5

Er hatte geglaubt, nicht wirklich geschlafen zu haben, aber als er die Augen das nächste Mal öffnete, war die Leuchtanzeige über ihren Köpfen wieder angegangen, die sie aufforderte, sich anzuschnallen, und die Stimme des Piloten teilte ihnen mit, daß sie sich im Landeanflug auf Genf befanden und in ungefähr zehn Minuten dort ankommen würden.

Als nächstes begegnete er Lohmanns feindseligem Blick. Der Reporter saß ihm gegenüber und versuchte, eine Zigarette in den überquellenden Aschenbecher in seiner Armlehne zu drücken. Der Sitz neben ihm und seine Hosenbeine waren voller Asche. Er zündete sich sofort eine neue Zigarette an, öffnete plötzlich seinen Sicherheitsgurt und stürmte mit weit ausgreifenden Schritten davon.

»Was ist denn in den gefahren?« Warstein blickte ihm kopfschüttelnd nach.

»Ich glaube, er sieht seine Investition in Gefahr«, sagte Angelika. »Er war ziemlich verärgert, daß du eingeschlafen bist. Das geht doch in Ordnung, oder? Ich meine, wenn wir schon einmal beim Du sind, können wir genausogut dabei bleiben.«

»Das ist schon okay«, sagte Warstein. »Immerhin sind wir gemeinsam aufgebrochen, um die Welt zu retten.«

»Sind wir das?«

»Zweifellos«, antwortete Warstein ernsthaft. »Wir werden phantastische Abenteuer erleben. Ungeheuer aus der siebten Dimension. Außerirdische, die gekommen sind, um die menschliche Zivilisation zu vernichten und die Überlebenden in die Sklaverei zu verschleppen.«

»Die Gespenster nicht zu vergessen«, sagte Angelika.

»Unbedingt«, bestätigte Warstein. »Vampire und Werwölfe. Wußtest du, daß es auf dem Gridone nachts von Hexen nur so wimmelt, die auf ihren Besen um den Gipfel kreisen?«

Sie lachten, und obwohl es nur eine Sekunde währte, gab es ihnen beiden neue Kraft. Eine Weile saßen sie einfach schweigend nebeneinander, in einer vertrauten Stille, als ob sie sich tatsächlich schon seit Jahren kannten, nicht erst seit weniger als vierundzwanzig Stunden. Seine Hand wollte nach ihrer greifen, die auf der Armlehne neben ihm lag, aber er führte die Bewegung nicht zu Ende. Trotzdem bemerkte sie sie, sah kurz zu ihm hoch und lächelte, so daß er fast sicher war, daß sie nichts dagegen gehabt hätte. Nach einigen Sekunden ließ ihr Blick ihn los, und Warstein drehte den Kopf zur anderen Seite und zwang sich, aus dem Fenster zu sehen.

Obwohl sie sich bereits im Landeanflug befanden und ständig an Höhe verloren, sah er nichts außer vorüberhuschenden Fetzen aus Grau und schmuddeligem Weiß. Das Wetter mußte umgeschlagen sein, während er geschlafen hatte.

»Vorhin«, sagte Angelika plötzlich, »als wir eingestiegen sind ... warum hast du da gezögert?«

Es wäre leicht gewesen, seine Flugangst vorzuschieben, und er wußte, daß sie es geglaubt oder zumindest dabei belassen hätte. Aber er wollte sie nicht belügen. So scherzhaft seine Bemerkung gerade geklungen haben mochte, sie hatte einen wahren Kern: was immer in Ascona auf sie wartete, er spürte, daß es etwas Gewaltiges war. Sie waren auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen. Ehrlichkeit war wichtig.

»Ich weiß nicht genau«, sagte er ausweichend. »Ich glaube, irgend etwas ... wird passieren.«

»Am Berg? So eine Art ... Vorahnung?«

Er lauschte aufmerksam auf einen Unterton von Spott oder auch nur Ironie, aber da war nichts. »Vielleicht.«

»Was ist eigentlich damals wirklich passiert?« fragte sie plötzlich.

»Im Tunnel?« Warstein hob die Schultern. »Ich weiß es nicht. Wirklich.«

»Das weiß ich«, antwortete Angelika. »Frank hätte es mir erzählt, wenn er es wüßte. Aber das meine ich nicht. Am Berg. Überhaupt.«

»Du hast die Zeitungen gelesen«, antwortete er mit einer Geste auf seine Tasche, aus der der Rand ihres grünen Plastikordners hervorsah. »Ich glaube, wir haben irgend etwas...«

»Geweckt?« schlug Angelika vor, als er nicht weitersprach.

Das Wort gefiel ihm nicht. Trotzdem nickte er nach einigen Sekunden widerwillig. »Irgend etwas ist in diesem Berg«, antwortete er. »Oder war. Und ich denke, es wäre besser gewesen, nicht daran zu rühren.« Ihm war klar, daß das keine Antwort auf ihre Frage war, sondern sie im Gegenteil noch mehr verwirren mußte. Aber sie hatte wohl auch nicht wirklich mit einer Antwort gerechnet.

Er hätte sie auch nicht geben können. Damals, vor drei Jahren, da hatte er geglaubt, es zu wissen, aber das stimmte nicht. Er hatte so wenig gewußt wie alle anderen. Das allermeiste von dem, was letztendlich zu seinem Hinauswurf aus dem Projekt geführt hatte, war einfach Unsinn gewesen. Von seinem Standpunkt aus hatte Franke durchaus recht gehabt, ihn zu feuern.

Er mußte wieder an Saruter denken, und auch das war etwas, was er jetzt erst wirklich verstand: er würde es wissen, wenn die Zeit gekommen war. Sie hatten einen Stein losgetreten, der seit drei Jahren zu Tal polterte und dabei langsam zur Lawine wurde. Vielleicht würde sie sie alle zerschmettern, vielleicht bestand sie auch nur aus Rauch und Staub. Er würde es wissen. Wenn die Zeit gekommen war.

Lohmann kam zurück, begleitet von einer Stewardeß, die freundlich, trotzdem aber mit großem Nachdruck darauf beharrte, daß er sich wieder setzte und den Sicherheitsgurt anlegte. Der Journalist gehorchte, aber nicht, ohne jeden Handgriff mit einer Flut zynischer Kommentare zu begleiten. Die Stewardeß ließ alles wortlos über sich ergehen, aber man sah ihr an, daß sie froh war, endlich zu ihrem Platz zurückkehren zu können.

»Was tun Sie da eigentlich?« fragte Angelika. »Versuchen Sie, Ihrer Rolle gerecht zu werden, oder sind Sie wirklich so ein Ekel?«

»Vielleicht beides?« Lohmann grinste, entzündete sich trotz des leuchtenden NO-SMOKING-Schildes eine Zigarette und ergatterte immerhin zwei Züge, ehe die Stewardeß kam und ihn aufforderte, sie zu löschen.

Das schlechte Wetter hielt sich, während sie zur Landung ansetzten. Die Wolken rissen erst im allerletzten Moment auf, aber Warstein hätte von der Landung ohnehin nichts mitbekommen. Sein Hang zur Selbstkasteiung ging nicht so weit, auch noch während der Landung aus dem Fenster zu sehen. Warstein saß mit zusammengepreßten Lidern und steif wie ein Brett da, bis die Maschine mit einem sanften Ruck aufgesetzt hatte und das Motorengeräusch wieder lauter wurde, als der Pilot Gegenschub gab.

Als er die Augen wieder öffnete, begegnete er Angelikas Blick. Und diesmal erkannte er eindeutig ein spöttisches Glitzern darin.

»Was ist so komisch?« fragte er.

»Oh, nichts«, antwortete Angelika amüsiert. »Lacht ihr Männer nicht auch, wenn wir Frauen beim Anblick einer Maus auf den nächsten Tisch springen?«

»Ich stehe auf keinem Tisch«, sagte Warstein gepreßt.

»Aber du würdest gerne darunterkriechen, stimmt's?«

Gegen seinen Willen mußte Warstein lachen. »Stimmt«, sagte er. »Erinnere mich daran, daß ich mir für den Rückweg einen Tisch mitnehme. So einen kleinen, den man zusammenklappen kann, weißt du?«

»Könntet ihr beiden aufhören, Unsinn zu reden?« fragte Lohmann verärgert.

»Sie haben vergessen zu sagen: auf meine Kosten«, fügte Warstein in liebenswürdigem Tonfall hinzu. Lohmann spießte ihn mit Blicken regelrecht auf, aber er sagte nichts mehr.

Die Maschine rollte aus, und da sie die einzigen Passagiere der ersten Klasse waren, gingen sie auch zuerst von Bord. Sie hatten kaum Gepäck; also gab es auch keine nennenswerten Zollformalitäten, und die Paßkontrolle bestand aus einem gelangweilten Blick in ihre Ausweise, für den sie noch nicht einmal ihre Schritte verlangsamen mußten.

»Wartet hier«, sagte Lohmann. »Ich habe einen Leihwagen bestellt. Ich sehe nur rasch, wo der EUROPCAR-Schalter ist.« Er verschwand, ohne eine Antwort abzuwarten, und Warstein und Angelika traten ein kleines Stück zur Seite, um den nachfolgenden Passagieren nicht im Weg zu stehen.

»Wozu um alles in der Welt braucht er einen Leihwagen?« fragte Warstein. »Er hat doch wohl nicht vor, mit dem Auto nach Ascona zu fahren?«

»Warum nicht?«

»Warum, glaubst du wohl, haben wir fünf Jahre lang an diesem Berg herumgebohrt?« fragte Warstein. »Um eine vernünftige Bahnverbindung zwischen -«

»Die ist geschlossen«, unterbrach ihn Angelika.

