19

»Dort drüben! Links!« Warstein schrie die Worte aus Leibeskräften, aber seine Stimme hatte keine Chance gegen den Lärm des Weltunterganges, der rings um sie herum tobte. Der Pilot reagierte einzig auf seine wedelnde Geste, korrigierte den Kurs des Helikopters entsprechend. Die Maschine war längst zu einem Spielball der Naturgewalten geworden, die sich kaum mehr lenken und schon gar nicht beherrschen ließ. Alles, was er tun konnte, war, den Sturm zu überlisten und den Helikopter so zu drehen, daß er sie in die ungefähre Richtung schleuderte, in die sie wollten.

»Sie sind ja verrückt!« brüllte Lohmann. »Sie werden uns alle umbringen!« Warstein erriet diese Worte mehr anhand der Lippenbewegungen und Lohmanns verzweifelter Gesten, als daß er sie verstand. Und er konnte Lohmann nicht einmal wirklich widersprechen - auch er selbst hatte immer größere Mühe, sich einzureden, daß er wirklich wußte, was er tat. Als sie gestartet waren, hatte er sich noch eingeredet, daß es nicht so schlimm werden konnte, aber das gehörte wohl zu den grundsätzlichen Irrtümern, die Menschen immer wieder unterlaufen: Es konnte immer noch schlimmer werden.

Die Lichter hatten begonnen vom Himmel herabzusinken und waren jetzt vor, hinter, neben, über und sogar unter ihnen. Der Helikopter torkelte durch einen Taifun aus knisternder Energie und purer Kraft, aus Blitzen und zermalmenden Sturmböen, und er hatte im Grunde überhaupt kein Recht mehr, noch zu existieren. Ein Millionstel Teil der destruktiven Energien, denen sie sich entgegengestellt hatten, hätte ausgereicht, ihn zu Staub zu zermahlen. Es war wohl so, wie Franke behauptet hatte: Was sie bisher gerettet hatte, war einzig der Umstand, daß sie ihr Ziel erreichen wollten.

Vor ihnen wuchs ein Schemen aus Licht und reiner Bewegung auf. Ein vertrauter Umriß, eine Linie, die er schon einmal gesehen hatte - Warstein wußte es nicht. Sie flogen blind, aber es hätte auch nicht viel geändert, hätten sie den Weg bei klarer Sicht zurückgelegt. Er war nur ein einziges Mal hier gewesen, vor mehr als drei Jahren, und damals war er zu Fuß hier heraufgekommen. Aber sie mußten die Hütte einfach finden, weil sonst die Welt untergehen würde.

»Kehren Sie um!« brüllte Lohmann. »Verdammt noch mal, fliegen Sie endlich zurück! Sie bringen uns noch alle um! Dieser Idiot hat doch keine Ahnung, wohin er fliegt!«

Der Sturm beruhigte sich ein wenig. Der Helikopter schwankte noch immer wie ein Boot auf hoher See, aber es gelang dem Piloten zumindest, ihn halbwegs gerade zu halten, während sie sich dem Felsvorsprung näherten, den Warstein entdeckt hatte. Er war nicht sicher. Der Felsen sah aus wie der, hinter dem Saruters Haus lag, aber wenn er ehrlich war, dann sah hier oben jeder Felsen so aus. Er konnte nur hoffen und beten.

»Hören Sie endlich auf!« brüllte Lohmann wieder. In seiner Panik versuchte er aufzuspringen und nach dem Piloten zu greifen. Warstein wäre zu spät gekommen, aber Rogler riß ihn mit einem harten Ruck zurück, stieß ihn auf den Sitz und versetzte ihm eine schallende Ohrfeige. Lohmann heulte auf und krümmte sich.

Der Felsen glitt unter ihnen davon - und dann lag die Hütte vor ihnen, eingewoben in ein Netz aus lodernden blauen Linien purer Energie. Sie kam Warstein anders vor als damals, aber das mochte an dem veränderten Licht liegen und seiner eigenen Aufregung. Er begann mit beiden Händen zu gestikulieren.

