viel Phantasie dazu, sich vorzustellen, wie es jetzt am Lago Maggiore aussah. Vermutlich wimmelte es dort von Menschen.

»Und die dritte Möglichkeit?« fragte Angelika.

»Wir können aufgeben«, sagte Warstein.

Lohmann zog eine Grimasse. »Dann haben wir sogar noch vier Möglichkeiten«, sagte er. Er begann die Karte auf den Knien auseinanderzufalten und deutete mit dem glühenden Ende seiner Zigarette auf einen bestimmten Punkt. »Wir sind hier«, sagte er. »Selbst wenn wir über den See kämen - wovon ich im Moment gar nicht überzeugt bin -, kostet es uns Zeit, die wir nicht haben. Und für die Strecke über Locarno gilt dasselbe. Ich sehe nur noch einen einzigen Weg.«

»Und welchen?« fragte Warstein.

Lohmann sah ihn auf sonderbare Weise an. »Ich bin enttäuscht«, sagte er. »Kommen Sie wirklich nicht darauf?«

»Nein«, erwiderte Warstein verärgert. »Wovon zum Teufel sprechen Sie? Es gibt nur diese beiden Strecken nach Ascona.«

Lohmann seufzte. »Nein«, antwortete er. »Es gibt noch eine dritte, und Sie sollten das eigentlich wissen. Immerhin haben Sie sie selbst gebaut.«

Warstein riß ungläubig die Augen auf. »Das meinen Sie nicht ernst!«

»Todernst«, antwortete Lohmann. »Worüber regen Sie sich auf? Sie wollten doch dorthin, oder?«

»Wovon sprecht ihr eigentlich?« mischte sich Angelika ein.

»Er meint den Tunnel«, sagte Warstein. »Aber das ist doch verrückt.«

»Und wieso?« Lohmann gestikulierte aufgeregt auf der Karte herum. »Wenn die Straßen nicht vollkommen verstopft sind, können wir ihn in zwei oder drei Stunden erreichen.«

»Den Gridone-Tunnel?« vergewisserte sich Angelika. Auch sie wirkte überrascht. »Aber er ist gesperrt.«

»Tunnel haben zwei Ausgänge«, sagte Lohmann. »Jedenfalls die meisten, von denen ich bisher gehört habe.«

»Moment mal«, sagte Angelika. »Sie meinen, wir sollen...«

»Ich meine«, unterbrach sie Lohmann betont, »daß wir sowieso nicht die mindeste Chance haben, von Ascona aus in den Tunnel zu gelangen. Sie können sicher sein, daß der Zugang dort verdammt gut bewacht wird. Auf der anderen Seite...« Er zuckte mit den Schultern. »Einen Versuch ist es wert.«

»Er ist mehr als zehn Kilometer lang«, sagte Warstein.

Lohmann grinste. »Und? Ein Grund mehr, es zu versuchen. Sie werden kaum damit rechnen, daß jemand so verrückt ist, zu Fuß durch den Berg zu kommen.«

Angelika schüttelte sich. »Zu Fuß? Sie wollen tatsächlich durch den gesamten Tunnel laufen?«

»Wer spricht von wollen?« Lohmann knüllte die Karte unordentlich zusammen und stopfte sie ins Handschuhfach zurück. »Jetzt mal im Ernst - ich glaube auch nicht, daß wir so einfach hineinkommen. Aber unsere Chancen stehen auf dieser Seite garantiert besser als auf der anderen. Vielleicht bewachen Sie den Eingang, aber wenn überhaupt, dann ganz bestimmt nicht so gut wie drüben am Monte Verita. Und so lang sind zehn Kilometer nun auch nicht. Zwei Stunden, vielleicht weniger.«

»Wahnsinn«, murmelte Warstein. »Sie sind komplett verrückt.«

»Stimmt«, antwortete Lohmann gelassen. »Sonst wäre ich nicht hier, wissen Sie?« Er wurde übergangslos wieder ernst. »Also? Was sagt ihr?«