Warstein blinzelte. »Wie?«

»Wußtest du das nicht?« Angelika wirkte ehrlich überrascht. »Ich dachte, du hättest die Geschichte im Fernsehen verfolgt.«

»Nicht alles«, sagte Warstein. »Aber das kann nicht sein. Sie können nicht die Strecke über Ascona eine ganze Woche lang sperren. Der Verkehr in der halben Schweiz würde zusammenbrechen!«

»Ganz genau das ist passiert«, antwortete Angelika. »Sag bloß, du weißt nichts davon!«

Er hatte es wirklich nicht gewußt, aber im Grunde hätte er nicht überrascht sein dürfen - es war nur ein weiterer Puzzlestein, der sich fugenlos in das Bild einpaßte. »Und mit welcher Begründung?«

Angelika zuckte die Achseln und überlegte einen Moment.

»Ich glaube, sie wollten sichergehen, daß die Explosion die Struktur der Tunnelröhre nicht beschädigt hat.«

»Lächerlich«, sagte Warstein. »Was sollen diese angeblichen Terroristen benutzt haben? Eine Atombombe?«

»Der Zug sah ziemlich übel aus«, gab Angelika zu bedenken.

»Eine Explosion, die den Tunnel so in Mitleidenschaft zieht, daß er geschlossen werden muß, hätte den Zug in seine Atome zerblasen«, sagte Warstein. Er schüttelte überzeugt den Kopf. »Sie haben irgendeinen anderen Grund, den Tunnel zu sperren.«

Hinter ihnen wurden Stimmen laut, die aufgeregt miteinander diskutierten, ohne daß sie die Worte verstehen konnten. Warstein drehte sich neugierig herum. Der Zollbeamte war aus seiner Lethargie erwacht, aber das war auch nicht weiter erstaunlich - der Anblick der drei buntgekleideten Gestalten, die offenbar mit dem gleichen Flugzeug gekommen waren wie Warstein, Angelika und Lohmann, hätte jeden aufgeweckt.

Es waren Farbige. Ihre Haut war nicht braun, sondern von jenem echten, tiefen Schwarz, wie es selbst bei reinrassigen Afrikanern der hundertsten Generation nur äußerst selten zu finden ist. Ihre Köpfe waren kahlgeschoren, aber so sehr von Stammes- und Zeremoniennarben übersät, daß es schon fast wieder wie eine eigene, bizarre Haartracht wirkte. Alle drei waren in farbige Gewänder gehüllt, die sich in Muster und Farben voneinander unterschieden, trotzdem aber große Ähnlichkeit miteinander hatten. Man mußte kein Ethnologe sein, um zu erkennen, daß es sich bei den drei Männern offensichtlich um einen Stammeshäuptling und seine beiden Medizinmänner handelte; oder zumindest etwas in dieser Art. Obwohl es selbst hier drinnen alles andere als warm war, trugen sie keine Schuhe. Der, den Warstein für den Häuptling hielt, stützte sich auf einen gut zwei Meter langen Speer mit einer zwar hölzernen, nichtsdestoweniger aber rasiermesserscharfen Spitze. Warstein fragte sich, wie er das Ding durch die Sicherheitskontrollen bekommen hatte.

»Es sieht so aus, als hätten sie Schwierigkeiten mit ihren Pässen«, sagte Angelika.

»Wahrscheinlich«, sagte Warstein. »Obwohl ich es schon erstaunlich finde, daß sie überhaupt Pässe haben.«

»Das scheint dem armen Kerl da genauso zu gehen.« Angelika deutete lachend auf den Zollbeamten, der mit ziemlich ratlosem Gesicht abwechselnd die Ausweispapiere und deren buntgekleidete Besitzer ansah. »Ich glaube, die Probleme mit ihren Papieren hat vielmehr er.«

»Irgend jemand sollte ihm helfen«, sagte Warstein.

»Sicher. Ich muß nur eben meine Kisuaheli-Kenntnisse wieder ein bißchen aufpolieren«, antwortete Angelika. »Ich bin ein wenig aus der Übung, fürchte ich.«

Sie sahen noch eine Weile amüsiert zu, bis der Zollbeamte schließlich entnervt aufgab und die drei Schwarzen passieren ließ. Die Situation entbehrte trotz allem nicht einer gewissen Komik. Warstein sah den drei Afrikanern nach, bis die Menschenmenge in der Halle sie aufgesogen hatte.

Eine Sekunde später erlosch sein Lächeln, und seine Haltung versteifte sich. Er hatte es bisher nicht für möglich gehalten, aber er spürte selbst, wie alle Farbe aus seinem Gesicht wich.

»Was hast du?« fragte Angelika alarmiert.

»Franke«, antwortete Warstein. Er war nicht sicher, ob sie ihn verstand. Auch seine Stimme gehorchte ihm nicht mehr richtig.

»Wie bitte?« fragte Angelika.

Warstein deutete wortlos auf die grauhaarige Gestalt im Maßanzug, die mit energischen Schritten auf Angelika und ihn zukam. Es war Franke. Er sah ein bißchen müde aus, und er war auf eine Weise gekleidet, die Warstein nicht von ihm gewohnt war, aber es war Franke. Und er bewegte sich nicht zufällig in ihre Richtung, sondern steuerte ganz gezielt auf Warstein zu.

»Ist das Franke?« fragte Angelika.

Im ersten Moment fand Warstein die Frage einfach lächerlich. Dann erinnerte er sich daran, daß Angelika Franke ja gar nicht kennen konnte. Trotz des ganzen Presserummels damals hatte Franke es geschafft, sein Gesicht aus den Zeitungen herauszuhalten. Soviel Warstein wußte, war niemals auch nur ein einziges Foto von ihm veröffentlicht worden.

Er kam nicht dazu, Angelika zu antworten. Franke hatte sie erreicht, und Warstein sah erst jetzt, daß er nicht allein gekommen war. In seiner Begleitung befanden sich zwei kräftig gebaute, untersetzte Burschen in billigen Anzügen und Sonnenbrillen, denen man die bezahlten Bodyguards auf fünfzig Meter ansah.

»Warstein!« begann Franke. Er sprach laut, unfreundlich, und er machte sich nicht einmal die Mühe, sich mit einer Begrüßung aufzuhalten. »Ich dachte, ich hätte Ihnen beim letzten Mal unmißverständlich klargemacht, daß ich Sie in diesem Land nicht mehr sehen will.«

»Franke«, stotterte Warstein. »Wo ... wo kommen Sie denn her?«

»Ich könnte jetzt sagen, daß ich ganz zufällig vorbeigekommen bin«, antwortete Franke. »Aber das wäre nicht die Wahrheit. Tatsache ist, daß ich einzig Ihretwegen hierhergekommen bin, mein lieber Freund. Und ich bin nicht besonders erfreut darüber.«

Warstein musterte abwechselnd ihn und seine beiden Begleiter. Aus der Nähe betrachtet sahen die beiden noch ein bißchen einfältiger aus als von weitem. Allerdings auch gefährlicher.

»Stehen Sie neuerdings auf der Gehaltsliste der Mafia, Franke?« fragte Warstein. Er hatte den Schock, den Frankes plötzliches Erscheinen ihm bereitet hatte, überwunden.

»Ich sagte Ihnen bereits, daß ich im Moment nicht besonders guter Laune bin«, antwortete Franke. »Vielleicht sparen Sie sich Ihren Humor für jemanden auf, der ihn mehr zu würdigen weiß. Was tun Sie hier?«

»Ich mache Urlaub«, antwortete Warstein feindselig.

»Wie witzig«, erwiderte Franke. Sein Blick löste sich von Warstein und glitt rasch und taxierend über Angelikas Gesicht. »Und ich nehme an, Sie sind ebenfalls nur hier, um Urlaub zu machen, Frau Berger? Rein zufällig, versteht sich?«

»Sie kennen meinen Namen?« sagte Angelika überrascht.

»Ich weiß alles, was ich wissen muß«, antwortete Franke. »Was auf Sie offenbar nicht zutrifft. Sonst wüßten Sie, daß es nicht besonders ratsam ist, sich in Warsteins Nähe aufzuhalten. Er verbreitet Unglück, wissen Sie? Die meisten Leute, die sich zu intensiv mit ihm abgegeben haben, sind auf die eine oder andere Weise zu Schaden gekommen. Denken Sie nur an Ihren Mann.«

Angelika fuhr zusammen. »Sie...«

»Verstehen Sie mich nicht falsch«, sagte Franke rasch. »Ich spreche von damals, nicht von dem, was jetzt passiert ist. Warum sind Sie nicht zu mir gekommen, statt sich an einen Mann zu wenden, der seit drei Jahren sein möglichstes tut, um sich um den Verstand zu saufen?«

»Zu Ihnen?«

»Ich hätte Ihnen helfen können«, sagte Franke. »Jedenfalls hätte ich es versucht. Warstein sucht doch nur jemanden, der ihm hilft, sich an mir zu rächen.«

»Wollen Sie damit sagen, Sie ... Sie wissen, wo mein Mann ist?« fragte Angelika.

»Nein«, antwortete Franke. »Aber ich bin sicher, ich könnte es herausfinden. Sehen Sie - ich bin ehrlich zu Ihnen. Ich hätte durchaus behaupten können, den Aufenthaltsort Ihres Gatten und der anderen zu kennen, nur um Sie von diesem Verrückten da wegzubekommen. Aber ich will Sie nicht belügen. Trotzdem wäre es mir lieber, wenn Sie auf mich hören und einen guten Rat annehmen würden: steigen Sie in die nächste Maschine und fliegen Sie nach Hause. Sie handeln sich nur unnötigen Ärger ein, wenn Sie in Warsteins Nähe bleiben.«

»Wollen Sie mir drohen?« fragte Angelika.

