6

»Sie gehen mir auf die Nerven, Warstein«, sagte Franke, »wissen Sie das eigentlich?« Er lehnte sich in seinem Drehstuhl zurück und begann mit einem Bleistift zu spielen, den er eigens zu diesem Zweck aus seiner Federschale genommen hatte. »Meine Geduld hat bald ein Ende.«

Warstein sagte nichts. Er hatte vier- oder fünfmal dazu angesetzt, etwas zu sagen, seit er Frankes Büro betreten hatte, aber er war nie über die ersten drei Worte hinausgekommen. Franke hatte ihn nicht hierherzitiert, um sich mit ihm zu unterhalten, sondern um einen Monolog zu halten, das hatte er schon nach ein paar Minuten begriffen. Einen Monolog, bei dem er der Zuhörer war und die Klappe zu halten hatte.

»Ich mag Sie, Warstein«, fuhr Franke fort. »Ich mochte Sie schon immer, schon damals, als Sie meine Vorlesungen besucht haben. Ich erkenne Leute mit Talent, und ich habe schon damals gewußt, daß in Ihnen eine Menge Potential steckt. Das war auch der Grund, warum ich Sie zu diesem Projekt gerufen habe.« Das war glatt gelogen. Der einzige Mensch auf der Welt, den Franke mochte, war er selbst. Aber er hatte recht, wenn er sagte, daß er Leute mit Talent erkannte. Er war schon zu seiner Zeit als Dozent in Nürnberg gut darin gewesen, sich begabte junge Mitarbeiter zu suchen und die Lorbeeren ihrer Arbeit einzuheimsen, und das war der Grund, aus dem er Warstein hierhergeholt hatte. »Aber allmählich beginne ich mich zu fragen, ob es vielleicht nicht doch ein Fehler war, Warstein. Was ist eigentlich mit Ihnen los? Was Sie erlebt haben, war vielleicht schlimm, aber es ist fast vier Wochen her! Ich habe eine Menge Geduld mit Ihnen gehabt, aber irgendwann ist es genug. Sie sind hier angestellt, um sich um die Elektronik und die Vermessung zu kümmern, nicht um Gespenster zu jagen! Und so ganz nebenbei - Sie werden verdammt gut dafür bezahlt.«

»Es sind keine Gespenster«, antwortete Warstein.

»Ach? Und wie nennen Sie das hier?« Frankes linke Hand klatschte auf eine gelbe Mappe herunter, die auf seinem ansonsten vollkommen leeren Schreibtisch lag.

»Das sind Fakten«, antwortete Warstein. Offensichtlich hatte sich Franke entschlossen, ihn doch noch zu Wort kommen zu lassen. »Und außerdem sind es meine privaten Aufzeichnungen. Sie waren nicht für Sie bestimmt.«

Die Worte waren vielleicht nicht unbedingt klug gewählt. Frankes trotz allem bisher noch halbwegs moderate Laune verschlechterte sich schlagartig. »Für wen dann?« fragte er scharf.

»Für niemanden«, antwortete Warstein. Er mußte sich beherrschen, um seinen Ärger nicht zu deutlich werden zu lassen. Franke hatte nicht das geringste Recht, in seinen privaten Unterlagen herumzuschnüffeln - aber jetzt war nicht der Moment, das zu klären.

»Für niemanden«, wiederholte Franke. Er setzte sich gerade auf und begann in der Mappe zu blättern. »Können Sie sich vorstellen, was passiert, wenn das hier in die falschen Hände gerät? Zum Beispiel in die irgendeines Zeitungsschmierers?«

»Das ist völlig ausgeschlossen«, behauptete Warstein. »Es ist eine private Datei, die...«

»...Sie auf einem Fünf-Millionen-Computer angelegt haben, der hier steht, damit Sie Ihre Arbeit darauf erledigen, nicht, um Hirngespinsten nachzujagen«, unterbrach ihn Franke.

»Es sind keine Hirngespinste.« Warstein verfluchte sich zum ungefähr hundertsten Mal dafür, daß er die Datei nicht besser geschützt hatte. Aber er hatte Franke einfach unterschätzt - sowohl was seine Fähigkeiten als Hacker anging als auch seine Skrupellosigkeit. Die Partition war unübersehbar als privat gekennzeichnet gewesen.

»Wenn Sie alles gelesen haben, dann wissen Sie es auch. Mit diesem Berg stimmt etwas nicht!«

Franke seufzte. Er legte den Bleistift aus der Hand, faltete die Hände unter dem Kinn und sah ihn zwei, drei Sekunden lang beinahe traurig an. »Ich hätte es vorgezogen, nicht so deutlich werden zu müssen«, sagte er, »aber ich fürchte, der einzige, mit dem hier etwas nicht stimmt, sind Sie.«

»Aber sehen Sie es denn nicht?« fragte Warstein. Seine innere Stimme riet ihm, den Mund zu halten, aber er hörte nicht auf sie. Ob er Franke mochte oder nicht - der Mann war nicht dumm. Und man mußte schon blind sein, um die Bedeutung der Fakten, die er in den vergangenen Wochen zusammengetragen hatte, nicht zu erkennen. »Dieser Berg ist...«

»Verhext?« schlug Franke vor.

Warstein spürte ganz deutlich, in welche Richtung Franke ihn locken wollte, aber er war einfach nicht in der Lage, auf die immer lauter werdende Warnung zu hören, die sein Verstand ihm zuschrie. »Meinetwegen nennen Sie es so«, sagte er aufgebracht. »Selbst Sie müssen doch begreifen, daß hier irgend etwas nicht mit rechten Dingen zugeht. Maschinen spielen verrückt, Uhren gehen rückwärts in diesem Berg, und Menschen verschwinden und tauchen nach zwei Tagen wieder auf. Und das ist längst nicht alles. Was war letzte Woche? Was war mit den drei Männern, die sich nicht erinnern können, was sie fünf Stunden lang getan haben?«

»Zumindest haben sie nicht gearbeitet«, sagte Franke gelassen. »Woher soll ich wissen, was sie sich dabei gedacht haben? Und was den Rest angeht - man kann die Dinge natürlich so sehen, aber von einem naturwissenschaftlich gebildeten Mann wie Ihnen hätte ich eigentlich etwas anderes erwartet.« Seine Stimme wurde schärfer. »Was soll dieser Unsinn? Daß Maschinen manchmal nicht tun, was man von ihnen erwartet, kommt von Zeit zu Zeit vor. Wenn ich die Fakten in Ihrem sogenannten Bericht richtig verstanden habe, scheint es sich überdies hauptsächlich um Ihre Meßeinheiten zu handeln, die nicht richtig funktionieren. Vielleicht liegt der Fehler ja da. Haben Sie diese Möglichkeit schon einmal in Betracht gezogen?«

