17

Der Major hatte Angst. Das Flackern der Lichter am Himmel war anders geworden. Gleißende Blitze wie Klingen aus Licht, die das Firmament teilten, hatten die Stelle sanft wogender Farben und pastellener Lichtwolken eingenommen. Wo vor Minuten noch zarte Gebilde aus leuchtender Energie gewesen waren, tobte jetzt ein lautloses Gewitter, dessen Widerschein den See und das Ufer in ein stroboskopisch flackerndes Licht tauchte, in dem die Bewegungen der Männer sonderbar abgehackt und falsch aussahen und alle Schatten und Konturen bedrohlich und hart zu werden schienen. Etwas wie ein elektrisches Knistern lag in der Luft, ein Gefühl, als legten sich bei Schritt und Tritt unsichtbare brennende Spinnweben auf seine Haut. Das Atmen bereitete ihm Mühe, und die Luft schmeckte bitter.

Der Blick des grauhaarigen Offizieres wanderte immer wieder zwischen dem See und dem Bereich jenseits der Bäume hin und her. Der See lag jetzt wieder vollkommen ruhig da. Die Wellen hatten sich über den Köpfen der letzten Männer geschlossen, die ruhig und völlig gelassen in den Tod marschiert waren, ohne daß er oder einer seiner Soldaten irgend etwas daran hätten ändern können. Der Anblick der jetzt reglos daliegenden Wasserfläche erschien dem Major wie blanker Hohn. Er hatte den Schock immer noch nicht wirklich verarbeitet, ja, nicht einmal wirklich begriffen. Alles in ihm sträubte sich gegen den Gedanken, daß er tatenlos hatte zusehen müssen, wie annähernd einhundert Menschen vor seinen Augen kollektiven Selbstmord begangen hatten.

Der Anblick auf der anderen Seite war fast noch schlimmer. Der Himmel über der Stadt leuchtete rot, und es war nicht nur das Gleißen dort oben, sondern auch der Widerschein zahlreicher Brände, die in der Stadt ausgebrochen sein mußten. Der Wind drehte ununterbrochen, und wenn er zu ihnen herabwehte, trug er Brandgeruch und die Schreie von Menschen mit sich. Der Major wußte nicht, was oben in der Stadt geschehen war, aber es gehörte nicht sehr viel Phantasie dazu, es sich vorzustellen. Der Lärm und der flackernde Feuerschein sprachen eine deutliche Sprache. Vor zehn Minuten hatte er zwei Männer losgeschickt, um die Lage jenseits des Parkes zu erkunden. Sie waren bisher nicht zurückgekehrt, und in ihm wuchs die Überzeugung, daß sie auch nicht wiederkommen würden. Auch der Kontakt zu den Soldaten, die er auf den Dächern dort oben postiert hatte, war abgebrochen. Ihre Lichtsignale wurden schon lange nicht mehr beantwortet. Dann und wann tauchte ein Schatten zwischen den Bäumen auf, verschwand aber immer wieder sofort, wenn er versuchte, ihn mit Blicken zu fixieren.

Die Soldaten hatten in einem dreifach gestaffelten Halbkreis am Ufer Aufstellung genommen. Die Läufe ihrer Waffen waren jetzt nach oben gerichtet, auf den Park und die dahinterliegende Straße, von der die Geräusche einer offensichtlich immer mehr um sich greifenden Panik zu ihnen herabdrangen. Bisher hatte sich niemand gezeigt, gegen den sie diese Waffen hätten einsetzen müssen, aber genau das war es, wovor der Major sich fürchtete wie vor nichts auf der Welt: daß er gezwungen sein könnte, seine Männer auf Zivilisten feuern zu lassen. Er begriff den grundsätzlichen Fehler in diesem Gedankengang nicht, ebensowenig wie irgendeiner der anderen Männer, die sich rings um ihn herum wie eine Herde verängstigter Tiere aneinandergedrängt hatten. Niemand hatte ihnen gesagt, was dort oben geschah. Es gab keinerlei Anzeichen dafür, daß sie in Gefahr waren, geschweige denn, daß jemand den Trupp angreifen könnte. Trotzdem wußten sie, daß es so war. Sie waren Soldaten, dazu ausgebildet und hier, um zu kämpfen, und das war alles, wofür in ihren Gedanken noch Platz war. Der Wahnsinn, der von der ganzen Stadt Besitz ergriffen hatte, hatte sich längst auch in ihre Seelen geschlichen. Er versteckte sich noch hinter der antrainierten Disziplin und der Gewohnheit, nichts zu tun, solange man es ihnen nicht befahl, aber er war da, eine geduldig lauernde Spinne, die in ihrem Netz saß und darauf wartete, hervorzuspringen und ihre Fänge in den Leib ihres wehrlosen Opfers zu schlagen.

»Herr Major?«

Der Offizier fuhr erschrocken herum. Einer der Soldaten hatte die Waffe gesenkt und deutete mit dem Gewehrlauf auf den schwarzgekleideten Fremden, der noch immer neben dem toten Soldaten kniete.

Es dauerte nur eine Sekunde, bis er seinen Irrtum bemerkte. Der Mann war nicht tot. Seine Hände bewegten sich. Überrascht und sehr schnell - wenn auch erst nach einem letzten sichernden Blick zum Park hinauf - verließ der Major seinen Platz und eilte zu ihm.

»Was ist passiert?« fragte er. »Er lebt noch? Wieso haben Sie mich nicht -« Er sprach nicht weiter, als sein Blick auf das Gesicht des Verletzten fiel. Sein Atem stockte. Eine eisige Hand schien nach seiner Kehle zu greifen und sie zuzudrücken.

Was er sah, war unmöglich.

Das explodierende Gewehr hatte das halbe Gesicht und den Hals des jungen Soldaten zerfetzt. Er hatte die entsetzliche Wunde gesehen, die weißglühende Metallsplitter und explodierendes Schießpulver gerissen hatten.

Jetzt war sie verschwunden. Der Soldat war sehr bleich. Sein Atem ging flach, und er zitterte am ganzen Leib. Aber sein Gesicht war vollkommen unversehrt! »Das ... das ist doch ... das ist doch nicht möglich!« keuchte der Major. Er wollte sich neben dem Verletzten auf die Knie sinken lassen, fuhr dann aber mit einem Ruck zu dem schwarzgekleideten Fremden herum, der sich ebenfalls erhoben hatte und ihn mit einem sanften Lächeln ansah.

»Wie haben Sie das gemacht?!« keuchte er. »Wer ... was sind Sie?«

»Ich habe nichts getan«, behauptete der Fremde. »Es war nicht nötig, etwas zu tun.«

»Reden Sie keinen Unsinn!« sagte der Major. Auch seine Hände begannen zu zittern. Er war kein Mann, der leicht aus der Ruhe zu bringen gewesen wäre, aber was er sah - was er mit eigenen Augen sah! -, war einfach unmöglich! »Der Mann war tot!«

»So etwas wie Tod gibt es nicht, Bruder«, behauptete der Fremde. »Das Leben ist unzerstörbar. Spürst du es nicht? Es ist überall. In jedem Grashalm, jedem Stein, in der Luft, die du atmest, und in den Gedanken, die du denkst.« Er breitete die Hände aus und trat einen Schritt auf den Major zu, fast als wolle er ihn umarmen, aber der Soldat prallte mit einem Schrei zurück. Sofort waren zwei seiner Männer bei ihm und nahmen mit angeschlagenen Waffen rechts und links des Fremden Aufstellung.