Warstein antwortete nicht gleich, sondern sah wieder nach draußen. Vor und hinter ihnen reihten sich Autos, so weit der Blick reichte. Sie waren noch gute fünf Kilometer vom Paß entfernt, aber der Verkehr war bereits hier zum Erliegen gekommen. Selbst wenn der Paß in absehbarer Zeit wieder geöffnet wurde - und irgend etwas sagte Warstein, daß das nicht der Fall sein würde -, würde es vermutlich die halbe Nacht dauern, bis sich der Stau soweit wieder aufgelöst hatte, daß sie weiterfahren konnten. Lohmann hatte auch recht, was die beiden anderen Strecken anging - sie waren zu weit und wahrscheinlich im Moment ebenso unpassierbar wie der Paß über den Simplon. Und dazu kam noch etwas, was auch Lohmann wissen mußte, aber wohlweislich nicht ausgesprochen hatte: Auf jeder dieser drei Strecken würde garantiert jemand stehen, der auf sie wartete. So dumm konnte Franke gar nicht sein, sich nicht an den Fingern einer Hand abzuzählen, daß sie auf dem Weg nach Ascona waren. Und welchen Weg sie nehmen würden.

Aber der Tunnel? Warstein schauderte bei der bloßen Vorstellung, durch eine zehn Kilometer lange, stockfinstere Röhre laufen zu sollen.

»Ein Vorschlag zur Güte«, sagte Lohmann. »Sie zeigen mir, wie man in den Berg hineinkommt, und danach... Wenn Sie wollen, trennen wir uns, und jeder tut, wozu er hergekommen ist. Ich werde nicht noch einmal versuchen, Sie aufzuhalten, das verspreche ich. Ich gebe Ihnen sogar den Wagen. Sie können weiterfahren und versuchen, über Locarno in die Stadt zu kommen. Es ist kein großer Umweg.«

Es war nicht so sehr der Vorschlag an sich, der Warstein überraschte, sondern vielmehr der Ton, in dem Lohmann ihn vorbrachte. Er klang ehrlich. Zum ersten Mal hatte Warstein das Gefühl, daß der Journalist das sagte, was er auch tatsächlich meinte.

»Also gut«, sagte er schweren Herzens. »Fahren wir.«

Lohmann war sichtlich überrascht, daß er so schnell nachgab - aber er ergriff die Gelegenheit beim Schopfe und startete den Motor, ehe Warstein es sich noch anders überlegen konnte.

»Irgend etwas Neues vom See?« fragte er, während er den sperrigen Wagen behutsam aus der Schlange herausrangierte. Es war keine leichte Aufgabe. Sie hatten eine halbe Stunde Stop-and-go-Verkehr hinter sich, und die Abstände zu ihrem Vorder- und Hintermann waren bei jedem Mal ein wenig kleiner geworden.

»Sie suchen immer noch nach Überlebenden«, antwortete Angelika. »Aber ich glaube, sie haben die Hoffnung längst aufgegeben. Das Wasser muß eisig sein.«

Lohmann trat mit einem Ruck auf die Bremse, um nicht die Stoßstange des vorausfahrenden Fahrzeugs zu berühren, und legte den Rückwärtsgang ein. Das Getriebe knirschte hörbar. »Ich versuche mir gerade vorzustellen, wie wir uns wohl fühlen, wenn wir ankommen und am Ende feststellen, daß alles nichts weiter als Zufall war«, sagte er. »Vielleicht finden wir in diesem Tunnel nur eine unsauber abgestützte Decke, die eingebrochen ist.«

»Ganz bestimmt nicht«, erwiderte Warstein. »Der Tunnel war stabil. Er hätte selbst einen Atombombentreffer ausgehalten.«

Lohmann rangierte den Wagen vorsichtig ein Stück zurück und dann wieder nach vorne. Er grinste. »Verzeihung«, sagte er spöttisch. »Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten.«

»Sind Sie nicht«, brummte Warstein - obwohl das nicht ganz der Wahrheit entsprach. Trotz allem war dieser Tunnel auch ein bißchen sein Werk, und er fühlte sich irgendwie verpflichtet, ihn zu verteidigen.