»Der Laser arbeitet einwandfrei«, antwortete Warstein. »Was nicht stimmt, sind die Ergebnisse, die er liefert.«

»Ich weiß.« Franke lächelte, schlug den Hefter auf und blätterte einen Moment darin. »Was hat die letzte Messung ergeben? Einskommadrei Millionen Kilometer? Also, ich sehe da nur zwei Möglichkeiten: entweder unsere Maschinen sind sehr viel besser, als wir dachten, und wir haben den absoluten Weltrekord im Tunnelgraben aufgestellt, oder Ihr famoses Lasermeßgerät funktioniert nicht richtig.«

»Es arbeitet tadellos, und das wissen Sie so gut wie ich«, antwortete Warstein ärgerlich. »Ein solches Ergebnis ist einfach unmöglich.«

»Sie sagen es. Sie sind doch Wissenschaftler, oder? Jedenfalls habe ich das bis vor kurzem noch geglaubt. Was tut ein Wissenschaftler, wenn er bei einem Experiment zu einem Ergebnis gelangt, das einfach nicht möglich ist? Er sucht den Fehler in seinem Experiment. Jedenfalls habe ich das so gelernt, und ich habe versucht, es Ihnen auch so beizubringen. Und was tun Sie?« Er klappte die Mappe mit einer zornigen Bewegung zu. »Sie versuchen die Wirklichkeit zu verbiegen, damit sie zu den Ergebnissen Ihres Experimentes paßt, nicht mehr umgekehrt. Das ist keine sehr wissenschaftliche Einstellung.«

»Das, was hier passiert, hat auch nichts mit Wissenschaft zu tun«, antwortete Warstein. »Jedenfalls nicht mit unserer Art von Wissen.«

Diese Worte waren der schwerste Fehler, den er begangen hatte, das wurde ihm erst später wirklich klar, aber im Ansatz begriff er es schon, als er die Reaktion auf Frankes Gesicht sah.

»Hoppla«, sagte Franke. »Damit wären wir ja beim Kern der Sache, nicht?«

»Ich weiß, es hört sich verrückt an...«

»Das tut es«, sagte Franke.

»Aber Sie müssen es doch selbst spüren. In diesem Berg ist irgend etwas. Ich weiß nicht was. Ich habe nicht einmal eine Ahnung, was es sein könnte, aber irgend etwas ist da. Gehen Sie hinein. Gehen Sie in den Tunnel, und sehen Sie sich um. Es ist so deutlich, daß man es fast anfassen kann. Reden Sie mit den Leuten! Fragen Sie die Arbeiter, jeden einzelnen! Sie spüren es auch. Die Männer haben Angst, den Berg zu betreten. Dort drinnen ist irgend etwas, und wir haben es geweckt!«

Er konnte beinahe hören, wie die Falle zuschnappte, noch bevor Franke sich vorbeugte und sagte: »Also lassen Sie die Katze endlich aus dem Sack. Sie sind also der Meinung, wir hätten irgendeinen Geist oder so etwas geweckt? Schlagen Sie vielleicht vor, daß wir die Arbeit einstellen und den Stollen wieder zuschütten?«

»Das habe ich nicht gesagt!« verteidigte sich Warstein. »Aber hier geht irgend etwas vor! Wenn Sie mir schon nicht glauben wollen, dann sehen Sie die Sache von Ihrem verdammten wissenschaftlichen Standpunkt und geben Sie zu, daß hier Dinge geschehen, die wir nicht erklären können, und fragen Sie sich, warum das so ist.« Er hatte sich in Rage geredet, und Frankes Reaktion verriet ihm, daß das ganz genau das war, was Franke hatte erreichen wollen.

»Warstein, hier geschieht überhaupt nichts Geheimnisvolles oder Unerklärliches«, sagte er ruhig. »Ich gebe zu, daß ich auch keine Erklärung für die Geschichte mit Trupp neunzehn und Ihnen habe - aber das bedeutet doch nicht, daß ich plötzlich anfange, an Gespenster zu glauben. Muß ich Ihnen wirklich erklären, daß die Wissenschaft zu allen Zeiten hundertmal mehr ungelöste Fragen als Antworten kannte? Gut, einige der Leute hier haben Angst. Hysterie, mehr nicht. Vorfälle wie die vor vier Wochen ziehen so etwas fast zwangsläufig nach sich, das wissen Sie verdammt genau. Was soll ich Ihrer Meinung nach tun? Einen Wünschelrutengänger kommen lassen?«

»Jetzt werden Sie unsachlich.«

»Unsachlich«, antwortete Franke scharf und schlug erneut mit der flachen Hand auf den Hefter, »ist das hier. Sie behaupten, es wären Fakten. Es sind keine. Es ist ein Science-fiction-Roman und noch dazu ein schlechter. Dafür werden Sie nicht bezahlt, Warstein.«

»Dann werfen Sie mich doch raus!« sagte Warstein zornig.

»Das werde ich nicht tun«, erwiderte Franke. »Jedenfalls noch nicht. Sie sind zu gut, als daß ich so einfach auf sie verzichten würde. Verdammt, Junge, ich will Ihnen helfen, begreifen Sie das endlich.«

»Dann hören Sie mir zu«, verlangte Warstein. »Nur ein paar Minuten!«

»Nein«, sagte Franke. »Das werde ich nicht. Sie werden mir zuhören.«

»Aber ich -«

»Bis zu diesem Moment«, unterbrach ihn Franke mit leicht erhobener Stimme, »haben wir uns sozusagen privat unterhalten. Was jetzt folgt, ist der offizielle Teil - und ich rate Ihnen, ihn ernst zu nehmen. Sie haben seit der Geschichte im Berg Ihre Arbeit vernachlässigt, um nicht zu sagen, gar nicht mehr getan. Statt dessen haben Sie wertvolle Arbeits- und noch teurere Computerzeit mit diesem Unsinn vertan. Das hört ab sofort auf. Ich verbiete Ihnen, weitere Forschungen in dieser Richtung zu betreiben, weder in Ihrer Arbeits- noch in Ihrer Freizeit.«

»Ich bin nicht Ihr Leibeigener«, antwortete Warstein trotzig.