Der junge Mann lächelte. Der Anblick der Waffen, die sich drohend auf ihn richteten, schien ihn nicht zu ängstigen, wohl aber irgendwie traurig zu stimmen. »Tut das nicht«, sagte er sanft. »Niemand sollte eine Waffe auf seinen Bruder richten. Wißt ihr denn nicht, daß Haß nur Haß gebären kann?«

»Halten Sie den Mund!« schnappte der Major. Seine Gedanken wirbelten haltlos durcheinander. Er begriff nicht, was er da sah, und er wollte es auch gar nicht. Hastig winkte er zwei Soldaten herbei und deutete auf den Verletzten, der sich neben ihm mühsam in eine halb sitzende Stellung hochgearbeitet hatte. Er wankte noch immer vor Schwäche, und auf seinem Gesicht lag ein verwirrter Ausdruck, wie auf dem eines Menschen, der unversehens aus dem tiefsten Schlaf gerissen worden war und im ersten Moment Schwierigkeiten hatte, sich zurechtzufinden.

»Kümmern Sie sich um ihn!« befahl er.

Die beiden Männer schulterten ihre Waffen - und starrten ebenso fassungslos auf ihren Kameraden. Sie alle hatten gesehen, was ihm passiert war. Das Gras, auf dem er gelegen hatte, und seine Uniform waren noch immer dunkel und feucht von Blut. Der Major gestattete sich nicht, die rechte Hand des Mannes anzublicken. Die Explosion hatte sie regelrecht in Fetzen gerissen, aber er wußte, daß auch sie nun wieder vollkommen unversehrt war.

Mit einem Ruck drehte er sich um und wandte sich an die beiden Soldaten, die den Fremden bewachten. »Und Sie passen auf diesen Verrückten auf. Sie haften mir dafür, daß er nicht verschwindet!«

»Warum fürchtet ihr mich?« fragte der Fremde. Seine Stimme klang traurig. »Es gibt keinen Grund dafür.«

Der Offizier antwortete nicht, aber er trat einen Schritt näher und sah den jungen Mann zum ersten Mal wirklich aufmerksam an. Sein Gesicht war ... sonderbar. Es gelang dem Major nicht, sein Alter zu schätzen. Auf den ersten Blick wirkte er jung, ein halbes Kind fast noch, aber zugleich schien da etwas Zeitloses in seinen Zügen zu sein. Das Unheimlichste an ihm waren seine Augen. Es waren die Augen eines jungen Mannes, aber es waren auch Augen, die Dinge gesehen hatten, die sich der Major nicht einmal vorstellen konnte. Es hätten die Augen eines Tausendjährigen sein können, nicht die eines Kindes. Was der Soldat darin las, das war ein Wissen und eine Weisheit, die ihn schaudern ließ.

Dann entdeckte er noch etwas. Er hatte der Kleidung des Fremden bisher kaum Beachtung geschenkt. Dieser trug schwarze Jeans, gleichfarbige Turnschuhe und einen ebenfalls schwarzen Rollkragenpullover - über dessen Brust sich eine schräg verlaufende Reihe runder Löcher zog.

Einschußlöcher.

Der Major hatte so etwas zu oft gesehen, um auch nur eine Sekunde lang nicht mit absoluter Gewißheit zu wissen, was er da erblickte. Jemand hatte auf diesen Mann geschossen. Aus allernächster Nähe. Der schwarze Wollstoff war nicht nur verkohlt, sondern auch über und über mit Blut verschmiert. Aber die Haut, die er durch die runden Einschußlöcher hindurch sehen konnte, war vollkommen unversehrt.

»Wer sind Sie?« fragte er leise. Er empfand nicht einmal wirklichen Schrecken. Ein Gefühl der Betäubung hatte sich in ihm breitgemacht, das alle anderen Empfindungen überlagerte. Er war sehr dankbar dafür.

»Ich bin du«, antwortete der Junge. »Wir alle sind eins, Bruder. Ich bin, was du in mir siehst. Es liegt bei dir, was es sein wird.« Die Worte berührten den Major. Er versuchte vergeblich sich einzureden, daß er einfach einem Verrückten gegenüberstand, der Unsinn faselte. Plötzlich hatte er Angst vor diesem schwarzgekleideten, unscheinbaren Fremden. Für den Bruchteil einer Sekunde, einen winzigen, aber entsetzlichen Moment, schien sich sein Gesicht auf eine nicht in Worte zu fassende, aber grauenerregende Weise zu verändern. Plötzlich stand er keinem Wundertäter mit heilenden Händen mehr gegenüber, sondern dem Satan.

Der Moment verging so schnell, wie er gekommen war, aber der Major prallte trotzdem mit einem keuchenden Schrei zurück und riß instinktiv die Hände vor das Gesicht.

Die beiden Soldaten, die den Fremden bewachten, hoben automatisch wieder ihre Waffen. Sie wirkten erschrocken, aber der verstörte Ausdruck in ihren Augen galt nicht dem Mann, den sie bewachen sollten, sondern ihrem Kommandanten.

»Schon gut«, sagte der Major rasch. »Es ist alles in Ordnung. Mein Fehler.« Er atmete hörbar ein und wiederholte seine befehlende Geste. »Passen Sie auf ihn auf. Ich bin ... gleich zurück.« Es war den beiden Soldaten anzusehen, wie wenig ihnen dieser Befehl gefiel. Trotzdem rückten sie näher an den Fremden heran. Einer von ihnen hob die Hand, um den Schwarzgekleideten am Arm zu ergreifen, brach die Bewegung aber dann plötzlich wieder ab. Erneut erschien ein verwirrter Ausdruck auf seinem Gesicht. Der Major sagte nichts dazu, sondern drehte sich mit einem Ruck herum und entfernte sich ein paar Schritte. Es gab nichts, wohin er gehen oder was er tun konnte. Er wußte, wie wichtig es gerade in diesem Moment gewesen wäre, Stärke zu zeigen. Jede Truppe war immer nur so stark wie ihr Kommandant, das war ein ehernes Gesetz, das so lange galt, wie es Soldaten gab, und daran glaubte der Major. Aber was er hier sah und erlebte, das widersprach allem, was er jemals gelernt und woran er jemals geglaubt hatte. Die Welt schien in Stücke zu brechen. Ganz gleich, welche Auswirkung es auf die Moral seiner Männer haben mochte, er brauchte ein paar Augenblicke, um wieder zu sich selbst zu finden.

So ging er zum Ufer hinab und blieb erst stehen, als er die Kälte des Wassers durch die schweren Schuhe hindurch spürte. Sein Blick suchte die Lichter im Süden, winzige bunte Sterne, die reglos über dem Wasser schwebten. Er fragte sich, ob die Bergungsarbeiten noch immer im Gange waren, trotz der Lichter am Himmel und allem anderen, oder ob der Wahnsinn, der ganz Ascona befallen zu haben schien, auch dort drüben tobte. Er...

Etwas geschah.

Der Major konnte nicht sagen, was, aber er spürte es ganz deutlich. Es war, als wäre ein Ruck durch die Wirklichkeit gegangen, als hätte sich die ganze Welt ein winziges, aber meßbares Stückchen seitwärts von der Realität wegbewegt. Das Flackern am Himmel änderte seinen Rhythmus, und plötzlich lag der See nicht mehr still. Winzige Wellen kräuselten seine Oberfläche, und ein kalter, böiger Wind schlug dem Offizier ins Gesicht. Verblüfft senkte er den Blick und riß ungläubig die Augen auf, als er sah, wie das Wasser vom Ufer davonzukriechen begann.

Es war nicht das normale Hin und Her der Wellen, die manchmal einige Zentimeter des Sees preisgaben, manchmal ein Stück des Uferstreifens verschlangen. Das Wasser zog sich vom Ufer zurück, lautlos und so schnell, als würde der Wasserspiegel des Sees mit phantastischer Geschwindigkeit zu sinken beginnen!

Der Motor des Polizeibootes begann zu dröhnen. Das Schiff war dem Ufer so nahegekommen, wie es sein Kapitän wagte, ohne Gefahr zu laufen, es auf Grund zu setzen. Jetzt schwenkte es langsam herum, richtete den Bug auf das offene Wasser aus und begann gleichzeitig schneller zu werden.