»Können Sie dort landen?« schrie er.

Der Pilot nickte. Die Bewegung wirkte verkrampft, und sein Gesicht glänzte vor Schweiß. »Ja«, schrie er zurück. »Der Felsen schützt uns ein wenig. Aber ich komme nie wieder hoch. Völlig unmöglich.«

»Dann springen wir ab!« entschied Warstein. »Halten Sie die Maschine so ruhig, wie Sie können!«

»Aber ich kann Sie nicht wieder aufnehmen!« protestierte der Mann.

»Das müssen Sie auch nicht«, antwortete Warstein. Er breitete beide Arme aus, um auf dem wankenden Boden die Balance zu halten, arbeitete sich zur Tür vor und öffnete sie. Er brauchte seine ganze Kraft dazu, und als er es geschafft hatte, riß ihn der hereinfauchende Wind von den Füßen und schleuderte ihn gegen Angelika, die sich gerade von ihrem Sitz erhoben hatte. Mühsam rappelten sie sich wieder hoch und wankten zur Tür zurück.

Warsteins Mut bekam einen gehörigen Dämpfer, als er nach draußen sah. Sie waren höchstens noch zwei Meter hoch, und der Pilot hielt die Maschine so ruhig, wie es nur ging - aber es ging eben nicht sehr gut. Der felsige Boden unter ihnen hüpfte und taumelte hin und her, war manchmal einen, dann wieder drei Meter entfernt und kippte unentwegt von einer Seite auf die andere. Selbst ein Sprung aus dieser geringen Höhe würde zu einem lebensgefährlichen Abenteuer werden.

Angelika nahm ihm die Entscheidung ab. Mit einer entschlossenen Bewegung sprang sie an ihm vorbei in die Tiefe, rollte sich geschickt ab und kam, den Schwung ihres Sturzes ausnutzend, wieder auf die Füße. In geduckter Haltung entfernte sie sich ein paar Schritte von der Maschine, ehe sie stehenblieb und ihm zuwinkte nachzukommen.

»Okay«, sagte Warstein. »Lohmann, Sie sind der näch...«

Er hatte sich zu Lohmann herumgedreht und die Hand ausgestreckt, aber er führte weder die Bewegung noch den Satz zu Ende.

Auch Lohmann war aufgestanden. Mit der linken Hand klammerte er sich an der Rückenlehne seines Sitzes fest, um das Gleichgewicht zu bewahren, und in der anderen hielt er eine Pistole, deren Mündung zwar heftig hin und her schwankte, trotzdem aber genau auf Warsteins Gesicht zielte.

»Ich bin bestimmt nicht der nächste«, antwortete Lohmann. »Von mir aus bringen Sie sich um - und diese hysterische Ziege da draußen gleich mit. Ich denke nicht daran, weiter bei diesem Irrsinn mitzumachen!«

»Lohmann, um Gottes willen!« keuchte Warstein. »Sind Sie verrückt geworden?«

»Wenn hier einer verrückt ist, dann bestimmt nicht ich«, behauptete Lohmann. »Springen Sie doch, wenn Sie Lust dazu haben! Ich verschwinde hier!« Er richtete seine Waffe für eine Sekunde auf den Piloten, um seinen Worten den gehörigen Nachdruck zu verleihen, ließ Warstein aber keinen Moment aus den Augen.

»Wir fliegen weiter. Auf die andere Seite des Berges.«

»Aber wohin wollen Sie denn, um Himmels willen?!« keuchte Warstein.

»Das ist mir egal!« antwortete Lohmann. Sein Blick flackerte. »Ich bleibe auf keinen Fall hier. Haben Sie die Bombe vergessen? Diese wahnsinnigen Idioten werden sie garantiert zünden! Und wenn das passiert, dann bin ich bestimmt nicht mehr hier!«

»Begreifen Sie immer noch nicht? Es gibt keinen sicheren Ort mehr!« sagte Warstein. »Sie können nirgendwohin fliehen! Ich flehe Sie an, Lohmann! Ohne Sie ist alles verloren. Wir brauchen Sie!«

»Vergessen Sie es«, erwiderte Lohmann. »Ich verschwinde jetzt hier. Sie haben zwei Sekunden, sich zu entscheiden, ob Sie bleiben oder mitfliegen, aber fliegen werden wir. Eins -« Rogler sprang ihn an.