»Aber mein Angestellter«, sagte Franke. »Und als solcher haben Sie zu tun, wofür Sie bezahlt werden, und sonst nichts. Und vor allem haben Sie alles zu unterlassen, was unsere Arbeit hier in irgendeiner Weise beeinträchtigen könnte.«

»Das habe ich nicht.«

Franke lachte auf. »So dumm können Sie doch gar nicht sein, Warstein«, sagte er. »Seit der Geschichte verbringe ich den größten Teil meiner Zeit damit, mir die Pressehyänen vom Hals zu halten, die eine Sensation wittern. Von all den anderen Verrückten ganz zu schweigen, die seit vier Wochen hierhergepilgert kommen. Ist Ihnen aufgefallen, daß wir die Sicherheitskräfte in den letzten vier Wochen verdreifacht haben? Und daß es trotz allem nicht reicht?«

Es war eine rein rhetorische Frage, auf die er gar keine Antwort erwartete. Hartmann hatte seine Truppe im Lauf der letzten Wochen nicht nur auf die dreifache Anzahl aufgestockt, er hatte das Gelände vor dem Tunnel in eine regelrechte Festung verwandelt, und der Ärger darüber war etwas, worin Warstein ausnahmsweise sogar mit Franke übereinstimmte. Der Zaun, der das Gelände umgab, war verstärkt und mit einer Anzahl elektronischer Sicherheitsvorkehrungen ausgestattet worden. Die ganze Nacht über brannten jetzt riesige Flutlichtscheinwerfer, in deren Licht Posten mit scharfen Hunden patrouillierten, und es gab praktisch keinen Quadratmeter mehr auf dem Gelände, der nicht videoüberwacht wurde. Jeder einfahrende LKW wurde untersucht, und obwohl Hartmanns Männer schon mehr als einen blinden Passagier unter der Ladung hervorgezogen hatten, gelang es immer wieder welchen, sich in das Lager hineinzuschmuggeln. Das alles machte ihre Arbeit nicht unbedingt einfacher.

Ja, was das anging, konnte er Frankes Zorn durchaus verstehen. Sie hatten versucht, den unerklärlichen Vorfall im Berg geheimzuhalten, aber natürlich war es ihnen nicht einmal für vierundzwanzig Stunden gelungen. Das Ergebnis hatte so ausgesehen, wie Warstein befürchtet hatte - nur ungefähr hundertmal schlimmer. Die Presse hatte sich wie ein Rudel Haifische auf die Männer und den Tunnel gestürzt, und das war nicht einmal das Schlimmste gewesen. Die Journalisten waren schließlich wieder gegangen, nachdem sie das »Wunder vom Gridone« hinlänglich ausgeschlachtet hatten, aber in ihrem Gefolge war eine wahre Invasion von Neugierigen, UFO-Gläubigen, Okkultisten, Wünschelrutengängern, religiösen Fanatikern, Spinnern, Hobbyarchäologen, Geistersehern und tausend anderen Verrückten über den Berg hereingebrochen - und die gaben so schnell nicht auf. Einige von ihnen entwickelten einen erstaunlichen Einfallsreichtum, den Warstein unter anderen Umständen wahrscheinlich bewundert hätte. Hartmanns Männer hatten gleich vier oder fünf Seilschaften vom Berg gepflückt, die versucht hatten, sich nachts an der Steilwand über dem Lager herunterzulassen, um in den Tunnel einzudringen, und die Polizei in Lugano hatte einen Verrückten gestellt, der im Begriff gewesen war, von einem gecharterten Flugzeug aus mit dem Fallschirm über dem Berg abzuspringen. Während der ersten Tage hatten sie sich noch darüber amüsiert, aber das Lachen war ihnen bald vergangen. Die Baustelle war nicht nur zu einer Festung geworden, sondern auch zu einem Gefängnis. Niemand, der es nicht unbedingt mußte, durfte das Gelände verlassen.

»Haben Sie eine ungefähre Vorstellung davon, was hier los wäre, wenn das da bekannt würde?« fragte Franke mit einer Kopfbewegung auf Warsteins Papiere.

»Ich hatte nicht vor, es irgend jemandem zu erzählen«, sagte Warstein. »Außer Ihnen vielleicht.«

»Das spielt überhaupt keine Rolle«, sagte Franke hart. »Dieser Unsinn hört auf. Betrachten Sie dieses Gespräch als offizielle Abmahnung. Und es wird keine zweite geben. Kümmern Sie sich um Ihre Arbeit, und wir bleiben weiter gute Freunde. Aber wenn Sie so weitermachen wie in den letzten vier Wochen, schmeiße ich Sie raus, schneller, als Sie Ihren Namen buchstabieren können. Haben wir uns verstanden?«

»Ich denke schon«, sagte Warstein. Er stand auf. »Kann ich jetzt gehen?« Franke nickte wortlos, und Warstein drehte sich halb um, blieb dann noch einmal stehen und warf einen fragenden Blick auf die Mappe vor Franke.

»Das behalte ich hier«, sagte Franke. »Ich hoffe, nur als Kuriosum, und nicht als Beweisstück in einer Verhandlung vor dem Arbeitsgericht. Die Datei in Ihrem Computer habe ich übrigens gelöscht.«

Das machte überhaupt nichts. Warstein besaß eine Kopie auf Diskette, aber natürlich hütete er sich, das zu sagen. Ohne ein weiteres Wort verließ er das Büro und ein paar Sekunden später die Baracke.

Es begann zu dämmern. Zu dieser Jahreszeit wurde es abends schon empfindlich kalt, so daß Warstein fröstelnd die Schultern zusammenzog, kaum daß er aus dem Gebäude heraus war. Trotzdem blieb er nach wenigen Schritten stehen und sah zum Berg hinauf. Er fühlte sich sonderbar. Er hatte gerade die erste Abmahnung seines Lebens erhalten, und Franke hatte unmißverständlich mit Kündigung und - zwar unausgesprochen, aber kaum weniger deutlich - mit Schlimmerem gedroht, und trotzdem war er weder erschrocken noch deprimiert. Vielmehr verspürte er eine tiefe Trauer, daß es ihm nicht gelungen war, Franke dazu zu bringen, ihm wenigstens zuzuhören; und ein vages Gefühl von Furcht. Eine Furcht, die nichts mit seinem eigenen Schicksal oder gar dem Gespräch gerade zu tun hatte. Sie galt dem Berg. Er starrte den gigantischen Schatten über sich an, und nie zuvor war er ihm so groß und auf eine brachiale Art gewalttätig erschienen wie in diesem Moment. Über dem Gridone lag ein Schatten, ein Schatten, der unsichtbar war, aber jeden Tag ein bißchen tiefer wurde. Der Schatten kommenden Unheils.

Auch seine Art, den Berg zu betrachten, hatte sich geändert. Früher war dieser Granitkoloß einfach nur ein Berg für ihn gewesen, ein schlafender Riese, der sich über ihre Versuche amüsierte, ihm Schaden zuzufügen; eine Herausforderung.

