3

Während er in der Mappe blätterte, hatte Angelika Berger offensichtlich Freundschaft mit Vlad geschlossen: Der Kater lag quer über ihren Beinen, ließ sich genüßlich hinter den Ohren kraulen und dankte es seiner Wohltäterin, indem er mit seinen Krallen Fäden aus ihrem Rock zog. Berger schien das nichts auszumachen. Zum ersten Mal, seit sie hereingekommen war, erblickte er ein Lächeln auf ihrem Gesicht, als er den Ordner nach einer halben Stunde zuklappte und aufsah. Sie war sehr viel hübscher, wenn sie lächelte, dachte er - aber wer war das nicht?

»Eine beeindruckende Sammlung«, sagte er, wobei er ganz bewußt darauf achtete, seine Stimme wertfrei klingen zu lassen. Er war nach wie vor entschlossen, sich nicht in ihre Angelegenheiten zu mischen; nach dem, was er in ihrer Mappe gelesen und gesehen hatte, weniger denn je. Aber er vergab sich nichts, wenn er seine Absage etwas freundlicher formulierte.

Berger hörte auf, den Kater zu kraulen; aber nur eine Sekunde lang - genau so lange brauchte Vlad nämlich, um ihr mit seinem melonengroßen Kopf einen freundschaftlichen Stupser unter das Kinn zu versetzen, der sie um ein Haar von der Couch gefegt hätte.

»Mein Mann hat drei Jahre lang alles gesammelt, was er über den Tunnel finden konnte«, antwortete sie, nachdem sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden und die Hand hastig wieder zwischen Vlads Ohren gesenkt hatte. »Das ist noch nicht alles. Ich ... ich habe noch mehr zu Hause. Videos, Cassetten... Wenn ... wenn Sie wollen, zeige ich es Ihnen.«

»Wozu?« fragte Warstein beinahe sanft. Der schüchterne Funke von Hoffnung, der bei seinen Worten in ihren Augen aufgeglommen war, erlosch wieder.

»Aber ich dachte, Sie ... Sie interessieren sich...«

»...für den Berg?« Warstein schüttelte den Kopf, legte die Mappe auf den Tisch zurück und schob sie ihr mit einer demonstrativen Bewegung zu. »Nein. Nicht im mindesten. Wie ich Ihnen vorhin schon sagte: das ist Vergangenheit.« Verdammt noch mal, was mußte er noch tun, um ihr beizubringen, daß er ihr gar nicht helfen konnte, selbst wenn er es gewollt hätte. Er hatte nicht nur Hausverbot auf dem gesamten Gelände des Gridone-Tunnels. Franke hatte ihn wahrscheinlich insgeheim in der gesamten Schweiz für vogelfrei erklären lassen und einen Preis auf seinen Kopf ausgesetzt.

»Das ist es nicht!« beharrte Berger. Sie klang jetzt zugleich hilflos wie aggressiv; aber die Hilflosigkeit überwog. Warstein hoffte beinahe, daß sie ihn anschreien würde - das würde es ihm leichter machen, sie hinauszuwerfen. Statt dessen aber füllten sich ihre Augen mit Tränen. Sie kämpfte sie zurück, aber er sah, wie schwer es ihr fiel. »Es ist nicht vorbei, Herr Warstein«, sagte sie mühsam. »Was in dieser Mappe steht, war nur der Anfang. Mein ... mein Mann und alle anderen, die damals bei ihm waren, sind verschwunden. Am gleichen Tag, an dem die Geschichte mit dem Zug passierte.«

»Das Attentat?« fragte Warstein. Er hatte davon in den Nachrichten gehört. Die Geschichte hatte drei Tage lang sämtliche Schlagzeilen gefüllt. Dreißig Tote und ein Zug im Werte von knapp hundertfünfzig Millionen harter D-Mark waren schließlich kein Pappenstiel.

»Das war kein Attentat«, behauptete Berger.

»Was sonst?«

»Ich habe keine Ahnung«, antwortete sie. »Aber ich bin sicher, daß sie es nur so hinstellen. Um ... um irgend etwas zu vertuschen.«

»Und was?«

»Ich dachte, das könnten Sie mir beantworten.« Sie hörte wieder auf, den Kater zu streicheln, und als er ihr diesmal einen Kinnhaken verpassen wollte, versetzte sie ihm einen leisen Klaps auf die Nase. Vlad verzichtete zu Warsteins Überraschung darauf, ihr für diese Unverfrorenheit die Kehle durchzubeißen, sondern kroch nur beleidigt von ihrem Schoß, blieb aber zusammengerollt neben ihr liegen. Sie konnte wirklich gut mit Tieren umgehen.

»Wie kommen Sie auf diese Idee?« fragte er. Er hob die Hand, ehe sie antworten konnte, und fuhr mit leicht erhobener Stimme fort: »Wenn Sie die Geschichte damals wirklich so aufmerksam verfolgt haben, wie Sie behaupten, dann wissen Sie doch, was geschehen ist. Ich muß irgendwie ausgerastet sein. Blackout. So etwas kommt vor. Wir haben nie herausgefunden, was ihrem Mann und den anderen damals wirklich zugestoßen ist, aber was immer es war, es hat auch mich erwischt. Und wie es aussieht, ein bißchen übler als sie. Ich war eine Weile völlig gaga, wissen Sie? Aber das ist vorbei.«

»Haben Franke und die anderen Ihnen das so lange eingeredet, bis Sie es selbst glauben, oder sind Sie nur feige?« fragte sie herausfordernd.

Verdammt, begriff Sie denn nicht, daß er es glauben wollte, mit jeder Faser seiner Seele, weil das vielleicht der einzige Weg war, nicht völlig den Verstand zu verlieren? »Wenn Sie unverschämt werden, werfe ich Sie raus«, sagte er ganz ruhig. »Vielleicht sollte ich das sowieso tun.«

»Aber warum wollen Sie denn nicht verstehen, daß -«

»Hören Sie mir zu, Frau Berger«, fuhr Warstein fort, beinahe leiser als zuvor, aber in einem Ton, der ihr klar zu machen schien, wie ernst er es jetzt meinte. »Es geht Sie zwar nichts an, aber ich werde Ihnen trotzdem erklären, warum mich für den Rest meines Lebens keine zehn Pferde mehr in die Nähe dieses Berges bekommen werden. Ich verstehe Sie, viel besser, als Sie vielleicht glauben. Und Sie tun mir leid, denn ich sehe, wie sehr Sie leiden. Deshalb will ich es Ihnen erklären - und ich hoffe, daß Sie mich dann besser verstehen.« Er machte eine weit ausholende Geste, die seine verkommene Wohnung und ihn selbst gleichermaßen einschloß. »Sehen Sie sich um, falls Sie es noch nicht getan haben. Vor drei Jahren war ich ein erfolgreicher junger Vermessungstechniker und Ingenieur. Ich habe mein Diplom mit Auszeichnung gemacht, und ich habe ein paar Geräte konstruiert, die die gesamte Fachwelt haben aufhorchen lassen.«

»Ihren Laser.«

»Ja«, bestätigter er bitter. »Meinen Laser.« Der die Länge des Tunnels nach dem Durchstich mit sechs Lichtminuten angegeben hatte. Oder die Kleinigkeit von einhunderteinundreißig Millionen Kilometern.