»Ich wollte ja auch nur erwähnen, daß wir die Möglichkeit, daß alles doch noch eine ganz natürliche Erklärung finden könnte, nicht ganz außer acht lassen sollten«, sagte Lohmann. »Nicht, daß wir am Ende den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen.«

Er hatte es irgendwie geschafft, den Wagen aus der Schlange herauszurangieren, und begann nun auf der schmalen Gegenfahrbahn zu wenden. Obwohl er heftig schnaubend am Lenkrad drehte und auf den Pedalen herumtrampelte wie ein Organist auf denen seines Instruments, stellte er sich dabei äußerst geschickt an. Warstein kam nicht umhin, Lohmanns fahrerisches Talent zu bewundern. Er selbst wäre bei diesem Manöver wahrscheinlich schon ein halbes dutzendmal mit einem der anderen Fahrzeuge kollidiert.

Lohmann stieß noch ein paarmal vor und zurück, dann hatte er das Wendemanöver beendet, und sie fuhren die steil ansteigende Straße zum Paß hinauf wieder zurück. Warstein erschrak fast, als er sah, wie lang die Schlange auch hinter ihnen bereits geworden war. Noch zwei oder drei Stunden - allerhöchstens -, so schätzte er, und der Verkehr in diesem Teil der Schweiz wäre vollkommen zusammengebrochen.

»Erstaunlich«, sagte Lohmann.

»Was?«

»Dieses Chaos hier. Sie haben im Radio kein einziges Wort gesagt. Dabei ist der Verkehrsfunk sonst immer sehr zuverlässig.«

»Vielleicht hat es sich noch nicht bis zum Sender rumgesprochen«, vermutete Angelika.

»Oder jemand will nicht, daß es bekannt wird«, fügte Warstein hinzu.

Lohmann zog eine Grimasse. »Jetzt übertreiben Sie aber wirklich«, sagte er. »Welches Interesse sollte Franke daran haben, in der halben Schweiz ein Verkehrschaos zu veranstalten?«

»Wer spricht von Franke?« gab Warstein zurück.

Lohmann sah ihn verwirrt an, aber er zog es vor, nicht weiter auf dieses Thema einzugehen. Überhaupt war er sehr versöhnlicher Stimmung, fand Warstein; in schon fast verdächtig versöhnlicher Stimmung.

Er vertrieb den Gedanken. Es blieb sich gleich, ob Lohmann nun tatsächlich ein schlechtes Gewissen hatte oder ihm nur etwas vorspielte. So, wie die Dinge lagen, blieb ihm gar keine andere Wahl, als zumindest im Moment gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Er würde Lohmanns Vorschlag annehmen und sich von ihm trennen, sobald sie den Berg erreicht hatten. Aber auf andere Weise, als der Journalist ahnte.

Von außen hatte der Wagen ausgesehen wie ein ganz gewöhnlicher, allenfalls ein bißchen zu groß geratener Lastwagen. An seinem Innenleben hingegen war rein gar nichts gewöhnlich.

Rogler kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Franke mußte mit seinen Forschungen über Schwarze Löcher und Raumkrümmung sehr viel weiter vorangekommen sein, als er bei ihrem Gespräch am Morgen zugegeben hatte, denn es war ihm eindeutig gelungen, mehr ins Innere des Wagens hineinzustopfen, als nach den Regeln der euklidischen Geometrie hineinging - zumindest war das der erste Eindruck gewesen, der sich Rogler aufdrängte, nachdem sie das Fahrzeug betreten hatten. Der langgestreckte, von Dutzenden greller Neonröhren taghell erleuchtete Raum quoll schier über von Computern, Bildschirmen, Schaltpulten und allen anderen, Rogler größtenteils vollkommen unverständlichen Geräten. Mindestens ein Dutzend Techniker in weißen Kitteln saßen oder standen an verschiedenen Instrumententafeln und taten Rogler ebenso unverständliche Dinge oder redeten über noch unverständlichere Themen, und es schien ständig mindestens ein Telefon zu geben, das gerade klingelte; meistens waren es mehr. Der Raum hätte gut in die Dekoration eines Science-fiction-Filmes gepaßt, dachte er. Auf jeden Fall besser als in die Tessiner Alpen.