Jetzt war er ein Feind. Er schlief nicht mehr. Er war wach, belauerte sie und wartete auf den Moment, zuzuschlagen und sie zu vernichten. Von dem Berg ging etwas Drohendes aus, und er war nicht der einzige, der es spürte. Längst nicht. Sie hatten allein in den letzten beiden Wochen ein Dutzend Arbeiter entlassen müssen, die sich geweigert hatten, den Berg zu betreten, und fast ebensoviele hatten von sich aus gekündigt. Und die, die geblieben waren, wurden immer nervöser und reizbarer. Es gab oft Streit, und Hartmann und seine Männer hatten zweimal eingreifen müssen, um Schlägereien zu beenden. Franke glaubte wahrscheinlich wirklich, daß das alles nichts als Massenhysterie war, ausgelöst durch das Schicksal des Bautrupps und die plötzliche Gefängnissituation, in der sie sich de facto wiedergefunden hatten, aber das stimmte nicht. Es war der Berg. Etwas in ihm, das die Gedanken und Seelen der Männer vergiftete, auf eine schleichende, lautlose Art und unaufhaltsam.

Warstein hörte Schritte neben sich und erkannte Hartmann, der offensichtlich schon eine ganze Weile dagestanden und ihn beobachtet hatte.

»Hallo«, sagte er.

Hartmann antwortete mit einem flüchtigen Lächeln, dann deutete er auf die Tür hinter Warstein und fragte: »War es schlimm?«

»Nicht sehr«, antwortete Warstein. »Er hat mir erklärt, daß er mich feuert, wenn ich nicht tue, was er verlangt, aber mehr nicht. Ich glaube, das sagt er jeden Tag mindestens einmal zu irgend jemandem.«

»Öfter«, behauptete Hartmann. Er schüttelte sich übertrieben. »Seit ein paar Tagen ist der Alte wirklich auf dem Kriegspfad. Er war ja früher schon schlimm, aber seit einer Weile ist er wirklich unausstehlich.«

»So sind Chefs nun einmal«, sagte Warstein. »Ich glaube, sie müssen so sein. Das steht in ihrem Arbeitsvertrag.« Er wurde wieder ernst, sah zum Berg hinauf und fügte leiser hinzu: »Aber sind wir das nicht alle in letzter Zeit, auf die eine oder andere Weise?«

Hartmann verstand ganz offensichtlich nicht, was er meinte. Seit ihrem gemeinsamen Ausflug zu Saruter hinauf hatten sie sich öfter gesehen. Zu sagen, daß sie Freunde geworden wären, war sicherlich übertrieben, aber Warstein rechnete es Hartmann hoch an, daß er Franke gegenüber nichts von seinem Besuch bei dem Einsiedler erwähnt hatte - das wäre in der Tat Wasser auf seine Mühlen gewesen. Sie hatten sich ein paarmal getroffen und miteinander geredet, und auf eine gewisse Art mochte Warstein den älteren Mann. Seine Hoffnung, daß auch Hartmann etwas von jener tieferen Einsicht in die Natur der Dinge mit von ihrem Ausflug zurückgebracht hätte, hatte sich jedoch nicht erfüllt.

»Spüren Sie es auch?« fragte er.

Die Verwirrung in Hartmanns Blick wuchs noch, aber er tat Warstein den Gefallen, eine Weile in die gleiche Richtung zu blicken wie er. »Die Männer sind nervös«, sagte er. »Die Stimmung war noch nie so schlecht wie jetzt. Aber das ist auch kein Wunder. Man kommt sich vor wie in einem Gefängnis. Da muß man ja durchdrehen.«

Aus dem Munde eines Mannes, der quasi die Rolle des Gefängniswärters spielte, klangen diese Worte fast komisch, dachte Warstein. Aber er ersparte es sich, Hartmann zu erklären, daß er das mit seiner Frage nicht gemeint hatte. Wenn Hartmann wirklich nichts von der Schwärze fühlte, die der Gridone ausstrahlte, dann war das ein beruhigender Gedanke. Vielleicht war es eines Tages wichtig, einen ruhenden Pol in all diesem Chaos zu wissen, jemanden, der vielleicht sogar immun gegen das Gift des Berges war. Was immer geschehen mochte, dachte Warstein, Hartmann würde davon unbeeinflußt bleiben. Er sollte sich täuschen. Es dauerte noch ein gutes halbes Jahr, aber dann holte sich der Gridone Hartmann.

Als sie auf die stadtauswärts führende Autobahn einbogen, bekamen sie eine praktische Demonstration von dem, was der Taxifahrer gemeint hatte, als er sagte, das Wetter spiele verrückt. Der strömende Regen versiegte. Die Wolken rissen auf, und die Sonne schien so stark von einem plötzlich strahlend blauen Himmel, daß die nassen Straßen zu dampfen begannen. Alles innerhalb einer einzigen Sekunde.

»Unglaublich!« sagte Lohmann, der auf dem Beifahrersitz saß und sein möglichstes tat, um die Luft im Wagen mit Zigarettenqualm zu verpesten. »So etwas habe ich ja noch nie erlebt.«

Der Fahrer schaltete die Scheibenwischer aus und dann mit einer demonstrativen Bewegung die Lüftung ein. Ein eiskalter Luftstrom blies Lohmann ins Gesicht. Er blinzelte und sog heftiger an seiner Zigarette.

»So geht das schon seit einer Woche«, sagte er. »Vorgestern hat es gehagelt - aus buchstäblich heiterem Himmel.« Er schüttelte den Kopf und blickte demonstrativ auf das BITTE-NICHT-RAUCHEN-Schild direkt vor Lohmann. Der Journalist sah in die gleiche Richtung und grinste. Er wußte, daß der Fahrer nichts sagen würde. Er verdiente an dieser Tour wahrscheinlich mehr als sonst an einem ganzen Tag.

»Wann hat das angefangen?« fragte Warstein.

»Das Wetter?« Der Chauffeur überlegte einen Moment. »Vor ziemlich genau einer Woche, denke ich. Ja, vor einer Woche.«

»An dem Tag, an dem das Attentat auf den ICE verübt wurde.« Angelika sprach laut aus, was er dachte, und sah ihn fragend an. »Glaubst du, daß das etwas zu bedeuten hat?«

»Kaum«, antwortete Warstein, schnell und übertrieben laut und mit einem warnenden Blick in Richtung des Fahrers. Der Mann war wahrscheinlich alle möglichen Verrückten gewöhnt, die sich in seinem Wagen über Gott und die Welt und die Lösung aller Probleme des Universums unterhielten. Aber man konnte nicht vorsichtig genug sein.