Der Angriff kam völlig überraschend, und er hätte zweifellos Erfolg gehabt, aber in diesem Moment erzitterte die Maschine unter dem Hieb einer weiteren Sturmböe. Rogler verlor das Gleichgewicht, stolperte einen halben Schritt an Lohmann vorbei, und der Journalist schrie wütend auf und schoß.

Die Kugel traf Rogler genau in die Brust. Die Wucht des Geschosses reichte aus, ihn erneut herum und mit hochgerissenen Armen zur Seite zu wirbeln. Er traf den Piloten. Der Mann wurde nach vorne und gegen den Steuerknüppel geschleudert. Der Helikopter kippte mit aufheulender Turbine nach vorne. Warstein versuchte verzweifelt, sich am Türrahmen festzuhalten, aber in diesem Moment prallte Rogler gegen ihn. Aneinandergeklammert stürzten sie aus der Maschine. Das letzte, was Warstein bewußt wahrnahm, war der gewaltige Feuerball, in dem der Hubschrauber zwanzig Meter entfernt auseinanderbarst, dann prallte er auf den harten Felsboden auf und verlor das Bewußtsein.

Franke hatte den Schlund erreicht. Der Weg war mehr gewesen, als er schaffen konnte. Er war unzählige Male gestürzt und blutete. Aber er spürte nichts. Weder den Schmerz noch das Blut, das an seinen Händen und über sein Gesicht herablief, noch die Erschöpfung, die der lange Marsch in ihm hinterlassen hatte. Vor ihm lag das Tor zur Hölle, aber vielleicht auch die Pforte zum Paradies. Der Schlund kam ihm größer vor, viel, viel gewaltiger, als er ihn in Erinnerung hatte. Ein kreisrundes Loch in der Wirklichkeit, durch das der Atem der Welt entwich. Der Sturm, der über ihm am Himmel tobte, hatte unvorstellbare Dimensionen angenommen, aber hier, unmittelbar am Rande des Schachtes, war es fast windstill. Er befand sich im Auge des Orkans.

Franke stand lange und regungslos so da. Ein angedeutetes Lächeln lag auf seinem Gesicht. Er fragte sich, wieso er eigentlich keine Angst verspürte. Als er die Antwort gefunden hatte, machte er einen einzigen Schritt nach vorne und stürzte mit weitausgebreiteten Armen in den Schacht. Er hatte ihn erschaffen. Er würde ihn schließen. Auf die einzige Art und Weise, auf die er es konnte.

Der Sturz dauerte lange, unendlich lange, aber er wußte, was er am Ende sehen würde; hier, an jenem Ort absoluter Wahrheit, an der sein Alptraum, der im Grunde ein Traum gewesen war, Wirklichkeit wurde, und er erblickte es auch. Sein allerletzter Gedanke war: Mein Gott, ist das schön!

Sie hatten Rogler in den Windschatten der Hütte getragen, um wenigstens aus dem Sturm herauszusein, wenn sie schon den flackernden Lichtern und der knisternden Energie nicht entgehen konnten. Der Boden, über den sie gingen, leuchtete jetzt. Die Luft war so voller Spannung, daß jede ihrer Bewegungen kleine Schweife aus winzigen gelben Sternen hinterließ. Die Energie durchdrang alles. Den Boden, die Luft, ihre Körper, ihre Gedanken.

»Kann mir irgend jemand sagen, warum ich noch lebe?« stöhnte der Polizist. Er hatte das Bewußtsein wiedererlangt, besaß aber noch nicht die Kraft sich aufzusetzen. Sein Gesicht zuckte vor Schmerz, und das Atmen schien ihm große Mühe zu bereiten. Er hatte die rechte Hand gegen die Brust gepreßt und blickte mit wachsender Verwirrung darauf herab, als könnte er gar nicht begreifen, wieso zwischen seinen Fingern kein Blut hervorquoll.