»Dieser Berg hatte mich vernichtet«, fuhr er fort. »Ich habe mich vor der ganzen Welt bis auf die Knochen blamiert. Meine berufliche Karriere ist am Ende, und so ganz nebenbei ist auch noch meine Ehe den Bach runtergegangen. Ich lebe heute von der Sozialhilfe, und wenn ich nicht gerade besoffen bin, dann starre ich in die Glotze, bis mir die Augen zufallen, und streite mich morgens mit dem Kater um das, was noch im Kühlschrank ist.«

»Aber ich nehme an, er gewinnt meistens«, sagte sie.

»Wieso?« erwiderte Warstein verwirrt.

»Weil er eindeutig besser aussieht als Sie«, antwortete Berger.

Warstein blieb nicht nur ernst - er wurde allmählich wirklich zornig. »Zum Teufel, hören Sie mir eigentlich zu?« fauchte er. »Begreifen Sie nicht, was ich Ihnen sagen will? Dieser Berg hat mir alles genommen. Er hat mein Leben zerstört. Vielleicht wäre ich wirklich besser dran, wenn ich tot wäre.«

»Aber dann könnten Sie sich doch nicht so schön in ihrem Selbstmitleid sonnen«, sagte Berger. Sie lächelte traurig und begann wieder, Vlad zu kraulen. »Glauben Sie, ich weiß das nicht? Ich weiß eine Menge über Sie, glauben Sie mir. Frank ... mein Mann ... ist vor einer Woche verschwunden, und ich habe nicht einmal zwei Tage gebraucht, um Sie zu finden. Die restliche Zeit habe ich damit verbracht, mich zu fragen, ob Sie wirklich der richtige sind, um mir zu helfen.«

»Die Antwort ist eindeutig nein«, sagte Warstein.

»Wenn das, was Sie erzählt haben, die ganze Wahrheit wäre, sicher«, erwiderte Berger. »Aber das ist es nicht. Und das wissen Sie verdammt genau.«

Warstein fühlte sich so zwischen Zorn und Schmerz hin und her gerissen, daß das Ergebnis pure Hilflosigkeit war. Er sagte gar nichts. Aber irgend etwas in ihm war erwacht, und es war nichts Gutes. Sie hatte die Wunde nicht nur aufgerissen; sie hatte das Messer ein paarmal zu oft herumgedreht, als daß sie sich von selbst wieder schließen würde.

»Die Wahrheit ist, daß Sie die ganze Zeit über recht hatten«, fuhr sie fort. »In diesem Berg ist irgend etwas. Es war damals da, und es ist heute noch da, und es wird immer stärker. Und Franke und die anderen haben es die ganze Zeit über gewußt. Sie haben Sie geopfert, Warstein, um ihr kleines Geheimnis für sich zu behalten.«

»Und wenn es so wäre - was könnten Sie daran ändern?«

»Vielleicht könnte ich Ihnen helfen, sich zu rehabilitieren«, antwortete sie. »Wäre das den Einsatz nicht wert? Sie könnten der ganzen Welt beweisen, wer damals der Verrückte war und wer recht hatte.«

Warstein hatte gewußt, daß sie das sagen würde. Es war die logische Konsequenz aus allem, was er bisher gehört hatte. Etwas hätte gefehlt, hätte sie dieses letzte Argument nicht gebracht.

»Macht es Ihnen eigentlich Spaß, mich zu quälen?« fragte er.

»Nein. Aber ich habe keine Wahl.«

Während sie aufstand und mit kleinen Schritten im Zimmer umherzugehen begann, mußte sich Warstein eingestehen, daß er sie gründlich unterschätzt hatte. Ob sie nun vor Angst und Verzweiflung zitterte oder nicht - anscheinend hatte sie die vergangene Woche nicht nur damit zugebracht, sich den Kopf zu zerbrechen, ob er der Richtige war, sondern auch, sich jede mögliche Antwort auf jede denkbare Reaktion zurechtzulegen; und bisher hatte sie eindeutig Erfolg damit. Wahrscheinlich würde er sie doch k.o. schlagen müssen - einen Sieg nach Punkten konnte er gegen diese Frau nicht erringen.

»Haben Sie die gemalt?« fragte sie plötzlich. Sie war an der Wand neben dem Fernseher stehengeblieben und bewunderte eines seiner Bilder: eine verwirrende Farbkomposition aus ineinanderlaufenden Ringen und Kreisen, die sich vor den Augen des Betrachters zu drehen begannen, wenn er den Fehler beging, sie zu lange anzusehen.

»Ja«, maulte Warstein. »Und sparen Sie sich jeden Kommentar. Ich habe mich gehütet, sie meinem Psychoanalytiker zu zeigen.«

Berger lachte - es war das pflichtschuldigste Lachen, das er je gehört hatte -, schüttelte den Kopf und trat an das zweite der drei Bilder, die die Fettflecken auf der zehn Jahre alten Rauhfaser zu überdecken versuchten: ein Konstrukt aus Würfeln und Kuben, die auf schier unmögliche Weise ineinandergeschachtelt waren. Das dritte zeigte regenbogenfarbige Schlangenlinien - oder auch nicht. Wenn man zu lange hinsah, wußte man es nicht mehr genau.

»Sie verstehen mich falsch«, sagte sie. »Sie gefallen mir. Sie haben etwas ... Faszinierendes.«

»Mir Komplimente zu machen, nutzt Ihnen auch nichts«, sagte Warstein so unfreundlich, wie er gerade noch konnte, ohne wirklich zu schreien.

»Aber das mache ich nicht«, behauptete Berger und trat an das dritte Bild heran. »Ich verstehe nichts von Kunst, aber das ist ... zumindest außergewöhnlich. Haben Sie damit angefangen, nachdem Sie aus der Schweiz zurückgekehrt sind?«

»Ich hatte Zeit genug«, sagte Warstein. Tatsächlich hatte er nicht unmittelbar nach seiner Rückkehr aus Ascona, sondern ein halbes Jahr später zu malen begonnen, und wirklich aus nichts als purer Langeweile. Er verstand vielleicht etwas von Computern und geometrischen Formeln, aber er war zeit seines Lebens nicht einmal in der Lage gewesen, ein halbwegs vernünftiges Strichmännchen zu Papier zu bringen. Viele von denen, die seine Bilder gesehen hatten, behaupteten, daß das heute noch so sei.

»Wissen Sie, daß mein Mann auch gemalt hat, nachdem er aus der Schweiz zurückgekehrt ist?« fragte Berger plötzlich - und in einem so beiläufig harmlosen Tonfall, daß ihm das eigentlich eine Warnung hätte sein müssen. »Und von einigen der anderen weiß ich es auch. Ich frage mich, ob das Zufall ist.«

»Nein«, sagte Warstein feindselig. »Bestimmt nicht. Am Anfang habe ich Berge aus Kartoffelpüree modelliert, aber das war eine zu große Schweinerei, und ich konnte das Zeug schließlich nicht mehr sehen.«

»Was, wenn ich beweisen kann, daß wir eine gute Chance haben, alles aufzudecken?« fragte sie unvermittelt.