Es war nicht schnell genug. Der Wasserspiegel des Lago Maggiore sank immer schneller und schneller. Das Schiff war noch keine zwanzig Meter vom Ufer entfernt, als sein eiserner Kiel scharrend auf Grund lief. Ein Knirschen und Poltern ertönte, in das sich ein Chor erschrockener Rufe von den Männern an Deck mischte. Das Schiff machte noch einmal einen letzten, harten Ruck, kam dann vollends zum Stehen und begann sich zur Seite zu neigen, als der Wasserspiegel nicht mehr hoch genug war, um es im Gleichgewicht zu halten. Aus den Entsetzensschreien wurden Schmerzensschreie, als das Boot langsam zur Seite kippte und die Männer hilflos von Deck geschleudert wurden. Das Schiff stürzte schließlich mit einem ungeheuren Krachen und Bersten auf die Seite, wobei es mehrere der hilflos daliegenden Soldaten einfach unter sich begrub. Die Überlebenden versuchten hastig davonzulaufen, aber nicht alle waren noch in der Lage dazu.

Der Major beobachtete die Katastrophe vollkommen ausdruckslos. Er empfand nicht einmal Schrecken. Was er sah, das war einfach zu bizarr, als daß sein an Logik gewohntes Denkvermögen es verarbeiten konnte. Er zweifelte keine Sekunde daran, daß er diese Dinge wirklich sah und nicht nur einen Fiebertraum durchlebte, aber er weigerte sich einfach, eine Erklärung dafür zu finden oder das Bild als wahr zu akzeptieren.

Der Wasserspiegel sank noch immer. Da das Ufer an dieser Stelle ziemlich steil abfiel, schien sich das Tempo zu verlangsamen. Trotzdem verschwand das Wasser mit phantastischer Geschwindigkeit, als lösten sich in jeder Sekunde Millionen und Abermillionen Kubikmeter einfach in nichts auf.

Langsam wandte der Major den Kopf und sah nach rechts, dorthin, wo die Prozession der Druiden im See verschwunden war. Das Wasser war mittlerweile weit genug gefallen, daß er sie sehen konnte. Sie bewegten sich weiter auf die Mitte des Sees zu, nebeneinander und mit den gleichen, zeremoniellen Bewegungen, mit denen sie die Böschung heruntergekommen und ins Wasser hineingegangen waren. Nach allem Unmöglichen, das der Major in den letzten Augenblicken gesehen hatte, hatte er diesen Anblick beinahe erwartet. Jemand rief nach ihm. Widerwillig löste er seinen Blick von der Reihe der Druiden und drehte sich wieder zu seinen Männern um. Sie würden eine Erklärung von ihm erwarten, die er ihnen nicht geben konnte.

Aber deswegen hatte man nicht nach ihm gerufen. Ein Teil der Soldaten blickte ebenso fassungslos und entsetzt wie er auf das zurückweichende Wasser hinaus, aber der weitaus größere Teil von ihnen starrte in die entgegengesetzte Richtung, hinauf zum Park und der dahinterliegenden Stadt.

Der Major ahnte, was er erblicken würde. Die Schatten zwischen den Bäumen waren nicht mehr leer. Dutzende von Männern, Frauen, aber auch Kindern und Alten waren zwischen ihnen erschienen, und es wurden mit jeder Sekunde mehr. Noch wagten sie es nicht, die Böschung herunterzukommen und sich den Soldaten zu nähern, die sich zu einer engeren Formation zusammengezogen und ihre Waffen in Anschlag gebracht hatten. Der Offizier wußte, daß dieser Zustand nur noch Augenblicke dauern würde. Das dort oben waren keine vernünftig denkenden Menschen mehr. Es war ein Mob, der seinen eigenen Gesetzen gehorchte; Gesetze, die der Major nur zu gut kannte. Sein schlimmster Alptraum wurde wahr. Man hatte ihn hierhergeschickt, um diese Menschen zu beschützen, aber nun würde er sie töten müssen. Die Spinne begann aus ihrer Höhle zu kriechen. Weder der Offizier noch einer seiner Männer bemerkten es, aber ihr Gift wirkte bereits. Plötzlich wollte er, daß es geschah. Von allen Schreckensbildern, die sein Unterbewußtsein für ihn bereit hielt, war dies das schlimmste. Trotzdem spürte er plötzlich tief in sich den unbezwingbaren Wunsch, seinen Männern zu befehlen, das Feuer auf die wehrlose Menge zu eröffnen. Er war Soldat. Er hatte sein Leben lang gelernt zu töten.

Und nun war der Moment gekommen, dieses Wissen anzuwenden. Endlich. »Achtung!« befahl er. Seine Stimme war wieder ganz ruhig und so sicher und befehlsgewohnt wie immer. »Legt an!«

Die Männer hoben die Waffen, und die Bewegung fand ein optisches Echo in der Menschenmenge über ihnen. Für einen Moment stockte ihr Vormarsch, verkehrte sich sogar für eine Sekunde ins Gegenteil. Aber der Druck der nachdrängenden Masse war zu groß.

»Nein!«

Die beiden Soldaten, die den jungen Mann bewachten, stürzten zu Boden, als dieser sich mit erstaunlicher Kraft losriß und schreiend die Böschung hinaufzulaufen begann. Drei, vier Männer zugleich legten auf ihn an.

»Nein!« brüllte der Junge. »Tut es nicht! Ich flehe euch an! Ihr dürft das nicht tun! Kämpft nicht gegeneinander!«

Auf halber Strecke zwischen der Menschenmenge im Park und den Soldaten blieb er stehen und riß die Arme in die Höhe. »Besinnt euch!« schrie er. »Ihr alle seid Kinder der gleichen Schöpfung!«

Von allen Wundern, die der Major und seine Männer in der letzten Stunde erlebt hatten, war dies vielleicht das größte. Der Junge stand einfach da, eine zerbrechliche schwarze Gestalt in zerrissenen Kleidern, eine einzelne Stimme, die eine Sturmflut von Gewalt aufzuhalten versuchte, und für einige wenige Sekunden schien es ihr tatsächlich zu gelingen. Der Major spürte, wie sich die schwarze Kralle des Hasses aus seinen Gedanken zurückzuziehen begann, wie sich anstelle des wilden Verlangens zu töten Verwirrung und Schrecken in ihm breitmachten und die von kaltem Entsetzen begleitete Frage, was er hier eigentlich tat, was sie alle im Begriff waren zu tun. Auch einige seiner Männer senkten ihre Waffen. Auf ihren Gesichtern breitete sich der gleiche Schrecken und die gleiche Fassungslosigkeit aus, die auch ihr Kommandant verspürte. Es liegt bei dir, was sein wird.

Aber die Erkenntnis, was diese Worte wirklich bedeuteten, kam zu spät. Der junge Mann blieb mit hoch erhobenen Armen stehen und sah auf die Soldaten und ihren Kommandanten herab, dann drehte er sich herum, vielleicht um seine Worte an die Menge über sich zu wiederholen, vielleicht auch einfach nur erleichtert, die Katastrophe im letzten Moment doch noch verhindert zu haben.

Jemand warf einen Stein nach ihm. Er verfehlte ihn, aber einer der Soldaten unten am Ufer verlor die Nerven und drückte ab. Der Schuß traf einen der vordersten Männer und riß ihn von den Füßen.

Der Major schloß die Augen, als er hörte, wie die Menschenmenge mit einem einzigen, hundertstimmigen Aufschrei losstürmte. Sein schlimmster Alptraum war nun doch Wirklichkeit geworden...