»Der Kerl hat mich in die Brust geschossen, nicht?« Er hustete und verzog qualvoll das Gesicht. »Eigentlich sollte so etwas aus einem halben Meter Entfernung sofort tödlich sein. Jedenfalls erzähle ich das immer jedem, der mich danach fragt.«

Warstein mußte gegen seinen Willen lächeln. Rogler gewann seine Kraft rasch zurück: schneller als er zu hoffen gewagt hatte. Auch wenn es nichts mehr nutzen würde. Lohmann hatte mehr getan, als sich und den Piloten umzubringen. Vielleicht hatte er diesem ganzen Planeten den Todesstoß versetzt.

»Die Waffe war mit Hartgummigeschossen geladen«, antwortete er mit einiger Verspätung. »Ich hatte sie ganz vergessen, aber Lohmann muß sie eingesteckt und mitgenommen haben.«

»Dieser Idiot«, murmelte Rogler. »O verdammt, tut das weh. Ich glaube, er hat mir mindestens eine Rippe gebrochen.« Er versuchte sich aufzurichten, sank mit schmerzverzerrtem Gesicht zurück und versuchte es erneut, als Warstein ihm die Hand entgegenstreckte. Diesmal gelang es ihm.

»Es hat ihm nicht viel genutzt«, sagte Warstein ernst.

Rogler sah ihn verwirrt an. Dann folgte er seinem Blick und sah in die Richtung, in der das Helikopterwrack lag. Die Maschine war auf der anderen Seite des Felsens abgestürzt, aber der Feuerschein war selbst hier noch deutlich zu sehen. »Er ist tot«, sagte Warstein leise. Noch leiser fügte er hinzu: »Jetzt ist alles vorbei.«

»Vorbei?« Rogler sah ihn fragend an. »Was?«

»Wir haben ihn gebraucht«, antwortete Warstein. Seltsam - er empfand nicht einmal wirklichen Schrecken. Er war nicht einmal wirklich enttäuscht. Es war, als hätte er insgeheim die ganze Zeit über gewußt, daß es sowieso nicht klappen konnte.

»Wozu?« fragte Rogler. »Ich meine, ich kenne diesen Mann kaum, aber ich frage mich trotzdem, wozu man einen solchen Narren braucht.«

Warstein deutete auf den Eingang der Hütte. »Was immer dort auf uns wartet, Rogler - es wartet auf drei Menschen, nicht auf zwei.« Er seufzte tief. »Es war umsonst.«

»Wir sind drei«, sagte Angelika ruhig.

Es dauerte eine Sekunde, bis ihre Worte wirklich in Warsteins Bewußtsein drangen. Fassungslos hob er den Kopf und starrte sie an.

»O nein«, sagte Rogler. Er wedelte heftig mit beiden Händen. »Ganz bestimmt nicht. Ich weiß, was Sie denken. Vergessen Sie es gleich wieder. Ich habe keine Ahnung von solchen Dingen. Und ich will damit auch nichts zu tun haben.«

Warstein streckte abermals die Hand aus. »Kommen Sie«, sagte er. »Ich möchte Ihnen etwas zeigen.«

»Ganz bestimmt nicht«, sagte Rogler noch einmal. »Ich ... ich verstehe nichts von Zauberei und solchen Dingen.« Trotzdem ergriff er nach einigen Sekunden Warsteins ausgestreckte Hand und ließ sich von ihm vollends auf die Beine helfen. Sein Gesicht zuckte immer noch vor Schmerz, aber er unterdrückte tapfer jeden Laut und folgte Angelika und Warstein zur anderen Seite der Hütte.