Tatsache war, daß das genaue Gegenteil zutraf. Es war ganz bestimmt kein Zufall, daß all diese Phänomene ausgerechnet jetzt auftraten. Außerdem: er hatte so etwas schon einmal erlebt.

Für den Rest der Fahrt, die noch gute zwanzig Minuten dauerte, sprachen sie über irgendwelche Belanglosigkeiten. Das Wetter wechselte noch zweimal, und als sie schließlich vor einem kleinen Mietshaus in einem Vorort von Genf anhielten, regnete es wieder.

Lohmann bezahlte den Taxifahrer und trug ihm auf zu warten. Sie stiegen aus und liefen geduckt durch den Regen zum Haus. Es gab sechs Klingeln, von denen zwei identische Namensschilder aufwiesen. Lohmann drückte eine dieser beiden Klingeln und trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen, während sie darauf warteten, daß geöffnet wurde. Das Haus besaß kein Vordach oder einen Windfang, so daß der Regen ungehindert über sie herfallen konnte. Es war kein Platzregen mehr, wie vorhin am Flughafen, sondern nurmehr ein feines Nieseln, das aber dafür eiskalt war. Warstein sah sich schaudernd um, während sie darauf warteten, daß die Tür geöffnet wurde. Die Gegend war wie das Haus, vor dem sie standen: einfach, kleinbürgerlich und ein bißchen schäbig, ohne direkt heruntergekommen zu wirken.

Auf der anderen Straßenseite erhoben sich anderthalbgeschossige Reihenhäuser hinter quadratischen Vorgärten, die alle gleich aussahen. Warstein versuchte sich vorzustellen, wie es sein mußte, in einer Gegend wie dieser zu leben; ein schrecklicher Gedanke.

Irgend etwas am Anblick der Straße gegenüber störte ihn, aber bevor er erkennen konnte, was es war, ertönte ein leises Summen, und die Tür ging auf. Sie beeilten sich, aus dem Regen herauszukommen und traten in einen schmalen, muffig riechenden Hausflur, der in graues Zwielicht getaucht war. Lohmann suchte einige Sekunden vergeblich nach einem Lichtschalter, ehe er aufgab und die Treppe hinaufzusteigen begann. Die hölzernen Stufen knarrten unter ihrem Gewicht.

Die beiden Wohnungen mit den identischen Namensschildern lagen im oberen Stockwerk. Die Türen waren geschlossen, so daß Lohmann einen Moment ratlos dastand, ehe er achselzuckend auf die Tür zur Rechten zutrat und die Hand nach der Klingel ausstreckte.

Die Tür wurde geöffnet, eine halbe Sekunde, ehe Lohmann klingeln konnte, und ein blasses Frauengesicht unter einem strengen Haarknoten blickte zu ihnen heraus.

»Ja?«

»Guten Tag«, sagte Lohmann, lächelnd und in einem so freundlichen Ton, daß Warstein einen überraschten Blick mit Angelika tauschte. »Mein Name ist Lohmann. Ich hoffe, ich bin hier richtig. Wir waren mit Herrn Huerse verabredet.«

»Das ist mein Vater.« Die Frau deutete auf die Tür gegenüber. »Aber der empfängt keine Besuche. Sie müssen sich täuschen.« Ihr Blick glitt rasch und mißtrauisch über Warsteins und Angelikas Gesichter und heftete sich dann wieder auf Lohmann.

»Worum geht es?«

»Das würde ich gerne mit ihrem Herrn Vater selbst besprechen«, antwortete Lohmann. »Ich bin sicher, daß er uns empfängt. Ich habe gestern noch mit ihm telefoniert. Wie gesagt, er weiß, daß wir kommen.«

»Ich glaube trotzdem nicht, daß -«

Die Tür auf der anderen Seite des Korridors wurde geöffnet, und Warstein und die beiden anderen drehten sich gleichzeitig herum.

»Was ist denn, Isabell? Haben wir Besuch?«

»Herr Huerse?« Lohmann trat dem alten Mann mit ausgestreckter Hand entgegen und ergriff seine Rechte. »Mein Name ist Lohmann. Sie erinnern sich sicher - wir haben zweimal miteinander telefoniert.«

Huerse blinzelte. Seine Augen, die so kurzsichtig waren, daß er Mühe zu haben schien, sein Gegenüber überhaupt zu erkennen, taxierten Lohmann auf eine sonderbar hilflose, verwirrte Art.

»Lohmann? Oh, Sie ... Sie sind dieser Deutsche, nicht wahr?« Er trat einen halben Schritt zurück und forderte mit der linken Hand auf einzutreten. Seine Rechte hielt Lohmann noch immer umklammert. »Ja, jetzt erinnere ich mich. Waren wir verabredet? Für heute?«

»Wir sind ein bißchen zu spät«, sagte Lohmann in entschuldigendem Tonfall und ließ endlich Huerses Hand los. Dann deutete er auf Warstein und Angelika. »Das sind Dr. Warstein und Frau Berger, Kollegen von mir. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, daß ich sie mitgebracht habe.«

Hinter ihnen fiel eine Tür ins Schloß. Huerses Tochter kam mit energischen Schritten heran und stellte sich Lohmann in den Weg. »Ich glaube nicht, daß mein Vater jetzt mit Ihnen sprechen kann«, sagte sie. »Vielleicht erklären Sie mir, worum es geht.«

»Bitte, Isabell, es ist schon in Ordnung«, sagte ihr Vater. Seine Stimme klang so leise und kraftlos wie die seiner Tochter energisch. »Die Herrschaften sind von der Universität. Sie haben ein paar wichtige Fragen.«

»Von welcher Universität? Und was für Fragen?« wollte seine Tochter wissen. Als Warstein sie und den alten Mann nebeneinander sah, fiel es ihm schwer, wirklich zu glauben, daß er Vater und Tochter gegenüberstand. Die beiden wirkten beinahe gleichaltrig, waren aber ansonsten so verschieden, wie es nur ging. Während Huerse ein gebeugter, kraftloser alter Mann war, dessen Haltung und Gesicht verrieten, daß er schon lange vor dem Leben kapituliert hatte, wirkte seine Tochter überaus wach und mißtrauisch. Warstein wußte sofort, daß es ein Fehler war, sie zu belügen. Welche Geschichte Lohmann sich auch immer ausgedacht hatte, um sich bei Huerse Zutritt zu verschaffen - er würde damit bei ihr nicht durchkommen. Lohmann schien das ganz ähnlich zu sehen, denn er machte eine besänftigende Geste und versuchte, etwas von Huerses Worten zurückzunehmen. »Ich komme nicht direkt von einer Universität«, sagte er. »Ich arbeite für ein wissenschaftliches Magazin, und...«