Auch damit hatte er gerechnet. Und obwohl er wußte, daß er es vermutlich schon in der nächsten Minute bitter bereuen würde, hörte er sich selbst antworten: »Und wie?«

»Der Zug«, antwortete Berger. »Was immer dem Zug zugestoßen ist, ist schon einmal passiert.«

»Unsinn«, behauptete Warstein. »Davon hätte ich gehört. Jeder hätte davon gehört.«

»Es war nicht so dramatisch, und sie haben versucht, es zu vertuschen. Aber vor vier Wochen hat schon einmal ein ICE den Tunnel passiert. In aller Stille - ich nehme an, sozusagen als Generalprobe für die Jungfernfahrt.«

»Und er ist auch in die Luft gesprengt worden?« fragte er spöttisch.

»Nein. Aber irgend etwas ist schiefgelaufen, und sie haben sich verdammt viel Mühe gemacht, es zu vertuschen. Erfreulicherweise ist es ihnen nicht ganz gelungen.« Sie stockte einen kleinen, aber bedeutungsschweren Moment. »Ich ... habe vorhin gesagt, daß Sie der einzige sind, der mir helfen könnte, aber das ... das war nicht ganz die Wahrheit.«

»So?« fragte Warstein kühl.

»Oder doch. Ich meine, Sie sind vermutlich der einzige, der es kann, aber es gibt noch jemanden, der es wenigstens versuchen will. Er kann uns beiden helfen - in die Schweiz zu kommen, und vielleicht auch meinen Mann zu finden.«

»Lassen Sie mich raten«, sagte Warstein. »Ein Journalist.«

Diesmal hatte er sie ehrlich überrascht. »Woher wissen Sie das?«

»Weil diese freundlichen Herrschaften mir schon damals voller Begeisterung geholfen haben«, antwortete er höhnisch. »So lange, bis sie hatten, was sie wollten. Sie haben mir jedes Wort geglaubt. Sie haben fleißig notiert und mitgeschnitten, und dann zu Hause in der Redaktion in aller Ruhe ihre Kommentare dazu verfaßt. Wollen Sie einige davon hören?« Er machte eine zornige Bewegung auf ihren Ordner. »Ich habe zwar keine Mappe, aber ich habe das meiste nie vergessen. Nein, danke.«

»Aber der Mann könnte uns helfen«, beharrte Berger. Warstein fiel in diesem Moment gar nicht auf, daß die Frage, ob er ihr helfen würde, anscheinend schon gar nicht mehr zur Debatte stand. »Ich weiß, daß Sie allen Reportern mißtrauen, und wahrscheinlich haben Sie jeden nur denkbaren Grund dazu. Ich traue ihnen auch nicht.«

»Das klang gerade aber ganz anders.«

»Ich sehe die Sache so«, antwortete Berger ungerührt. »Natürlich ist er nur hinter einer Story her. Aber solange er glaubt, daß wir ihm helfen, sie zu bekommen, wird er uns helfen. So einfach ist das.«

Und so falsch, dachte Warstein. Er konnte das aus persönlicher Erfahrung behaupten. Er hatte genauso gedacht, vor drei Jahren. Das Problem war nur, daß Journalisten sich lieber mit einer kleinen Story zufriedengaben, als gar keine zu bekommen. Und ein angesehener junger Diplom-Ingenieur, der plötzlich anfing, von Geistern und Flüchen und uralten Mächten zu faseln, war allemal für ein paar Schlagzeilen gut.

Er stand auf, ging zum Kühlschrank und nahm sich eine neue Dose Bier. Sie schmeckte noch weniger als die erste, und die Menge an Alkohol reichte nicht annähernd, um irgendeine Wirkung bei ihm hervorzurufen; außer schlechten Atem. Er hatte etwas gebraucht, um seine Hände zu beschäftigen.

Berger, die erst jetzt die Aufschrift auf der Dose entdeckte, legte den Kopf schräg und blinzelte. »Ist das Zufall?«

»Daß das Zeug genauso heißt wie ich?« Warstein nickte. »Ja. Daß ich es trinke, nicht. Es schmeckt nicht einmal besonders, und im Grunde kann ich es mir gar nicht leisten. Aber ich finde es irgendwie ganz witzig.«

Er wollte die Dose ansetzen, aber plötzlich stand sie neben ihm und drückte sie mit Zeige- und Mittelfinger herunter. Nicht sehr fest, aber doch so, daß es zu einem Kräftemessen zwischen ihnen gekommen wäre, hätte er sich widersetzt. Sie kam ihm dabei zwangsläufig ganz nahe, so daß er spürte, wie gut ihr Haar und ihr Parfüm rochen, und vor allem und viel mehr spürte er ihre bloße Nähe. Sie machte ihn nervös. Und sie machte ihn zornig. Sie machte ihn nervös, weil ihm seit drei Jahren keine Frau mehr so nahe gekommen war, die er nicht dafür bezahlt hätte, und sie machte ihn zornig, weil er wußte, daß sie es aus genau diesem Grund tat.

Schneidend und mit keiner anderen Absicht, als sie zu verletzen, fragte er: »Ich glaube wirklich, Sie würden sogar so weit gehen, nur damit ich mitkomme, wie?«

Sie versteifte sich. Während sie die Hand herunternahm und fast fluchtartig zwei Schritte vor ihm zurückwich, setzte er seine Bierdose wieder an, trank einen Schluck und fand, daß es an der Zeit sei, noch ein wenig Salz in die Wunde zu streuen.

»Würden Sie es? Ich meine, lieben Sie Ihren Mann wirklich so sehr, daß Sie so weit gehen würden, damit ich Sie und diesen Zeitungsschmierer begleite? Oder gehören Sie einfach zu denen, die keine Absagen ertragen können?«

Endlich sah er die gewünschte Reaktion in ihren Augen. Nichts, was er zuvor gesagt oder getan hatte, war überraschend für sie gekommen - aber auf Tiefschläge hatte sie sich nicht vorbereiten können. Aus Schmerz, Erschrecken und Verzweiflung in ihrem Blick wurde lodernde Wut.

»Sie ... Sie...«

»Was?« unterbrach sie Warstein. Er kam sich selbst gemein und niederträchtig vor wie nie zuvor.

Später, als sie gegangen war und er noch einmal über alles nachdachte, machte er eine wichtige Erfahrung: daß es eben nicht hilft, anderen weh zu tun, wenn einem selbst weh getan worden ist. Es erleichterte nicht einmal. Im Gegenteil - es machte alles noch schlimmer.

Trotzdem nahm er nichts zurück, weder von dem, was er gesagt, noch von dem, was er angedeutet hatte, sondern deutete nur mit der Hand, die die Bierdose hielt, auf die Tür. »Gehen Sie. Und vergessen Sie Ihre Mappe nicht.«

Ihre Augen füllten sich endgültig mit Tränen, während sie den grünen Plastikordner anstarrte. Sie versuchte jetzt nicht mehr, sie zurückzuhalten. Warstein bemühte sich vergeblich, sich einzureden, daß es nur Tränen der Wut waren. Geschlagene zehn Sekunden stand sie vollkommen reglos da, dann raffte sie ihre Handtasche an sich, wirbelte auf dem Absatz herum und warf die Tür so heftig hinter sich zu, daß Vlad mit einem erschrockenen Satz schon wieder auf das oberste Bücherbord hinaufhüpfte und auch noch den Rest seines Inhaltes herunterwarf. Die Mappe ließ sie liegen.