Das Firmament brannte. Das Schwarz des Nachthimmels war vollkommen verschwunden und hatte einem unvorstellbaren Muster aus Licht und Farben Platz gemacht. Die Berge, die sich vor ihnen erhoben, schienen wie unter einer geheimnisvollen inneren Kraft aufzuleuchten und wirkten transparent und leicht. Etwas hatte von der Welt Besitz ergriffen, das zu groß war, um es zu verstehen, und das sie verändern - vielleicht zerstören - würde. Nein, es würde nicht geschehen. Es geschah bereits.

Aber das Bild war nicht nur großartig und berauschend, es war auch erschreckend. Die drei Menschen fühlten die unvorstellbaren Gewalten, die rings um sie herum tobten und die doch nur ein Bruchteil dessen waren, was kommen würde. Das Tor hatte sich geöffnet und war bereit, die Welt zu verschlingen.

»Sehen Sie«, sagte Angelika. Ihr ausgestreckter Arm deutete nach Süden. Wo der See gewesen war, erstreckte sich jetzt ein gewaltiger, bodenloser Schlund, in dessen Tiefe es wetterleuchtete und blitzte, als antworteten die Kräfte der Hölle auf die des Himmels über ihnen. An seinem nördlichen Ende konnten sie einen roten, flackernden Punkt erkennen. Ascona. Die Stadt brannte jetzt vollständig. Aber das war es nicht, was Angelika Rogler hatte zeigen wollen. Ein Stück weiter links waren neue, noch winzige rote Punkte erschienen. Funken in der Unendlichkeit nur, die doch bereits jetzt zu einem flackernden Muster zusammenzuwachsen begannen.

»Locarno?« flüsterte Rogler. »Sie ... Sie meinen, es ... es beginnt auch dort?«

»Es wird überall beginnen«, sagte Warstein. »Nichts kann es mehr aufhalten.«

»Dann ist das das Ende der Welt?« Rogler versuchte zu lachen, aber es mißlang.

»Wenigstens der, wie wir sie kennen, ja«, bestätigte Angelika. »Wenn wir es nicht aufhalten.«

»Gerade haben Sie gesagt, daß...« Rogler brach ab, starrte unsicher noch einige Sekunden auf die brennende Stadt unter ihnen herab und hob schließlich in einer Geste der Hilflosigkeit die Hände. »Aber warum?« fragte er. »Was ... was haben wir getan? Womit haben wir das verdient? All diese Toten. All diese Gewalt. So schlecht sind die Menschen nicht, daß sie ein solches Ende verdient hätten.«

»Vielleicht ist die Zeit der Menschen abgelaufen«, murmelte Warstein. Aber vielleicht auch nicht. Vielleicht war nur diese Zeit abgelaufen, und sie standen an der Schwelle zu einer anderen. Er sprach den Gedanken nicht laut aus. »Vielleicht hat irgend jemand beschlossen, daß es genug ist«, sagte er. »So oder so.«

Warstein schwieg lange Sekunden. Diese Welt? Eine Welt des Hasses und des Tötens? Eine Welt der Gewalt, der Eifersucht, der Zerstörung? Er schüttelte den Kopf. »Nein.«

Angelika deutete auf die Hütte. Als Warstein sich herumdrehte, sah er, daß sich die Tür geöffnet hatte. Ein mildes, weißes Licht fiel aus ihrem Inneren heraus. Auch Rogler hatte sich herumgedreht und starrte die Tür an. »Ich wußte, daß es so enden würde«, murmelte er.

»Dann helfen Sie uns?« fragte Warstein.

»Ich ... ich weiß nicht«, antwortete Rogler. »Ich habe nie Ambitionen dazu gehabt, Gott zu spielen, wissen Sie.«

Manchmal werden wir nicht danach gefragt, was wir wollen, dachte Warstein. Er konnte Rogler verstehen. Auch er hatte Angst vor dem, was sie tun mußten, panische Angst. Er wußte immer noch nicht, was sie dort drinnen erwartete und warum ausgerechnet sie es waren, die über das Schicksal dieser ganzen Welt entscheiden sollten.

Er sprach nichts von alledem aus, sondern drehte sich wortlos um und betrat die Hütte. Und nach einigen Sekunden folgten ihm Angelika und schließlich auch Rogler.