»Sie sind Reporter?« Isabell machte Anstalten, die Tür zu schließen. »Wir wollen nichts mit Reportern zu tun haben.«

»Sie mißverstehen mich«, sagte Lohmann hastig. »Ich bin Wissenschaftsjournalist, verstehen Sie? Meine Kollegen und ich interessieren uns für das, was damals in Ascona geschehen ist, und...«

»Wir wollen nicht mehr darüber reden«, sagte Isabell scharf. »Ihre sogenannten Kollegen haben meinem Vater damals genug zugesetzt. Bitte gehen Sie.«

»Wir sind nicht hinter einer Sensation her«, versicherte ihr Lohmann hastig. »Uns interessieren allein die wissenschaftlichen Aspekte des Phänomens, das versichere ich Ihnen. Ich gebe Ihnen mein Wort, daß nicht einmal der Name Ihres Vaters in dem Artikel erscheinen wird, falls Sie es nicht wünschen...« Tatsächlich zögerte sie; vielleicht nur eine Sekunde, aber das reichte Lohmann, nachzuhaken - und einen halben Schritt in die Wohnung hineinzutreten, so daß sie die Tür gar nicht mehr schließen konnte. »Sie würden der Wissenschaft wirklich einen großen Dienst erweisen«, fuhr er fort, nun direkt an Huerse gewandt. »Wir halten Sie bestimmt nicht lange auf. Eine halbe Stunde, allerhöchstens.«

In Isabells Gesicht arbeitete es. Sie machte - sicher nicht durch Zufall - einen Schritt zur Seite, so daß sie den Blickkontakt zwischen Lohmann und ihrem Vater unterbrach, und überlegte. »Ich weiß nicht«, sagte sie unschlüssig. »Mein Vater ist krank. Er darf sich nicht anstrengen, und auf gar keinen Fall aufregen. Eine halbe Stunde?«

»Sicher nicht länger«, versprach Lohmann. »Sie können gerne dabei bleiben, wenn Sie es möchten.«

»Also gut«, sagte Isabell schließlich. »Aber versprechen Sie sich nicht zuviel davon.« Sie gab die Tür frei und machte eine entsprechende Geste. Hinter ihr und dem alten Mann betraten sie die Wohnung und folgten ihnen in ein kleines, altmodisch eingerichtetes Wohnzimmer. Schwere Samtvorhänge an den Fenstern sperrten selbst das trübe Licht des Regentages zum Großteil aus, so daß Warstein im ersten Moment nur Schatten und Umrisse sah. Die Luft roch trocken, nach alten Tapeten und Pfeifenrauch, und die Dielen knarrten unter ihren Schritten fast ebenso laut wie die ausgetretenen Stufen der Treppe draußen.

Isabell führte sie zu einem runden Tisch in der Nähe des Fensters und zog die Vorhänge auf, während sie sich setzten. Ihr Vater nahm Lohmann gegenüber Platz. Er wirkte verängstigt, aber zugleich auch ein bißchen aufgeregt.

»Wissenschaftsjournalist, wie?« fragte Warstein im Flüsterton. »Was soll der Unsinn?«

»Wieso Unsinn?« Lohmann grinste. »Ich habe einen Artikel fürs GEO-Magazin geschrieben.«

»Wurde er gedruckt?«

»Nein. Aber geschrieben habe ich ihn. Außerdem, was wollen Sie? Wir sind doch wirklich wegen der wissenschaftlichen Aspekte der Geschichte hier, oder?«

Da Warstein nicht einmal genau wußte, warum sie überhaupt hier waren, widersprach er nicht. Lohmann hatte ihnen bisher nur gesagt, daß sie mit jemandem reden wollten - mit wem und worüber, nicht.

»Also, stellen Sie Ihre Fragen.« Isabell kam zurück und setzte sich. Obwohl sie die Vorhänge aufgezogen hatte, war es nicht merklich heller im Raum geworden. Die Dunkelheit schien in den Möbeln und den Tapeten zu nisten wie ein schlechter Geruch.

Lohmann zog sein Diktiergerät aus der Tasche, legte eine neue Kassette ein und blickte fragend. »Darf ich?«

»Sicher. Obwohl ich immer noch nicht weiß, was Sie sich davon versprechen. Mein Vater war nicht einmal im Zug.«

»Aber Sie waren im Bahnhof, als er einlief?« Lohmann wandte sich an Huerse. »Sie haben alles beobachtet?«

Der alte Mann reagierte zwei geschlagene Sekunden lang gar nicht, aber dann nickte er so heftig, daß Warstein fast erschrak. »Es ist lange her«, sagte er. »Fast ein Jahr. Aber ich erinnere mich trotzdem noch, als wäre es gestern gewesen. Ich wollte zurückfahren. Meine Tochter hat mir die Reise geschenkt, müssen Sie wissen. Zu meinem siebzigsten Geburtstag. Ich hatte die Fahrkarte schon, und ich hatte noch ein bißchen Zeit, bis mein Zug kam, und da habe ich mich auf den Bahnsteig gesetzt und gewartet. Die Leute beobachtet. Man sieht viele interessante Leute auf einem Bahnsteig.«

»Das stimmt«, sagte Lohmann lächelnd, ehe er behutsam versuchte, das Gespräch wieder auf sein eigentliches Thema zurückzulenken. »Und dann kam dieser Zug, nicht wahr? Ein Schnellzug. Er war nicht angekündigt.«

Warstein behielt Huerses Tochter aufmerksam im Auge. Auf ihrem Gesicht war keinerlei Reaktion zu erkennen, aber er wünschte sich, Lohmann hätte seine Worte etwas behutsamer gewählt.

»Ich weiß nicht. Ich hatte nicht auf den Fahrplan gesehen. Die sind so kompliziert, daß ich sie sowieso nicht verstehe. Isabell hat mir alles genau aufgeschrieben. Aber ich bin erschrocken, als der Zug kam. Ich dachte, meine Uhr wäre stehengeblieben, weil ich doch noch eine halbe Stunde Zeit hatte.«

»Es war nicht Ihr Zug«, vermutete Lohmann.

»Nein. Er war ... komisch.«

»Komisch?« fragte Warstein.

»Er sah seltsam aus. Gar nicht wie ein richtiger Zug. Viel größer, und ... und gar nicht wie eine Eisenbahn eben.«

Es dauerte einen Moment, bis Warstein begriff, wovon Huerse sprach. Offenbar hatte er nie zuvor im Leben einen modernen Schnellzug gesehen, und einen ICE-Triebwagen wohl schon gar nicht. Warstein war noch nie im Bahnhof von Ascona gewesen, aber er hatte Bilder davon gesehen. Obwohl er nicht viel älter als zwei Jahre war, hatten sich die Architekten alle Mühe gegeben, ihn so aussehen zu lassen, als wäre er ebenso alt wie die Stadt, in die er hineingebaut worden war. In einer Umgebung wie dieser mußte ein solch hypermodernes Hochgeschwindigkeits-Ungeheuer doppelt bizarr wirken, und auf einen Mann wie Huerse wahrscheinlich sogar erschreckend.