Warstein begann am ganzen Leib zu zittern, nachdem Berger gegangen war. Er konnte ihre Schritte durch die dünne Tür hindurch auf dem Flur hören; einige Sekunden später abgelöst vom Geräusch des Aufzuges. Warstein zählte in Gedanken bis dreißig, dann drehte er sich herum und trat ans Fenster. Berger erschien fast im gleichen Augenblick unten vor dem Haus. Sie überquerte im Sturmschritt, ohne nach rechts oder links zu sehen, die Straße und stieg in einen dunkelroten Austin Mini, der am gegenüberliegenden Straßenrand geparkt war. Warum hatte er das getan? Er hatte sie loswerden wollen, und er hatte geglaubt, es wäre gleich, um welchen Preis, doch das stimmte nicht. Er zitterte noch immer am ganzen Leib, und seine Hände bebten so stark, daß er Mühe hatte, die Bierdose zu halten. Mit schnellen, zornigen Schlucken leerte er sie, drehte sich mit einem Ruck vom Fenster weg und schleuderte die Dose in eine Ecke. Sie prallte mit einem hohlen Geräusch ab und riß einen Teil des schmutzigen Geschirrs herunter, das sich auf der Spüle türmte. Vlad kommentierte die ganze Katastrophe mit einem zornigen Fauchen.

Warstein beruhigte sich nicht. Im Gegenteil. Es wurde immer schlimmer. Seine Hände zitterten nicht mehr, sie zuckten, sein Herz hämmerte wild, und er war plötzlich in kalten, klebrigen Schweiß gebadet. Es war zu spät. Was er getan hatte, war pure Notwehr gewesen, aber sie war zu spät gekommen. Sie hatte die Geister der Vergangenheit geweckt, und keine Macht der Welt konnte sie jetzt noch in den Abgrund zurückjagen, in den er sie drei Jahre lang verbannt hatte. Er hatte immer gewußt, daß sie eines Tages ausbrechen würden, aber nicht jetzt. Nicht so.

Vielleicht war das die Natur böser Geister: Sie kamen immer dann, wenn man am wenigsten mit ihnen rechnete.

Falls er seiner Uhr noch trauen konnte, hatte er viel mehr als die erwartete Stunde gebraucht, um den Rest der Strecke zurückzulegen. Das Gehen war noch schwieriger geworden, und obwohl er wußte, daß ihm kein weiterer Zug mehr entgegenkommen konnte, hatte er es nicht mehr gewagt, die Schienen noch einmal zu betreten, um auf den Schwellen bequemer und vor allem schneller von der Stelle zu kommen. Vor zehn Minuten hatte er die letzte Weiche passiert. Das Ende des Tunnels und die Männer hätten längst in Sicht kommen müssen; von der gewaltigen Fräse ganz zu schweigen. Er hätte sie zumindest hören müssen - das Dröhnen und Mahlen der diamantbesetzten Bohrköpfe war manchmal selbst außerhalb des Berges zu hören, und die enge Steinröhre wirkte wie ein Schalltrichter, der normalerweise jeden Laut zigfach verstärkte.

Er wollte nicht weitergehen. Er hätte alles darum gegeben, umkehren oder wenigstens stehenbleiben zu können, denn er war sicher, daß er etwas Entsetzliches entdecken würde, wenn er bis zum Ende des Tunnels ging. Es war mehr als ein technisches Versagen. Die Männer mußten tot sein. Verschüttet, erstickt oder auf irgendeine andere unsagbare Weise ums Leben gekommen, denn wenn es sich lediglich um einen technischen Fehler gehandelt hätte, so hätte sich mindestens einer von ihnen längst auf den Rückweg gemacht, und er wäre ihm begegnet. Obwohl er nur den kleinen Helmscheinwerfer als Lichtquelle hatte, reichte er doch aus, den zwanzig Meter breiten Stollen zur Genüge zu beleuchten.

Niemand war ihm entgegengekommen. Niemand hatte gerufen, oder sich sonstwie gemeldet. Vielleicht war die Fräse explodiert. Vielleicht war der Stollen eingestürzt, oder die Männer hatten sich gegenseitig umgebracht - auch wenn die Gefahr eines Gaseinbruches so gut wie ausgeschlossen war, so gab es doch tausend andere Dinge, die ihnen zugestoßen sein konnten. Es gab Strahlungen, die wahnsinnig machten. Es gab Massenhysterie. Es gab... Alles war denkbar. Gott allein mochte wissen, was in diesem verdammten Berg verborgen war, und was sie mit ihrer frevelhaften Tat geweckt hatten. Warstein spürte, daß er schon wieder im Begriff war, sich selbst in Hysterie zu reden. Aber diesmal half dieses Wissen nichts. Er ging weiter, mit immer langsameren, immer kleineren Schritten, doch obwohl er sich mit jeder Sekunde neue Schrecknisse ausmalte, die am Ende seines Weges auf ihn warteten, war es ihm einfach nicht möglich stehenzubleiben. Was immer dort vorne war, zog ihn magisch an.

Seiner Schätzung nach hätte er das Ende des Vortriebs längst erreichen müssen, als er das Licht sah. Im ersten Moment war es nur ein matter Glanz, der vom Schein seiner eigenen Lampe fast überstrahlt wurde. Warstein schaltete sie aus und schloß für zwei Sekunden die Augen, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen, und als er die Lider wieder hob, sah er das Licht deutlicher. Es war kein Scheinwerfer, wie er zuerst geglaubt hatte, keine Lampe, aber auch kein Feuerschein - am Ende des Tunnels, in einer unmöglich zu schätzenden Entfernung, die aber nicht sehr groß sein konnte, strahlte ein seltsames, mildes weißes Licht, das viel rascher an Leuchtkraft zunahm, als Warstein sich darauf zubewegte. Schon nach einigen Sekunden blendete es ihn fast, und sein Schein zeichnete harte, tiefe Schatten auf die Wände und den Boden. Und es war ein Licht, das irgendwie selektiv zu sein schien, obwohl Warstein ganz genau wußte, daß das unmöglich war. Doch da, wo es natürlich gewachsenen Fels berührte, da hob es alle Details und Einzelheiten deutlich hervor, aber gleichsam wie eine modellierende Hand, die für Tiefe und Schärfe sorgte, wo vorher nur Andeutungen gewesen waren, während es da, wo es auf Stützen und Pfeiler traf, auf Streben und Leitungen, auf Schienen und Versorgungskanäle, einfach nur grell war; so unangenehm grell, daß man nicht lange hinsehen konnte. Aber Warstein registrierte dieses Phänomen nur mit einem flüchtigen Blick. Seine ganze Aufmerksamkeit war nach vorne gerichtet, auf das Licht, auf das nicht nur er sich, sondern das sich auch auf ihn zubewegte. Er hatte das Ende des Stollens jetzt fast erreicht. Vor ihm war etwas. Er konnte nur einen verschwimmenden Schatten in einem Meer aus weißer Helligkeit sehen, doch schon diese vagen Konturen verrieten ihm, daß es die Fräse war: das stählerne Ungeheuer, das sie vor zwei Jahren auf diesen Berg angesetzt hatten und das sich seither mit der unerbittlichen Beharrlichkeit eines computergesteuerten Killers in seinen Leib hinein grub und wühlte. Warstein dachte diesen Gedanken mit genau diesen Worten; Worten, die ihm vor zwei Stunden noch nicht einmal in den Sinn gekommen wären. Wie jeder hier hatte auch er sich schon bei dem naiven Gedanken ertappt, sich zu fragen, ob diese Berge vielleicht auf eine gewisse Art lebten; Geschöpfe wie sie waren, nur so unvorstellbar fremd, so unvorstellbar anders, daß sie das niemals erkennen konnten. Jetzt wußte er, daß es so war. Etwas war mit ihm geschehen, während er durch den auf so unheimliche Weise veränderten Tunnel gelaufen war. Die Veränderung war viel tiefer und grundlegender, als er bisher schon ahnte. Aber er war sich ihrer bewußt und fragte sich, was als nächstes geschehen würde.