»Ich bitte Sie!« Franke lächelte. »Ich meine es ehrlich. Warum, glauben Sie, ist dieser Mann hier? Um Ihnen bei Ihrer Suche nach Ihrem Mann zu helfen? Kaum.«

»Ich weiß«, antwortete Angelika ruhig. »Aber vielleicht reicht es mir ja schon, dabei zuzusehen, wie er Ihnen Schwierigkeiten bereitet.«

»Das wird kaum geschehen«, erwiderte Franke. Er zog einen schmalen weißen Umschlag aus der Jacke und reichte ihn Warstein.

»Was ist das?« fragte Warstein.

»Eine gerichtliche Verfügung, die Ihnen verbietet, sich dem Gridone auf mehr als zwei Kilometer zu nähern«, antwortete Franke.

»Aber das ist doch lächerlich!« protestierte Angelika.

»Vielleicht«, antwortete Franke ungerührt. »Ich bin sogar sicher, daß jeder einigermaßen geschickte Anwalt diese Verfügung mit Erfolg anfechten könnte. Aber bis es soweit ist, muß ich Ihren Freund bitten, den Inhalt dieses Schreibens zu respektieren. Wenn nicht, wird es mir ein Vergnügen sein, dabei zuzusehen, wie man ihn mit einem Tritt aus dem Land befördert.«

»Gilt das auch für mich?«

Franke drehte sich herum - und starrte eine Sekunde lang auf Lohmanns obersten Hemdenknopf, ehe er auf den Gedanken kam, einen Schritt zurückzutreten und den Kopf in den Nacken zu legen.

»Wer sind Sie?« fragte er verärgert.

»Das spielt keine Rolle«, sagte Lohmann grinsend. »Viel wichtiger ist, daß ich weiß, wer Sie sind. Wie sieht es aus - wollen Sie mich auch unter Druck setzen, damit ich das Land verlasse? Nur zu. Es würde gut zu dem passen, was ich schon habe.« Er schwenkte fröhlich ein kleines Diktiergerät. Das rote Licht brannte, und die beiden Spulen drehten sich.

»Ach so ist das«, sagte Franke. »Sie sind Journalist, richtig?«

»Das könnte schon sein«, sagte Lohmann.

Franke seufzte. »Die Kassette - bitte.«

»Ganz bestimmt nicht«, antwortete Lohmann fröhlich. »Ich glaube nicht, daß...« Der Rest seiner Worte ging in einem Schmerzlaut unter. Franke hatte eine rasche, befehlende Geste zu dem Mann zu seiner Linken gemacht, und der Kerl streckte fast gelassen den Arm aus, packte Lohmanns Hand und drückte sie kräftig zusammen. Es dauerte kaum eine Sekunde, bis Lohmann das Diktiergerät losließ. Franke fing es geschickt auf, entfernte die Kassette und gab Lohmann das Gerät zurück.

»Sie begreifen es nicht, wie?« fragte Warstein kopfschüttelnd. »Wir sind hier in der Schweiz, Franke, nicht im Wilden Westen.«

»Da wäre ich an Ihrer Stelle nicht so sicher«, antwortete Franke. Er deutete mit dem Kopf auf den Umschlag, den Warstein noch immer in der Hand hielt. »Lesen Sie es gründlich, Warstein, und tun Sie sich selbst einen Gefallen und beherzigen Sie die Warnung.«

»Und wenn nicht?«

»Dann tun Sie mir einen Gefallen, denn ich kann endlich dabei zusehen, wie Sie eingebuchtet werden«, antwortete Franke. »Und glauben Sie mir, ich werde persönlich dafür sorgen, daß man die Tür hinter Ihnen zumauert.«

Als sie losgefahren waren, hatte nicht eine einzige Wolke am Himmel gestanden. Es war sogar ungewöhnlich warm für die Jahreszeit gewesen - immerhin stand der Oktober vor der Tür, eine Zeit des Jahres, in der das Wetter gerade hier, am südlichen Rand der Alpen, immer für eine Überraschung gut war. Und seit einigen Tagen spielte es vollkommen verrückt. Salieri hatte am Morgen sogar daran gedacht, die Fahrt abzusagen - denn nicht nur das Wetter bereitete ihm Kopfzerbrechen, ganz Ascona schien seit der Katastrophe des ICE kopfzustehen. Man hatte ihn gewarnt, unter diesen Umständen auf den See hinauszufahren. Wäre er allein gewesen, hätte er es mit ziemlicher Sicherheit auch getan. Oder auch nicht, denn wäre er allein gewesen, hätte er diese Bootsfahrt auf dem Lago Maggiore erst gar nicht geplant. Nein, wäre er allein gewesen, wäre er wahrscheinlich erst gar nicht hierher gekommen, sondern hätte seinen Urlaub wie in den Jahren zuvor in den Bergen seiner sizilianischen Heimat verbracht. Aber er war nicht allein. Und er würde es nie wieder sein, dachte er zufrieden.

Der Grund dafür, daß Salieri trotz seiner Abneigung gegen Wasser und alles, was damit zu tun hatte, jetzt im Heck eines winzigen schaukelnden Motorbootes saß, die heraufziehenden Wolken betrachtete, gleichzeitig mit einem Teil seiner Konzentration gegen die leichte Übelkeit ankämpfte, die sich gleich nach Beginn der Fahrt in seinem Magen ausgebreitet hatte, und trotzdem rundum zufrieden und so glücklich wie selten zuvor im Leben war, hieß Mariella, war siebenundzwanzig Jahre alt und hatte schwarzes Haar, schwarze Augen und eine geradezu traumhafte Figur, die nicht einmal das gelbe Ölzeug, das sie gerade anzuziehen im Begriff war, vollends verbergen konnte. O ja, und sie war seit genau vier Tagen und sechseinhalb Stunden seine Frau.

Seine Frau... Mario ließ das Wort ein paarmal auf der Zunge zergehen, wie den Geschmack eines kostbaren Weines. Es verlor nichts von seiner Faszination. Das hatte es in den vergangenen vier Tagen nicht getan, und irgendwie spürte er, daß es das auch in den nächsten vierzig Jahren nicht tun würde. Natürlich war das eine naive Vorstellung, und im Grunde wußte er das auch. Aber es war auch eine schöne Vorstellung, und so hielt er sie zumindest für den Moment noch fest.

Seine Gedanken schienen deutlich auf seinem Gesicht abzulesen zu sein, denn Mariella blickte plötzlich fragend und legte dann die Stirn in Falten. Es sah hübsch aus, so wie alles an ihr irgendwie hübsch war. Sie war keine ausgesprochene Schönheit, aber sie war auf eine natürliche Art hübsch und fröhlich, die beinahe noch faszinierender war.

»Woran denkst du?« fragte sie.

»An nichts«, antwortete Mario. »Mir ging nur gerade durch den Kopf, wie sehr Gott mich doch lieben muß, mir eine Frau wie dich zu schenken.«

»Gott? Wer ist das?« Mariella bemühte sich, einen Ausdruck von Mißtrauen auf ihr Gesicht zu zaubern und drohte ihm mit dem Zeigefinger. »Du hast mir nichts davon gesagt, daß es noch jemanden gibt, der dich liebt!«

Mario lachte, obwohl er diese Art von Scherzen im Grunde nicht mochte, denn er war ein gläubiger Christ und empfand einen tiefen Respekt vor allem, was mit Religion zu tun hatte. Mariella hatte vor gar nichts Respekt, aber sie ging dabei niemals so weit, wirklich verletzend zu werden. Trotzdem - wenn ihre Hochzeitsreise vorbei war, würden sie nach Sizilien fliegen, um Mariella der Familie vorzustellen, ehe sie in ihre gemeinsame Wohnung in Rom zurückkehrten. Vielleicht war es besser, dachte er, wenn er mit ihr sprach, damit sie sich wenigstens dort ein wenig zurückhielt.

Aber nicht jetzt. Im Augenblick hatten sie Wichtigeres zu tun. Wie zum Beispiel...

»Nehmen Sie dieses unverschämte Grinsen von Ihrem Gesicht, Signore Salieri«, sagte Mariella. »Wir sind zwar in den Flitterwochen, aber ich glaube mich zu erinnern, daß wir heute morgen beinahe das Frühstück verpaßt hätten. Obwohl du mich um...« Sie legte den Kopf schräg und überlegte einen Moment. »Wann war es? Sieben?«

»Halb sieben. Beinahe.«

»...um kurz vor halb sieben geweckt hast«, führte Mariella den Satz zu Ende.

»Aber das ist schon wieder fast fünf Stunden her«, protestierte Mario.

»Ich frage mich, was deine arme alte Mama dazu sagen würde, wenn sie wüßte, was für ein Lüstling ihr ältester Sohn geworden ist.«

»Meine arme alte Mama hat neun Kinder.« Mario versuchte nach ihr zu greifen, aber sie wich ihm mit einer spielerischen Bewegung aus und floh in den vorderen Teil des Bootes. Das kleine Schiffchen begann unter der Bewegung so heftig zu schwanken, daß Mario es nicht wagte, sie zu verfolgen, was er eigentlich vorgehabt hatte. »Was denkst du, woher die gekommen sind?«

»Ich habe keine Ahnung«, sagte Mariella und lachte. Mario liebte ihr Lachen. Er konnte sich an keine Stunde erinnern, in der sie nicht mindestens einmal gelacht hatte.

»Soll ich es dir erklären?« Er stand auf, sehr vorsichtig, damit das Boot nicht wieder wild zu schaukeln begann, und machte einen Schritt auf sie zu, doch plötzlich hob Mariella die Hand und deutete nach oben.

»Sieh doch mal!«

Im ersten Moment dachte Mario, es wäre ein Teil ihres Spieles, um ihn abzulenken, aber der Ausdruck von Verblüffung auf ihrem Gesicht war echt, und so drehte auch er sich halb herum und hob den Kopf, um in den Himmel hinaufzusehen.