Zu Warsteins Überraschung nahm sich Franke die Zeit, ihnen auch den Rest der unterirdischen Anlage zu zeigen. Trotz allem gelang es ihm nicht ganz, den Stolz zu verhehlen, mit dem sie ihn erfüllte. Das Labor - denn um nichts anderes handelte es sich - bestand aus mehr als einem Dutzend unterschiedlich großer Räume, in denen so ziemlich alles aufgebaut war, was es an moderner und vor allem teurer Technik zu geben schien; und eine ganze Menge, von dem Warstein noch vor einer Stunde im Brustton der Überzeugung behauptet hätte, daß es nicht existierte. Warstein war kein Physiker, und Theorien über Schwarze Löcher und kosmische Energiequellen gehörten nicht einmal am Rande zu seinem Fachgebiet, aber er begann trotzdem rasch zu begreifen, wie weit Franke mit seinen Forschungen in den letzten drei Jahren gekommen war. Selbst wenn sich am Ende erweisen sollte, daß es in diesem Berg kein Schwarzes Loch gab, so hatten er und seine Mitarbeiter doch Erkenntnisse gewonnen, die den unvorstellbaren Aufwand, den die Errichtung dieses Labors bedeutet hatte, mehr als rechtfertigten. Falls es dann noch jemanden gab, der mit diesen Erkenntnissen etwas anfangen konnte.

Ihr Rundgang endete in einem Raum, der selbst Warstein mehr an die Kommandozentrale eines Raumschiffes erinnerte als an ein physikalisches Forschungslabor. Drei der vier Wände waren vollgestopft mit Schaltschränken, Monitoren, Computerbänken und zahllosen anderen technischen Apparaturen, deren Bedeutung ihm größtenteils verschlossen blieb. Aber Warstein entging auch nicht, daß die meisten dieser Geräte tot waren. Die Bildschirme waren erloschen, Bandspulen hatten aufgehört sich zu drehen, blinkende Leuchtdioden hatten sich in blind starrende, erloschene Augen verwandelt. Von den zahlreichen Telefonen im Raum schien nur noch ein einziges zu funktionieren, und Techniker waren emsig damit beschäftigt, an mindestens ebenso vielen auseinandergebauten Computerschränken gleichzeitig herumzubasteln. Wie es schien, nicht unbedingt mit Erfolg. Wenn er berücksichtigte, daß sich im Moment mindestens dreißig Personen in dem Raum aufhielten, war es erstaunlich leise; aber er konnte die Anspannung deutlich fühlen, die von allen hier drinnen Besitz ergriffen hatte. Warstein war nicht der einzige, dem aufgefallen war, daß hier etwas nicht stimmte.

Lohmann ließ seinen Blick mit unverhohlenem Spott durch den Raum wandern, und er versuchte erst gar nicht, die Schadenfreude aus seiner Stimme zu verbannen. »Beeindruckend, Professor«, sagte er. »Wirklich beeindruckend. Was wird es, wenn es fertig ist? Ein Computerladen?«

Franke mußte wohl endgültig zu dem Schluß gekommen sein, daß Ignorieren die einzig erfolgversprechende Methode war, mit Lohmann umzugehen, denn er beachtete weder ihn noch seine hämische Frage, sondern wandte sich direkt an Warstein.

»Ich habe Ihnen das alles nicht gezeigt, um anzugeben, Warstein«, sagte er. »Oder um Sie zu beeindrucken. Ich hoffe, daß Sie begriffen haben, was wir hier tun.«

»Ich ... bin nicht sicher«, gestand Warstein. »Aber ich denke, es ist eine großartige Leistung, ja.« Er war tatsächlich ein wenig verwundert. Während der vergangenen halben Stunde hatte der Wissenschaftler in ihm wieder die Oberhand gewonnen, und für einige wenige kurze Momente waren selbst seine Angst und die Sorge um das, was draußen geschah, in den Hintergrund getreten. Aber er hatte sie keineswegs vergessen. Jetzt fragte er sich, warum Franke so viel von ihrer angeblich so kostbaren Zeit opferte, um ihm und Lohmann dieses Labor zu zeigen.

»Es ist nicht mein Verdienst allein«, antwortete Franke. »Wir haben die klügsten Köpfe der Welt hier versammelt und die beste Technik, die für Geld zu bekommen war. Ich dachte, daß es Sie interessiert.« Er lächelte flüchtig. »Irgendwie ist es ja auch ein bißchen Ihr Werk.«

»Aber das ist nicht der Grund, warum Sie es uns gezeigt haben«, vermutete Warstein. Wenn Frankes Worte schmeichelhaft gemeint waren, so verfehlten sie die angestrebte Wirkung gründlich. Er rieb Salz in offene Wunden.

»Nein«, sagte Franke. Sein Gesicht verdüsterte sich. Er sah auf die Uhr, ehe er weitersprach. »Ich möchte, daß Sie mir glauben, daß wir alles in unserer Macht Stehende getan haben. Wenn es eine wissenschaftliche Lösung für dieses Problem gäbe, dann hätten wir sie gefunden.«

Das hatte Warstein nie bezweifelt. Ganz egal, was er von Franke hielt - er war ein fähiger Wissenschaftler. Vielleicht einer der besten auf seinem Gebiet. »Das alles hier ist ... wirklich großartig«, sagte er. »Es muß Millionen gekostet haben. Wie haben Sie es geschafft, die Gelder dafür aufzutreiben, noch dazu in so kurzer Zeit? Normalerweise dauert es doch drei Jahre, von der Regierung auch nur eine Erhöhung der Portopauschale zu bekommen.«

»Das kommt immer darauf an, an welche Stellen man sich wendet«, antwortete Franke ausweichend.

»An welche -?« Warstein stockte. Er blickte Franke durchdringend an, dann begriff er. Und plötzlich war sein Zorn wieder da. »Sagen Sie mir, daß das nicht wahr ist«, sagte er. »Sie haben nicht das getan, was ich vermute, oder?«

Franke antwortete nicht, sondern starrte an ihm vorbei ins Leere. Aber sein Schweigen war Antwort genug.

»Sie verdammter Mistkerl«, sagte Warstein leise.

»Wovon reden Sie eigentlich?« fragte Lohmann ärgerlich. »Ich meine nur, falls es Ihnen nicht zu viel ausmacht - wäre es vielleicht möglich, nicht in Hieroglyphen zu reden?«

»Wovon ich rede?« Warstein deutete anklagend auf Franke. »Ich rede davon, daß er das ganze Projekt meistbietend verschachert hat! Oder woher glauben Sie, ist das ganze Geld gekommen, mit dem das hier aufgebaut worden ist?«

»Woher soll ich das wissen?« antwortete Lohmann.

»Sind Ihnen die vielen Uniformen auf dem Weg hierher nicht aufgefallen?«

Lohmann riß die Augen auf. »Das Militär?« fragte er.

»Ganz genau das«, bestätigte Warstein. »Er hat das ganze Projekt ans Militär verkauft.«

»Aber das ist doch nicht möglich!« behauptete Lohmann. »Wir sind hier in der Schweiz. Die werden den Teufel tun und ausländische Soldaten auf ihrem Grund und Boden -«

»Sie haben garantiert nichts davon gewußt«, fiel ihm Warstein ins Wort. Franke schwieg noch immer. »Oh, ich bin sicher, daß er sehr geschickt vorgegangen ist - habe ich recht? Wahrscheinlich hat keiner der Beteiligten auch nur geahnt, woher das Geld gekommen ist.« Er lachte böse. »Wie haben Sie es Ihnen schmackhaft gemacht, Franke? Haben Sie Ihnen erzählt, Sie könnten irgendeine neue Superwaffe konstruieren? Eine kleine Black-Hole-Bombe vielleicht?«

»Unsinn«, antwortete Franke. Er klang nervös. Sein Blick wich dem Warsteins immer noch aus. Warstein ahnte, daß er mit seiner Vermutung der Wahrheit zumindest nahegekommen sein mußte.