»Und was geschah weiter?« fragte Lohmann.

»Plötzlich waren alle ganz aufgeregt«, berichtete Huerse. »Ich weiß nicht, warum. Aber mit einem Male waren überall Männer in Uniformen, und ... und alle liefen durcheinander. Es war laut, und dann ... dann haben sie den Bahnsteig geräumt. Alle mußten weggehen. Es sind Gendarmen gekommen.«

»Und Sie?« erkundigte sich Angelika.

»Mich haben sie übersehen.« Huerse lachte wie ein Kind, das von einem gelungenen Streich erzählt. »Ich hab ganz am Rand gesessen, wissen Sie, im Schatten, weil ich die Sonne nicht mehr so gut vertrage, und sie waren so aufgeregt, daß sie mich gar nicht bemerkt haben. Ich hatte im ersten Moment auch Angst. Der Zug sah so komisch aus, und alle waren so aufgeregt, aber dann habe ich doch hingeguckt.«

»Mit dem Zug stimmte etwas nicht«, vermutete Lohmann.

»Das können Sie laut sagen«, sagte Huerse. »Zuerst habe ich es gar nicht gemerkt, aber dann schon.«

»Und was?« fragte Warstein.

Huerse wandte sich umständlich wieder ihm zu, und auf der Stirn seiner Tochter erschien eine senkrechte Falte zum Zeichen ihrer Mißbilligung. Warstein rief sich in Gedanken zur Ordnung. Der alte Mann war offensichtlich kaum in der Lage, sich auf mehr als einen Gesprächspartner zugleich zu konzentrieren. Sie durften ihn nicht ins Kreuzverhör nehmen, wollten sie nicht Gefahr laufen, daß er den Faden verlor - oder seine Tochter die Geduld.

»Zuerst hab ich gedacht, er hätte gebrannt«, berichtete Huerse. »Seine Seite war ganz schwarz. Und ein Fenster war zerbrochen, daran erinnere ich mich. Aber auf so eine komische Weise. Das Glas war ganz trüb, so wie Milchglas, wissen Sie, aber mit tausend Sprüngen. Und er hat geknistert.«

»Geknistert?« Warstein sah aus den Augenwinkeln, daß Lohmann dazu ansetzte, ebenfalls eine Frage zu stellen, und gab ihm einen verstohlenen Wink. Lohmann verstand und hielt sich zurück.

»Wie ein Auto, das abgestellt wird«, bestätigte Huerse. »Aber nicht nur der Motor. Der ganze Zug hat ... geraschelt. Als ob er sich bewegt, verstehen Sie? Aber er hat sich nicht von der Stelle gerührt.«

Warstein wußte, was er meinte. Materialermüdung. Heißes Metall, das abkühlte und seine Temperatur der Umgebung anpaßte. Aber die ICE 2000 der Bundesbahn wurden nicht heiß, ganz gleich, wie schnell sie auch fuhren. Sie hatten nicht einmal einen Motor, der heiß werden konnte. Die Räder wurden durch ein hochkompliziertes System gegenläufiger Magnetfelder angetrieben, und die einzige Wärme, die dabei entstand, war die Reibungshitze der stählernen Räder auf den Schienen.

»Dann haben sie die Leute aus dem Zug geholt«, fuhr Huerse fort. »Und das war wirklich komisch.«

»Die Leute? Die Fahrgäste, meinen Sie?«

»Nur die vorne aus der Lok«, antwortete Huerse. »Ich glaube, es waren gar keine anderen drin. Ich habe jedenfalls keine gesehen, obwohl ich ganz nahe war. Ich habe mich noch gewundert, darum erinnere ich mich, daß ein so großer Zug völlig leer war. Aber die vier vorne aus der Lok, das war schon seltsam.«

»Wieso?« fragte Warstein.

Bevor Huerse antworten konnte, klingelte es an der Tür. Seine Tochter sah überrascht auf, während ihr Vater das Geräusch nicht einmal zur Kenntnis zu nehmen schien.

»Bitte entschuldigen Sie mich einen Moment«, sagte sie, während sie aufstand. »Ich bin sofort zurück.«

»Selbstverständlich.« Warstein wartete, bis sie das Zimmer verlassen und die Tür hinter sich zugezogen hatte. »Was war mit den Leuten aus dem Zug?«

»Ich weiß nicht genau«, antwortete Huerse. Auf seinem Gesicht lag jetzt ein angespannter Ausdruck. Offenbar bereitete es ihm große Mühe, sich zu erinnern - oder vielleicht auch Unbehagen. »Es ist lange her, wissen Sie, und ich war ja weit weg, ganz hinten am anderen Ende des Zuges. Aber was ich gesehen habe, war...« Er suchte nach Worten. »Irgendwie haben sie sich falsch bewegt. Wie in Zeitlupe.«

»Sie meinen, zu langsam?«

»Zu schnell«, antwortete Huerse. Er lachte. »Meine Tochter hat so einen modernen Filmprojektor, wissen Sie, und manchmal machen wir uns einen Spaß daraus, den Film schneller ablaufen zu lassen. Die Leute bewegen sich dann ganz schnell. Das ist lustig.«

»Und so haben sich die Männer aus dem Zug auch bewegt?« fragte Warstein.

»Zuerst ja. Später haben sie sie festgehalten, aber zuerst waren sie ... irgendwie zu schnell. Einer hat einen Gendarmen niedergeschlagen, aber ich glaube, das wollte er gar nicht. Er ist auf ihn zugegangen und hat nur den Arm gehoben, aber es ging so schnell, daß er ihn einfach niedergeschlagen hat. Und ihre Stimmen waren seltsam. Sie haben gezwitschert. Wie Vögel.«

Er kicherte. Die Vorstellung schien ihn überaus zu amüsieren. »Wie Vögel.«

Durch die geschlossene Tür hindurch konnten sie hören, wie Isabell die Wohnungstür öffnete und mit jemandem sprach. Warstein lauschte einen Moment und versuchte, die Worte zu verstehen, aber es gelang ihm nicht. »Nun?« sagte Lohmann. Das Wort galt Warstein, der den Blick wandte und ihn ansah. »Das paßt, nicht wahr? Der Zug ist seitdem verschwunden. Die Bundesbahn hat ihn aus dem Verkehr gezogen. Ein Fahrzeug im Wert von über hundert Millionen. Ich nehme an, daß sie gerade dabei sind, ihn Stück für Stück auseinanderzuschrauben.«