Er erkannte sofort, was Mariella meinte. Das Wetter hatte sich weiter verschlechtert. Entlang einer so präzise wie mit einem Lineal gezogenen Linie war der Himmel jetzt von schwarzen und grauen Wolken bedeckt, die sich zu bizarren Gebilden türmten und dunkle, rauchige Arme fast bis zur Erde hinabsandten. Er hatte es bisher gar nicht gemerkt, aber der Anblick ließ ihn spüren, wie kalt es mit einem Mal geworden war.

»Unheimlich«, murmelte er. »Ich habe noch nie erlebt, daß sich das Wetter so schnell ändert.«

»Vielleicht sollten wir besser zurückfahren«, schlug Mariella vor. »Bevor uns der Sturm hier draußen erwischt.«

Mario erhob keine Einwände. Er glaubte noch immer nicht, daß sie wirklich in Gefahr waren. Sie waren nicht weit vom Ufer entfernt - selbst in diesem winzigen Boot würden sie keine fünf Minuten brauchen, um an Land zu kommen. Aber er war plötzlich gar nicht mehr so sicher, daß sie diese fünf Minuten noch hatten. Die Schlechtwetterfront näherte sich dem See mit phantastischer Geschwindigkeit. Die Wolken rollten heran wie in einer Zeitrafferaufnahme.

»Kannst du schwimmen?« fragte er, während er sich über den Außenbordmotor beugte und die Reißleine zog. Die kleine Maschine gab eine Anzahl blubbernder Laute von sich, sprang aber nicht an.

»Wie ein Fisch«, antwortete Mariella. »Warum?«

»Das trifft sich gut.« Mario zog ein zweites Mal und kräftiger an der Schnur. Diesmal hustete der Motor und stieß eine blaue Rauchwolke aus. »Ich nämlich nicht.«

»Das ist nicht dein Ernst!« sagte Mariella erschrocken.

»Ich fürchte doch. Sieh bitte nach, ob wir eine Schwimmweste dabei haben.«

Während Mariella hinter ihm lautstark im Boot herumzukramen begann, versuchte er zum dritten Mal vergebens, den Außenborder zu starten. Das verdammte Ding wollte einfach nicht anspringen.

Mario fluchte leise vor sich hin und zermarterte sich das Hirn, um sich an die Erklärung des Bootsverleihers zu erinnern. Der Mann hatte ihm gesagt, was zu tun sei, wenn die Maschine nicht ansprang, aber er hatte nur mit einem Ohr zugehört - der allergrößte Teil seiner Konzentration hatte Mariella gegolten, die im Badeanzug auf dem Bootssteg stand und einfach phantastisch aussah. Es war ganz simpel, das wußte er noch. Wenn er sich nur erinnern könnte!

»Hier ist sie«, sagte Mariella hinter ihm. Ihre Stimme klang hörbar erleichtert. »Zieh sie gleich an.«

»Sofort.« Mario richtete sich auf, um sich zu ihr umzuwenden - und erstarrte mitten in der Bewegung. Die Wolkenfront raste heran, zehnmal schneller, als Mario dies überhaupt für möglich gehalten hätte. Sie hatte ihre Form verändert und bildete nun ein asymmetrisches Dreieck, das einen tintenschwarzen Schatten auf dem Wasser hinter sich herzog. Mario verlängerte den Kurs dieses Schattens in Gedanken und stellte voller Schrecken fest, daß die Spitze des Dreiecks genau auf ihr Boot zu deuten schien. Es konnte nur noch Sekunden dauern, bis es sie erreicht hatte.

»Was ist das?« flüsterte Mariella. Zum ersten Mal, seit sie sich kannten, war der fröhliche Ton aus ihrer Stimme gewichen und hatte echter Furcht Platz gemacht. »Das ... das ist doch kein normaler Sturm!«

Tief in sich glaubte Mario das auch nicht mehr, aber der Teil von ihm, der rationalem Denken und Logik verhaftet war, gestattete es dem Rest noch nicht, irgendeine andere Erklärung zu akzeptieren. Er wußte einfach nicht, was es war, das da mit der Geschwindigkeit eines D-Zuges auf sie zuraste, aber das spielte eigentlich auch keine Rolle. Es machte ihm angst, und das war alles, was im Moment zählte.

Statt vollends zu Mariella hinzutreten und die Schwimmweste zu nehmen, die sie in Händen hielt, wandte er sich wieder um und beugte sich erneut über den Motor. Es ist genau wie beim Auto, Signore. Er erinnerte sich jetzt wieder. Wenn er nicht anspringt, ziehen sie einfach den Choke.

Seine tastenden Finger fanden den kleinen Hebel und zogen ihn heraus. Augenblicklich griff er nach dem Starterkabel und riß mit aller Gewalt daran. Der Motor spuckte, stotterte, stieß eine übelriechende blaue Qualmwolke aus und sprang an.

»Gott sei Dank!« Mario richtete sich auf, wischte sich mit dem Unterarm den Schweiß von der Stirn und drehte sich wieder zu Mariella um. »Jetzt aber nichts wie weg hier.«

Die Wolkenfront war heran und schob sich wie ein Keil aus Dunkelheit über die linke Hälfte des Himmels, und den Bruchteil einer Sekunde danach erreichte ihr Schatten das Boot.

Es war ein gespenstischer Anblick. Marios Schätzung war genau richtig gewesen: der Schatten traf das Boot genau in der Mitte und zerschnitt es in zwei Hälften. Das Heck mit dem Motor und Mario blieb weiter im hellen Sonnenlicht, während der vordere Teil, in dem sich Mariella befand, für eine Sekunde einfach zu verschwinden schien. Die Dunkelheit war so intensiv, daß er sie nicht einmal mehr als Schatten erkennen konnte. Vor ihm erhob sich eine schwarze Mauer, die die Hälfte des Sees, die Hälfte des Bootes und seine geliebte Mariella einfach verschlungen hatte. Und vor ihm lag nicht einfach nur Dunkelheit. Die Schwärze war massiv. Der Wind brach sich daran und schlug ihm plötzlich ins Gesicht. Und das Gespenstischste von allem war vielleicht die Stille. Die heranrasende Wolkenwand und die Schatten assoziierten die Erwartung von heulenden Sturmböen und rollendem Donner, aber er hörte nichts, nicht einmal den mindesten Laut, so als hielte vor diesem Phänomen selbst die Natur den Atem an.

Genau eine Sekunde lang. Dann, so schnell wie er gekommen war, war der Schatten vorbei, die Wolken am Himmel tobten weiter und näherten sich dem gegenüberliegenden Ufer des Sees, und die Dunkelheit gab die vordere Hälfte des Bootes und Mariella wieder frei.

Im gleichen Moment wurde das Boot von einem unvorstellbar heftigen Schlag erschüttert. Mario fühlte sich gepackt und in die Höhe gewirbelt, und noch während er, sich drei- oder viermal um seine Achse drehend und dabei überschlagend, ins Wasser geschleudert wurde, sah er, wie die vordere Hälfte des Boots regelrecht pulverisiert wurde. Etwas traf Mariella und schleuderte sie über Bord, das Holz zersplitterte wie von Hammerschlägen getroffen, und dann stürzte er ins Wasser und wurde von der gleichen unsichtbaren Gewalt, die ihn in die Höhe gerissen hatte, meterweit in die Tiefe gedrückt.

Mario schrie vor Schmerz und Todesangst. Das bißchen Luft, das er noch gehabt hatte, stieg als silberne Perlenkette vor seinem Gesicht in die Höhe, während er immer noch tiefer und tiefer sank und sich dabei weiter um seine Achse drehte. Etwas Großes, Gelbes wirbelte an ihm vorüber und verschwand, dann traf ein Trümmerstück des Bootes seine Rippen, und es war vermutlich der Schmerz, der ihm das Leben rettete. Die Planke brach ihm zwei oder drei Rippen und riß eine tiefe, blutige Wunde in seine Flanke. Der plötzliche Schmerz war so entsetzlich, daß sich jeder einzelne Muskel in seinem Körper verkrampfte. Das Wasser, das in seine Lungen dringen wollte, kam nicht weit genug, um ihm zu schaden, und er hörte auf, in Panik um sich zu schlagen und sich damit immer noch weiter in die Tiefe zu schaufeln.

Vor seinen Augen tanzten bunte Kreise, als er wieder an die Oberfläche kam. Statt tödlichem Naß war plötzlich kalte Luft auf seinem Gesicht, und obwohl er halb bewußtlos war, erledigte sein Selbsterhaltungstrieb den Rest. Seine verkrampfte Halsmuskulatur löste sich, und seine Lungen saugten sich gierig voller Luft, ehe er unterging.

Irgendwie gelang es ihm trotz allem, der Panik Herr zu werden. Mario begann mit den Beinen zu strampeln und machte ungeschickte Schwimmbewegungen mit beiden Armen, die ihn mehr durch Zufall denn aus irgendeinem anderen Grund nach oben brachten. Erneut durchstieß er die Wasseroberfläche, rang keuchend nach Luft und griff blindlings zu, als er etwas direkt vor sich auf dem Wasser treiben sah.

Es war ein Stück des zerbrochenen Bootes, vielleicht sogar die gleiche Planke, die ihn um ein Haar aufgespießt hätte. Sie war zerborsten. Das Holz sah wie verbrannt aus und drohte unter seinen Fingern auseinanderzubrechen, aber es besaß trotzdem genug Auftrieb, um ihn zu tragen.

Sekundenlang klammerte sich Mario mit aller Gewalt an die Planke und tat nichts anderes, als zu atmen und sich an den Gedanken zu gewöhnen, daß er noch lebte. Der Schmerz in seiner Seite war so grausam, daß ihm übel wurde. Er blutete heftig. Das Wasser in seiner unmittelbaren Nähe begann sich rosa zu färben. Aber er durfte nicht aufgeben. Mariella. Sie war über Bord geschleudert worden und vielleicht bewußtlos. Er mußte ihr helfen.