»Schade«, sagte er leise. »Ich hatte gerade angefangen, so etwas wie Sympathie für Sie zu empfinden. Aber das ist -«

»Was?« unterbrach ihn Franke scharf. »Hören Sie doch endlich auf, mir Vorwürfe zu machen, Warstein! Ja, verdammt, ich habe meine Seele verkauft - und? Ich würde es wieder tun, wenn es sein müßte. Was hätte ich tun sollen? Zum Forschungsministerium gehen? Ich würde heute noch dasitzen und Anträge ausfüllen, und wir wären in zwanzig Jahren nicht so weit gekommen!«

»Vielleicht wäre das besser gewesen«, sagte Lohmann.

Franke beachtete ihn nicht. »Erzählen Sie mir nicht, daß Sie an meiner Stelle anders gehandelt hätten!« fuhr er fort. »Und wenn doch, sind Sie ein Idiot. Ich wollte das hier, und ich habe es bekommen. Und es ist mir ziemlich egal, wer es bezahlt hat.«

»Und auch, was daraus wird?« fragte Warstein.

Franke fegte seine Worte mit einer zornigen Bewegung beiseite. »Hören Sie endlich auf, den Moralapostel zu spielen«, sagte er verächtlich. »Wo ist der Unterschied? Glauben Sie, das Militär hätte meine Entdeckung nicht für seine Zwecke genutzt, wenn das Geld aus einer anderen Kasse gekommen wäre? Es hätte nichts geändert. Es hätte die ganze Sache nur unnötig verzögert.«

Das Schlimme ist, dachte Warstein, daß er damit vermutlich recht hat. »Was ist hier passiert?« fragte er mit einer Geste auf die tot daliegenden Computer und Bildschirme. »Ein Unfall?«

Franke zuckte unglücklich mit den Schultern. »Ich wollte, ich wüßte es«, gestand er. »Es hat angefangen, als die Lichter am Himmel erschienen.«

»Was?« fragte Lohmann.

»Ich kann es Ihnen nicht sagen«, wiederholte Franke. »Auch die Techniker wissen es nicht. Sie arbeiten daran, Sie sehen es ja. Sie haben ein paar Geräte wieder zum Laufen gebracht, aber anscheinend weiß niemand genau, wieso.«

»Sie meinen, das alles hier ist ... einfach ausgefallen?« vergewisserte sich Lohmann.

»Das meiste«, bestätigte Franke. »Einige Geräte funktionieren noch. Ein paar Computer, die meisten elektrischen Anlagen und seltsamerweise zwei Telefonleitungen. Der Rest ist tot. Es scheint kein System darin zu geben. Und wenn doch, dann kann ich es nicht erkennen.«

»Im Klartext, Sie sind blind und taub«, sagte Lohmann. »Ich hoffe doch, das war nicht die Lösung, von der Sie vorhin gesprochen haben.«

»Lösung?«

Lohmann gestikulierte heftig mit beiden Händen. »Die Notbremse. Die letzte Möglichkeit, von der Sie uns erzählt haben. Schon vergessen?«

»Notbremse?« Franke lächelte flüchtig. »Eine interessante Bezeichnung. Nein, das war es nicht.« Er sah wieder auf die Uhr, überlegte einen Moment und wandte sich dann zum Ausgang. »Kommen Sie. Es wird sowieso Zeit.« Sie verließen den Raum und gingen wieder in die große Halle, in der sie Angelika und Rogler zurückgelassen hatten.

Das Bild hatte sich nicht verändert. Die Männer saßen noch immer in einem unregelmäßigen Kreis auf dem Boden und rührten sich nicht. Trotzdem spürte Warstein, daß zwischen - oder vielleicht mit? - ihnen etwas geschah. Daß sie irgend etwas taten. Nach dem kalten technischen Ambiente des Computersaales kam Warstein der Anblick doppelt unheimlich und bizarr vor. Er führte ihm mit fast körperlicher Intensität wieder vor Augen, warum sie hier waren.

Warstein entdeckte Angelika neben ihrem Mann, der auf der anderen Seite des Kreises saß. Sie war neben ihm niedergekniet und hatte die Hände nach ihm ausgestreckt. Aber sie brachte es aus irgendeinem Grund nicht über sich, ihn wirklich zu berühren; ihre Finger verharrten wenige Zentimeter vor seinem Gesicht, und auf ihren Zügen lag ein Ausdruck von Qual, der Warstein mit einem plötzlichen, sehr tiefen Mitgefühl erfüllte. Sie hatte ihm erzählt, daß sie ihn nicht mehr liebte und daß sie im Grunde selbst nicht wußte, warum sie eigentlich hierhergekommen war, aber der Anblick dort drüben machte ihm klar, daß das nicht stimmte.

Franke räusperte sich übertrieben, und Angelika sah tatsächlich auf. Sie verharrte noch reglos in der gleichen Stellung, in der sie vielleicht die ganze Zeit über dagesessen haben mochte, während Franke Lohmann und ihm das Labor gezeigt hatte. Dann nahm sie die Hände herunter, richtete sich langsam auf und ging auf sie zu. Ihre Bewegungen waren steif.

»Es tut mir leid, Sie stören zu müssen«, begann Franke, »aber wir -«

»Es ist schon gut«, unterbrach ihn Angelika. »Ich kann ... sowieso nichts für ihn tun.« Sie gab sich einen sichtbaren Ruck und wandte sich an Warstein. »Es ist der gleiche Ort, nicht?« fragte sie. »Sie waren damals hier?«

»Nicht genau«, antwortete Franke an Warsteins Stelle. Er deutete auf die Felswand zur Rechten. »Der Tunnel verläuft zwanzig Meter weiter südlich. Aber Sie haben recht. Sie sind alle hierher zurückgekommen.« Plötzlich war in seiner Stimme so etwas wie eine ängstlich unterdrückte Hoffnung. »Hat er Ihnen irgend etwas gesagt? Wissen Sie, warum...«

»Nein«, sagte Angelika. »Er hat nichts gesagt. Ich glaube, er ... er hat nicht einmal gemerkt, daß ich hier bin.« Sie begann zu zittern, und aus ihren Augen rannen plötzlich Tränen. »Ich möchte gehen«, sagte sie. »Bitte.«

»Selbstverständlich.« Franke machte eine entsprechende Geste, und Rogler öffnete die Tür und trat rasch beiseite, um Angelika vorbeizulassen. Sie rannte fast aus dem Raum und blieb auch draußen erst wieder stehen, nachdem sie sich gute zehn Meter von der Tür entfernt hatte. Lohmann wollte ihr folgen, aber Warstein legte ihm rasch die Hand auf den Arm und schüttelte den Kopf. Der Journalist zeigte ausnahmsweise so etwas wie Feingefühl und blieb zurück, während Warstein ihr allein folgte.

Er ging sehr langsam und hatte fast Angst, als er sie erreichte. Denn eigentlich wußte er nicht, was er sagen sollte. Er hatte Momente wie diese immer gehaßt. Einen halben Meter hinter ihr blieb er stehen und berührte ihren Arm, zog die Hand aber sofort wieder zurück, als er sah, wie sie unter seiner Berührung zusammenfuhr. Trotzdem drehte sie sich zu ihm um und sah ihn an. Ihre Augen waren noch immer voller Tränen, aber der Schmerz darin war von einer anderen Art, als er erwartet hatte.

»Angelika«, begann er, »es tut -«

»Jetzt nicht.« Sie unterbrach ihn mit einer fast zornigen Geste, atmete tief und hörbar ein und fuhr sich mit dem Handrücken über das Gesicht, um die Tränen fortzuwischen. Warstein trat mit einem wortlosen Nicken zurück. Er verstand, daß Angelika diesen Moment für sich brauchte. Sie waren sich nahegekommen, in den letzten Tagen, aber der Schmerz, den sie empfinden mochte, war zu intim, als daß sie ihn mit ihm zu teilen bereit war.