Ungeduldig und zum wiederholten Mal binnen kurzer Zeit sah er auf die Uhr. Franke hatte irgend etwas von zehn Minuten gefaselt, als sie den Wagen betreten hatten. Das war vor mittlerweile gut anderthalb Stunden gewesen - und so, wie er gerade dastand und aufgeregt mit drei Männern diskutierte, von denen zwei in weiße Kittel und der dritte in die Uniform eines UNO-Soldaten gekleidet waren, machte er nicht den Eindruck, daß er in absehbarer Zeit wieder zu gehen gedachte. Rogler hatte eher das Gefühl, daß er ihn schlicht und einfach vergessen hatte.

Außerdem machte er einen immer besorgteren Eindruck, dachte Rogler - was wiederum dazu führte, daß auch er sich immer weniger wohl in seiner Haut fühlte. Nach allem, was er heute gehört und vor allem gesehen hatte, hatte er wahrscheinlich guten Grund, über alles besorgt zu sein. Schwarze Löcher. Raumkrümmung. Zeitverschiebung. Was zum Teufel war nur aus seiner einfachen, in Gut und Böse aufgeteilten Welt geworden?

Rogler verbrachte weitere zehn Minuten damit, ebenso sinnlose wie zum Teil alberne Gedanken zu wälzen, dann löste er sich von seinem Beobachtungsplatz neben der Tür und ging zu Franke und seinen Gesprächspartnern. Franke selbst stand mit dem Rücken zu ihm und nahm ihn gar nicht wahr, aber einer der Techniker unterbrach sein Gespräch und machte eine entsprechende Geste, so daß Franke sich schließlich zu ihm herumdrehte. Im allerersten Moment wirkte er eindeutig verärgert über die Störung, aber nach einer Sekunde machte sich ein fast betroffener Ausdruck auf seinen Zügen breit.

»Rogler«, sagte er. »Sie sind ja auch noch da. Es tut mir leid, aber ich...«

»Schon gut.« Rogler unterbrach ihn mit einer Handbewegung. »Ich will Sie auch gar nicht weiter stören. Sicher haben Sie wichtigere Dinge zu besprechen, aber ich... Ich habe noch viel Arbeit in der Stadt. Vielleicht könnte mich einer Ihrer Männer zurückbringen?«

»Für Sie muß das hier tödlich langweilig sein«, vermutete Franke lächelnd. »Es tut mir leid. Aber ich bin hier sowieso gleich fertig. Geben Sie mir noch zehn Minuten?«

»Sicher«, antwortete Rogler. Welche Wahl hatte er schon? Hätte er nein sagen sollen? »Aber, wie gesagt: ich kann auch allein zurückfahren, wenn Sie hier nicht -«

»Ich fürchte, das können Sie nicht«, unterbrach ihn Franke. Seine Worte mußten auf Roglers Gesicht wohl eine ganz bestimmte Reaktion hervorgerufen haben, denn er beeilte sich plötzlich, hastig hinzuzufügen: »Ich kann Ihnen schlecht mit dem Helikopter folgen und mitten auf dem Marktplatz von Ascona landen, nicht wahr?«

Das war nichts als eine Ausrede, um seinen Worten etwas von dem zu nehmen, was unabsichtlich darin gewesen war, aber er gab Rogler keine Gelegenheit nachzuhaken, sondern wandte sich bereits wieder um und trat an eines der Instrumentenpulte an der rechten Seite des Wagens.