Mühsam hob er den Kopf und sah sich um. Das Boot trieb nur wenige Meter neben ihm auf dem Wasser und begann bereits zu sinken. Der hintere Teil war nahezu unbeschädigt, aber die vorderen zwei Meter waren einfach nicht mehr da. Irgend etwas hatte es regelrecht in zwei Teile geschnitten; die Bruchstelle war so glatt, als wäre das Schiff von einem Schwerthieb getroffen und gespalten worden. Mario überlegte einen Moment, ob es vielleicht ein anderes Schiff gewesen war, das sie gerammt hatte. Aber das war unmöglich. Ein Schiff, das groß genug war, um so etwas anzurichten, hätte er gesehen, trotz des Unwetters und der Dunkelheit, und vor allem, er hätte es jetzt sehen müssen, denn seit der Katastrophe war noch nicht einmal eine Minute vergangen. Aber der See war leer.

Neben ihm sank die hintere Hälfte des Boots immer schneller, vom Gewicht des Außenbordmotors in die Tiefe gezogen, und als es vollends verschwunden war, entdeckte er Mariella. Sie trieb mit dem Gesicht nach unten auf dem Wasser und regte sich nicht.

Wieder drohte ihn die Panik zu übermannen, aber es gelang Mario noch einmal, sie zurückzudrängen. Langsam, aber mit sehr kraftvollen Bewegungen begann er Wasser zu treten und sein improvisiertes Floß in Mariellas Richtung zu drehen. Jede Bewegung bereitete ihm furchtbare Schmerzen, aber zugleich hielt ihn diese Pein auch wach, und auf eine absurde Weise gab sie ihm auch Kraft. Er ersparte es sich, nach Mariella zu rufen. Wäre sie in der Lage gewesen, darauf zu reagieren, hätte sie seine Hilfe kaum gebraucht. So verwandte er jedes bißchen Kraft, das er noch hatte, darauf, auf sie zuzupaddeln. Er kam nicht besonders schnell voran, aber sie war auch nicht sehr weit entfernt - sieben, acht Meter, allerhöchstens. In ihrer Öljacke hatte sich eine Luftblase gebildet, die sie daran hinderte, unterzugehen. Wenn er sie erreichte, ehe sie ertrunken war, konnte er sie herumdrehen und einfach festhalten, bis sie das Bewußtsein zurückerlangte oder Hilfe kam. Mario war sicher, daß der Unfall vom Ufer aus beobachtet worden war. Sicher war Hilfe schon unterwegs. Es mußte einfach so sein.

Auf halber Strecke trieb ihm etwas leuchtend Orangerotes entgegen. Die Schwimmweste! Er griff mit einer Hand danach, bekam sie zu fassen und hätte sein Geschick um ein Haar mit dem Leben bezahlt, denn die Weste zerfiel unter seinen Fingern, und beinahe hätte er den Halt an seinem Holz verloren. Er ging unter, schluckte Wasser und kam hustend wieder an die Oberfläche. Hastig klammerte er sich wieder mit beiden Händen an die Planke und starrte schockiert auf das herab, was einmal eine Schwimmweste gewesen war. Der imprägnierte Leinenstoff war zerfetzt, so mürbe, als hätte er hundert Jahre im Wasser gelegen. Die Kunststoffüllung quoll in großen, verrotteten Fetzen heraus, und die metallenen Schnallen waren vollkommen verrostet.

Mario schwamm weiter. Noch drei Meter. Mariella rührte sich immer noch nicht. Wie lange konnte ein Mensch mit dem Gesicht nach unten im Wasser treiben, ohne zu ertrinken? Eine Minute? Zwei? Und wie lange trieb sie schon im Wasser?

Als er sie fast erreicht hatte, gewahrte er aus den Augenwinkeln eine Bewegung. Ein Schnellboot raste auf sie zu, in seinem Bug standen die Schatten zweier Männer, von denen einer einen Rettungsring in den Händen hielt. Der andere machte sich bereit, über Bord zu springen. Aber sie würden zu spät kommen, so schnell sie auch waren.

Mario raffte noch einmal alle Kraft zusammen, die er in seinem geschundenen Körper fand, stieß sich ein letztes Mal mit den Beinen ab und erreichte die reglose Gestalt im Wasser. Er ließ seinen Halt los, griff mit beiden Händen zu und drehte Mariella mit einem Ruck herum. Die Luftblase, die sie bisher über Wasser gehalten hatte, entwich aus ihrer Jacke, und sie begann fast augenblicklich unterzugehen. Rasch griff er mit einer Hand wieder nach seiner Planke, während er mit der anderen ihren Kopf zu stützen versuchte, so daß wenigstens ihr Gesicht über Wasser blieb und sie atmen konnte. Das Holz begann unter seinem Griff zu zerkrümeln, und er spürte, wie sich seine Muskeln wieder verkrampften. Er würde diese Anstrengung nicht lange durchstehen. Aber das mußte er auch nicht. Das Boot war heran. Der Mann am Steuer bremste es in einer engen Kurve ab, schnell und so geschickt, daß die dabei entstehenden Wellen von Mariella und ihm weggelenkt wurden, statt über ihnen zusammenzuschlagen, und fast im gleichen Moment sprangen die beiden Männer über Bord und begannen auf sie zuzukraulen.

Mario bemerkte nichts davon.

Er starrte ungläubig auf das Gesicht, das von schwebendem weißem Haar eingerahmt vor ihm im Wasser trieb.

Er fühlte nicht einmal Entsetzen. Oder vielleicht doch, aber wenn, dann war es zu groß, als daß er es in diesem Moment als das zu erkennen vermochte, was es war. Alles, was er empfand, war eine unglaubliche Leere, so groß, daß seine Gedanken darin zu versinken drohten wie in einem bodenlosen Abgrund. Es war nicht Mariella. Sie trug ihre gelbe Öljacke. Der schwarze Badeanzug darunter war der Mariellas, und das goldene Kreuz, das an einer dünnen Kette um ihren Hals hing, war das, das er ihr vor vier Tagen zur Hochzeit geschenkt hatte.

Aber es war nicht Mariella. Sie konnte es nicht sein, denn der Leichnam, den Mario in den Armen hielt, war der einer uralten Frau.

»Dieser verdammte Mistkerl hat mir die Hand gebrochen!« Lohmanns Stimme klang weinerlich - diesmal. Er hatte die gleiche Behauptung in der letzten Stunde mindestens zehnmal aufgestellt, wobei er mal zornig, mal rachelüstern und mal weinerlich klang. Warstein hatte das Gefühl, daß er es in vollen Zügen genoß, zu leiden. »Aber dafür wird er bezahlen, das schwöre ich. Ich werde mir diesen Herren ganz besonders gründlich anseh - au! Verdammt, passen Sie doch auf!« Lohmann zog mit einem Ruck seine Hand zurück und funkelte Angelika an, die zum dritten Mal vergeblich dazu angesetzt hatte, ihm einen Verband anzulegen. »Wissen Sie überhaupt, wie weh das tut?!«

Angelika seufzte, bückte sich nach dem Ende der Mullbinde, die sie fallengelassen hatte, und zog Lohmanns Hand unsanft wieder zu sich heran. »Ich glaube schon«, antwortete sie. »Außerdem ist die Hand nicht gebrochen. Nur gequetscht. Aber wenn es Sie beruhigt: so etwas ist meistens schmerzhafter als ein glatter Bruch.«

»Was Sie nicht sagen!« maulte Lohmann. Er biß die Zähne zusammen, während Angelika erneut versuchte, seine Hand zu bandagieren, hielt aber jetzt wenigstens still; obwohl sie alles andere als sanft mit ihm umsprang. »Wissen Sie überhaupt, was Sie da tun?« fragte er mißtrauisch.

»Ich bin ausgebildete Krankenschwester«, antwortete Angelika. »Und jetzt halten Sie endlich still. Es sei denn, Sie legen Wert darauf, daß ich von vorne anfange. Wenn so ein Verband nicht richtig sitzt, richtet er mehr Schaden als Nutzen an.«

»Krankenschwester?« vergewisserte sich Lohmann. »Wirklich?«

»Es ist schon ein paar Jahre her, aber ich habe das alles mal gelernt«, antwortete sie. »Ich dachte, Sie wissen alles über mich?« Sie hatte den Verband fertig angelegt, verknotete die Enden und versetzte Lohmanns Hand einen leichten Klaps, auf den dieser mit einem keuchenden Schmerzlaut reagierte. »So. Fertig. Sie werden sehen, in einer Woche spüren Sie nichts mehr.«

Lohmann gab sich alle Mühe, sie mit Blicken zu durchbohren, erntete aber nur ein schadenfrohes Grinsen von Angelika. Schließlich stand er auf und stürmte mit zornigen Schritten davon; vermutlich, um sich einen neuen Drink an der Bar zu holen. Seit sie das Flughafenrestaurant betreten hatten, hatte er drei doppelte Cognacs heruntergestürzt, als wäre es Mineralwasser. Warstein blickte ihm kopfschüttelnd nach. »Erstaunlich«, sagte er. »Ein Kerl wie ein Baum, und er stellt sich an, als hätte man ihn gepfählt.«

»Das sind meistens die Schlimmsten«, sagte Angelika. Sie lachte. »Von dieser Verwundung kann er ganz stolz noch seinen Enkeln erzählen.«

»Bestimmt«, sagte Warstein. »Und ich gehe jede Wette ein, dann sind es vier riesenhafte Schläger, gegen die er sich heroisch zur Wehr gesetzt hat, bis ihn ein fünfter hinterrücks niedergeschlagen hat.« Er schüttelte den Kopf. »Wie bist du nur an diesen schrägen Vogel gekommen?«

»Gar nicht«, antwortete Angelika. »Er hat mich angesprochen. Irgendwie hat er mitbekommen, daß ich Frank gesucht habe, und natürlich hat er eine große Geschichte gewittert. Ich kann es mir nicht leisten, wählerisch zu sein. Außerdem«, fügte sie nach einem kurzen, nachdenklichen Schweigen hinzu, »glaube ich nicht, daß er so schlimm ist, wie er tut. Ich glaube, er spielt nur den Trottel. Vielleicht ist das seine Masche.«

»Wenn, dann spielt er sie sehr überzeugend«, sagte Warstein. Er nippte an seinem Kaffee und verzog das Gesicht. Das Zeug hatte schon heiß nicht geschmeckt, und jetzt war er halb kalt. Er fragte sich, warum es anscheinend auf keinem Flughafen der Welt einen guten Kaffee zu trinken gab.