»Habt ihr ... eine Lösung gefunden?« fragte sie.

»Wir wären schon froh, wenn wir das Problem gefunden hätten«, sagte Franke. Im allerersten Moment empfand Warstein diese Art der Antwort als vollkommen unpassend. Aber Angelika lächelte plötzlich wieder. Natürlich heiterten Frankes Worte sie nicht wirklich auf, aber sie schien die gute Absicht, die dahinter steckte, in diesem Moment deutlicher zu spüren als Warstein.

»Vielleicht sollten wir noch einmal gemeinsam danach suchen«, schlug sie vor. Franke machte eine einladende Geste. Sie verließen das Labor unter dem Berg auf dem gleichen Weg, auf dem sie gekommen waren, und auf die gleiche, umständliche Weise. Nach allem, was Warstein in der letzten Stunde erfahren hatte, kamen ihm die Sicherheitsvorkehrungen hier drinnen geradezu lächerlich vor. Sie hatten über nichts Geringeres als den Weltuntergang gesprochen, und sie verloren kostbare Zeit damit, einem Computer ihre Plastikausweise zurückzugeben! Er protestierte nicht, sondern ließ die Prozedur klaglos über sich ergehen.

Er atmete erleichtert auf, als sie endlich wieder in den Tunnel hinaustraten. Erst im Nachhinein wurde ihm klar, warum er sich die ganze Zeit über, in der sie in Frankes geheimem Labor gewesen waren, so unwohl gefühlt hatte. Es war das Gefühl gewesen, eingesperrt zu sein. Im Grunde hatte sich an ihrer Umgebung nicht viel geändert, aber dort drinnen hatte er das Gewicht der Millionen und Abermillionen Tonnen Fels, das über ihnen schwebte, beinahe zu fühlen geglaubt, und obwohl die klimaanlagengefilterte Luft dort drinnen fast besser gewesen war als hier im Tunnel, glaubte er wieder freier atmen zu können. Die Soldaten, die sie bis zur Tür begleitet hatten, warteten noch immer auf sie. Sie hielten auch jetzt einen respektvollen Abstand zu ihnen ein, als sie sich nach links wandten und Franke folgten, aber sie blieben auch nicht zurück. Warstein war plötzlich gar nicht mehr so sicher wie noch vor einer halben Stunde, ob es überhaupt in Frankes Macht gestanden hätte, sie wegzuschicken. Seinen Worten und auch seinem Benehmen nach hielt er sich für den uneingeschränkten Herrscher über dieses Projekt, aber vielleicht stimmte das nicht. Vielleicht waren diese Männer nicht nur hier, um ihn zu beschützen.

Sie bewegten sich von den beiden ICEs fort und auf einen dritten, von einer schweren Diesellok gezogenen Zug zu, der hundert Meter vor ihnen auf den Schienen stand. Als sie näher kamen, sah Warstein, daß er nur einen einzigen Hänger hatte, der jedoch von geradezu gewaltigen Ausmaßen war. Es handelte sich um einen jener niedrigen, ungemein massiven Spezialwagen, die für Schwersttransporte gebaut waren. Auf der mit Stahlträgern verstärkten Ladefläche befand sich jedoch kein Brückenpfeiler oder das Segment eines zehn Meter durchmessenden Betontunnels, sondern ein dunkelgrün lackierter, quadratischer Block, der so massiv aussah, als wäre er aus einem einzigen Stück gegossen. Unterarmdicke Stahltrossen sicherten ihn in alle Richtungen, und an seiner Rückseite befand sich eine massiv aussehende Buchse, von der eine Kabelverbindung ausging. Sie endete in einem transportablen Schaltpult, das neben dem Gleis aufgebaut worden war.

»Was ist das?« fragte Lohmann.

»Gleich«, antwortete Franke. Er gestikulierte dem Journalisten zu, von den Schienen herunterzutreten, und Lohmann beeilte sich, der Aufforderung zu folgen, als sich der Zug mit einem leichten Ruck und einem lang nachhallenden Scheppern und Klirren in Bewegung setzte. Er rollte jedoch nur zwei oder drei Meter weit, ehe er wieder stehenblieb. Franke betrachtete ihn nachdenklich, zog einen winzigen Computer aus der Jackentasche und klappte ihn auf.

»Noch einen Meter zurück«, sagte er, nachdem er eine Weile konzentriert abwechselnd auf das LCD-Display und die Wand zur Linken gestarrt hatte. Warstein bemerkte erst jetzt die leuchtendroten Markierungen, die an der Felswand angebracht worden waren.

Wieder bewegte sich der Zug; diesmal nur um Zentimeter, wie es schien. Aber Franke war noch immer nicht zufrieden. Auf seinen Befehl hin rollte die Lok abermals vor und dann noch einmal ein winziges Stück zurück. »Was um alles in der Welt treiben die da?« murmelte Lohmann.

Warstein antwortete nicht. Nicht nur, weil er es nicht wußte. Was er sah, gefiel ihm nicht. Der Zug und seine Ladung machten ihm angst. An dem metallenen Block war irgend etwas Düsteres und zugleich Gewalttätiges.

Franke klappte seinen Rechner zu und ließ ihn wieder in der Tasche verschwinden. »Noch nicht optimal«, sagte er. »Aber den Rest machen wir später.« Er seufzte tief, bedachte die Lok und ihre Last mit einem Blick, in dem sich Zufriedenheit mit einer Sorge mischte, die Warsteins Furcht noch einmal neue Nahrung gab, und zuckte dann mit den Schultern, als hätte er sich in Gedanken eine Frage gestellt und sie gleich selbst beantwortet.

»Was ist das?« fragte Lohmann noch einmal.

»Das, wonach Sie mich vorhin gefragt haben, Herr Lohmann«, antwortete Franke. »Unsere letzte Möglichkeit. Ihre Notbremse.«

»Wie ... meinen Sie das?« fragte Lohmann nervös. Er wurde blaß. »Einen Moment«, stammelte er. »Das ... das ist nicht das, wofür ich es halte, oder?«

»Ich weiß nicht, wofür Sie es halten«, antwortete Franke. Seine Stimme klang ehrlich belustigt. »Es ist ein thermonuklearer Sprengsatz.«

»Wie?!« keuchte Lohmann. Für die Dauer eines Herzschlages starrte er Franke aus aufgerissenen Augen an, dann schrie er auf, stolperte zurück und prallte so heftig gegen die Tunnelwand, daß er um ein Haar das Gleichgewicht verloren hätte. »Sind Sie übergeschnappt?!« kreischte er. »Sie ... Sie müssen völlig wahnsinnig sein! Das ist nicht Ihr Ernst! Das ... das können Sie nicht wirklich wollen! Um Gottes willen - nein!«

Auch Warstein war instinktiv einen Schritt zurückgewichen, obwohl er nicht einmal sehr überrascht war. Nicht wirklich. Er hatte geahnt, was Franke unter einer letzten Möglichkeit verstand.

Angelika schien gar nicht zu begreifen, wovon sie sprachen. Verständnislos blickte sie zuerst Lohmann, dann Franke und schließlich Warstein an. »Was ist los?« fragte sie. »Was ist das für ein Ding?«

»Eine Atombombe«, antwortete Warstein ruhig, und auch aus Angelikas Gesicht wich schlagartig das Blut.