Er fand die Fräse. Der Schatten war der stählerne Koloß gewesen, und dieser gewann so schnell an räumlicher Substanz, daß Warstein erschrocken zusammenfuhr und nun doch einen Moment stehenblieb. Es gab kein allmähliches Erkennen. Was vor dem Bruchteil einer Sekunde noch ein weicher Schemen und ein weißer Lichtkreis gewesen war, das offenbarte sich ihm ebenso plötzlich und hart wie der Zug vorhin als die riesige Tunnelbaumaschine. Sie stand keine zehn Meter mehr vor ihm, und obwohl zwischen ihrem Ende und ihrer vorderen Front noch einmal gute fünfundzwanzig Meter lagen, erkannte er doch jedes winzige Detail mit beinahe übernatürlicher Schärfe; fast als sorge die gleiche, unheimliche Macht, die seine Sinne bisher verwirrt hatte, nun dafür, daß sie zum Ausgleich jetzt mit nie gekannter Präzision arbeiteten.

Die Fräse war zum Stehen gekommen. Die acht gewaltigen Bohrköpfe, die wiederum aus einem Dutzend kleinerer, sich gegeneinander drehender diamantbesetzter Kreisel bestanden, rührten sich nicht mehr. Warstein verglich diese Fräse gern mit einem Kraken, und tatsächlich hatte sie eine gewisse Ähnlichkeit damit - der gewaltige, stählerne Leib, an dem eine ebenso robuste wie komplizierte Mechanik dafür verantwortlich war, Felsschutt und Trümmer direkt in die Loren der Abraumzüge zu transportieren, endete in einem nur nach hinten offenen Führerhaus, in dem ein im Grunde vollkommen überflüssiger menschlicher Pilot über das elektronische Gehirn der Maschine wachte. Nach vorne, oben und zu beiden Seiten war er von schweren Stahlplatten abgeschirmt, falls sich doch einmal ein herumfliegender Brocken verirren sollte. Trotzdem war die Arbeit dort oben heiß, laut, staubig und alles andere als angenehm. Direkt dahinter erhob sich der eigentliche Bohrmechanismus - ein aus acht einzelnen Segmenten bestehender, flach gegen die Wand gepreßter Teller aus Stahl, der selbst den härtesten Granit zerrieb, als wäre er nicht mehr als weicher Sandstein.

Das Führerhaus war verwaist. Und auch von den Männern des Bautrupps, die hier am Ende des Vortriebs arbeiteten, war nichts zu sehen. Warstein ging langsam an der Flanke der gewaltigen Fräse entlang und suchte nach Spuren mechanischer Beschädigungen. Er fand nichts. Der gepanzerte Leib des Stahlkraken war übersät von Dellen, Schrammen und Kratzern, Schweißnähten und stählernen Ricken, aber das war nichts, was diesen Koloß ernsthaft beeinträchtigen konnte; Narben, die dieses stählerne Schlachtroß in den unzähligen Gefechten seines Lebens davongetragen hatte. Keine davon war neu oder so groß, daß sie Warsteins besondere Aufmerksamkeit erweckt hätte. Vor der metallenen Leiter, die zum Fahrerstand hinauf führte, blieb er einen Moment stehen und überlegte hochzuklettern. Aber er konnte ihn von hier aus ganz gut einsehen. Wenn dort oben jemand gewesen wäre, hätte er schon auf dem Boden liegen müssen. Und vielleicht hatte er ja Angst, diese Entdeckung zu machen. Er ging weiter, erreichte schließlich die Wand und ließ seinen Blick aufmerksam darüber gleiten.

Auch hier war nichts Auffälliges zu entdecken. Die Bohrköpfe drehten sich nicht mehr, aber Warstein vermochte den Grund dafür zumindest auf Anhieb nicht zu sehen. Kein besonders großer, besonders harter Felsbrocken. Keine Einschlüsse aus Quarz oder Kristall oder ein Bereich mit anders verlaufender Schichtung - all das nicht, was diesen metallenen Steinfresser ohnehin nicht hätte aufhalten dürfen; unter ganz bestimmten ungünstigen Umständen aber hätte aufhalten können. Doch vor ihm war nur Fels, der allgegenwärtige, ganz besonders harte, aber doch durch und durch normale schwarze Granit des Gridone, dem diese Maschine seit Jahren zu Leibe rückte, ohne mehr als ein paar Zähne dabei verloren zu haben.

Dann entdeckte er doch etwas. Nicht unbedingt das, wonach er gesucht hatte, und ganz bestimmt nicht das, was diese Maschine angehalten hatte. Direkt vor ihm, nicht ganz zwei Meter hoch an der Wand und soweit er sehen konnte, von einer Seite des Tunnels bis zur anderen reichend, zog sich eine dünne, schnurgerade blaue Linie dahin. Warstein trat neugierig näher, betrachtete die Linie einige Momente und schaltete dann trotz der an sich ausreichenden Helligkeit noch seinen Scheinwerfer ein. Die Linie blieb. Sie war keine Täuschung gewesen, und sie war auch nicht natürlichen Ursprungs. Warstein streckte die Hand aus und kratzte prüfend daran, und was unter seinem Fingernagel zurückblieb, das war nichts anderes als blaue Farbe. Jemand hatte diese Linie auf den Stein gemalt.

An einer Stelle, die bis gestern abend noch unerreichbar im Herzen des Berges gelegen hatte.

Warstein trat einen Schritt zurück und hob den Kopf. Der gelbe Kreis seines Helmscheinwerfers, der wie ein gehorsamer Suchhund die Wand emporhuschte, offenbarte ihm weitere blaue Linien, die sich, einem komplizierten Muster folgend, über die Wand erstreckten. Er war zu nahe, und die Fräse hatte bereits zu viel davon zerstört, als daß er es wirklich erkennen konnte, aber es war da gewesen. Ein geometrisches Muster, das zugleich zu regelmäßig wie auch wieder nicht gleichmäßig genug war, um von der Hand der Natur zu stammen. Und je mehr er sich umsah, desto mehr von dieser bizarren, indigoblauen Malerei entdeckte er: hier weitere Linien, dort etwas, das wie Runen aussah, zugleich aber auch völlig anders, da ein Muster aus Schlangenlinien, das sich mit einem Teil des Bildes vereinigen wollte, das der Fräse zum Opfer gefallen war. Die einzelnen Linien waren zu dünn, wie mit einem feinen Bleistift gemalt, als daß man sie auf Anhieb hätte sehen können, aber wenn man erst einmal anfing, danach zu suchen, konnte man die Augen vor dem Bild nicht mehr verschließen: jemand hatte quer über die Wand ein kompliziertes Muster gemalt. An einer Stelle, die noch niemals ein Mensch hatte betreten können.