»Sind die Daten endlich da?«

Der Mann, dem die Frage galt, schüttelte nervös den Kopf. »Noch nicht. Die Auswertung ist schwieriger, als ich dachte. Es tut mir leid.« Er machte eine entschuldigende Geste, hatte aber sichtlich nicht die Kraft, Franke direkt anzublicken. »Die Windgeschwindigkeit wechselt ständig. Ich kann Ihnen allerhöchstens eine Schätzung anbieten. Aber eine sehr grobe Schätzung.«

»Raten kann ich selbst«, antwortete Franke scharf. »Wozu verdammt noch mal haben wir hier eigentlich die teuersten Computer der Welt, wenn Sie nicht einmal in der Lage sind, innerhalb einer geschlagenen Stunde eine einfache Gleichung auszurechnen?«

»Weil es eben keine einfache Gleichung ist«, erwiderte der Techniker - allerdings mehr in trotzigem als verärgertem Ton. »Geben Sie mir vernünftige Daten, mit denen ich arbeiten kann, und Sie bekommen auch vernünftige Ergebnisse.«

Franke sah eine Sekunde lang so aus, als würde er explodieren. Aber dann beherrschte er sich mühsam - und rang sich sogar so etwas wie ein Lächeln ab. »Sie haben recht«, sagte er gepreßt. »Entschuldigen Sie. Ich bin ... etwas nervös.«

Der Techniker war klug genug, nicht darauf zu antworten, sondern sich wieder auf seine Computertastatur zu konzentrieren, und Franke trat mit einem hörbaren Seufzen zurück. Auch die drei Männer, mit denen er bisher gesprochen hatte, hatten die Gelegenheit genutzt, sich aus dem Staub zu machen. Franke blickte sich einen Moment lang unschlüssig um, und Rogler begann schon zu hoffen, daß er sein Versprechen nun wahr machen und tatsächlich gehen würde, doch dann drehte er sich auf dem Absatz herum und trat an ein anderes Instrumentenpult heran. Der Mann, der daran arbeitete, bemerkte ihn aus den Augenwinkeln und fuhr fast unmerklich zusammen. Aber eben nur fast. »Haben Sie mittlerweile die Verbindung herstellen können?« fragte Franke.

»Nein. Der Apparat ist eindeutig abgeschaltet.« Der Techniker sah Franke nicht an, sondern blickte konzentriert weiter auf seinen Monitor. »Sie haben entweder die Codekarte herausgenommen oder das ganze Ding aus dem Fenster geworfen.«

Franke seufzte. »Schade. Und ich hatte gehofft, daß er doch noch Vernunft annimmt.« Er wandte sich an Rogler, und ein flüchtiges, wehleidiges Lächeln kräuselte seine Lippen. »Wozu haben wir eigentlich einen Profi in solchen Dingen bei uns?«

»In was für Dingen?« fragte Rogler.

»Jemanden zu finden, der sich nicht finden lassen will«, antwortete Franke. »Ein Königreich für einen guten Rat, Herr Rogler. Ich muß dringend mit jemandem Kontakt aufnehmen, der sich in einem Wagen irgendwo in der Schweiz aufhält.«

»In was für einem Wagen?« fragte Rogler. »Wenn Sie das Kennzeichen und die Marke wissen...«

»Theoretisch ja. Praktisch wird er kaum so dumm sein, den Wagen nicht gewechselt zu haben. Und er wird uns auch kaum den Gefallen tun, auf einer Strecke zu bleiben, auf der wir ihn erwarten.«

Rogler verzog spöttisch die Lippen. »Mit derart präzisen Angaben ist das kein Problem«, gab er zurück. »Geben Sie mir zweihundert Mann, ein paar von Ihren Hubschraubern und eine Woche Zeit, und ich finde ihn.«

»Na ja.« Franke seufzte. »Wenigstens einer von uns hat seinen Humor noch nicht verloren.«

»Oh, das war schon ernst gemeint. Es ist ziemlich schwierig, jemanden zu finden, der sich nicht finden lassen will; vor allem, wenn dieser Jemand kein Dummkopf ist. Ich spreche aus Erfahrung. Es gibt ein paar Leute, die ich schon seit Jahren suche.«

»Jahren? Ich rede von Stunden, Rogler.«

»Dann hilft nur noch Zauberei«, erwiderte Rogler. »Und dafür bin ich nicht zuständig.«