»Präzise ausgedrückt, eine Wasserstoffbombe«, berichtigte ihn Franke, »mit einer geschätzten Wirkung von vierundzwanzig Megatonnen.« Er lachte vollkommen humorlos und zuckte mit den Schultern. »Genau konnte man mir das nicht sagen. Es ist ziemlich lange her, daß man Bomben dieser Größe getestet hat, und die Berechnungen waren nicht immer ganz richtig. Aber es ist das Größte, was Sie hatten.« Er sah Warstein an und schien auf irgendeine Reaktion zu warten. Als sie nicht kam, wandte er sich zu Lohmann um. »Stellen Sie sich nicht so an, Sie Dummkopf«, sagte er verächtlich. »Sie ist vollkommen ungefährlich, solange niemand auf den falschen Knopf drückt.«

»Sie sind ja wahnsinnig!« wimmerte Lohmann. Er war noch weiter zurückgewichen und hatte die Hände schützend vor das Gesicht gehoben, als rechne er tatsächlich jeden Moment damit, daß die Bombe explodierte.

»Aber das ... das dürfen Sie nicht tun«, sagte nun auch Angelika. »All diese Menschen dort draußen. Die Städte und -«

Franke unterbrach sie mit einem sanften Kopfschütteln. »Niemandem wird etwas geschehen«, behauptete er. »Vielleicht wird Ascona zerstört werden, aber nicht einmal das ist sicher. Wir sind hier unter einem Berg, vergessen Sie das nicht.«

»Aber es ist eine Atombombe!« protestierte Angelika.

»Und zwar eine sehr große, ja«, bestätigte Franke. »Trotzdem. Die meisten Menschen überschätzen die Wirkung von Atomwaffen. Ihre Sprengkraft ist gar nicht so gewaltig. Sicher, es ist eine gewaltige Bombe, aber selbst die größte Atomwaffe der Welt könnte diesen Berg nicht zum Einsturz bringen.« Er sah Warstein an. »Bestätigen Sie es ihr, bitte.«

Wäre Warstein nicht so entsetzt gewesen, hätte er wahrscheinlich lauthals losgelacht. Vermutlich hatte Franke sogar recht, was die Sprengkraft der Bombe anging - über ihnen befanden sich zwei Kilometer massiver Fels, den selbst diese Waffe nicht vollständig zu zerstören imstande sein würde. Trotzdem würde die Explosion die halbe Schweiz erschüttern, abgesehen von Kleinigkeiten wie Strahlung, Erdbeben und was sonst noch folgen mochte. Lohmann hatte recht: Franke war wahnsinnig.

»Sie sind hier der Spezialist für alles Militärische«, sagte er.

Für eine Sekunde blitzte es zornig in Frankes Augen auf. Aber er hatte sich sofort wieder in der Gewalt.

»Es gibt wirklich keinen Grund, in Panik zu geraten«, sagte er. »Niemand hat vor, diese Bombe zu zünden. Jedenfalls noch nicht.«

»Warum ist sie dann hier?« kreischte Lohmann. Er hatte vollkommen die Beherrschung verloren. »Sie lügen! Sie hatten es von Anfang an vor!«

»Unsinn!« sagte Franke scharf. »Ich wäre bestimmt nicht hier, wenn ich das gewollt hätte.« Er wandte sich mit einer zornigen Bewegung an Warstein. »Bringen Sie diesen Narren zur Räson, Warstein, ehe ich es tue!«

Es fiel Warstein sehr schwer, seinen Blick von dem metallenen Würfel auf der Ladefläche des Zuges zu lösen und sich zu Lohmann herumzudrehen. Seine Stimme wollte ihm den Dienst verweigern, und es gelang ihm kaum, seine Gedanken wenigstens wieder so weit in geordnete Bahnen zu zwingen, daß er in der Lage war, überhaupt zu sprechen. Trotzdem sagte er: »Er hat recht, Lohmann. Es wird nichts passieren. Schließlich ist er kein Selbstmörder.«

Lohmann hörte seine Worte gar nicht. Er starrte die Bombe an. In seinen Augen flackerte nackte Panik.

»Aber in einem Punkt schließe ich mich Lohmann an«, fuhr Warstein, nun wieder an Franke gewandt, fort: »Warum haben Sie sie hergebracht?«

»Weil es vielleicht die einzige Möglichkeit ist, den Schacht zu schließen«, antwortete Franke. Er deutete zur Tunneldecke. »Wir befinden uns genau darunter. Präzise in seiner Mitte. Vielleicht reicht die Explosion aus, ihn zu zerstören.«

»Blödsinn!« antwortete Warstein.

»Haben Sie eine bessere Idee?«

»Das meine ich nicht«, sagte Warstein. »Und Sie wissen das verdammt genau! Dieses Loch ist heute morgen entstanden, nicht wahr? Erzählen Sie mir nicht, daß Sie die Bombe erst jetzt hierhergebracht haben. Wasserstoffbomben liegen nicht in einem Versandhausregal herum und warten darauf, daß sie jemand bestellt! Wie lange ist das Ding schon hier? Und warum?«

Franke antwortete nicht. Er sah weg.

»Sie ist vor einer Woche hergebracht worden, nicht wahr?« fuhr Warstein ganz leise fort. Plötzlich war alles ganz klar. So klar, daß er gar nicht verstand, wie er es auch nur eine Sekunde lang hatte übersehen können. Er deutete auf den ICE. »Als Sie das da entdeckt haben. Oder vielleicht schon früher, als der erste Zwischenfall bekannt wurde?« Seine Stimme begann zu zittern, und einen Moment später auch seine Hände. Dann sein ganzer Körper. »Sie ... Sie verdammter Verbrecher«, sagte er. »Sie haben es gewußt. Sie haben geahnt, was passieren würde. Sie haben es die ganze Zeit über gewußt!«

»Nein!« antwortete Franke. Er sah ihn noch immer nicht an, sondern starrte ins Leere. »Es war ... nur eine Sicherheitsmaßnahme. Für alle Fälle. Ich war dagegen, aber sie ... sie haben darauf bestanden.«

Warstein lachte schrill auf. »Was hatten Sie vor? Es in die Luft zu sprengen, falls Ihnen Ihr kleines Spielzeug entgleiten sollte?«

»Es ist theoretisch möglich!« protestierte Franke. »Wenn es wirklich ein winziges Schwarzes Loch ist, vielleicht in der Größe eines Atoms, dann reicht es, es mit Energie zu füttern, und es wird explodieren.«

»Ja, oder weiterwachsen und diesen ganzen verdammten Planeten verschlingen!« brüllte Warstein. »Wollen Sie das?!«

Franke hob mit einem Ruck den Kopf und sah ihn herausfordernd an. »Was wollen Sie?« fragte er trotzig. »So, wie die Dinge liegen, ist diese Bombe vielleicht unsere letzte Rettung. Vielleicht können wir das Loch schließen!«

»Und wenn nicht, fliegt uns eben der ganze Planet um die Ohren, wie?« höhnte Warstein.

»Das macht dann auch nichts mehr«, sagte Franke. »Drei Wochen mehr oder weniger - wo ist der Unterschied? Und, wie gesagt: es war nicht meine Idee!«

»Nicht Ihre Idee?« Warstein sprang vor und ergriff Franke so grob bei den Rockaufschlägen, daß der kleinere Mann von den Füßen gerissen wurde und mit den Armen zu rudern begann, um sein Gleichgewicht zu halten. »Ich werde Ihnen zeigen, was ich von Ihren beschissenen Ideen hal...« Jemand schrie. Irgendwo begann ein rotes Licht zu flackern, und dann heulte eine Sirene schrill und mißtönend auf. Plötzlich war der Tunnel voller polternder Schritte, Rufe und laufender Gestalten. Warstein ließ Franke los, der zurückstolperte und nur mit Mühe und Not nicht stürzte.

Aber die plötzliche Aufregung galt nicht ihm. Die Soldaten stürmten nicht heran, um ihn von Franke wegzureißen. Die Tür der Diesellok wurde aufgerissen, zwei Männer stürzten heraus und rasten wie von Furien gehetzt davon, und auch von der Ladefläche des Zuges sprangen Gestalten herab. Das Heulen der Sirene hielt an. Auf der Oberseite des grünen Metallblockes flackerte eine rote Warnlampe.