Die Hysterie war wieder da, begleitet von ihrem Bruder, der Panik, und Warstein war viel zu schockiert, um noch einmal dagegen ankämpfen zu können. Er hatte recht gehabt! In diesem Berg war etwas! Etwas Böses, etwas unvorstellbar Gefährliches, etwas, das viel älter als die Menschen, vielleicht so alt wie diese Welt war, und sie hatten es geweckt, und jetzt war es frei und zornig, und sie alle würden einen schrecklichen Preis für ihren Frevel zahlen müssen! Noch vor Tagesfrist hätte er laut über solche Gedanken gelacht, aber jetzt, angesichts der reglos dastehenden Riesenmaschine, des Lichtes, des Schweigens und dieser unheimlichen Linien und Muster - des Siegels, das sie gebrochen hatten! - begriff er zum ersten Mal im Leben, daß es Dinge geben mochte, die mit den Mitteln der Wissenschaft und Logik nicht zu erklären waren. Mächte, die älter als der Mensch und seine vermeintlich allmächtige Wissenschaft waren, und ungleich mächtiger. Diese Linien bewiesen es. Linien, die eindeutig von Menschenhand geschaffen waren, aber ebenso eindeutig war, daß noch niemals ein Mensch an dieser Stelle gewesen sein konnte, denn sie lag hinter fünf Kilometern Granitgestein verborgen, und...

Vielleicht war es pure Selbstverteidigung, daß sein Verstand schließlich doch eine Erklärung fand, die es ihm ermöglichte, nicht an dem Anblick zu zerbrechen. Plötzlich lachte er, laut und schrill, ein Geräusch, das von den Felswänden aufgefangen und verzerrt zurückgeworfen wurde und selbst in seinen eigenen Ohren verdächtig nach einem Schrei klang. Aber es war die einzige Erklärung, die überhaupt möglich war.

Jemand war hier gewesen. Gestern abend, nach dem Ende der letzten Schicht. Anders als gewöhnlich hatten sie in dieser Nacht nicht durchgearbeitet, sondern die Fräse abgeschaltet, um einige dringend notwendige Reparaturen an der Elektronik durchführen zu können. Jemand mochte sich hereingeschlichen und unbemerkt von allen diese Linien auf die Wand gemalt haben. Unter anderen Umständen hätte Warstein diese Erklärung sofort als das entlarvt, was sie war: nämlich kaum glaubhaft. Die Reparaturen hatten die ganze Nacht gedauert. Ein Trupp von zehn Technikern und mindestens noch einmal soviel Begleitpersonal war hier gewesen, die Arbeiten waren nahtlos fortgesetzt worden, kaum daß die Fräse wieder lief; jede Stunde, die das Gerät stillstand, kostete die Gesellschaft ein kleines Vermögen.

Aber solche Feinheiten waren ihm jetzt gleich. Es war die einzige Erklärung, und so mußte es gewesen sein. Wie es der unbekannte Graffiti-Künstler fertiggebracht hatte, sein Werk unter den Augen von zwanzig Zuschauern zu vollenden, ohne daß irgend jemandem etwas auffiel, darum konnte er sich später kümmern. Vielleicht war es sogar einer der Techniker selbst gewesen. Warstein wußte, daß ein paar von ihnen über einen reichlich bizarren Humor verfügten; unterbezahlte junge Intellektuelle, denen auch durchaus zuzutrauen gewesen wäre, Kreise in die Felder argloser Kornbauern zu trampeln.

Er beruhigte sich nur langsam wieder. Trotzdem kehrten seine Gedanken nach einer Weile zu dem eigentlichen Grund seines Hierseins zurück - den Männern des Bautrupps. So seltsam diese Zeichnung war, sie erklärte nicht im mindesten, was mit den Männern geschehen war. Sie waren eindeutig nicht hier. Der Grund, weswegen sie nicht auf Frankes Anrufe reagiert hatten, war kein defektes Funkgerät - sie waren einfach nicht mehr da.

Wieder begann sich ein unheimliches, unwirkliches Gefühl in Warstein breitzumachen. Gegen seinen Willen suchte sein Blick wieder das zerbrochene Linienmuster auf der Wand, und jetzt, als er einmal wußte, daß es da war, entdeckte er immer mehr Details. Nichts davon ähnelte irgend etwas, das er jemals gesehen hätte, aber er empfand ein schwer zu bestimmendes Gefühl der Bedrohung, je länger er es ansah. Vielleicht war es auch eine Warnung. Was auch immer - es war zu intensiv, um es zu ignorieren.

Rasch wandte er den Blick wieder ab und ging einige Meter zurück, bis er die Leiter zum Führerhaus erreichte. Die Fräse verfügte über eine eigene Sprechverbindung nach draußen. Vielleicht funktionierte sie ja noch.

Warstein kletterte die Leiter hinauf, zog den Kopf ein, um sich nicht an den Stahlplatten zu stoßen, die die Fahrerkabine abschirmten, und streckte die Hand nach dem Telefonhörer auf der linken Seite des komplizierten Armaturenbrettes aus.

Er führte die Bewegung nicht zu Ende.

Für die nächsten zehn Sekunden tat er gar nichts, außer dazustehen und aus aufgerissenen Augen in den Tunnel auf der anderen Seite der Fräse zu starren. Da waren sie. Die ganzen fünfundzwanzig Mann. Trupp neunzehn war nicht verschwunden. Die Männer saßen auf der anderen Seite der Maschine im Kreis auf dem Boden, hatten sich an den Händen ergriffen und saßen vollkommen reglos und mit gesenkten Köpfen da.

Eine Spinne aus Eis mit mindestens zweihundert Beinen schien langsam Warsteins Rücken hinaufzukriechen. Seine Haut fühlte sich an wie elektrisiert. Atem und Herzschlag gehorchten ihm nicht mehr. Der Anblick war fast mehr, als er jetzt noch verkraften konnte.

Schon unter normalen Umständen wäre er absurd gewesen. Die Männer saßen im Kreis und schienen zu meditieren oder zu beten. Sie schliefen nicht, wie er rasch erkannte. Manchmal regte sich eine der Gestalten, und wenn er ganz genau hinhörte, dann konnte er ein sonderbares Summen und Intonieren wahrnehmen. Es war leise, gerade noch an der Grenze des überhaupt noch Hörbaren, aber es war wie mit dem Bild an der Wand: nachdem er es einmal registriert hatte, konnte er die Ohren davor nicht mehr verschließen, und auch in diesem unheimlichen Singsang waren ein System und eine Ordnung, die er nicht zu erkennen vermochte, aber auch nicht übersah. Und da war etwas Gemeinsames. Die blauen Linien und der geflüsterte Gesang korrespondierten miteinander, auf eine Weise, die ihm angst machte.

Sehr viel Zeit verging, in der Warstein nur dastand und auf den Kreis aus fünfundzwanzig Männern herabblickte, bis er endlich die Kontrolle zuerst über seinen Willen und dann über seinen Körper zurückfand.