Franke überlegte einen Moment angestrengt. »Im Ernst, Rogler«, sagte er dann. »Ich muß diesen Mann sprechen, koste es, was es wolle. Wie viele Männer brauchen Sie, um ihn zu finden? Fünfhundert? Tausend? Nur keine Hemmungen - wir können aus dem vollen schöpfen.«

Nach allem, was er an diesem Tag erlebt hatte, hatte Rogler geglaubt, daß es nichts mehr gäbe, was ihn noch überraschen konnte. Aber das stimmte nicht. Wie so vieles. Trotzdem schüttelte er nach einer Weile den Kopf.

»Ich fürchte, ich muß Sie enttäuschen«, sagte er. »Wenn er sich irgendwo in den Bergen versteckt hat, haben wir praktisch keine Chance. Sie können eine Million Männer nach ihm suchen lassen, ohne ihn zu finden. Anscheinend kennen Sie dieses Land nicht. Was hat er ausgefressen?«

»Ausgefressen?« Franke lachte leise. »Nichts. Ich bin es, der einen Fehler gemacht hat, fürchte ich. Aber ich habe im Moment keine Möglichkeit, ihm das zu sagen.«

»Dann haben Sie ein Problem«, sagte Rogler.

»Ich wollte, es wäre nur eines«, murmelte Franke. Plötzlich hellte sich sein Gesicht auf. Er bedeutete Rogler mit einer - völlig überflüssigen - Geste zu bleiben, wo er war, und wandte sich noch einmal an den Mann hinter sich. »Rufen Sie alle Radiosender im Umkreis von zweihundert Kilometern an«, sagte er. »Sie sollen ihn über den Verkehrsfunk suchen. Ein Reiseruf oder wie immer das heißt - die wissen schon, was ich meine.«

»Und was sollen sie sagen?« fragte der Mann verwirrt.

»Daß er sich melden soll!« schnappte Franke. »Irgend etwas eben. Etwas Unverfängliches...« Er suchte nach Worten. »Verdammt, so etwas liegt mir nicht. Er soll... Sagen Sie, sie sollen durchgeben, daß er dringend Kontakt mit mir aufnehmen soll. Aber nach Möglichkeit nicht auf eine Art und Weise, die gleich eine landesweite Panik auslöst.«

»Gar nicht dumm«, lobte Rogler. »Immerhin - vielleicht hört er ja Radio. Wissen Sie wenigstens, wohin er will?«

»Genau hierher«, sagte Franke. »Warum?«

»Nun, dann wäre es wohl das Einfachste, genau hier auf ihn zu warten«, antwortete Rogler. »Jedenfalls würde ich das tun. Sie kennen diesen Mann? Gut?«

»Ziemlich«, antwortete Franke.

»Dann versuchen Sie, sich in seine Lage zu versetzen«, sagte Rogler. »Versuchen Sie einfach, sich vorzustellen, was Sie an seiner Stelle tun würden.«

»Zum Teufel, ja!« murmelte Franke. »Warum bin ich eigentlich nicht selbst darauf gekommen?« Er drehte sich auf dem Absatz herum und winkte den Soldaten herbei, mit dem er zuvor gesprochen hatte. Rogler stellte ohne sonderliche Überraschung fest, daß es sich auch bei ihm um nichts Geringeres als einen General handelte. Offensichtlich hatte Franke mittlerweile nicht nur die Befehlsgewalt über die gesamte Nordschweiz übernommen, sondern auch über die halbe UNO.

»Geben Sie Bescheid, daß die Suchaktion entsprechend vorsichtig durchgeführt wird«, sagte er. »Sie sollen nicht versuchen, ihn festzuhalten - es sei denn, sie erwischen ihn mit hundertprozentiger Sicherheit. Ansonsten nur beobachten. Und halten Sie mich auf dem laufenden.«

»Herr Doktor?«

Franke drehte sich mit einer unwilligen Bewegung um, aber der Zorn auf seinem Gesicht verflog sofort, als er den Mann erkannte, der ihn angesprochen hatte. Es war der Techniker von vorhin. Er hielt einen Computerausdruck in den Händen und sah irgendwie unglücklich aus, fand Rogler. Nein. Er verbesserte sich in Gedanken. Nicht unglücklich. Entsetzt war das passendere Wort.