Warstein wußte, was all dies bedeutete. Aber er weigerte sich einfach, es zu glauben.

»Sie explodiert!« Die Stimme des Mannes hinter dem Schaltpult hinten auf dem Zug überschlug sich fast. »Der Zünder läuft! GROSSER GOTT, SIE EXPLODIERT GLEICH!«

»Nein!« stammelte Franke. »Das kann nicht sein! Das ist ... das ist völlig ausgeschlossen!«

Das Heulen der Sirene und die immer schriller werdende Stimme des einsamen Technikers hinter dem Pult bewiesen das Gegenteil. Der Mann hämmerte wie besessen auf seinen Kontrollen herum. »Sie explodiert!« schrie er immer wieder. »Der Countdown läuft! Noch drei Minuten!«

Warstein taumelte hilflos zurück. Weg! Das war alles, was er denken konnte. Er mußte hier weg. In drei Minuten würde die Welt untergehen. Er mußte raus hier, raus aus diesem Tunnel, weg von diesem Berg, diesem Land...

Rings um ihn herum begannen die kunststoffverkleideten Wände des Tunnels zu verblassen. Er sah Bäume, einen blauen Himmel und sanft ansteigende Hügel, an deren Hänge sich kleine weiße Häuser schmiegten, ein Tal des Friedens, sein persönliches Paradies, das er sich manchmal in seinen geheimsten Träumen ausgemalt hatte und in das er fliehen würde, fliehen konnte, um dem Weltuntergang zu entgehen, nur kraft seiner Wünsche, kraft seiner Phantasie und seines Willens, die jetzt und hier, an diesem magischen Ort und in diesem magischen Moment, stärker waren als die Wirklichkeit.

»Nein!«

Die Realität materialisierte sich wieder. Das Heulen der Sirene hielt noch immer an, und das Flackern der Warnlampe war schneller geworden, hektischer, drohender. Auch die Soldaten hatten sich umgewandt und rannten in sinnloser Panik davon. Franke stand noch immer da und starrte den Zug aus ungläubig aufgerissenen Augen an, gelähmt vor Entsetzen.

»Noch zwei Minuten!« schrie der Techniker. »O Gott, ich kann es nicht aufhalten! Ich kann nichts tun!«

Warsteins Blick suchte Lohmann. Der Journalist hatte sich wimmernd am Boden zusammengekauert und die Hände über den Kopf geschlagen. Er zitterte. »Sie explodiert!« kreischte er. »Ich wußte es! Ich habe es euch gesagt! Sie muß explodieren!«

Warstein war mit einem Satz bei ihm, riß ihn in die Höhe und schlug ihm die flache Hand ins Gesicht. Lohmann heulte vor Schmerz, als sein Hinterkopf unsanft gegen die Tunnelwand krachte, aber er hörte trotzdem nicht auf zu stammeln.

»Sie wird explodieren! Ich wußte es! Wir werden alle sterben!«

»Hören Sie auf, Lohmann!« brüllte Warstein. »Hören Sie endlich auf! Sie explodiert nur, weil Sie es so wollen!«

»Wir werden alle sterben!« kreischte Lohmann. Er hörte Warsteins Worte nicht. Und selbst wenn er sie gehört hätte, wäre er gar nicht mehr in der Lage gewesen, irgend etwas zu tun.

Warstein schlug zu. Er legte alle Kraft in diesen einzigen Hieb. Trotzdem war es nicht sein Faustschlag, der Lohmann das Bewußtsein raubte. Seine Faust traf das Kinn des Journalisten und ließ seine Haut aufplatzen, ohne ihm ernsthaften Schaden zuzufügen, aber Lohmanns Kopf kollidierte ein zweites Mal und noch heftiger mit der Tunnelwand. Es gab einen hörbaren, knirschenden Laut, Lohmann verdrehte die Augen und sackte reglos zu Boden.

Das Heulen der Sirene brach ab. Nur einen Moment später erlosch auch das flackernde rote Licht der Warnlampe. Später, als Franke mit dem Techniker sprach und Warstein hinzukam, erfuhr er, daß der elektronische Zünder noch siebenundachtzig Sekunden davon entfernt gewesen war, die Bombe zu zünden.

Der Wasserspiegel des Sees fiel unaufhaltsam weiter. Es gab nichts, wohin das Wasser hätte abfließen können. Da war kein Strudel, keine plötzliche Strömung, kein neu entstandener Abfluß; so wie beim Auszug der Israeliten das Wasser des Roten Meeres vor ihnen zurückgewichen war, so teilten sich die Fluten des Lago Maggiore vor dem Zug der Druiden, zogen sie sich in eine Richtung zurück, die jenseits der bekannten Dimensionen dieser Welt lag, auf einer anderen der zahllosen Ebenen der Wirklichkeit.

Das Phänomen blieb auf den nördlichen Teil des Sees beschränkt. Die südliche Hälfte, in der noch immer Dutzende von Schiffen nach Überlebenden des abgestürzten Flugzeuges und nach Trümmerstücken suchten, blieb ruhig.

Niemand dort bemerkte etwas von dem phantastischen Vorgang. Die Lichter am Himmel, der Feuerschein, der sich an vielen Stellen Asconas zugleich auszubreiten begann, das Chaos und die Explosionen, nichts von alledem vermochte den Schleier zu durchdringen, der sich über die Sinne der Menschen hier gelegt hatte. Zwar verweilte manchmal ein Blick auf der Silhouette der brennenden Stadt, richtete sich die Aufmerksamkeit eines zufälligen Beobachters für Sekunden auf den schwarzen Abgrund, der inmitten des Sees klaffte, aber es war, als vermochten es die Bilder und Eindrücke einfach nicht, wirklich ins Bewußtsein der Menschen zu dringen. Die Such- und Bergungsarbeiten wurden fortgeführt. Niemand unternahm auch nur den Versuch, die unsichtbare Grenze zu überschreiten, die den See teilte.

Und niemand bemerkte den Zug buntgekleideter, gebrechlicher Gestalten, der sich tiefer und tiefer in die Mondlandschaft aus grauem Schlamm hineinbewegte. Die Männer bewegten sich vollkommen lautlos und auf eine Weise, die jedem Beobachter einen Schauer der Ehrfurcht über den Rücken hätte laufen lassen, hätte es einen Beobachter gegeben. Ihre Lippen bewegten sich, aber nicht der kleinste Laut kam darüber.

Die Prozession schritt nur langsam voran. Der See war hier sehr tief; an manchen Stellen mehr als dreihundert Meter, so daß sie zu großen, mühevollen Umwegen gezwungen wurden, um Spalten und jäh aufklaffende Abgründe zu umgehen, senkrechte Felswände und tückische Klippen. Manchmal half ihnen das Wasser, das noch immer lautlos und rasch vor ihnen zurückwich und ihnen dabei einen Weg zeigte, wo es keinen zu geben schien. Manchmal war es, als verändere sich der Weg vor ihnen. Eine Lücke klaffte auf, wo vor einem Augenblick noch eine unüberwindliche Felswand gewesen war, ein schmaler gewundener Pfad, wo eine fünfzig Meter tiefe Steilwand den Weg der Druiden zu versperren drohte, eine Felsenbrücke, wo gerade noch ein unüberwindlicher Abgrund gewesen zu sein schien.

Auch rings um die Inseln im Norden war der Wasserspiegel gefallen und hatte die flachen, kaum nennenswert aus dem Wasser reichenden Erhebungen zu steilen Felsnadeln gemacht, von deren Flanken schäumende Wasserfälle in die Tiefe stürzten und die wuchsen, je weiter das Wasser zurückwich.

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