Unendlich langsam und auf zitternden Knien begann er die Leiter auf der anderen Seite der Fräse hinabzusteigen. Er gab sich nicht einmal Mühe, leise zu sein, aber die Männer schienen den Lärm, den er verursachte, nicht wahrzunehmen. Keiner von ihnen sah auf, keiner ließ seinen Nachbarn los oder hielt gar mit seinem unheimlichen Gesang inne. Es vergingen nur wenige Momente, bis Warstein den Kreis erreicht hatte und wieder stehenblieb.

Aus der Nähe betrachtet wirkte der Anblick der Männer noch furchteinflößender. Ihre Gesichter waren leer, ihre Züge schlaff, die Augen, soweit sie sie überhaupt geöffnet hatten, glanzlos und trüb. Keiner von ihnen schien Warstein auch nur wahrzunehmen.

Warstein streckte die Hand aus, um eine der Gestalten zu berühren, wagte es dann aber doch nicht. Etwas Sonderbares umgab die Männer. Nichts, was ihm angst gemacht oder ihn beunruhigt hätte. Es war etwas ... ja, etwas fast Heiliges. Es war nicht richtig, sie zu berühren, sie bei dem zu stören, was sie taten. So trat er wieder einen Schritt zurück und ließ seinen Blick ein zweites Mal und aufmerksamer über die Gesichter der fünfundzwanzig Männer gleiten.

Der Ausdruck darauf war nicht überall gleich, wie es im ersten Moment den Anschein gehabt hatte. Viele von ihnen waren leer, schlaff wie die von Schlafenden oder Männern in Trance, doch auf manchen waren auch die Spuren starker Gefühle zu erkennen - Erregung, Freude, Verzückung, aber auch so etwas wie Furcht, ja, hier und da vielleicht sogar etwas wie Entsetzen. Und sie hielten sich auch nicht unentwegt an den Händen. Manchmal ließ einer seinen Nachbarn los und zeichnete mit den Fingern komplizierte Muster in die Luft, und jetzt entdeckte Warstein auch, daß einige Männer etwas vor sich auf den Boden gemalt hatten. Neugierig trat er näher, beugte sich über eine der Gestalten, die mit den Fingern ein Muster aus roten, ineinanderlaufenden Linien vor sich auf den Stein zeichnete - und fuhr entsetzt zusammen.

Der Mann hatte keinen Stift. Was er für rote Farbe gehalten hatte, war Blut. Der Mann hatte so lange mit den Fingerspitzen Muster auf den rauhen Stein gemalt, bis seine Haut zu bluten begonnen hatte. Er mußte unerträgliche Schmerzen haben, und ganz offensichtlich spürte er sie auch, denn sein Gesicht war zu einer Grimasse der Qual geworden. Trotzdem hielt er nicht darin inne, Linien und Kreise auf den Stein zu zeichnen.

»Um Gottes Willen!« keuchte Warstein. »Hören Sie auf! Was tun Sie denn da?« Er vergaß seinen Schrecken, und er vergaß auch das Gefühl von Ehrfurcht, das von ihm Besitz ergriffen hatte. Er sah nur die blutigen Fingerspitzen des Mannes, durch die hier und da bereits der weiße Knochen hindurchschimmerte, und das furchtbare rote Gemälde auf dem Boden. Mit einer einzigen kraftvollen Bewegung riß er den Mann zurück und halb auf die Füße. Im allerersten Moment versuchte sich dieser schwächlich zur Wehr zu setzen. Er schlug nach Warstein, aber der Hieb war so unkonzentriert und fahrig, daß er auch nicht getroffen hätte, wäre er nicht ausgewichen. Der zweite Schlag streifte seine Wange und hinterließ einen Streifen unangenehmer, klebriger Wärme auf seiner Haut, und während Warstein angeekelt zurücktaumelte, begriff er seinen Irrtum: Der Mann versuchte nicht, sich zu wehren. Seine Finger zeichneten einfach weiter jene komplizierten Muster und Linien in die Luft, die sie bisher auf dem Felsen hinterlassen hatten.

Warstein ergriff den Mann bei den Schultern und schüttelte ihn so wild, daß sein Kopf von einer Seite auf die andere schlug und seine Zähne dabei klapperten. »Wachen Sie auf!« schrie er. »Verdammt noch mal, wachen Sie endlich auf!« Er hatte selbst nicht damit gerechnet - aber seine Worte zeigten Wirkung. Ein Ausdruck tiefster Verwirrung erschien in den Augen des Mannes. Einige Sekunden lang stand er einfach da, so verstört wie nur irgend jemand, den Warstein in seinem Leben gesehen hatte, und sein Blick war der eines Kindes, das aus einem bösen Traum erwacht und sich an einem völlig fremden, angstmachenden Ort befindet. Seine Lippen begannen zu zittern. Er wich einen Schritt vor Warstein zurück, als dieser ihn losließ, dann hob er die Hände und sah auf seine blutigen Fingerspitzen herab. Der Anblick schien den Bann endgültig zu brechen. Wimmernd vor Schmerz und Schrecken stolperte er weiter zurück, bis er gegen die Flanke der Steinfräse prallte und langsam daran zu Boden glitt.

Warstein fuhr herum und war mit einem Satz bei einem zweiten Mann. Auch er war bereits wieder einer Panik nahe. Er hatte recht gehabt. Irgend etwas Unvorstellbares war hier im Gange. Nicht alle Männer hatten sich auf so furchtbare Weise selbst verstümmelt, sondern nur vier oder fünf. Aber vielleicht war der Schrecken, den er sehen konnte, sogar der kleinere. Wenn er jetzt aufhörte, würde er einfach schreiend davonlaufen und erst stehenbleiben, nachdem er das Ende des Tunnels erreicht hatte. Mit einem schon fast brutalen Ruck zerrte er einen zweiten Mann in die Höhe und versetzte ihm eine schallende Ohrfeige. Der Mann schien den Hieb gar nicht zu spüren, doch er erzielte die erhoffte Wirkung. Warstein konnte sehen, wie der unheimliche Bann auch von ihm abfiel. Er brach nicht zusammen, wie sein Kamerad, aber er begann gellend und ausdauernd zu schreien, als er die Hände vor das Gesicht hob und sah, was er sich selbst angetan hatte.

Warstein zerrte einen dritten Mann in die Höhe, und als er schließlich beim fünften angekommen war, da konnte er fast körperlich fühlen, wie der Bann brach. Irgend etwas löste sich unsichtbar und schwer vom Kreis der Männer und floh zurück in die dunklen Nischen des Kosmos, aus denen es hervorgekrochen war.

Im gleichen Moment änderte sich das Licht. Das unheimliche, milde Leuchten erlosch und machte dem harten Schein künstlichen Lichtes Platz. Die Lampen unter der Tunneldecke brannten wieder, als wären sie niemals ausgefallen, und auch die meisten Helmscheinwerfer der Männer glommen auf wie kleine, glühende Augen in der Mitte ihrer Stirn. Warstein registrierte es jedoch nur am Rande, denn rings um ihn herum erwachten nun auch die übrigen zwanzig Männer aus ihrer Trance. Es war kein angenehmes Erwachen. Einige brachen einfach zusammen. Andere begannen, je nach Temperament, zu schreien oder auch zu weinen, aber alle wirkten auf die gleiche, schreckliche Weise desorientiert wie der erste Mann, den er aus seiner Trance gerissen hatte. Und plötzlich waren da noch andere Geräusche. Schritte. Rufen und Schreien, ein Poltern und Schleifen, die Laute brummender Maschinen und piepsender Elektronik.