Über Porera erlosch der Sturm. Die aufgepeitschten Luftmassen heulten noch ein letztes Mal mit ganzer Macht auf, ein Schrei, der das Gebirge in seinen Grundfesten zu erschüttern schien, aber die Gewalt des Orkans war gebrochen, das Tor, durch das die Lebenskraft dieser Welt entwichen war, nicht mehr da. Die Lichter am Himmel loderten heller.

Draußen mochte die Welt untergehen, aber hier drinnen, im Inneren der kleinen, fast spartanisch eingerichteten Hütte hatte sich nichts verändert. Das Heulen des Orkans war erloschen, als sie die Tür geschlossen hatten, und statt der flackernden Lichter des Jüngsten Gerichts umfing sie ein milder, weißer Schein, der sehr hell war, trotzdem aber nicht blendete.

Warstein betrachtete das Muster an der Wand. Franke hatte recht gehabt - es waren die gleichen Linien und Wellen, die gleichen Kreise und Blitze, die auch den Himmel erfüllten. Aber es war nicht das Muster, das sie unten im Berg gesehen hatten. Er erkannte seinen Irrtum erst jetzt. Vielleicht hatte noch nicht einmal Saruter es gewußt, aber Warstein sah jetzt ganz deutlich, daß diese Muster hier anders waren, unglaublich alt und kompliziert, aber nicht einmal annähernd so alt wie die, die sie unten im Berg gefunden hatten.

Er wußte, was zu tun war. Er hatte es die ganze Zeit über gewußt, so wie auch Angelika und Rogler. Das Wissen war in ihnen gewesen vom Zeitpunkt ihrer Geburt an, so, wie es in ihren Vorfahren gewesen war und in deren Vorfahren und wiederum in deren Vorfahren; eine endlose Kette, die niemals wirklich unterbrochen worden war. Sie waren nur Werkzeuge, Träger einer Macht und eines Wissens, das älter als die Menschheit war und wichtiger.

Langsam trat er an die Felswand heran, hob die Hand und berührte die Linien, die Saruter und die, die vor ihm hier gewesen waren, in den Felsen geritzt hatten. Angelika trat neben ihn. Ihre Lippen begannen eine Melodie zu summen, leise, schwingend, einem atonalen Rhythmus folgend, der nicht erkennbar war, aber auf Warsteins Tun ebenso einwirkte, wie die Linien, die seine Finger auf den Fels malten, Angelikas Lied bestimmten. Und Rogler, der dritte der letzten Wächter, stand zwischen ihnen, denn er war die Verbindung zwischen dem Lied und der Hand; der Kraft, die schuf, und der Kraft, die bewahrte. Und während sie so dastanden, während Angelika ihr Lied sang und Warstein den Mustern der Zeit ein neues hinzufügte, öffnete sich das Tor vollends, und die Welt begann hindurchzugleiten.

Dies alles geschah in einer einzigen Sekunde. Der Himmel über dem, was einst der Lago Maggiore gewesen war, flammte in unerträglicher Glut auf. Grelle, weiße, rote, grüne und blaue Blitze zuckten aus dem lodernden Firmament herab, trafen die titanischen Felssäulen, zwischen denen die Druiden Aufstellung genommen hatten und brachten sie zum Läuten. Es waren die Energien der Schöpfung selbst, die Urkräfte des Universums, die für den Bruchteil einer Sekunde zwischen den steinernen Riesensäulen tobten. Die Körper der Druiden, die geduldig zwischen ihnen gestanden und gewartet hatten, zerfielen im Bruchteil eines Augenblickes zu Asche. Aber es war nicht der Körper, der zählte. Ihre Macht war da, ihr Wissen, dessen Träger sie gewesen waren. Als das grell lodernde Licht erlosch, waren die Inseln, die den nördlichen Teil des Lago Maggiore beherrscht hatten, verschwunden ebenso wie die Druiden. Ihre Aufgabe war erfüllt. Für dieses Mal. Ein neuer Zyklus hatte begonnen.