Vielleicht lag es auch mehr an ihm als an dem Getränk. Es war jetzt fast Mittag, und er hätte mittlerweile seine rechte Hand für ein Glas Bier gegeben.

»Das war also der berühmte Dr. Franke«, sagte Angelika plötzlich. Warstein schwieg. Er hatte die ganze Zeit darauf gewartet, daß sie davon anfing, aber nun wußte er nicht, was er sagen sollte.

»Ich muß gestehen, ich bin überrascht. Ich habe eine Menge über ihn gehört, aber so habe ich ihn mir doch nicht vorgestellt.«

»Ich auch nicht«, sagte Warstein. Angelika sah ihn erstaunt an, und Warstein gewann noch einmal ein paar Sekunden, indem er wieder von seinem kalten Kaffee trank. Aber er wußte auch, daß er nicht ewig ausweichen konnte.

»Dieser bühnenreife Auftritt paßt überhaupt nicht zu ihm«, fuhr er fort. Er stellte die Tasse zurück und schob sie mit leicht angeekeltem Gesichtsausdruck ein Stück von sich fort. »Das ist nicht seine Art. Franke hat überhaupt keine Skrupel, jemanden fertigzumachen. Ich glaube, er hätte nicht einmal Hemmungen, jemanden umzubringen, wenn es sein müßte. Aber nicht so. Er hat andere Methoden, jemanden kaltzustellen. Unauffälliger, aber genauso wirksam.«

»Vielleicht nicht so schnell.«

Warstein sah hoch und blickte in Lohmanns Gesicht. Der Journalist war zurückgekommen, ohne daß er es gemerkt hatte, und zu Warsteins Überraschung hielt er in seiner unbandagierten Hand kein Cognacglas, sondern ein Blatt Papier. Vermutlich die Rechnung.

»Ihr beiden verstoßt schon wieder gegen die Spielregeln«, sagte er vorwurfsvoll. »Ich dachte, wir hätten uns geeinigt, nicht über unser gemeinsames Projekt zu reden, solange ich nicht dabei bin.«

Warstein konnte sich nicht erinnern, daß einer von ihnen etwas dementsprechendes geäußert hätte. Aber er verspürte wenig Lust, darüber mit Lohmann zu streiten.

»Können wir aufbrechen?« fragte er.

»Klar.« Lohmann verstaute die Quittung in seiner Jeansjacke und schulterte seine Fototasche. Er machte keine Anstalten, nach dem Koffer zu greifen, der neben dem Tisch auf dem Boden stand. Angelika auch nicht. Und Warstein schon gar nicht.

»He!« protestierte Lohmann. »Was ist mit dem Koffer?«

»Was soll damit sein?« fragte Warstein. »Gehört Ihnen, oder?«

»Meine Hand ist verletzt«, sagte Lohmann. »Sie tut höllisch weh.«

»Das tut mir ausgesprochen leid«, behauptete Warstein mit dem unverschämtesten Grinsen, das er überhaupt zustandebrachte. »Aber Sie haben ja noch eine. Und ich halte Ihnen die Türen auf.«

Lohmanns Blicke wurden noch feindseliger, als sie es bisher schon gewesen waren. Aber er sagte nichts, sondern raffte nur zornig seinen Koffer an sich und stürmte vor ihnen aus dem Restaurant.

Das Wetter hatte sich noch verschlechtert, seit sie gelandet waren. Der Nebel war fort, aber dafür hatte es in Strömen zu regnen begonnen. Die Straße glich einem knöcheltiefen Fluß, und der Himmel sah aus wie eine schmutzige Bleiplatte, die so niedrig hing, daß man meinte, sie mit den ausgestreckten Armen berühren zu können.

Sie verließen das Flughafengebäude, blieben aber unter dem Vordach stehen, und Lohmann machte eine entsprechende Geste, zur Seite zu treten und zu warten. »Ich hole den Wagen«, sagte er. »Er steht auf dem Parkplatz da drüben. Es reicht, wenn einer von uns naß wird. Ihr könnt ja inzwischen auf mein Gepäck achten - falls das nicht zuviel verlangt ist, heißt das.«

Er ließ die Fototasche von der Schulter gleiten, stellte sie neben seinen Koffer und rannte im Laufschritt und gebückt los. Der Regen war so dicht, daß er seine Gestalt zu verschlucken schien, noch ehe er die Straße halb überquert hatte. »Hoffentlich holt er sich eine Lungenentzündung«, murmelte Warstein.

Diesmal lachte Angelika nicht, sondern sah ihn nur sehr nachdenklich an. »Warum bist du so feindselig ihm gegenüber?« fragte sie.

»Bin ich nicht«, sagte Warstein, obwohl die Behauptung selbst in seinen eigenen Ohren reichlich albern klang. »Ich bin feindselig allen Journalisten gegenüber. Sie haben mir den Rest gegeben damals, weißt du?«

»Haben sie das?« fragte Angelika.

»So, wie ich es sage.«

»Ich kann dich verstehen, aber trotzdem - so, wie ich die Sache sehe, hast du dir selbst den Rest gegeben.«

Warstein schluckte seinen Ärger herunter. Statt sie anzufahren, wonach ihm zumute war, drehte er sich mit einem Ruck herum und starrte in den Regen hinaus. Das Schlimme war, dachte er, daß sie wahrscheinlich recht hatte. Er hatte sich in etwas hineingesteigert damals, von dem er heute vielleicht wußte, daß er im Recht gewesen war. Damals hatte er das nicht wissen können. Hätte er damals auch nur eine Sekunde ruhig nachgedacht, statt blindlings gegen Windmühlenflügel anzurennen, wäre sicher vieles anders gekommen. Er hätte nichts erreicht, aber vielleicht weitaus weniger Schaden angerichtet. Er hätte sich weniger Schaden zugefügt.

»Wir brauchen ihn«, fuhr Angelika nach einer Weile fort. »Wenigstens, bis wir in Ascona sind. Ich glaube nicht, daß Franke sich darauf verläßt, daß du seinen Gerichtsentscheid liest und sofort wieder nach Hause fährst. Er wird versuchen, uns aufzuhalten.«

»Viel Spaß«, sagte Warstein ärgerlich. »Wir sind hier in der Schweiz, nicht in Rußland. Die Eidgenossen sind vielleicht ein bißchen seltsam, aber das hier ist trotz allem ein freies Land. Niemand kann uns daran hindern, hinzugehen, wohin wir wollen.«

»Er kann dich immerhin daran hindern, den Berg zu betreten.«

»Kann er nicht«, antwortete Warstein trotzig. Er hatte das Schreiben gelesen, das Franke ihm gegeben hatte, während Angelika sich um Lohmanns Hand kümmerte. Sehr aufmerksam. »Es ist mir verboten, das Betriebsgelände der Tunnelgesellschaft zu betreten«, sagte er betont. »Nicht den Berg. So weit reicht Frankes Allmacht nun doch nicht.«

»Ich glaube nicht, daß es ihn sonderlich interessiert, was er darf und was nicht.« Angelika zog eine Packung Zigaretten aus ihrer Handtasche und betätigte ihr Feuerzeug, aber der Wind war so stark, daß er die Flamme sofort wieder ausblies. Sie versuchte es sieben- oder achtmal, ehe sie verärgert aufgab und die Zigarette in den Regen hinauswarf. »Ich traue ihm durchaus zu, daß er versucht, uns irgendwie aufzuhalten.«

Das tat Warstein auch. Mehr noch - er war sogar sicher, daß Franke sich irgendeine heimtückische Überraschung für sie ausgedacht hatte. Er hatte keine Angst davor. Neben allem anderen gehörte auch das dazu: es wurde Zeit, daß er sich Franke stellte und die Sache ein für allemal klärte. Aber der Gedanke an Franke brachte ihn wieder zu einer Frage, die er im Grunde schon vor einer Stunde hatte stellen wollen. »Warum hast du sein Angebot abgelehnt?«

»Wessen Angebot?«

»Frankes«, antwortete Warstein geduldig. Angelika wußte genau, wovon er sprach. »Er hat dir angeboten, dir bei der Suche nach deinem Mann zu helfen.«

»Die Frage meinst du doch nicht ernst, oder?«

»Doch.« Er hob die Hand, als sie protestieren wollte. »Ich an deiner Stelle hätte angenommen. Selbst wenn er die Wahrheit sagt und nicht weiß, wo dein Mann ist - er hat sehr viel mehr Möglichkeiten, ihn zu finden, als Lohmann oder gar ich. Und du hast schließlich keinen Streit mit ihm.«

Angelika sagte eine ganze Weile gar nichts, aber in ihrem Gesicht arbeitete es. Schließlich kramte sie eine neue Zigarette aus ihrer Handtasche, und diesmal kämpfte sie so lange mit dem Feuerzeug, bis es ihr gelungen war, sie in Brand zu setzen.

»Wer sagt dir, daß ich keinen Streit mit ihm habe?« Sie blies eine Rauchwolke in den Regen hinaus, die der Wind sofort ergriff und auseinanderriß.

»Bis vor einer Stunde kanntest du ihn ja nicht einmal.«

»Man kann auch Streit mit jemandem haben, den man nicht kennt«, sagte sie heftig. »Der Kerl lügt.«

»Ich weiß. Aber woher weißt du das?«

»Er hat behauptet, er wüßte nicht, wo Frank und die anderen sind. Aber das stimmt nicht. Er weiß es ganz genau.«

»Wie kommst du darauf?« Warstein wurde hellhörig.