Die Finanzen der Bundesbahn interessierten Warstein nicht im geringsten - aber dafür um so mehr das, was Huerse über die Männer erzählt hatte, die aus dem Zug gekommen waren. »Ist Ihnen sonst noch etwas aufgefallen?« fragte er. »Etwas mit ihrem Aussehen? Ihrer Kleidung?«

Huerse schüttelte den Kopf. »Ihr Haar. Sie hatten weiße Haare. Alle vier. Einer hat geschrien. Und er ist ganz schnell hingefallen.« Er machte eine Geste mit der Hand, um die Bewegung zu verdeutlichen: ein schneller, harter Ruck nach unten. »Als hätte ihn jemand gestoßen. Aber hinter ihm war niemand.«

»Ganz schnell hingefallen?« Lohmann machte ein fragendes Gesicht. »Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz, wie Sie -«

»Das reicht!«

Isabells Stimme war so scharf, daß Warstein und die beiden anderen erschrocken zusammenfuhren und sich gleichzeitig zur Tür umwandten. Huerses Tochter stand wie ein leibhaftiger Racheengel vor ihnen, keine gestrenge Aufpasserin mehr, sondern eine Furie, deren Gesicht vor Zorn gerötet war. »Verschwinden Sie! Auf der Stelle!«

»Aber ... aber was ist denn los?« fragte Lohmann verdattert. »Wir wollten doch...«

»Sie sind ein Lügner!« fuhr ihm Isabell über den Mund. Sie schrie fast. »Ich habe Ihnen gleich nicht über den Weg getraut, und ich hatte recht! Sie schreiben nicht für ein wissenschaftliches Magazin, Herr Lohmann, oder wie immer Sie in Wahrheit heißen mögen! Sie sind auch nur einer von diesen sensationsgeilen Schmierern, die einen kranken alten Mann ausnutzen, um einen Artikel zu schreiben.«

»Bitte, Frau Huerse, lassen Sie es mich erklären«, begann Warstein, mit dem einzigen Erfolg, daß sich Isabells Zorn nun auf ihn konzentrierte.

»Und Sie sind kein Doktor, sondern auch nur ein Lügner! Gehen Sie! Alle drei! Bevor ich die Polizei rufe und Sie verhaften lasse!«

Lohmann wollte auffahren, aber Warstein wußte, daß er damit alles nur noch schlimmer gemacht hätte. Rasch stand er auf, warf dem Journalisten einen fast beschwörenden Blick zu und wandte sich noch einmal an Isabell.

»Es tut mir sehr leid«, sagte er. »Bitte entschuldigen Sie, daß wir uns unter ... falschen Voraussetzungen hier eingeschlichen haben, aber ich kann Ihnen versichern, daß es nicht so ist, wie Sie jetzt vielleicht glauben.«

»Ihre Versicherungen interessieren mich nicht. Gehen Sie. Und wenn ich auch nur ein Wort von diesem Gespräch hier in irgendeiner Zeitung lese, werde ich Sie verklagen, das verspreche ich Ihnen.«

Warstein gab auf. Es war sinnlos, das Gespräch fortsetzen zu wollen. Und wahrscheinlich würden sie von dem alten Mann ohnehin nicht mehr erfahren, als sie schon hatten. Ohne ein weiteres Wort verließen sie das Zimmer, aber als sie hinausgingen, sagte Huerse: »Meine Uhr ist stehengeblieben. Seit damals geht sie nicht mehr. Ich habe sie seit vierzig Jahren, aber jetzt ist sie kaputt.« Lohmann wollte noch einmal stehenbleiben und sich zu ihm herumdrehen, aber Isabell ergriff ihn einfach am Arm und schob ihn vor sich her aus dem Zimmer und zwei Sekunden später aus der Wohnung.

»Verlassen Sie das Haus«, sagte sie. »Ich werde am Fenster warten. Wenn ich in zwei Minuten nicht sehe, daß Sie aus dem Haus kommen, rufe ich die Polizei.« Sie warf die Tür so heftig ins Schloß, daß Lohmann einen erschrockenen Schritt rückwärts machte.

»Was um alles in der Welt ist denn jetzt los?« murmelte Lohmann kopfschüttelnd. »Hat sie den Verstand verloren?«

»Nein. Sie demonstriert uns nur gerade, daß es sich nicht auszahlt zu lügen.«

Warstein machte eine Kopfbewegung zur Treppe. »Wir sollten besser gehen. Ich glaube nicht, daß das eine leere Drohung war.«

»Was will sie uns schon tun?« fragte Lohmann trotzig. »Die Polizei wird uns kaum standrechtlich erschießen, nur wegen einer kleinen Notlüge.« Trotzdem schloß er sich ihnen an, als sie mit raschen Schritten die Treppe hinunterzugehen begannen.

»Aber wie kann sie es nur so schnell gemerkt haben?« fragte Angelika. Sie hatte kein Wort gesagt, während der ganzen Zeit, aber sie war leichenblaß geworden. Ihre Hände zitterten.

»Der Besucher«, antwortete Warstein. »Es hat gerade an der Tür geklingelt, erinnerst du dich?« Er deutete zum unteren Ende der Treppe. »Als wir vorhin unten standen und darauf gewartet haben, daß jemand aufmacht, ist mir etwas aufgefallen. Ich wußte nicht, was, aber jetzt weiß ich es wieder.«

»Ach?« fragte Lohmann übellaunig. »Und was?«

»Der blaue Fiat«, antwortete Warstein. »Er stand auf der anderen Straßenseite.«

»Und was ist daran so spannend?« knurrte Lohmann.

»Ich habe den Wagen schon einmal gesehen. Am Flughafen. Wir hätten ihn fast gerammt, als wir losgefahren sind.«

Lohmann blieb stehen. »Moment mal«, sagte er. »Wollen Sie sagen, daß jemand uns verfolgt?«

»Es sieht ganz so aus«, sagte Warstein. »Außerdem wäre es eher erstaunlich, wenn Franke uns nicht beschatten ließe.« Er machte eine Bewegung weiterzugehen. »Ich nehme noch Wetten an, ob er noch da steht oder nicht.« Lohmann antwortete nicht darauf, und das war auch gut so, denn Warstein hätte die Wette verloren. Der blaue Fiat war nicht mehr da, als sie das Haus verließen und in den immer heftiger fallenden Regen hinaustraten.

Ihr Taxi allerdings auch nicht. Und wie sich zeigte, war die nächste Telefonzelle eine gute halbe Stunde Fußmarsch entfernt.

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