Die Sonne ging auf, als sie am Morgen erwachten. Es würde ein schöner Tag werden, das konnte man sehen. Der Himmel war blau, von nur wenigen, zarten weißen Wolken bedeckt, und die Luft schien viel klarer als sonst, so daß der Blick sehr viel weiter reichte, als er es gewohnt war. Ein schöner Morgen - aber auch ein ganz normaler Morgen. Was hatte er erwartet? Zwei Sonnen am Himmel? Oder Berge aus Zuckerguß? Warstein lächelte über seine eigenen albernen Gedanken, aber zugleich drückte dieses Lächeln auch die Erleichterung aus, die er trotz allem empfand. Angelika, Rogler und er hatten die ganze Nacht gebraucht, um das neue Muster zu weben, und obwohl es in dieser Zeit nicht eine einzige Sekunde gegeben hatte, in der sie nicht gewußt hatten, was sie taten und daß sie es richtig taten, war der Zweifel geblieben. Der Wächter hatte gewußt, was geschehen würde, aber der Mensch in ihm hatte gezweifelt - und ein bißchen tat er es noch. Ein bißchen war er auch überrascht, daß es überhaupt einen neuen Morgen gegeben hatte.

Das Geräusch der Tür riß ihn aus seinen Gedanken. Angelika und Rogler verließen nebeneinander die Hütte. Sie fühlten sich müde, aber auf eine angenehme, wohltuende Art. Es war die Müdigkeit nach einer wichtigen Arbeit, die man gut erledigt hatte. Er war wohl nicht der einzige, der sich erst noch an den Gedanken gewöhnen mußte, nicht mehr der zu sein, als der er hierhergekommen war.

»Wir leben noch«, sagte Rogler. Es klang wie ein Scherz, aber auch diese drei Worte verdeutlichten nichts anderes als die Erleichterung, die er empfand. Er lachte, drehte sich einmal um seine Achse und hob die Hände vor das Gesicht. »Die Berge sind noch da«, sagte er. »Und wir sehen sogar noch fast menschlich aus.«

»Haben Sie daran gezweifelt?« fragte Angelika.

»Ich war ... nicht sicher«, gestand Rogler. Dann trat er mit einigen raschen Schritten an Warsteins Seite und blickte ins Tal hinab. Der See lag unter ihnen und war jetzt wieder ein See, aber die Stadt an seinem Ufer hatte sich verändert. Sie waren zu weit entfernt, um die Veränderungen deutlich erkennen zu können, aber sie war da.

»Das sieht alles ... irgendwie anders aus«, murmelte Rogler. Er wird noch viel mehr finden, was anders geworden ist, dachte Warstein. Er fragte sich, wie diese neue Welt wohl aussehen mochte. Ob sie besser war als die alte? Er wußte es nicht, aber er hoffte es. Sie hatten zu viele falsche Richtungen eingeschlagen, zu viele Straßen gebaut, die ins Nichts führten, und sich am Ende eine Welt erschaffen, die vielleicht zu hart, zu grausam und zu gewalttätig war, um weiter existieren zu können. Jemand hatte beschlossen, daß es so war. Aber der gleiche Jemand hatte wohl auch entschieden, daß die Menschheit eine zweite Chance verdiente.

Warstein warf einen letzten Blick in die Runde, sah die Berge an, das kleine Haus, das nun zu ihrer Heimat werden würde, die Sonne am Himmel, die heller leuchtete, als er es gewohnt war, und die Luft, die viel klarer und frischer war, als er sich erinnerte, und dann entdeckte er den ersten wirklichen Beweis, daß es noch Menschen auf dieser Welt gab und daß es anders geworden war. Über ihnen glitt etwas zwischen den Wolken entlang: riesig, glänzend und vollkommen lautlos.

»Kommt!« sagte er.

Die drei neuen Druiden machten sich auf den Weg ins Tal, um sich ihre neue aufregende Welt anzusehen. Sie hatten eine zweite Chance bekommen. Und irgend etwas sagte Warstein, daß sie sie dieses Mal besser nutzen würden.


ENDE

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