»Weil ich es auch weiß«, sagte Angelika. Sie wich seinem Blick aus und sog nervös an ihrer Zigarette.

»Wie?« machte Warstein.

»Ich weiß nicht, wo Frank ist«, antwortete Angelika, noch immer, ohne ihn direkt anzusehen. »Aber ich weiß, wo mindestens drei der anderen sind. Und die Vermutung, daß die anderen in ihrer Nähe sind, liegt auf der Hand, oder?«

»Wo?« fragte Warstein scharf. Er war nicht einmal sehr überrascht, aber enttäuscht und verärgert. Er hatte ihr im Flugzeug stillschweigend Ehrlichkeit geschworen, und er hatte ganz selbstverständlich angenommen, daß dieses Versprechen auf Gegenseitigkeit beruhte. Vielleicht war das eine etwas naive Annahme gewesen.

»In Ascona«, antwortete Angelika. »Nicht direkt in Ascona, sondern in einem kleinen Ort in der Nähe. Sie wurden dort gesehen. Lohmann hat es herausgefunden. Und wenn er es weiß, weiß Franke es garantiert auch.«

»Warum hast du mir nichts davon gesagt?«

»Warum! Warum!« Sie sog erneut an ihrer Zigarette, schleuderte sie plötzlich zu Boden und trat wütend mit dem Absatz darauf. »Falls du es vergessen hast: du hast mich gestern praktisch aus deiner Wohnung geworfen. Ich hatte wenig Gelegenheit, dir irgend etwas zu sagen!«

»Du hattest immerhin Gelegenheit, mir zu sagen, daß dein Mann verschwunden ist«, antwortete er. Er hatte Mühe, sich noch zu beherrschen und sie nicht anzuschreien. »Und mich zu bitten, dir bei der Suche nach ihm zu helfen. Allmählich frage ich mich, warum ich überhaupt hier bin.«

Er las die Antwort auf seine Frage in ihren Augen, und diese Erkenntnis machte ihn wirklich wütend.

»Lohmann.«

Sie sah weg.

»Er hat es verlangt, nicht?« Für eine Sekunde hatte er Lust, sie zu packen und gewaltsam herumzureißen, so daß sie ihn ansehen mußte. Aber sein Zorn verrauchte, noch bevor er die Hand heben konnte. »Das war die Bedingung, damit er dir hilft, stimmt's? Daß ich dabei bin. Er hofft auf eine kleine Sensation. Und sei es nur, daß ich einen Stein nehme und Franke endlich den Schädel einschlage!«

»Lohmann ist mir egal«, sagte Angelika. Sie drehte sich herum und sah ihn nun doch an, und obwohl Warstein sah, wie schwer es ihr fiel, waren ihr Blick und ihre Stimme sehr fest. »Es ist nicht damit getan, Frank und die anderen zu finden. Du hast recht. Dafür hätte er dich nicht gebraucht.«

»Wie reizend«, sagte Warstein. »Und wozu brauchst du mich? Um Franke abzulenken?«

»Du hast sie schon einmal zurückgeholt«, sagte Angelika. »Du hast es damals getan und ... vielleicht kannst du es wieder tun.«

»Das war etwas anderes«, sagte Warstein. »Verdammt, ich weiß ja nicht einmal, was ich getan habe - wenn ich etwas getan habe. Vielleicht war es reiner Zufall. Ich war einfach der erste, der bei ihnen war. Jeder hätte es sein können.«

»Es war aber nicht jeder«, antwortete Angelika stur. »Und Zufall? Ich beginne mich ernsthaft zu fragen, ob es so etwas wie Zufall überhaupt gibt.«

Nach seinem Zorn verrauchte nun auch seine Enttäuschung. Er war noch immer verletzt, und er würde wahrscheinlich lange brauchen, um es ganz zu überwinden, aber plötzlich konnte er sie verstehen. Sie hatte nichts von dem, was ihn gerade noch so zornig gemacht hatte, aus Berechnung getan, sondern einfach, weil sie verzweifelt gewesen war. Sie war eine Ertrinkende, die natürlich nach jedem Strohhalm griff, der sich ihr bot. Er an ihrer Stelle hätte vermutlich nicht anders gehandelt.

»Du mußt deinen Mann wirklich sehr lieben«, sagte er.

»Da kommt Lohmann«, sagte Angelika. In überraschtem Ton fügte sie hinzu. »Zu Fuß!«

Warstein fuhr erstaunt herum. Lohmann kam tatsächlich aus der gleichen Richtung zurück, in die er verschwunden war, im Laufschritt, triefnaß und mit einem Gesichtsausdruck, gegen den der Himmel über der Stadt geradezu freundlich wirkte.

»Was ist los?« fragte Warstein. »Wo ist der Wagen?«

»Eine gute Frage«, sagte Lohmann. »Ich werde sie dieser dämlichen Tussi bei der Autovermietung stellen. Und gnade ihr Gott, wenn sie nicht die genialste Ausrede dieses Jahrhunderts parat hat.«

Er stürmte an Warstein und Angelika vorbei, ohne sein Gepäck auch nur eines Blickes zu würdigen, und wäre um ein Haar mit den Automatiktüren kollidiert, die nur halb so schnell auseinanderglitten, wie er hineinstürmte.

Warstein schnappte sich seinen Koffer und die Fototasche und folgte ihm. Obwohl Angelika und er kräftig ausschritten, hatte Lohmann den Schalter längst erreicht, als sie ihn einholten. Seine Stimme mußte im Umkreis von dreißig Metern zu hören sein.

»Nicht besonders witzig, das können Sie mir glauben! Auf diesem Anhänger steht Parkplatz 2133, und ich war bei Parkplatz 2133. Aber dort steht kein Wagen.« Er schwenkte zornig einen Autoschlüssel mit einem auffälligen Kunststoffanhänger vor dem Gesicht einer jungen Frau, die die grüne Uniform der Leihwagenfirma trug und ihm aufmerksam zuhörte. Allerdings zeigte sie sich von seinem Wutausbruch nicht sonderlich beeindruckt. Vermutlich war sie solche Auftritte gewohnt. Sie tat Lohmann nicht den Gefallen, nach dem Autoschlüssel zu greifen, den er noch immer vor ihrem Gesicht herumschwenkte wie ein Hypnotiseur das Pendel vor dem seines Opfers, sondern wartete gelassen ab.

»Ich bin sicher, es handelt sich nur um ein Mißverständnis, das wir rasch aufklären können«, sagte sie. »Wenn ich vielleicht den Schlüssel...?«

Lohmann knallte den Schlüssel vor ihr auf die Theke. Die junge Frau nahm ihn mit unbewegtem Gesicht entgegen, warf einen flüchtigen Blick auf den Anhänger und tippte etwas in die Tastatur ihres Computers.

»Da haben wir es ja schon«, sagte sie, während sie konzentriert auf ihren Monitor blickte.

»Ein bedauerliches Mißverständnis, nehme ich an?« sagte Lohmann höhnisch.

»Ich fürchte, nein. Der Wagen wurde beschädigt.«

»Wie bitte?« machte Lohmann.

»Sie wollten den weißen BMW, nicht wahr? Ich fürchte, der Wagen steht nicht mehr zur Verfügung. Es tut mir sehr leid, aber jemand ist vor einer halben Stunde beim Rangieren auf dem Parkplatz rückwärts hineingefahren. Der Wagen wurde in die Werkstatt geschleppt.«

»Das darf doch nicht wahr sein!« empörte sich Lohmann. »Ich habe gestern abend telefonisch von München aus -«

»Gestern abend war er ja auch noch in Ordnung«, unterbrach ihn die junge Frau. »Vor einer Stunde, als Sie die Papiere abgeholt haben, übrigens auch noch.« Sie wirkte noch immer kein bißchen nervös, obwohl Lohmann sichtlich kurz davor stand, zu explodieren.

»Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?« keuchte Lohmann.

»Keineswegs. Ich bedaure es außerordentlich. Wir versuchen unsere Kunden nach Möglichkeit zufriedenzustellen, aber so etwas nennt man höhere Gewalt, und dagegen sind leider auch wir machtlos.« Sie nahm den Autoschlüssel und warf ihn achtlos in eine Schublade. »Sollten Sie bereits eine Anzahlung geleistet haben, erstatten wir sie Ihnen selbstverständlich zurück.«

Lohmanns Gesicht hatte mittlerweile die Farbe einer überreifen Tomate angenommen, aber zu Warsteins Überraschung beherrschte er sich noch immer. »Also gut«, seufzte er. »Dann geben Sie mir einen anderen Wagen.«

»Ich bedaure, aber ich fürchte...«

»Es muß kein weißer BMW sein«, unterbrach sie Lohmann. Seine Stimme klang jetzt bereits gefährlich leise. »Von mir aus geben Sie mir einen grünweiß karierten Lada. Aber tun Sie es schnell!«

»Ich fürchte, ich muß sie enttäuschen«, sagte die junge Frau. »Der BMW war unser letzter Wagen.«

»Wie bitte?« Lohmann japste nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen.

»Sie hatten Glück, ihn überhaupt zu bekommen. Wir sind seit einer Woche vollkommen ausgebucht. Es tut mir wirklich außerordentlich leid.«

»Jetzt reicht's!« sagte Lohmann drohend. »Sie wollen mir erzählen, daß Sie keinen Wagen für mich haben? Obwohl ich telefonisch gebucht und eine Zusage erhalten habe?«

»Hören Sie«, mischte sich Angelika ein - wahrscheinlich nur, um die Situation zu entspannen, bevor Lohmann endgültig explodierte. Sie erregten schon jetzt genug Aufsehen. »Wir sind nicht anspruchsvoll. Irgendein Wagen genügt - schlimmstenfalls auch einer mit einer kleine Beule oder einem Kratzer.«

»Ich bedaure«, sagte die Frau in der grünen Uniform stur - wenn auch in hörbar freundlicherem Ton als dem, den sie Lohmann gegenüber angeschlagen hatte. »Aber wir sind wirklich vollkommen ausgebucht.«

»Damit kommen Sie nicht durch!« empörte sich Lohmann. »Ich will Ihren Geschäftsleiter sprechen, auf der Stelle!«

»Lassen Sie es sein. Lohmann«, sagte Warstein ruhig.