Warstein griff sich den erstbesten Mann, der ihm unter die Finger geriet und schüttelte ihn wild. »Was ist hier passiert?« schrie er ihn an. »Was zum Teufel ist hier los? Reden Sie!«

Ebensogut hätte er den Berg anschreien können. Der Mann hörte seine Worte, aber sein Blick machte deutlich, daß er nicht einmal verstand, was sie bedeuteten.

Warstein wandte sich wieder einem der Verletzten zu. Der Mann krümmte sich neben der Fräse am Boden und preßte beide Hände gegen die Brust. Warstein sah voller Schrecken, wie stark seine Finger plötzlich bluteten. Er kniete neben dem Mann nieder, aber er wagte es nicht, ihn zu berühren. Er konnte nichts für ihn tun, geschweige denn ihm helfen. »Einen Verbandskasten!« rief er. »Ich brauche Verbandsstoff, schnell!«

Tatsächlich drückte ihm jemand das Gewünschte in die Hand, und Warstein hatte den Kasten bereits halb geöffnet und ein Päckchen mit Verbandsmull aufgerissen, bevor ihm klar wurde, daß er nicht die leiseste Ahnung hatte, was er überhaupt damit anfangen sollte. Das einzige Mal, daß er so ein Ding in der Hand gehabt hatte, war während des Erste-Hilfe-Kursus zu seinem Führerschein gewesen - und das war zwölf Jahre her. Außerdem hatte er seine Samariter-Künste an einer Gummipuppe ausprobiert.

Das hier war keine Gummipuppe. Das war ein lebender Mensch, der vor seinen Augen zu verbluten drohte. Was um Gottes willen sollte er nur tun?

Jemand berührte ihn unsanft an der Schulter, und Warstein reagierte ebenso grob und übertrieben, indem er herum- und zugleich in die Höhe fuhr und die Hand beiseite schlug. Erst dann blickte er in das Gesicht des Mannes, der ihn angefaßt hatte. Es war Franke. »Warstein!« schnappte er. »Wo zum Teufel sind -«

»Jetzt nicht«, unterbrach ihn Warstein. Er war viel zu aufgeregt, um sich länger als einen Sekundenbruchteil zu fragen, wo Franke so plötzlich herkam. »Ich brauche Ihre Hilfe!«

»Jetzt nicht?« wiederholte Franke. Seine Augen wurden groß und seine Stimme klang, als träfe ihn jeden Moment der Schlag. »Sind Sie verrückt geworden, Warstein? Sie waren mehr als -«

Warstein explodierte. »Verdammt noch mal, halten Sie endlich das Maul!« brüllte er. »Der Mann verblutet, sehen Sie das vielleicht nicht?!«

Frankes Reaktion überraschte ihn. Der Zorn, den er erwartete, flammte tief in seinen Augen auf, aber statt ebenfalls zu explodieren, drehte er sich zu dem Verletzten herum und ließ sich in die Hocke sinken. Sein Gesicht verlor jede Farbe. Soweit das überhaupt möglich war, war er wohl noch weniger in der Lage, dem Mann zu helfen. Aber er versuchte es auch erst gar nicht. Statt dessen stand er nach einer Sekunde wieder auf und winkte jemanden herbei, der offensichtlich in seiner Begleitung gekommen war. Zu den Männern von Trupp neunzehn gehörte er jedenfalls nicht.

Genaugenommen war es überhaupt niemand, den Warstein kannte. Und es war längst nicht der einzige. Was um alles in der Welt ging hier vor?

Warstein sah sich mit einer Mischung aus Schrecken und wachsender Verwirrung um, während Franke dem Fremden knapp, aber erstaunlich präzise Anweisungen zu geben begann, wie mit den Verletzten zu verfahren sei. Außer Franke waren plötzlich mindestens zwei Dutzend weiterer Männer da, von denen er kaum die Hälfte kannte. Einige von ihnen trugen die Uniformen der Schweizer Kantonspolizei. Viele waren in die orangeroten Overalls der Arbeiter hier gekleidet, obwohl sie eindeutig nicht zu ihnen gehörten, einige - wie Franke - waren auch in Zivil. An der Fräse waren gleich drei der kleinen Wagen aufgefahren, einer davon hoch beladen mit Kisten und Werkzeugcontainern. Eine Anzahl großer Scheinwerfer tauchte jeden Zentimeter des Tunnels in gleißende Helligkeit. Überall waren hektische Bewegung und Aufregung. Vor kaum einer Minute war hier noch kein Mensch gewesen; jetzt wimmelte der Stollen von Leben und Hektik.

»Also gut, sehen Sie zu, daß die Männer schnellstens ins Krankenhaus kommen.« Franke beendete seine Anweisungen mit einer entsprechenden Geste. »Am besten alle. Die anderen machen auch keinen besonders guten Eindruck. Und halten Sie um Himmels willen diese Reporter von den Männern fern.« Reporter? dachte Warstein. Irgend etwas stimmte hier nicht, aber er war plötzlich nicht mehr in der Lage, klar zu denken. Der Boden unter seinen Füßen begann sich zu drehen.

»Reporter?« wiederholte er laut.

Franke ignorierte die Frage. »Die Männer werden versorgt«, sagte er. »Ich habe einen Hubschrauber angefordert, der die Schwerverletzten ins Krankenhaus bringt. Was ist mit Ihnen? Sie sehen auch nicht besonders gut aus.«

»Ich bin in Ordnung«, sagte Warstein, obwohl er sich im Grunde zum Heulen fühlte - und das in jeder Beziehung. Aber er würde einfach den Verstand verlieren, wenn er nicht bald ein paar Antworten bekam.

»Dann können Sie mir ja sicher ein paar Fragen beantworten«, sagte Franke. Er hörte sich an, als beherrsche er sich mittlerweile nur noch mit allerletzter Kraft. »Zum Beispiel die, wo Sie waren.«

»Ich?« Warstein verstand nicht einmal, wovon Franke überhaupt sprach. »Aber das wissen Sie doch. Sie haben mich doch selbst hierher geschickt!«

»Das habe ich«, bestätigte Franke. Der Ausdruck in seinen Augen war inzwischen kein purer Zorn mehr. Warstein hatte das Gefühl, einer Atommine mit scharfem Zünder gegenüberzustehen. Irgend etwas hinderte Franke noch daran, zu explodieren, aber es fehlte nur noch eine Winzigkeit. Ein falscher Blick mochte genügen, eine falsche Antwort auf jeden Fall.

»Das habe ich«, sagte Franke noch einmal, als Warstein nicht antwortete, sondern ihn nur weiter verwirrt ansah. »Vor zwei Tagen.«

Warstein blinzelte. »Wie?«

»Um präzise zu sein...« Franke schob den Ärmel hoch und sah auf die Uhr, »...vor genau einundfünfzig Stunden und vierzig Minuten.«

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