Franke riß ihm das Blatt aus der Hand, warf einen flüchtigen Blick darauf - und wurde kreidebleich. »Das ... das kann nicht stimmen«, sagte er. »Haben Sie das Ergebnis überprüft?«

»Zweimal«, versicherte der Techniker. »Die Schätzung ist eher zu optimistisch. Es gibt eine Steigerung - hier, sehen Sie?« Er stieß mit dem Finger auf das Blatt herunter. »Das Muster ist schwer zu erkennen, weil es sehr unregelmäßig ist, aber es ist da.«

»Aber ... aber dreieinhalb Monate?« Franke fuhr sich nervös mit der freien Hand über das Kinn. »Das kann nicht sein.«

»In Wahrheit sind es wahrscheinlich eher zwei«, antwortete der andere. »Ich habe die größtmögliche Toleranz zu unseren Gunsten eingegeben. Vierzehn Wochen sind der Mittelwert. Und wir haben das Muster immer noch nicht komplett entschlüsselt. Es könnte noch schlimmer kommen.«

»Was könnte noch schlimmer kommen?« fragte Rogler. Seine Beunruhigung war wieder da. Was er in Frankes Augen las, das war nackte Panik.

Der Techniker sah zuerst ihn und dann Franke an.

»Sagen ... Sie es ihm«, sagte Franke leise.

»Es geht um das Loch«, sagte der Techniker. »Sie haben es gesehen?«

»Ich war dort, ja«, bestätigte Rogler. »Und?«

»Wir wissen immer noch nicht, wohin es führt«, antwortete der Techniker. »Wir haben ein paar Sonden hinuntergelassen, aber keine davon hat irgendwelche brauchbaren Ergebnisse geliefert. Das einzige, was wir mit Sicherheit wissen, ist, daß es alles verschlingt, was hineinfällt. Ist Ihnen der Sturm aufgefallen?«

»Sicher«, sagte Rogler. Hatte er gerade geglaubt, in Frankes Augen Panik zu erkennen? Jetzt spürte er sie selbst.

»Er wird stärker«, sagte Franke. »Wohin immer dieser Schacht auch führt - er zieht Sauerstoff an.« Er lachte, aber es klang nach dem genauen Gegenteil, und das war es wohl auch. »Erinnern Sie sich noch, als was Sie es im Hubschrauber bezeichnet haben, Rogler? Wie ein Loch in der Wirklichkeit?«

»Moment mal«, sagte Rogler. »Wollen Sie sagen, daß ... daß durch diesen Schacht Luft verschwindet?«

Franke nickte. Plötzlich wurde es sehr still. Aller Aufmerksamkeit wandte sich ihnen zu. Obwohl er nicht sehr laut gesprochen hatte, mußte jeder hier drinnen Roglers Frage und seine Antwort verstanden haben. »Ja«, sagte er. »Und zwar immer schneller.«

»Wie schnell?« fragte Rogler.

»Es ist eine mathematische Progression«, antwortete der Techniker an Frankes Stelle. »Im Moment merkt man noch nicht sehr viel davon, aber es wird mehr. Ich habe den Computer angewiesen, eine Hochrechnung anzustellen. Das da ist das Ergebnis.« Er deutete auf das Blatt in Frankes Händen. »Wenn der Prozeß im bisherigen Tempo weitergeht, dann haben wir noch dreieinhalb Monate.«

»Dreieinhalb Monate bis wann?« fragte Rogler.

»Bis es genug von unserer Atmosphäre aufgesogen hat, daß wir nicht mehr darin leben können«, antwortete Franke.

Rogler starrte ihn an. »Sie meinen ... hier«, sagte er, »in Porera. Im Tessin?«

»Nein«, antwortete Franke. »Ich meine, auf diesem Planeten.«

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