Lohmann schenkte ihm einen giftigen Blick und wandte sich erneut zu der Frau hinter der Theke. »Habe ich mich deutlich ausgedrückt?«

»Unser Geschäftsführer wird Ihnen nichts anderes sagen - aber ganz wie Sie wünschen.« Sie hob einen Telefonhörer ab und begann leise hineinzusprechen, ohne eine Nummer gewählt zu haben.

»Das werden wir sehen!« sagte Lohmann kampflustig. »Ich bin von der Presse. Ihr Chef dürfte nicht sehr glücklich sein, wenn ich über meine Erfahrungen mit Ihrer Firma berichte.«

»Hören Sie doch auf, Lohmann«, sagte Warstein müde. »Haben Sie es immer noch nicht begriffen?«

»Was?«

»Wir werden keinen Wagen bekommen«, antwortete Warstein. »Weder hier noch bei einem anderen Autoverleih in der Stadt.« Er sprach absichtlich ein wenig lauter, als notwendig gewesen wäre, und hielt die junge Frau auf der anderen Seite der Theke dabei scharf im Auge. Sie hatte sich ausgezeichnet in der Gewalt, aber trotzdem nicht gut genug, um ein leichtes Zusammenzucken zu unterdrücken. Er hatte ins Schwarze getroffen.

»Ach, und wieso nicht?« wollte Lohmann wissen.

»Franke«, antwortete Warstein. »Das ist seine Handschrift.«

»Machen Sie sich nicht lächerlich!« sagte Lohmann. »Er hat vielleicht genug Einfluß und Geld, um sich ein paar Schläger zu mieten, aber das kann er nun doch nicht.«

»Wetten wir?« fragte Warstein. »Mein nächstes Monatseinkommen gegen Ihres?«

Bevor Lohmann antworten konnte, erschien ein Mann in einem dunklen Anzug auf der anderen Seite des Schalters. Lohmann zückte kampflustig seinen Presseausweis. »Sie leiten diesen Saftladen hier?« begann er. »Also, dann hören Sie mir mal genau zu...«

Warstein für seinen Teil tat das nicht. Er wußte, wie das Gespräch enden würde. Was Lohmann tat, war reine Zeitverschwendung.

Er sollte recht behalten - mit allem. Der Geschäftsführer der Autovermietung zeigte sich weder von Lohmanns wüsten Tiraden noch von Angelikas vergeblichen Versuchen, die Wogen zu glätten, auch nur im mindesten beeindruckt. Er blieb die ganze Zeit höflich, aber das änderte nichts daran, daß sie keinen Wagen bekamen. Und obwohl Lohmann am Schluß so grob wurde, daß Warstein, wäre er an der Stelle des anderen gewesen, ihn einfach hinausgeworfen hätte, rief er sogar sämtliche anderen Autovermietungen in der Stadt an - mit ganz genau dem Ergebnis, das Warstein vorausgesagt hatte. »Es tut mir wirklich leid«, schloß er. »Aber seit die Eisenbahnverbindung ausgefallen ist, herrscht bei uns Hochbetrieb. Dazu kommt das verrückte Wetter...« Er seufzte. »Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht helfen.«

»Und ich gehe jede Wette ein, wir bekommen ein Dutzend Wagen, wenn ich unter einem falschen Namen irgendeine Autovermietung in der Stadt anrufe«, murmelte Angelika. Der Geschäftsführer mußte die Worte gehört haben, denn er sah sie für einen Moment irritiert an, und auch ein bißchen erschrocken, wie Warstein fand.

Aber schließlich zog er es doch vor, so zu tun, als hätte er nichts gehört.

Zornig und frustriert verließen sie den Schalter und entfernten sich ein paar Meter. »Das darf doch alles nicht wahr sein!« ereiferte sich Lohmann. »So allmählich beginnt sich dieser Dr. Franke wirklich meinen Unmut zuzuziehen.«

»Mir beginnt er langsam unheimlich zu werden«, sagte Angelika. »Wer um alles in der Welt ist dieser Mann?«

Sie sah Warstein an, aber er konnte nur hilflos mit den Schultern zucken. Er hatte gewußt, daß Franke über weitreichende Verbindungen verfügte. Aber das...

»Also, was tun wir?« fragte Angelika.

»Was sollen wir schon tun?« knurrte Lohmann. »Wir nehmen ein Taxi.«

»Nach Ascona?«

»Quatsch«, antwortete Lohmann unfreundlich. »Der Mann, den ich suche, wohnt hier in Genf. Ein paar Kilometer außerhalb, um genau zu sein. Danach sehen wir weiter - falls dieser Franke nicht auch sämtliche Taxifahrer der Stadt bestochen hat, heißt das.«

Nach allem, was bisher geschehen war, hätte Warstein sich wahrscheinlich nicht einmal mehr darüber gewundert - aber es war natürlich nicht der Fall. Das schlechte Wetter brachte es mit sich, daß sie noch einmal gute zehn Minuten warten mußten, ehe sie einen Wagen bekamen, aber das war auch alles. Warstein atmete erleichtert auf, als sie endlich im Wagen saßen und losfuhren. Kaum eine Sekunde später wurde er so unsanft nach vorne geworfen, daß er gegen den Beifahrersitz prallte und fast von der Bank gefallen wäre. Das Taxi kam mit quietschenden Reifen zum Stillstand, und als Warstein sich wieder aufrichtete, sah er auch den Grund für die plötzliche Notbremsung: Es war eine Gestalt in einem schwarzen Kaftan, die einen Turban auf dem Kopf und einen ebenfalls schwarzen, durchsichtigen Schleier vor dem Gesicht trug. Der Mann war auf die Straße hinausgetreten, ohne auf den Verkehr zu achten. Jetzt blieb er stehen und sah das Taxi eher irritiert als erschrocken an. Warstein war ziemlich sicher, daß er nicht einmal begriff, in welcher Gefahr er geschwebt hatte. Vielleicht tat er es doch, denn der Taxifahrer kurbelte wütend das Fenster herunter und begann ein erstaunliches Repertoire an Flüchen und Verwünschungen zum besten zu geben, und das gleich in mehreren Sprachen. Warstein hörte eine gute Minute amüsiert zu, dann sagte er: »Ich glaube nicht, daß der Mann Sie versteht. Warum fahren Sie nicht einfach weiter? Wir möchten heute noch ankommen, wissen Sie?«

Der Chauffeur schenkte ihm durch den Innenspiegel einen ärgerlichen Blick, aber nach einer weiteren Sekunde drehte er die Scheibe wieder hoch und fuhr weiter. Aber er beruhigte sich keineswegs.

»Verdammte Kameltreiber!« schimpfte er. »Warum bleiben sie nicht zu Hause in der Wüste, wenn sie nicht wissen, wie man sich im Straßenverkehr benimmt?« Er gab Gas und hätte um ein Haar einen anderen Wagen gerammt, als er sich rücksichtslos in den Verkehr einfädelte. Soviel zum Thema Straßenverkehr, dachte Warstein spöttisch.

Ganz automatisch drehte er sich im Sitz herum und sah zu dem Wagen zurück, den sie fast gerammt hätten. Es war ein blauer Fiat, ein sehr großes Modell, und der Fahrer mußte wohl einen gehörigen Schrecken bekommen haben, denn er ließ seinen Wagen jetzt weiter zurückfallen, als nötig gewesen wäre. Er fuhr trotz des schlechten Wetters ohne Licht. Vielleicht traf ihren Chauffeur nicht einmal die Schuld an dem Beinahe-Unfall.

»Seit ein paar Tagen scheint diese ganze Stadt durchzudrehen«, fuhr der Taxifahrer aufgebracht fort. »Erst dieses unmögliche Wetter, und dann noch diese Verrückten, die plötzlich überall herumlaufen...«

»Was für Verrückte?« fragte Lohmann.

»Diese Kameltreiber eben!« antwortete der Fahrer. »Sie haben es doch gerade selbst erlebt! Das fehlt mir noch, daß ich einen Unfall habe!«

»Sie meinen, dieser Araber war nicht der einzige?« hakte Warstein nach. Die Art des Taxifahrers gefiel ihm nicht, aber seine Worte hatten ihn hellhörig werden lassen.

»Bestimmt nicht!« antwortete der Fahrer aufgebracht. »Ich bin ja einiges gewohnt, wissen Sie, aber was seit ein paar Tagen hier los ist, schlägt dem Faß den Boden aus. Man könnte meinen, alle Verrückten der Welt hätten sich hier verabredet. Erst gestern ist ein ganzes Dutzend von diesen Hare-Krishna-Brüdern hier angekommen. Sie haben fast den ganzen Flughafen lahmgelegt, weil sie plötzlich auf die Idee gekommen sind zu meditieren, oder wie sie das nennen. Direkt vor dem Haupteingang. Standen einfach da und rührten sich nicht mehr. Keiner kam mehr rein und keiner mehr raus.«

»Und?« fragte Lohmann.

»Nichts, und«, antwortete der Fahrer. »Die Gendarmen sind gekommen und haben sie wegexpediert, wie es sich gehört. Aber es hat fast eine Stunde gedauert.« Er seufzte tief und schüttelte den Kopf. »Ich bin gespannt, was als nächstes passiert.«

Ja, dachte Warstein, ich auch. Aber er konnte nicht unbedingt sagen, daß ihn dieser Gedanke erfreute.

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